Der Drache blickte aus dem großen Fenster.
Seine Schuppen glänzten im Mondlicht und er spürte deutlich die
Magie, die heute Nacht in der Luft lag.
Tim hatte ihm noch einen großen Teller
Lebkuchen dagelassen und versprochen, spätestens in drei Stunden wieder
bei ihm zu sein. Es war ihm nicht leicht gefallen, den Drachen - seinen
Drachen, einfach hier zurückzulassen.
Währenddessen ging nebenan die Feier feuchtfröhlich
weiter. Kurz nach der Bescherung köpften die Erwachsenen zahlreiche
Rotweinflaschen und die Stimmung wurde immer geselliger. Tim legte Holz
in den Ofen nach. Er musste an die giftige Nachbarin Frau Sellner denken,
der das wahrscheinlich gar nicht passen wird, wenn in der "Stillen Nacht"
laut gefeiert wird.
"Bald kommt die erste Beschwerde von unserer
spießigen Nachbarin." sagte die kleine Susanne prompt zu den anderen
Kindern.
"Ach", Tim machte eine abwinkende Handbewegung,
"die beschwert sich doch dauernd wegen was. Kuck sie dir doch an. Die ist
so verkrampft, die könnte mit ihren Arschbacken Walnüsse knacken!"
Die Kinder lachten.
"Hehe, nicht in diesem Ton!" sagte Frau Sellner.
"Und stopf nicht so viel Brennholz in den Ofen, Tim. Willst du die Bude
abfackeln!?"
Tim setzte sich zu Christian, der gerade seiner
kleinen Schwester Susanne half, ein großes Puppenhaus aufzubauen,
das in ihrem Geschenkpäckchen war.
"Wo ist denn eigentlich dein großer
Bruder Kevin?" fragte er Christian.
"Ach, der hat es lieber vorgezogen, mit seinen
Kumpels durch die Kneipen zu ziehen, anstatt mit uns Weihnachten zu feiern.
Ist mir auch lieber so, denn seine faschistische Einstellung geht mir auf
die Nerven! Den ganzen Tag hört er sich bei uns in seinem Zimmer Rechtsrock
Musik an."
"Ja, ich kenne ihn. Am letzten Schultag hat
er mich zusammen mit Senko bedroht, bis die Bullen da waren. Dann war er
plötzlich nicht mehr so mutig." sagte Tim.
"Ach, das ist bloß ein Maulheld. Ich
wette, heute Abend kriegt er wieder Ärger mit der Bullerei. Er kann
sich nicht benehmen."
Herr Sellner staunte nicht schlecht, als er
sein Geschenk von der Familie Müller auspackte: Ein riesiger Flachbildfernseher!
"Jetzt könnt ihr die alte Röhrenglotze
wegwerfen!" sagte Herr Müller stolz.
"Mann, das Ding muss ja ein Vermögen
gekostet haben!?" stellte Herr Sellner verblüfft fest.
Doch er gab Herrn Müller recht. Die alte
Röhrenglotze musste wirklich mal weg. Sie stammte noch aus der Zeit,
als die Berliner Mauer fiel...
Bald wurde es Tim zu langweilig.
Während alle feierten und diskutierten,
ging er schnell rüber, um nach seinem Drachen zu sehen. Die restlichen
fünf Schnitzel aus der Küche und eine halbe Weihnachtsente, alles
in Alufolie eingepackt, hatte er heimlich mitgeschmuggelt. Die Erwachsenen
würden sie sowieso nicht mehr essen, denn die Teller waren schon weggeräumt.
Wie ein großer Gargoyle aus Stein blickte
der Drache in die kalte Winternacht, als Tim in sein Zimmer kam.
Na endlich! Wo warst du nur so lange?
kam es vorwurfsvoll in Tims Gedanken.
"Ich war doch nur vier Stunden weg."
Du hattest gesagt, nicht länger als
drei, erwiderte der Drache entrüstet.
"Wirklich? Waren das schon vier Stunden? Hab
ich echt nicht gemerkt, so wie wir gefeiert haben!"
Der Drache leckte mit seiner Zunge über
Tims Gesicht. Jetzt bleibst du aber bei mir, Kleiner!
"Hier, ich hab dir was mitgebracht!" sagte
Tim, als er die Köstlichkeiten auspackte.
Der Drache schnupperte vorsichtig an den Schnitzeln,
bevor er sie hinunterschlang.
"Freust du dich schon auf den Heimflug?" fragte
Tim.
Oh ja! Nur noch wenige Tage, dann fliegen
wir endlich.
Der Drache stupste Tim mit der Schnauze an.
Lust
auf einen kleinen Rundflug?
"Jetzt!?"
Natürlich jetzt, entgegnete Drakota.
Was
für eine schöne klare Nacht. Außerdem muss ich mal meine
Flugmuskeln trainieren. Je besser ich in Form bin, desto schneller regeneriert
sich meine magische Kraft und desto schneller kann ich wieder nach Hause.
"Ich komme gerne mit! Aber nachher muss ich
noch mal kurz rüber. Ich hab mich noch nicht verabschiedet und wenn
ich weg bin, machen sich die anderen noch Sorgen!"
Die vermissen dich nicht. Die sind so dicht,
dass sie es nicht mal merken würde, wenn du einen Schneemann statt
dich neben sie stellst!
Tim lachte. "Doch, wenn ihre Bude danach unter
Wasser steht!"
Dann öffnete er die zwei großen
Glasterrassentürhälften und schlang sich eine große Wolldecke
um, während er auf Drakotas Rücken stieg.
Die Nacht war saukalt!
Noch ein vorsichtiger Blick über das
Geländer, aber auf der Straße war keiner.
Vor allem Frau Kotter stand oft heimlich an
ihrem Fenster und beobachtete sein Zimmer.
Doch heute war sie wohl früher zu Bett
gegangen.
Der Drache stieß sich von der großen
Terrasse ab und stieg mit ein paar mächtigen Flügelschlägen
auf.
Tim zog sich die Wollmütze über
die spitzen Ohren und kauerte sich auf Drakotas Rücken. Die Decke
und seine Schuppen wärmte hervorragend!
Wo sollen wir hinfliegen? fragte der
Drache.
"Den Fluss rauf. Ganz oben gibt es einen Stausee,
mit herrlichem Ausblick." rief Tim.
Wie du wünschst, Drachenreiter!
Drakota flog schnell. Deshalb hatten sie den
großen Stausee schon nach zehn Minuten erreicht. Mit dem Fahrrad
hatte Tim im vergangenen Sommer auch einen Ausflug zum Stausee mit seiner
Schulklasse unternommen. Für die Fahrt hin brauchten sie fast zwei
Stunden!
Der Drache landete auf der Staumauer, die
Richtung Osten steil in die Tiefe abfiel. Überall war der schneebedeckte
Wald zu sehen. Nur weit unten im Tal dröhnten leise die Turbinen.
Das Wasser innerhalb der Staumauer war ruhig und glänzte wie ein riesiger
Spiegel. Am Uferrand war das Wasser bis etwa fünfzig Meter zur Seemitte
gefroren.
Tim stieg ab und setzte sich vor Drakota,
der ihn sanft mit den Flügeln umschloss.
Eine Zeit lang saßen sie einfach nur
schweigend da und beobachteten den Sternenhimmel über dem Wald, während
Tim ein paar Steine in die Tiefe warf.
Wie sieht sich´s denn mit den neuen
Augen? fragte der Drache belustigt.
"Fantastisch!" erwiderte Tim. "Ich kann selbst
bei völliger Dunkelheit alles sehen!"
So wie wir Drachen. Freust du dich schon
auf Eteo?
"Ja," sagte Tim. "Ich würde am liebsten
gleich dorthin."
Tim legte eine Hand auf die warme Flanke des
Drachen. "Weißt du, Drakota," sagte Tim, "manchmal wünsche ich
mir auch ein Drache zu sein. Das muss sicher toll sein."
Nun, Kleiner - es gibt auch Tage, da wünsche
ich, dass ich ein Mensch wäre. Dann könnte ich mich frei und
unauffällig in euren Städten bewegen, um zu sehen, wie genau
ihr so lebt.
Tim lachte. "Glaub mir, das hättest du
bald satt!"
Dann schreckte er nach einiger Zeit hoch.
"Wir sollten langsam wieder zurück!" sagte er besorgt, "sonst machen
sich die anderen wirklich um mich Sorgen."
Tim stieg wieder auf Drakotas Rücken
und sie flogen Richtung Tal. Der Wald glitt unter ihnen vorbei und Tim
schmiegte sich an die warmen Schuppen.
Als der Drache noch zirka fünf Kilometer
von Hilpertsau entfernt war, zischte plötzlich ohne Vorwarnung eine
rote Lichtkugel von unten aus dem Wald in den Himmel.
"Achtung!" schrie Tim.
Drakota konnte dem anscheinend magischen Geschoss
gerade noch ausweichen, doch als Tim nach hinten sah, stellte er fest,
dass die Lichtkugel ihnen zu folgen schien.
"Verdammt, das Ding verfolgt uns!" rief Tim,
"ACHTUNG!"
Keine Sekunde zu früh riss der Drache
den linken Flügel hoch, woraufhin ihn das magische Geschoss nur um
wenige Zentimeter verfehlte. Wieder drehte es um und folgte dem Drachen.
Es ist, als ob ich es im Schlepptau hinter
mir herziehe! fluchte Drakota.
"Ja, das Ding reagiert sensibel auf Wärme!"
Tim sah unter sich eine große Steinbrücke.
Es war die erste von Reichental. Das erkannte Tim, weil nebenan die große
Bäckerei war, in der er sich erst vorgestern noch eine Brezel gekauft
hatte.
Jetzt erkannte Tim einen Mann im schwarzen
Umhang. Er hob die Hand zum Himmel und eine weitere rote Lichtkugel jagte
aus seiner Hand zu ihnen nach oben.
"Necramor!" riefen Tim und Drakota fast gleichzeitig.
Er feuert magische Schmerzenspfeile auf
uns. Wenn man von so einem Ding getroffen wirt, erstarrt man und kann sich
nicht mehr bewegen. Der Zauber verursacht höllische Schmerzen!
rief der Drache.
"Na toll, jetzt verfolgen uns zwei davon!"
Tim sah nach hinten auf die Energiepfeile, die schnell näher kamen.
Der Zauber kostet viel Kraft, sagte
Drakota, während er so schnell flog, wie er konnte, mehr als vier
oder fünf kann er nicht auf uns hetzen!
"Oh, das ist ja sehr beruhigend!" sagte Tim,
während er sich so fest an Drakotas Zacken klammerte, damit ihn der
Flugwind nicht wegriss.
Wieder flog der Drache eine scharfe Linkskurve,
dann eine Steilrolle und mehrere Loopings, aber die Energiepfeile folgten
ihnen immer wieder.
"Setz die Hügelspitze in Brand!" rief
Tim.
Warum?
"Bitte, frag nicht, tu es!"
Der Drache spuckte eine Feuerkugel, die fünf
Sekunden später auf dem Hügelkamm vor dem Wald einschlug und
sich zu einem Flammenteppich entwickelte.
Drakota flog auf Tims Anweisung eine scharfe
Linkskurve und zog pfeilgerade nach oben in den Himmel.
Tims Verdacht hatte sich bestätigt. Die
roten Energiepfeile reagierten wohl auf Körperwärme, denn sie
folgten nicht mehr dem Drachen, sondern seinem Feuer.
Zweimal hintereinander gab es einen ohrenbetäubenden
Knall, als sie auf der Hügelspitze einschlugen.
Die Druckwelle riss in einem Umkreis von fünfzig
Metern den Schnee von den Baumkronen.
"Wahnsinn!" rief Tim, als Drakota beinahe
im Sturzflug wieder herunter kam und sie dann endlich Hilpertsau erreichten.
"Das muss doch einer gesehen haben! Ich wette, morgen sind die Zeitungen
voll davon!"
Eine unterbewusste Stimme nahm er in seinen
Gedanken wahr:
Ich kriege euch noch!
Vor Verwendung dieser
Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM"
entfernen!
|