X-Mas Dragon Flight von Tobias Wagner
Kapitel 5
Heiligabend (2)

Der Drache blickte aus dem großen Fenster. Seine Schuppen glänzten im Mondlicht und er spürte deutlich die Magie, die heute Nacht in der Luft lag.
Tim hatte ihm noch einen großen Teller Lebkuchen dagelassen und versprochen, spätestens in drei Stunden wieder bei ihm zu sein. Es war ihm nicht leicht gefallen, den Drachen - seinen Drachen, einfach hier zurückzulassen.

Währenddessen ging nebenan die Feier feuchtfröhlich weiter. Kurz nach der Bescherung köpften die Erwachsenen zahlreiche Rotweinflaschen und die Stimmung wurde immer geselliger. Tim legte Holz in den Ofen nach. Er musste an die giftige Nachbarin Frau Sellner denken, der das wahrscheinlich gar nicht passen wird, wenn in der "Stillen Nacht" laut gefeiert wird.
"Bald kommt die erste Beschwerde von unserer spießigen Nachbarin." sagte die kleine Susanne prompt zu den anderen Kindern.
"Ach", Tim machte eine abwinkende Handbewegung, "die beschwert sich doch dauernd wegen was. Kuck sie dir doch an. Die ist so verkrampft, die könnte mit ihren Arschbacken Walnüsse knacken!"
Die Kinder lachten.
"Hehe, nicht in diesem Ton!" sagte Frau Sellner. "Und stopf nicht so viel Brennholz in den Ofen, Tim. Willst du die Bude abfackeln!?"
Tim setzte sich zu Christian, der gerade seiner kleinen Schwester Susanne half, ein großes Puppenhaus aufzubauen, das in ihrem Geschenkpäckchen war.
"Wo ist denn eigentlich dein großer Bruder Kevin?" fragte er Christian.
"Ach, der hat es lieber vorgezogen, mit seinen Kumpels durch die Kneipen zu ziehen, anstatt mit uns Weihnachten zu feiern. Ist mir auch lieber so, denn seine faschistische Einstellung geht mir auf die Nerven! Den ganzen Tag hört er sich bei uns in seinem Zimmer Rechtsrock Musik an."
"Ja, ich kenne ihn. Am letzten Schultag hat er mich zusammen mit Senko bedroht, bis die Bullen da waren. Dann war er plötzlich nicht mehr so mutig." sagte Tim.
"Ach, das ist bloß ein Maulheld. Ich wette, heute Abend kriegt er wieder Ärger mit der Bullerei. Er kann sich nicht benehmen."
Herr Sellner staunte nicht schlecht, als er sein Geschenk von der Familie Müller auspackte: Ein riesiger Flachbildfernseher!
"Jetzt könnt ihr die alte Röhrenglotze wegwerfen!" sagte Herr Müller stolz.
"Mann, das Ding muss ja ein Vermögen gekostet haben!?" stellte Herr Sellner verblüfft fest.
Doch er gab Herrn Müller recht. Die alte Röhrenglotze musste wirklich mal weg. Sie stammte noch aus der Zeit, als die Berliner Mauer fiel...

Bald wurde es Tim zu langweilig.
Während alle feierten und diskutierten, ging er schnell rüber, um nach seinem Drachen zu sehen. Die restlichen fünf Schnitzel aus der Küche und eine halbe Weihnachtsente, alles in Alufolie eingepackt, hatte er heimlich mitgeschmuggelt. Die Erwachsenen würden sie sowieso nicht mehr essen, denn die Teller waren schon weggeräumt.
Wie ein großer Gargoyle aus Stein blickte der Drache in die kalte Winternacht, als Tim in sein Zimmer kam.
Na endlich! Wo warst du nur so lange? kam es vorwurfsvoll in Tims Gedanken.
"Ich war doch nur vier Stunden weg."
Du hattest gesagt, nicht länger als drei, erwiderte der Drache entrüstet.
"Wirklich? Waren das schon vier Stunden? Hab ich echt nicht gemerkt, so wie wir gefeiert haben!"
Der Drache leckte mit seiner Zunge über Tims Gesicht. Jetzt bleibst du aber bei mir, Kleiner!
"Hier, ich hab dir was mitgebracht!" sagte Tim, als er die Köstlichkeiten auspackte.
Der Drache schnupperte vorsichtig an den Schnitzeln, bevor er sie hinunterschlang.
"Freust du dich schon auf den Heimflug?" fragte Tim.
Oh ja! Nur noch wenige Tage, dann fliegen wir endlich.
Der Drache stupste Tim mit der Schnauze an. Lust auf einen kleinen Rundflug?
"Jetzt!?"
Natürlich jetzt, entgegnete Drakota. Was für eine schöne klare Nacht. Außerdem muss ich mal meine Flugmuskeln trainieren. Je besser ich in Form bin, desto schneller regeneriert sich meine magische Kraft und desto schneller kann ich wieder nach Hause.
"Ich komme gerne mit! Aber nachher muss ich noch mal kurz rüber. Ich hab mich noch nicht verabschiedet und wenn ich weg bin, machen sich die anderen noch Sorgen!"
Die vermissen dich nicht. Die sind so dicht, dass sie es nicht mal merken würde, wenn du einen Schneemann statt dich neben sie stellst!
Tim lachte. "Doch, wenn ihre Bude danach unter Wasser steht!"

Dann öffnete er die zwei großen Glasterrassentürhälften und schlang sich eine große Wolldecke um, während er auf Drakotas Rücken stieg.
Die Nacht war saukalt!
Noch ein vorsichtiger Blick über das Geländer, aber auf der Straße war keiner.
Vor allem Frau Kotter stand oft heimlich an ihrem Fenster und beobachtete sein Zimmer.
Doch heute war sie wohl früher zu Bett gegangen.
Der Drache stieß sich von der großen Terrasse ab und stieg mit ein paar mächtigen Flügelschlägen auf.
Tim zog sich die Wollmütze über die spitzen Ohren und kauerte sich auf Drakotas Rücken. Die Decke und seine Schuppen wärmte hervorragend!
Wo sollen wir hinfliegen? fragte der Drache.
"Den Fluss rauf. Ganz oben gibt es einen Stausee, mit herrlichem Ausblick." rief Tim.
Wie du wünschst, Drachenreiter!

Drakota flog schnell. Deshalb hatten sie den großen Stausee schon nach zehn Minuten erreicht. Mit dem Fahrrad hatte Tim im vergangenen Sommer auch einen Ausflug zum Stausee mit seiner Schulklasse unternommen. Für die Fahrt hin brauchten sie fast zwei Stunden!
Der Drache landete auf der Staumauer, die Richtung Osten steil in die Tiefe abfiel. Überall war der schneebedeckte Wald zu sehen. Nur weit unten im Tal dröhnten leise die Turbinen. Das Wasser innerhalb der Staumauer war ruhig und glänzte wie ein riesiger Spiegel. Am Uferrand war das Wasser bis etwa fünfzig Meter zur Seemitte gefroren.
Tim stieg ab und setzte sich vor Drakota, der ihn sanft mit den Flügeln umschloss.
Eine Zeit lang saßen sie einfach nur schweigend da und beobachteten den Sternenhimmel über dem Wald, während Tim ein paar Steine in die Tiefe warf.
Wie sieht sich´s denn mit den neuen Augen? fragte der Drache belustigt.
"Fantastisch!" erwiderte Tim. "Ich kann selbst bei völliger Dunkelheit alles sehen!"
So wie wir Drachen. Freust du dich schon auf Eteo?
"Ja," sagte Tim. "Ich würde am liebsten gleich dorthin."
Tim legte eine Hand auf die warme Flanke des Drachen. "Weißt du, Drakota," sagte Tim, "manchmal wünsche ich mir auch ein Drache zu sein. Das muss sicher toll sein."
Nun, Kleiner - es gibt auch Tage, da wünsche ich, dass ich ein Mensch wäre. Dann könnte ich mich frei und unauffällig in euren Städten bewegen, um zu sehen, wie genau ihr so lebt.
Tim lachte. "Glaub mir, das hättest du bald satt!"
Dann schreckte er nach einiger Zeit hoch. "Wir sollten langsam wieder zurück!" sagte er besorgt, "sonst machen sich die anderen wirklich um mich Sorgen."
Tim stieg wieder auf Drakotas Rücken und sie flogen Richtung Tal. Der Wald glitt unter ihnen vorbei und Tim schmiegte sich an die warmen Schuppen.
Als der Drache noch zirka fünf Kilometer von Hilpertsau entfernt war, zischte plötzlich ohne Vorwarnung eine rote Lichtkugel von unten aus dem Wald in den Himmel.
"Achtung!" schrie Tim.
Drakota konnte dem anscheinend magischen Geschoss gerade noch ausweichen, doch als Tim nach hinten sah, stellte er fest, dass die Lichtkugel ihnen zu folgen schien.
"Verdammt, das Ding verfolgt uns!" rief Tim, "ACHTUNG!"
Keine Sekunde zu früh riss der Drache den linken Flügel hoch, woraufhin ihn das magische Geschoss nur um wenige Zentimeter verfehlte. Wieder drehte es um und folgte dem Drachen.

Es ist, als ob ich es im Schlepptau hinter mir herziehe! fluchte Drakota.
"Ja, das Ding reagiert sensibel auf Wärme!"
Tim sah unter sich eine große Steinbrücke. Es war die erste von Reichental. Das erkannte Tim, weil nebenan die große Bäckerei war, in der er sich erst vorgestern noch eine Brezel gekauft hatte.
Jetzt erkannte Tim einen Mann im schwarzen Umhang. Er hob die Hand zum Himmel und eine weitere rote Lichtkugel jagte aus seiner Hand zu ihnen nach oben.
"Necramor!" riefen Tim und Drakota fast gleichzeitig.
Er feuert magische Schmerzenspfeile auf uns. Wenn man von so einem Ding getroffen wirt, erstarrt man und kann sich nicht mehr bewegen. Der Zauber verursacht höllische Schmerzen! rief der Drache.
"Na toll, jetzt verfolgen uns zwei davon!" Tim sah nach hinten auf die Energiepfeile, die schnell näher kamen.
Der Zauber kostet viel Kraft, sagte Drakota, während er so schnell flog, wie er konnte, mehr als vier oder fünf kann er nicht auf uns hetzen!
"Oh, das ist ja sehr beruhigend!" sagte Tim, während er sich so fest an Drakotas Zacken klammerte, damit ihn der Flugwind nicht wegriss.
Wieder flog der Drache eine scharfe Linkskurve, dann eine Steilrolle und mehrere Loopings, aber die Energiepfeile folgten ihnen immer wieder.
"Setz die Hügelspitze in Brand!" rief Tim.
Warum?
"Bitte, frag nicht, tu es!"
Der Drache spuckte eine Feuerkugel, die fünf Sekunden später auf dem Hügelkamm vor dem Wald einschlug und sich zu einem Flammenteppich entwickelte.
Drakota flog auf Tims Anweisung eine scharfe Linkskurve und zog pfeilgerade nach oben in den Himmel.
Tims Verdacht hatte sich bestätigt. Die roten Energiepfeile reagierten wohl auf Körperwärme, denn sie folgten nicht mehr dem Drachen, sondern seinem Feuer. 
Zweimal hintereinander gab es einen ohrenbetäubenden Knall, als sie auf der Hügelspitze einschlugen.
Die Druckwelle riss in einem Umkreis von fünfzig Metern den Schnee von den Baumkronen.
"Wahnsinn!" rief Tim, als Drakota beinahe im Sturzflug wieder herunter kam und sie dann endlich Hilpertsau erreichten. "Das muss doch einer gesehen haben! Ich wette, morgen sind die Zeitungen voll davon!"
Eine unterbewusste Stimme nahm er in seinen Gedanken wahr:
Ich kriege euch noch!
 

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Und schon geht es hier weiter zum 6. Kapitel...

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