Heute, am letzten Tag vor Silvester war wieder
ein Ausflug geplant. Es kotzte Tim ein wenig an, weil er wieder seinen
Drachen zu Hause lassen musste.
Herr und Frau Sellner gingen zusammen mit
Familie Müller zu einem Museum, das sich direkt hinter dem riesigen
Soldatenfriedhof befand.
Herr Müller bestand darauf, dass sein
Sohn Kevin mitkommt, damit er sich endlich mal ein Bild vom verbrecherischen
Leid und Elend des zweiten Weltkrieges und des Holocaust machen kann!
"Dann hörst du endlich mit deinen dummen
braunen Ideologien auf!" sagte Herr Müller, als sie gegen Nachmittag
auf dem Parkplatz ankamen. Tim seufzte.
Auch Kevin hatte keine Lust und schlenderte
gelangweilt mit.
Heute morgen, bevor sie zum Museum fuhren,
hatte es schon wieder den ersten Zoff bei ihm zu Hause gegeben. Zuerst
wollte er seine schwarze Bomberjacke mit der Aufschrift "88" anziehen,
doch als sein Vater erheblich protestierte, ließ er es dann doch.
Kevin wusste, dass er bei der nächsten Dummheit vielleicht einsitzen
musste, wie Senko.
Vor dem Museum, einem riesigen weißen
Flachbau, stand ein großer Weihnachtsbaum. Er war mindestens zwanzig
Meter hoch und voller weißer Lichter.
Tim kannte das Museum schon. Er war vor zwei
Jahren schon mal da gewesen. Es stand auf französischer Seite des
Rheines, etwa 30 Kilometer nördlich von Strassburg.
Die Innenräume waren voller Museumsstücke
in hunderten Glasvitrinen. An den Wänden hingen riesige Poster, auf
denen genau erklärt wird, wie beispielsweise ein Torpedo funktioniert,
wie das Innenleben eines Bunkers aussieht oder was die Splitter einer Granate
anrichten, wenn sie in zwei Meter Höhe über dem Boden detoniert.
Sie waren in einer von vielen Gruppen aufgeteilt,
während sie von einer Vitrine zur anderen schlenderten. Auf zahlreichen
Texten wurde erklärt, was genau der "Stellungskampf" war, oder was
man unter "Materialschlacht" verstand.
"Der Kampf hier im Februar 1945 war sinnlos,
doch der Führer befahl, das Dorf bis zum letzten Mann zu halten",
las Frau Sellner kopfschüttelnd von einer Tafel vor. Auch sie war
schon zweimal hier in diesem Museum gewesen.
Tim langweilte sich zu Tode! Jede Minute kam
ihm wie eine Ewigkeit vor!
"Ich verdrück mich!" sagte er, während
er durch den Steinbogen Richtung Ausgang ging.
"Aber bleib in der Nähe, hörst du!?"
rief ihm Herr Sellner noch hinterher.
Draußen dämmerte es schon. Nichts
ungewöhnliches im Winter, da es sehr früh dunkel wurde. Einige
Leute betrachteten die Steintafeln vor dem Museum, auf der hunderte Namen
eingraviert waren.
Tim schlenderte über den Vorhof zum Soldatenfriedhof.
Der Anblick war Schrecklich: So weit das Auge reichte, stand ein weißes
Kreuz nach dem anderen. Riesige Felder voller Kreuze, bis zum Horizont!
Warum nur? fragte sich Tim im Gedanken.
Was kann Millionen Menschen dazu bringen, übereinander herzufallen
und sich mit brutal raffinierter Mordtechnik abzuschlachten?
Plötzlich bekam er im Gedanken eine Antwort
von Drakota:
Sei nicht wütend, Kleiner! Für
die Verbrechen deiner Großeltern bist DU nicht verantwortlich!
Tim ging weiter durch die Reihen und stellte
plötzlich Stimmen in seinem Kopf fest. Stimmen von Soldaten, das Explodieren
von Granaten und das Schreien Verwundeter.
An diesem Ort hier liegt viel Böses
vergraben! Viel Blut wurde hier vergossen! Geh weg von hier, Tim! war
Drakotas besorgte Antwort. Doch sie wurde plötzlich immer schwächer.
Tim sah sich um und stellte fest, dass es
inzwischen stockdunkel war! Das Museum war nicht mehr zu sehen. Weit und
breit nur noch Kreuze.
Nein. Oh nein! Ich hab mich verirrt!
Seine Sinne als Drachenreiter waren inzwischen
so geschärft, dass er noch immer die Schreie der Soldaten hören
konnte. Schemenhaft konnte er sogar Bilder erkennen, in der weiten Dunkelheit.
Blitze von Leuchtgranaten, aufgewühlte
Erde, das so genannte "Niemandsland", das zwischen den Fronten verlief.
Ein Labyrinth aus Schützengräben, die teils voller blutigem Wasser
standen. Eine riesige Mondlandschaft, übersäht von Granattrichtern
und toten Menschen. Vielen von ihnen fehlten Körperteile. Die Bäume
hatten keine Blätter mehr, die Stämme waren gespickt mit Granatsplittern.
Ich muss zurück! Ich halt das nicht
mehr aus!
Doch je schneller Tim rannte, desto mehr verirrte
er sich. Der Nebel, der zwischen seinen Füßen entlang kroch,
wurde durch sein Rennen aufgewirbelt und folgte ihm, wie ein Geist. Hinter
sich glaubte Tim etwas zu hören. Jemand, der ihm folgte. Jemand, der
einen Umhang trug, der im Wind flatterte...
Inzwischen konnte Tim den Friedhof selbst
gar nicht mehr erkennen, sondern nur noch die Front. Die Bilder waren jetzt
so deutlich, dass es ihm vorkam, als befände er sich mitten in der
Schlacht.
Der Himmel war metallgrau und es regnete.
Zwei Meter neben ihm schlug eine Granate in
den schlammigen Boden ein und explodierte in einem Lichtblitz. Zwei Soldaten,
die neben ihm standen, waren sofort tot. Er selbst konnte die Druckwelle
spüren und warf sich in den Schlamm. Er spürte das kalte Wasser,
er roch den Pulvergeruch!
Drakota, hilf mir! schrie er im Gedanken
und gleichzeitig aus voller Kehle. Hilf mir hier raus! Doch sein
Drache war inzwischen weit, weit weg!
"Gasangriff!" schrie ein Soldat. "Senfgas!
Sofort die Gasmasken aufsetzen!"
Tim konnte es deutlich riechen! Es brannte
wie flüssiges Feuer! Seine Haut löste sich ganz langsam auf...
Eine Hand legte sich plötzlich um Tims
Schulter.
Schreiend drehte er sich um und packte die
Gestalt am Hals, bis er erkannte, dass es Kevin war.
"Bist du irre!" rief er.
Plötzlich waren alle Bilder von einer
Sekunde auf die andere weg, auch die Stimmen und der Kriegslärm verschwanden
und Tim erkannte wieder das dunkle Feld mit den Grabkreuzen.
Er lag zusammen mit Kevin am Boden im Nebel.
"Alle suchen dich schon, wo warst du die letzten
zwei Stunden?" fragte Kevin entrüstet.
"Zwei Stunden!?" erwiderte Tim ungläubig.
"So lange war ich weg?"
Kevin stand auf und blickte sich um. "Hast
du dich verlaufen?" die Frage klang teils besorgt, teils belustigt.
"Nein, ich war mitten im Krieg!" sagte Tim
trotzig. "Verdammt noch mal! Es ist nicht zu fassen. Wie kommt man aus
diesem Scheißfeld wieder raus!?" schrie er so wütend, dass Kevin
zusammenzuckte.
Folge einfach dem Licht, Kleiner!
Drakota? Kannst du mich jetzt endlich wieder
hören? fragte Tim im Gedanken.
Ja! Wo warst du nur so lange!?
Mitten im Krieg!
"Komm mit!" sagte Kevin. "Mann, das ist nicht
zu fassen!"
Das Licht, das langsam aber deutlich aus dem
Nebel auf sie zukam, war der helle Weihnachtsbaum vor dem Museum. Tim glaubte
es immer noch nicht. Er hatte sich wirklich verirrt!
Alle Gäste und Besucher waren schon weg.
Nur das Auto der Sellners und der Familie Müller stand noch auf dem
Parkplatz.
"Na endlich! Tim, wo warst du nur!?" fragten
Herr Sellner und Herr Müller fast gleichzeitig.
"Ich wollte mich auf dem Feld umsehen, plötzlich
war es dunkel, dann war auf einmal das Museum weg und ich stand ganz alleine
im Dunkeln!" Tim legte eine mitleiderregende Stimme auf, dass Frau Sellner
schon im nächsten Augenblick sagte: "Ach jetzt lasst doch das arme
Kind in Ruhe, Schatz. Schimpfen kannst du auch morgen früh noch mit
ihm. Spätestens dann, wenn du wieder deine Zeitung liest!"
Tim musste grinsen und machte dabei einen
schweren Fehler! Denn Kevin erkannte jetzt für eine Sekunde seine
spitzen Eckzähne!
"Was zum-?"
Tim erkannte den Fehler schnell: "Halt die
Schnauze!!" zischte Tim, gerade so leise, dass die Erwachsenen es nicht
hörten. Die waren schon damit beschäftigt, ihre Mäntel in
den Kofferraum zu legen und in die Autos einzusteigen.
"Kevin, Tim, kommt ihr?"
"Sag ein Wort, und ich saug dir das Blut aus!
Verstanden?"
Kevin nickte hastig. Dann stieg er ins Auto,
während Tim bei den Sellners mitfuhr.
Der Hund von Familie Müller, der bei Tim
mitfuhr, knurrte leise, als er in die Felder mit den Gräbern sah.
Im nächsten Moment fuhren sie schon los.
Obwohl es erst sechs Uhr abends war, war es inzwischen stockdunkel. Vom
Museum war nur noch der leuchtende Punkt des Weihnachtsbaumes zu erkennen,
als sie die Asphaltstraße in Richtung Rheinbrücke fuhren.
Wieder knurrte der Hund leise, als er in das
letzte Feld sah. Tim streichelte ihn, dann blickte er selbst hinten durch
das Rückfenster in den Friedhof.
Für einen Moment glaubte er, eine Gestalt
im schwarzem Umhang zwischen den Gräbern gesehen zu haben. Doch es
konnte auch alles nur Einbildung gewesen sein...
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