X-Mas Dragon Flight von Tobias Wagner
Kapitel 8
Der Friedhof

Heute, am letzten Tag vor Silvester war wieder ein Ausflug geplant. Es kotzte Tim ein wenig an, weil er wieder seinen Drachen zu Hause lassen musste.
Herr und Frau Sellner gingen zusammen mit Familie Müller zu einem Museum, das sich direkt hinter dem riesigen Soldatenfriedhof befand.
Herr Müller bestand darauf, dass sein Sohn Kevin mitkommt, damit er sich endlich mal ein Bild vom verbrecherischen Leid und Elend des zweiten Weltkrieges und des Holocaust machen kann!
"Dann hörst du endlich mit deinen dummen braunen Ideologien auf!" sagte Herr Müller, als sie gegen Nachmittag auf dem Parkplatz ankamen. Tim seufzte.
Auch Kevin hatte keine Lust und schlenderte gelangweilt mit.
Heute morgen, bevor sie zum Museum fuhren, hatte es schon wieder den ersten Zoff bei ihm zu Hause gegeben. Zuerst wollte er seine schwarze Bomberjacke mit der Aufschrift "88" anziehen, doch als sein Vater erheblich protestierte, ließ er es dann doch. Kevin wusste, dass er bei der nächsten Dummheit vielleicht einsitzen musste, wie Senko.
Vor dem Museum, einem riesigen weißen Flachbau, stand ein großer Weihnachtsbaum. Er war mindestens zwanzig Meter hoch und voller weißer Lichter.
Tim kannte das Museum schon. Er war vor zwei Jahren schon mal da gewesen. Es stand auf französischer Seite des Rheines, etwa 30 Kilometer nördlich von Strassburg. 
Die Innenräume waren voller Museumsstücke in hunderten Glasvitrinen. An den Wänden hingen riesige Poster, auf denen genau erklärt wird, wie beispielsweise ein Torpedo funktioniert, wie das Innenleben eines Bunkers aussieht oder was die Splitter einer Granate anrichten, wenn sie in zwei Meter Höhe über dem Boden detoniert.
Sie waren in einer von vielen Gruppen aufgeteilt, während sie von einer Vitrine zur anderen schlenderten. Auf zahlreichen Texten wurde erklärt, was genau der "Stellungskampf" war, oder was man unter "Materialschlacht" verstand.
"Der Kampf hier im Februar 1945 war sinnlos, doch der Führer befahl, das Dorf bis zum letzten Mann zu halten", las Frau Sellner kopfschüttelnd von einer Tafel vor. Auch sie war schon zweimal hier in diesem Museum gewesen.
Tim langweilte sich zu Tode! Jede Minute kam ihm wie eine Ewigkeit vor!
"Ich verdrück mich!" sagte er, während er durch den Steinbogen Richtung Ausgang ging.
"Aber bleib in der Nähe, hörst du!?" rief ihm Herr Sellner noch hinterher.

Draußen dämmerte es schon. Nichts ungewöhnliches im Winter, da es sehr früh dunkel wurde. Einige Leute betrachteten die Steintafeln vor dem Museum, auf der hunderte Namen eingraviert waren.
Tim schlenderte über den Vorhof zum Soldatenfriedhof. Der Anblick war Schrecklich: So weit das Auge reichte, stand ein weißes Kreuz nach dem anderen. Riesige Felder voller Kreuze, bis zum Horizont!
Warum nur? fragte sich Tim im Gedanken. Was kann Millionen Menschen dazu bringen, übereinander herzufallen und sich mit brutal raffinierter Mordtechnik abzuschlachten? 
Plötzlich bekam er im Gedanken eine Antwort von Drakota:
Sei nicht wütend, Kleiner! Für die Verbrechen deiner Großeltern bist DU nicht verantwortlich!
Tim ging weiter durch die Reihen und stellte plötzlich Stimmen in seinem Kopf fest. Stimmen von Soldaten, das Explodieren von Granaten und das Schreien Verwundeter.
An diesem Ort hier liegt viel Böses vergraben! Viel Blut wurde hier vergossen! Geh weg von hier, Tim! war Drakotas besorgte Antwort. Doch sie wurde plötzlich immer schwächer.
Tim sah sich um und stellte fest, dass es inzwischen stockdunkel war! Das Museum war nicht mehr zu sehen. Weit und breit nur noch Kreuze.
Nein. Oh nein! Ich hab mich verirrt!
Seine Sinne als Drachenreiter waren inzwischen so geschärft, dass er noch immer die Schreie der Soldaten hören konnte. Schemenhaft konnte er sogar Bilder erkennen, in der weiten Dunkelheit.
Blitze von Leuchtgranaten, aufgewühlte Erde, das so genannte "Niemandsland", das  zwischen den Fronten verlief. Ein Labyrinth aus Schützengräben, die teils voller blutigem Wasser standen. Eine riesige Mondlandschaft, übersäht von Granattrichtern und toten Menschen. Vielen von ihnen fehlten Körperteile. Die Bäume hatten keine Blätter mehr, die Stämme waren gespickt mit Granatsplittern.
Ich muss zurück! Ich halt das nicht mehr aus!
Doch je schneller Tim rannte, desto mehr verirrte er sich. Der Nebel, der zwischen seinen Füßen entlang kroch, wurde durch sein Rennen aufgewirbelt und folgte ihm, wie ein Geist. Hinter sich glaubte Tim etwas zu hören. Jemand, der ihm folgte. Jemand, der einen Umhang trug, der im Wind flatterte...
Inzwischen konnte Tim den Friedhof selbst gar nicht mehr erkennen, sondern nur noch die Front. Die Bilder waren jetzt so deutlich, dass es ihm vorkam, als befände er sich mitten in der Schlacht.
Der Himmel war metallgrau und es regnete.
Zwei Meter neben ihm schlug eine Granate in den schlammigen Boden ein und explodierte in einem Lichtblitz. Zwei Soldaten, die neben ihm standen, waren sofort tot. Er selbst konnte die Druckwelle spüren und warf sich in den Schlamm. Er spürte das kalte Wasser, er roch den Pulvergeruch!
Drakota, hilf mir! schrie er im Gedanken und gleichzeitig aus voller Kehle. Hilf mir hier raus! Doch sein Drache war inzwischen weit, weit weg!
"Gasangriff!" schrie ein Soldat. "Senfgas! Sofort die Gasmasken aufsetzen!"
Tim konnte es deutlich riechen! Es brannte wie flüssiges Feuer! Seine Haut löste sich ganz langsam auf...

Eine Hand legte sich plötzlich um Tims Schulter.
Schreiend drehte er sich um und packte die Gestalt am Hals, bis er erkannte, dass es Kevin war.
"Bist du irre!" rief er.
Plötzlich waren alle Bilder von einer Sekunde auf die andere weg, auch die Stimmen und der Kriegslärm verschwanden und Tim erkannte wieder das dunkle Feld mit den Grabkreuzen.
Er lag zusammen mit Kevin am Boden im Nebel.
"Alle suchen dich schon, wo warst du die letzten zwei Stunden?" fragte Kevin entrüstet.
"Zwei Stunden!?" erwiderte Tim ungläubig. "So lange war ich weg?"
Kevin stand auf und blickte sich um. "Hast du dich verlaufen?" die Frage klang teils besorgt, teils belustigt.
"Nein, ich war mitten im Krieg!" sagte Tim trotzig. "Verdammt noch mal! Es ist nicht zu fassen. Wie kommt man aus diesem Scheißfeld wieder raus!?" schrie er so wütend, dass Kevin zusammenzuckte.
Folge einfach dem Licht, Kleiner!
Drakota? Kannst du mich jetzt endlich wieder hören? fragte Tim im Gedanken.
Ja! Wo warst du nur so lange!?
Mitten im Krieg!
"Komm mit!" sagte Kevin. "Mann, das ist nicht zu fassen!"
Das Licht, das langsam aber deutlich aus dem Nebel auf sie zukam, war der helle Weihnachtsbaum vor dem Museum. Tim glaubte es immer noch nicht. Er hatte sich wirklich verirrt!
Alle Gäste und Besucher waren schon weg. Nur das Auto der Sellners und der Familie Müller stand noch auf dem Parkplatz.
"Na endlich! Tim, wo warst du nur!?" fragten Herr Sellner und Herr Müller fast gleichzeitig.
"Ich wollte mich auf dem Feld umsehen, plötzlich war es dunkel, dann war auf einmal das Museum weg und ich stand ganz alleine im Dunkeln!" Tim legte eine mitleiderregende Stimme auf, dass Frau Sellner schon im nächsten Augenblick sagte: "Ach jetzt lasst doch das arme Kind in Ruhe, Schatz. Schimpfen kannst du auch morgen früh noch mit ihm. Spätestens dann, wenn du wieder deine Zeitung liest!"
Tim musste grinsen und machte dabei einen schweren Fehler! Denn Kevin erkannte jetzt für eine Sekunde seine spitzen Eckzähne!
"Was zum-?"
Tim erkannte den Fehler schnell: "Halt die Schnauze!!" zischte Tim, gerade so leise, dass die Erwachsenen es nicht hörten. Die waren schon damit beschäftigt, ihre Mäntel in den Kofferraum zu legen und in die Autos einzusteigen.
"Kevin, Tim, kommt ihr?"
"Sag ein Wort, und ich saug dir das Blut aus! Verstanden?"
Kevin nickte hastig. Dann stieg er ins Auto, während Tim bei den Sellners mitfuhr.

Der Hund von Familie Müller, der bei Tim mitfuhr, knurrte leise, als er in die Felder mit den Gräbern sah.
Im nächsten Moment fuhren sie schon los. Obwohl es erst sechs Uhr abends war, war es inzwischen stockdunkel. Vom Museum war nur noch der leuchtende Punkt des Weihnachtsbaumes zu erkennen, als sie die Asphaltstraße in Richtung Rheinbrücke fuhren.
Wieder knurrte der Hund leise, als er in das letzte Feld sah. Tim streichelte ihn, dann blickte er selbst hinten durch das Rückfenster in den Friedhof.
Für einen Moment glaubte er, eine Gestalt im schwarzem Umhang zwischen den Gräbern gesehen zu haben. Doch es konnte auch alles nur Einbildung gewesen sein...
 

Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!


Und schon geht es hier weiter zum 9. Kapitel...

.
www.drachental.de