X-Mas Dragon Flight von Tobias Wagner
Kapitel 9
Der letzte Traum

Tim fand sich kurz nach dem Einschlafen an Drakotas Seite plötzlich auf einer großen Wiese wieder, die sich vor einem riesigen weißen Palast befand.
Den Palast kannte Tim von seiner letzten Traumreise schon. Es war der Ort, an dem er dem schönen Elfenmädchen begegnet war.
Für einen "Traum" wirkte aber alles sehr real: Tim konnte das Gras riechen und den Geruch der Blumen und Blätter. Seine Sinne waren viel schärfer geworden, seit er Drachenreiter wurde.
Er erkannte, dass die Sonne schon sehr tief stand und eine orangerote Lichtwelle den riesigen Wald hinter dem Palast überflutete. Der riesige Kristall auf der Dachkuppel strahlte orangerot.

Geh schon rein, Kleiner. Ich warte hier draußen auf dich!

Mit etwas weichen Knien betrat Tim das riesige Gebäude. Die große bogenförmige Eingangstür schwang wie von Geisterhand auf, als er vor ihr ankam.
In der Mitte der Halle befand sich ein riesiger Springbrunnen. Es war ein Drache aus weißem Stein, der aus seinem Maul eine Wasserfontäne nach oben spuckte. Im Teich 
davor schwammen blaue Fische, die Tim noch nie zuvor gesehen hatte!

Jetzt erkannte Tim das Elfenmädchen, das vor dem Teich im Schneidersitz auf dem Boden saß und zu meditieren schien.

"Willkommen, Tim!" sagte sie mit sanfter, heller Stimme, ohne sich umzublicken.
"Ist dies wieder eine Traumreise?
"Ja." antwortete sie. "Hast du Angst vor dem Flug hierher?"
Tim zögerte erst mit der Antwort. "Ja, etwas", gestand er dann ein.
"Als Drachenreiter musst du als erstes deine Ängste besiegen", sagte die Elfe Serenia.
"Ängste? Welche Ängste meinst du noch?" fragte Tim, doch er ahnte schon, was sie damit meinte.
Die Elfe kicherte. "Nun ja, all die Ängste, die ihr Menschen so mit euch herumschleppt: Angst vor Enttäuschung, vor dem Tod und am schlimmsten: Die Angst vor der Angst selbst! Wenn du diese Ängste besiegst, erhältst du den Schlüssel, um Necramor zu besiegen."
Dann stand sie auf und ging auf Tim zu. Tim schauderte ein wenig, denn ihre Eckzähne waren viel länger als seine und in ihrem Fellumhang wirkte sie wie ein Raubtier.
"Ich habe etwas für dich!" sagte sie und streckte ihre Hand aus. Tim tat das gleiche und berührte sie. Sie war warm und weich, als sie ihm etwas in seine drückte. Es war eine kleine, grünblaue Pille.
"Wenn du mit deinem Drachen losfliegst, schluck sie. Das hilft dir auf der Reise."
"Was ist das?" fragte Tim.
Das Elfenmädchen lächelte. "Das wirst du schon sehen!"

Die Umgebung verblasste plötzlich wieder und Tim glitt in die Dunkelheit zurück. Unter sich spürte er nur noch Drakotas warme Schuppen.
Dann wurde es um ihn herum wieder hell...

.

Der letzte Tag des Jahres - und Tims letzter Tag hier auf der Erde - begann mit einem Bilderbuchsonnenaufgang. Keine einzige Wolke war am Himmel, als Tim durch Drakotas Zunge geweckt wurde, die ihm übers Gesicht leckte.
Aufwachen, Kleiner! Heute ist unser großer Tag!
Drakota hob einen Flügel und ließ Tim unter sich herauskrabbeln, der gegen diese Wäsche protestierte.
Der Anblick der aufgehenden Sonne über dem Wald war fantastisch, immerhin war es jetzt schon seit acht Wochen tagsüber nur bewölkt gewesen.
Er öffnete seine Hand und hatte noch immer die Pille, die ihm die Elfe gegeben hatte.
Schluck sie, nachdem wir losgeflogen sind, antwortete plötzlich der Drache.
"Du weißt von meinem Traum?" fragte Tim verblüfft, während er die Pille auf seinen Schreibtisch legte.
Natürlich!
Tim ging runter in die Küche, noch halb im Schlaf und machte sich Cornflakes. Auch Drakotas Magen knurrte.
Ich hab sooo Hunger! knurrte er in Tims Gedanken.
Mal sehen, ob ich was für dich finde!
Er ging in den Keller und holte die letzten Schinken und Würste, die dort an der Decke hingen. Wieder oben in Tims Zimmer angekommen, verschlang sie Drakota gierig nacheinander.
Dann wurde unten die Haustür geöffnet.
"Tim?"
Frau Sellner kam gerade mit zwei Einkaufstüten herein.
"Wieso lässt du deine Cornflakes auf dem Tisch stehen? Jetzt sind sie ganz matschig!" hallte es hoch.
"Komme sofort!" rief Tim nach unten und dachte sich dann: Heute ist der letzte Tag, an dem ich meinen Drachen verstecken muss!

Frau Sellner räumte indessen etwas unten in der Küche rum.
"Draußen ist es wunderschön, aber klirrend kalt! Du kannst uns nachher mit dem Essen helfen, das wir für heute abend richten. Wir feiern heute abend eine Silvesterparty mit vielen Leuten. Das wird wieder mal ein Stress!" seufzte sie. "Aber diesmal Gott sei dank nicht bei uns, sondern bei Familie Müller auf einer Hütte. Dort muss Kevin schon seit zwei Tagen zur Strafe Holz hacken."
"Die Randaliererei an Heiligabend, richtig?" fragte Tim, während er die Treppe nach unten in die Küche kam.
"Genau. Und sie haben gestern abend am Telefon gesagt, sie hätten oben so eine große Jägerhütte im Schwarzwald. Es gibt Schnitzel, Käsefondue, Pommes und jede Menge Wein! Mein Mann ist eben einkaufen gefahren und will für dich auch was mitbringen, hat er gesagt."
Oh nein! dachte Tim. Dann müssen wir ja unseren Flug um einen Tag verschieben!!
"Können wir nicht lieber hier feiern?" fragte Tim.
"Na du bist ja gut!" entgegnete Frau Sellner. "Du wolltest doch unbedingt, dass wir während den Weihnachtsferien viel unternehmen und dass es hier nicht so langweilig wird, bis dein Vater von der Geschäftsreise wiederkommt! Und das ist ja schon übermorgen. Doch seit einer Woche vergräbst du dich nur noch in deinem Zimmer."
Tim wusste, dass sie Recht hatte, aber den Drachenflug um einen Tag verschieben - diesen Luxus konnten sie sich nicht leisten!
Und wenn ich mit meinem Drachen gleich am Neujahrsmorgen von der Berghütte aus fliege und gar nicht erst wieder hier herkomme? dachte er sich. Das wäre auch eine Option.
Während Tim darüber grübelte, öffnete Frau Sellner den Kühlschrank.
"Wo ist denn das ganze Fleisch hin? Schinken, Fisch... Da war doch vor drei Tagen noch das ganze Gefrierfach voll?"
"Mein Dra- ähm, wir haben es an Heiligabend schon gegessen!" sagte Tim schnell.

"Hm, meinst du?" fragte Frau Sellner. "Na ja, so betrunken wie wir da waren..."
Dann sah sie Tim an und meinte: "Du könntest uns ja mal mit den Vorbereitungen helfen. Immerhin ist es schon bald Mittag!"
"Welche Vorbereitungen?"
"Zum Beispiel müsste das Fonduebesteck gespült werden, da es schon zwei Jahre im Keller stand und total verstaubt ist. Außerdem könntest du Teller und Gläser zusammenstellen, da wir selbst nicht so viele haben. Immerhin kommen heute abend jede Menge Gäste auf die Hütte! Wahrscheinlich müssen wir sogar mit drei Autos fahren. Die Hansens vom Stammtisch kommen auch noch. Na das wird ja was geben!"
Oh ja, das wird heute abend was geben... Vor allem dann, wenn jemand meinen schuppigen Freund sieht! dachte sich Tim. Familie Müller, Familie Hansen und noch wir drei - ähm vier!
Wieder klingelte es an der Tür.
Tim öffnete sie.
Herr Sellner trat ein. "Ist meine Frau bei dir?"
"Ja," sagte Tim, "sie sagte, ihr braucht noch Geschirr von uns, weil ihr selbst nicht genug habt."
"Ja, auf soo großen Besuch sind die Müllers auf der Hütte nicht vorbereitet. Außerdem habe ich dir etwas mitgebracht, Tim."
Herr Sellner gab Tim eine große Pappkartonschachtel. Er öffnete sie.
Sie war voller Feuerwerkskörper! Bei diesem Anblick schlug Tims Herz höher! Mindestens fünfzig Raketen verschiedener Größen, mehrere Leuchtbatterien, und jede Menge Böller!
"Aber erst heute abend abbrennen!" sagte er mahnend.
Tim nickte.
"Wie sieht es mit dem Essen aus? Wollen alle Fondue?"
"Ja," antwortete Frau Sellner, "es werden alle essen, deshalb habe ich ein bisschen mehr gekauft. Herr Müller wird aber heute Abend nicht so viel essen. Der bekam gestern die Weisheitszähne gezogen."
Frau Sellner seufzte. "Warst du auch bei der Apotheke?"
"Ja, allerdings!" antwortete ihr Mann und seine Stimme wurde wütend. "Dort habe ich mal eben 285 Euro gelassen! In diesem Land gibt es halt nichts umsonst, nicht mal die nötigste Medizin. Da zahlt man sein Leben lang Monat für Monat an Rente, Pflege- und Krankenversicherung, dann muss man am Ende doch alles selbst zahlen, was immer schlimmer wird, da die versprochenen Rentenerhöhungen immer wieder ausbleiben."
Herr Sellner sah sich den Kassenzettel der Apotheke an: " Fast 300 Euro für zwei Schachteln! Mann gönnt sich ja sonst nichts!"

Tim half Frau Sellner eine Kiste voll Geschirr so richten, die sie sogleich mit rüber nahm. Tim verschlang hastig seine Cornflakes und ging raus auf den Hof. Es war wirklich saukalt! Lange Eiszapfen hingen von der Dachrinne herunter und die Regentonne an der Hauswand war beim Überlaufen eingefroren. Jetzt stand da ein riesiger Eisklotz.
Er blickte zum Himmel, der strahlend blau war. Nur an wenigen Stellen waren einige Kumuluswolken.
Nach wenigen Minuten ging Tim wieder ins Haus, weil es ihm schnell zu kalt wurde.

Du solltest langsam deine Sachen packen. Nachher hast du vielleicht keine Zeit mehr!
Tim sah den Drachen an. "Du hast Recht. In ein paar Stunden müssen wir schon wieder los. Mann, wie die Zeit vergeht!"
Tim sah sich in dem Haus um. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er heute seine Heimat hier zum letzten Mal sehen wird.

Tim nahm seinen großen Wanderrucksack vom Wandschrank und legte ihn aufs Bett. Dann sah er sich in seinem Zimmer suchend um.
"Was soll ich eigentlich mitnehmen? Was kann ich bei den Elfen in Eteo wirklich gebrauchen?" grübelte er.
Dann legte er seine vier Lieblingsbücher aufs Bett, sein Taschenmesser, seinen Kompass, seine Solartaschenlampe, zwei Wolldecken und die kleine Schachtel mit dem Astronautenfutter, die er von dem Professor bekommen hatte. Das alles räumte er sorgsam in seinen Rucksack und tat noch sein Fotoalbum dazu. Sein zusammengeklapptes Spiegelteleskop passte auch gerade noch so rein.
Der Drache sah ihm mit großen Augen zu.
Seine Lieblingskette mit dem Keltenkreuzanhänger hing sich Tim um den Hals. Darauf war er besonders stolz.
Als er fertig war, band er alles auf Drakotas Rücken. Eine der Decken legte er darunter, damit er bequem sitzen konnte. Die Pille, die ihm das Elfenmädchen für die Reise geschenkt hatte, nahm er vom Schreibtisch und steckte sie in seine Tasche.
Hast du alles, Kleiner?
"Hmm. Ich denke schon!" antwortete Tim. Dann sah er zum Fenster hinaus.
Es dämmerte.
 

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Und schon geht es hier weiter zum 10. Kapitel...

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