In der linken Hand hatte Tim eine grüne
Weinflasche, in der anderen eine kleine Silvesterrakete, als er mit einem
Grinsen im Gesicht wenig später in den Hintergarten ging.
Normalerweise werden Raketen erst um 24 Uhr
abgefeuert, aber er hatte über 20 Stück und eine konnte man ja
entbehren...
Bis zum Hals grub er die Weinflasche in den
Schnee ein und steckte den Holzstab der Rakete in die Flasche.
Drakota sah ihm durch das Dachfenster zu.
Verbrenn dich nicht, Kleiner!
Tim sprang zurück, als die Rakete nach
dem Anzünden fauchend gen Himmel stieg und in einem weißen Knattersternbukett
explodierte.
"Crass!" hauchte er.
Aber irgendwie schade, dass es heute das
letzte Mal ist, wo ich Silvesterraketen abbrennen kann, dachte er sich.
Sei doch nicht traurig, Kleiner! kam
die ermutigende Antwort seines Drachens. Glaubst du, bei uns in Eteo
gibt es kein Feuerwerk? Du solltest mal sehen, was die Argonier alles in
die Luft jagen, wenn dort Feste sind!
Tim schoss noch ein paar kleinere Knaller ab,
die er in der Hosentasche hatte. Einen viereckigen Kanonenschlag, den er
in den Mund des Schneemannes drückte, zerriss dessen Kopf. Ein Knatterblitz
machte ganz eigenartige Geräusche, als er ihn in die Regentonne unter
die Eisdecke stopfte.
"Tim?" rief plötzlich Frau Sellner. "Du
musst mir helfen!"
"Komme sofort!" rief er zurück. Sie stand
am Fenster auf der anderen Straßenseite und schien in der Küche
schwer beschäftigt zu sein.
Als er über die Straße eilte, war
es inzwischen völlig dunkel.
Ich komme gleich noch mal kurz rüber
und mache dir oben die Terrassentür auf, teilte Tim seinem Drachen
im Gedanken mit.
Als er vor dem Haus der Sellners stand und
gerade klingeln wollte, fuhr die Familie Müller mit dem Auto in den
Hof.
Frau Sellner war indessen dabei, das ganze
Geschirr und das Essen in ihr Auto zu laden. Tim half ihr mit dem Fonduegerät.
Auch die Feuerwerkskörper und Weinkisten kamen noch dazu.
Als alles eingeladen war, schloss Herr Sellner
die Wohnungstür ab und kam auch zum Auto.
Herr Müller indessen stieg gar nicht
erst aus sondern machte Anstalten, gleich weiterzufahren.
Herr Sellner nickte, als er selbst schon die
Autotür öffnete.
"Habt ihr alles?" rief Herr Müller durch
das halboffene Fenster rüber.
"Ja, wir fahren!" antwortete Frau Sellner.
"Moment! Ich muss noch mal hoch in mein Zimmer.
Dauert nur eine Minute", sagte Tim.
"Aber beeil dich!" seufzte Herr Sellner.
Tim eilte zu sich ins Haus.
Als er im Dachgeschoss ankam, sah ihn der
Drache schon ungeduldig an: Geht’s jetzt los!?
"Ja!" sagte Tim und öffnete die Dachterrassentür.
"Flieg uns einfach hinterher bis zur Hütte! Sobald die Silvesterparty
vorbei ist, fliegen wir los!"
Und das ist heute Nacht das letzte Mal,
dass ich mich verstecken muss?
"Ja!"
Der Drache schleckte ihm übers Gesicht.
Und
du hast wirklich alles auf meinem Rücken dabei?
"Ja!"
Tim überprüfte noch mal alles. Sein
Rucksack hatte er fest zusammen mit seinen anderen Habseligkeiten auf Drakotas
Rücken festgebunden. Dann schloss er die Terrassentür und flog
auf Drakotas Rücken in den Hintergarten hinunter. Dort setzte ihn
der Drache ab.
Gerade als Tim abstieg, trat das ein, was er
immer versucht hatte, zu vermeiden. Nämlich gesehen zu werden!
Frau Kotter kam gerade in ihren Hintergarten
und sah Tim und den Drachen. Leider trennte nur ein einfacher Maschendraht
die Grundstücke und so konnte sie den Drachen in voller Pracht sehen.
"Rotzbengel!" rief sie zuerst. "Hast vorhin
die Rakete abge-"
Mit einem spitzen Schrei ließ sie die
Schneeschaufel fallen.
Drakota riss seinen Kopf herum und knurrte.
Auch Tim zeigte seine spitzen Zähne und
fauchte wie ein Raubtier.
Wieder schrie sie laut auf und rannte dann
mit fuchtelnden Armen ins Haus.
Fahr jetzt besser los, Tim! Ich folge dir!
Viel Spaß auf der Party, Kleiner!
Tim eilte um das Haus herum, sprang über
den kleinen Zaun und stieg bei den Sellners ins Auto.
"Na endlich! Junge, wo warst du so lange?"
kam schon die vorwurfsvolle Frage von Frau Sellner.
"Probleme beim einchecken!" sagte Tim. "Hab
noch was erledigen müssen, dabei kam mir die alte Schachtel Kotter
dumm!"
Herr Sellner grummelte etwas unverständliches,
dann setzte sich das Auto in Bewegung.
Mal gespannt, ob sie jetzt die Bullerei
ruft. Soll sie ruhig! Ich bin weg und keiner weiß, wo wir heute Abend
hinfahren, dachte sich Tim, als er aus dem Seitenfenster blickte.
Der Weg führte erst durch das Dorf, dann
die Schwarzwaldhochstraße entlang, die sich um die Bergrücken
schlängelte.
Irgendwann bog Herr Müller vor ihnen
in einen Schotterweg ab, der einige Zeit durch den finsteren Wald verlief.
Durch das starke Fernlicht konnten sie die
Berghütte schon recht bald erkennen. Längst war es stockdunkel
geworden.
Tim blickte aus dem Fenster und sah einen
schwarzen Punkt am Himmel.
Ich bin direkt hinter dir, Kleiner!
Der Drache hatte wirklich keine Schwierigkeiten,
dem Auto zu folgen. So hell wie die Scheinwerfer in dem schwarzen, dunklen
Wald unter ihm leuchteten. Viel größere Sorgen machte er sich
um den Schwarzmagier, der vielleicht irgendwo da unten rumschleicht.
Als sie die letzten Meter des holprigen Waldweges
zurückgelegt hatten, kamen sie an der Berghütte an. Familie Müller
war schon da und hatte Feuer gemacht. Das erkannten sie am qualmenden Kamin.
Auch die Hansens waren wohl schon in der Hütte.
"So, da wären wir!" sagte Frau Sellner.
Tim öffnete die Tür und fröstelte, als er aus dem warmen
Auto ausstieg.
Dann half er Frau Sellner, das Fonduegerät,
die Teller, das Essen, die Getränke und das Beste: Die Feuerwerkskörper,
in die Hütte zu bringen.
In einem unbeobachteten Moment sprang Tim zwischen
die Bäume und hastete etwa 300 Meter durch den Wald, bis zu einer
kleinen Lichtung.
Drakota, wo bist du? Hier kannst du landen!
Kurz darauf hörte er Flügelschläge
und ein schwarzer Schatten kam herunter.
Aha, hier steckst du, Kleiner!
Der Drache schnupperte an Tims Händen.
Fondue?
"Ja", sagte Tim, "ich bring dir was mit, nachher.
Nicht, dass du zu wenig Kraft zum Fliegen hast, hihi!"
Ich hab mehr Kraft, als du dir vorstellen
kannst. Diese Tage der Erholung haben mir gut getan!
Tim blickte auf seine Armbanduhr und meinte:
"Zehn vor sechs. Noch ein paar Stunden, dann fliegen wir!"
Er umarmte den Hals des Drachen und sagte:
"Wenn du wüsstest, wie aufgeregt ich bin!"
Ja, Kleiner, aber jetzt feier noch mal
schön! Ich warte hier auf dich bis Mitternacht.
Tim nickte. "Gut, du kannst ja wieder mit
meinen Augen mit sehen!"
Natürlich!
Dann eilte er wieder zurück zur Hütte.
Es waren ja nur ein paar Meter.
Dort herrschte ein regelrechtes Chaos. Alle
halfen mit, den großen Eichenholztisch, der sich in der Mitte des
Raumes befand, zu decken. An der Wand hingen unzählige ausgestopfte
Hirschköpfe, Felle und Hörner.
Alte Petroleumlampen standen auf dem Tisch
und hingen an den Wänden. Dies war allerdings nur zur Dekoration,
denn die Waldhütte besaß eine Solarstromanlage, deren Akkus
für das eigentliche Licht sorgte.
Familie Hansens waren mit ihren zwei kleinen
Kindern auch da. Sie halfen Frau Sellner die Essenskörbe und das Fonduegerät
aufzubauen. Kevin war erstaunlich ruhig heute und ging Tim ständig
aus dem Weg. Dafür nervte ihn Susanne und Christian um so mehr!
Sie hatten nämlich auch jede Menge Knallfrösche
und Leuchtkäfer dabei. "Die größeren Knaller und Raketen
hütet unser Vater bis 24 Uhr vor uns, dann dürfen wir auch ein
paar von denen abbrennen!" schwärmte Christian.
Tim holte die große Schachtel vom Eichenschrank
neben der Tür, wo sie Herr Sellner hingestellt hatte. Dort waren seine
Feuerwerkskörper drin! Er nahm sich ein paar Luftheuler und einen
großen Ufo, dann stellte er die Kiste wieder zurück auf den
Schrank.
"Sollen wir vor der Hütte davon etwas
abbrennen?" fragte Tim.
"Ja!" riefen die Kinder.
"Aber geht nicht so weit von der Hütte
weg und seid vorsichtig!" ermahnte Herr Müller.
Die Kinder nickten, während sie zur Tür
hinaushasteten. Bis zum Essen dauerte es ja bestimmt noch eine Stunde.
Tim ging etwa zwanzig Meter von der Hütte
weg, um seinen Ufo zu starten. Wohl darauf bedacht, in die entgegengesetzte
Richtung zu gehen, wo sein Drache wartete.
Die Kinder sahen gebannt zu, während
Tim den Ufo auf den Boden stellte, und die grüne Zündschnur mit
seinem Sturmfeuerwerk entzündete.
Wenig später stieg er rotierend auf,
setzte auf seinem Weg nach oben unzählige Sprühfunken frei und
explodierte in etwa 50 Metern über der Hütte in einem grünen
Leuchtsternbukett.
"Fantastisch!" riefen die Kinder.
Christian zog den Reißverschluss seiner
Jacke auf und grinste Susanne und Tim an, während er eine riesige
Rakete mit Bombensternfüllung herauszog. "Die hab ich gerade während
der Autofahrt aus der Kiste unserer Eltern geschmuggelt."
"Wir haben keine Flasche." stellte Susanne
fest.
Tim zeigte auf den kleinen Schuppen hinter
der Hütte. "Ich schau mal, ob ich ein Rohr oder ähnliches finde."
Tim wurde in dem Werkzeugschuppen schnell
fündig. Eine Gartenzaunhalterung musste zur Not jetzt eben herhalten.
Während Christian die Schutzkappe der
Rakete abzog, steckte Tim das Rohr in den Boden, was gar nicht so leicht
war, denn er war gefroren.
Doch sie schafften es.
Christian steckte den Stab in das Rohr, als
plötzlich die Tür der Hütte aufging und Herr Sellner herauskam.
Tim stellte sich blitzschnell vor das Rohr,
damit er es nicht sehen konnte.
"Spielt ihr schön?" fragte er.
"Ja, wir kommen gleich rein!" sagte Christian.
"Das Fondue ist gleich fertig", sagte Herr
Sellner, während er in die Hütte zurückging und die Tür
anlehnte.
"Poah, das war knapp!" stöhnte Christian.
Wenn mein Vater mitkriegt, dass ich heimlich seine Raketen abbrenne..."
"Lass uns mal machen und dann besser reingehen!"
drängte Susanne.
"Na gut!" sagte Christian, während er
die Zündschnur der Rakete anzündete.
"Volle Deckung!!" riefen sie fast gleichzeitig
und eilten zur Hütte.
Wie gebannt starrten sie auf das Rohr mit
der Rakete drin.
Fauchend startete das Geschoss gen Himmel
und zog eine Silberspur hinter sich her.
Wenig später explodierte sie mit ohrenbetäubendem
Knall über dem Wald. Die Schneedecke auf dem Parkplatz leuchtete rot
wie Himbeereis.
"Oooaaahh!" hauchten die Kinder. "Das war
ja mal cool!"
"Warte mal ab, wenn es Mitternacht ist!" kicherte
Christian.
Dann gingen die Kinder in die Hütte zurück
und schlossen die Tür.
Drinnen saßen alle schon am großen
runden Eichentisch vor dem Steinkamin.
In der Mitte des Tisches stand der Fonduekessel.
Jeder nahm sich einen farbigen Spieß, während ein Korb mit Rotwein
auf den Tisch gestellt wurde. Herr Sellner stellte für die Kinder
Limonade hin.
Die Erwachsenen unterhielten sich über
das abgelaufene Jahr. Herr Müller erzählte, wie es im Geschäft
war, Frau Sellner beschwerte sich über die Politik. Es dauerte nicht
lange, da mischte sich Herr Sellner prompt ein.
Tim kannte es nur allzu gut...
"Eine Schande, wie zur Zeit mit den Bürgern
umgegangen wird!" fluchte er los. "Während unser Bundesinnenminister
auf "Ergänzungen des Grundgesetzes" verschönt, reagieren Datenschützer
so alarmiert, wie noch nie! Das geheime Ausspionieren der Bürger (auf
bloßen und unbegründeten Verdacht!), soll künftig so einfach
gemacht werden, wie noch nie. Von biometrischen Reisepässen mit Mikrochip
bis hin zur heimlichen Onlinedurchsuchung von privaten Computern.
"Egal was wir tun, mit wem wir telefonieren,
Emailkontakt haben, was wir im Versandhaus bestellen, wohin wir mit dem
Auto fahren, mit wem wir befreundet sind, in welchem Freizeitclub wir sind
oder für welche politische Partei wir uns interessieren - der "Große
Bruder" weiß es immer genauer!"
Ist die Kommunikation mit Brief und Wachssiegel
bald sicherer, wie die digitalen Medien? Wohl dem, der noch eine alte Enigma
Chiffriermaschine auf dem Dachboden hat!"
Das Essen wurde ausgegeben und Tim legte los.
Er wunderte sich, woher der Hunger kam. Das Fondue war lecker. Die erste
Flasche Limonade zog er auf ex herunter.
Nicht, dass dir nachher auf dem Flug schlecht
wird, Kleiner! kam plötzlich die Stimme des Drachens in seinem
Kopf. Du schlingst, als hättest du eine Woche nichts gegessen!
"Bei uns im Geschäft ist das schon lange
so", sagte Herr Müller. "Wenn wir Mitarbeiter am Geschäftscomputer
eine Email schreiben oder eine Webseite besuchen, kann der Chef immer darauf
zugreifen. Völlig legal!"
Tim dachte an die Mail, die ihm Jury Tschenkow,
der Arbeitskollege von Tims Vater, geschickt hatte. Wenn die der Chef zufällig
abgefangen hätte...
"Ich war vor einem Jahr am 1. Mai bei der großen
Technikmesse in Gaggenau", mischte sich Kevin ein. "Das Daimler-Werk hatte
da Tag der offenen Tür. Es war hochinteressant. Gegen Mittag soll
es aber heftigen Ärger gegeben haben, weil einige Idioten randalierten.
Deshalb mussten wir früher gehen", fügte Tim enttäuscht
hinzu.
Herr Müller nickte.
"Ich war dabei! Einen solchen Skandal habe
ich noch nie erlebt! Bei dieser letzten Technikmesse und Gewerkschaftsversammlung
dort im DC Werk Gaggenau, wo auch hunderte Bürger aus Gernsbach und
Hilpertsau teilnahmen, war das Unfassbare eingetreten!
Dort ermöglichten 400 Polizisten und
2 Wasserwerfern es, zirka 500 Rechtsextremisten ungehindert auf das riesige
Firmenwerksgelände durch die Veranstaltung zu marschieren und Flugblätter
mit nationalsozialistischem Inhalt zu verteilen! Kommunisten, die den Aufmarsch
verhindern wollten, mussten hinter der Polizeiabsperrung zugucken.
Als sich die Gäste, die Betriebsräte
und noch zirka 50 Linksdemokraten den Rechten in den Weg stellten und auch
noch "Nazis raus!!" riefen, schlug die Polizei zu.
Erst wurden die Linksdemokraten durchsucht,
dann mussten sie ihre Personalien rausrücken und schließlich
per Platzverweis verschwinden. Als die Gewerkschaften Verdi und IG Metall
protestierten, drohte die Polizei, die Veranstaltung abzubrechen und die
"Störenfriede" (gemeint waren die friedlichen Demokraten), zu verhaften.
Als dann um 11 Uhr die ersten Steine und Flaschen
flogen, hatten die Veranstalter keine Wahl und musste die Messe gegen Mittag
dann selber abbrechen, um schlimmeres zu verhindern.
Der Betriebsvorstand und die Veranstalter
tobten vor Wut: Dass die Polizei unsere Veranstaltung vor den Nazis nicht
geschützt hat, ist ein Skandal!"
Tim hatte Herrn Müller noch nie so aufgebracht
erlebt. Dieser trank sein Sektglas aus und erzählte weiter:
"Es ist schon symbolisch, dass der Nationale
Widerstand ungehindert durch das Brandenburger Tor marschieren kann! Es
ist schon symbolisch, dass eine linksdemokratische Kleinstadt wie Gaggenau
oder Gernsbach Schauplatz eines nationalen Protestes sein kann! Genau
solche Flugblätter wurden verteilt und das schlimme ist, dass sie
damit teilweise Recht haben! Denn Politik und Polizei reagieren auf die
zunehmenden Neonazi-Aufmärsche hier bei uns reichlich hilflos. Oder
hatten die Beamten nur einfach keine Lust? In Gaggenau waren sie am 1.
Mai wohl mit wichtigerem beschäftigt: Dort in der Fußgängerzone
(keine zwei Kilometer von der Veranstaltung entfernt) hat eine lächerlich
kleine Gruppe von 50 Greenpeace Aktivisten und Umweltschützern vor
dem Rathaus gegen den Klimawandel und den CO2 Ausstoß
der Kohlekraftwerke friedlich demonstriert.
Sofort rückte die Polizei mit mehreren
"sixpacks" (Einsatzbussen) zwei Hundestaffeln und einem Helikopter mit
Wärmebildkamera an und nahm fast alle Demonstranten für mehrere
Stunden "in Gewahrsam". Grund: Sie hätten eine "ungenehmigte" Demonstration
durchgeführt.
Gleichzeitig marschierten am 1. Mai hier bei
uns hunderte Rechtsextreme durch Gaggenau, Gernsbach, Neudorf und Hilpertsau.
Keine einzige dieser Veranstaltungen war erlaubt!"
Frau Müller fasste ihren Mann am Arm.
"Schatz, reg dich vor den Kindern nicht so auf!"
"Entschuldige, Liebling. Aber es ist nun mal
einfach ein Skandal! Wenn die NPD in der Gernsbacher Fußgängerzone
einen Infostand hat, ist das ärgerlich", sagte er, "aber wenn die
NPD hier bei uns in den Landtag einzieht, ist das gefährlich! Die
nächsten Wahlen sind schon in ein paar Monaten. Das letzte Mal lag
die Wahlbeteiligung bei den Demokraten nicht mal bei 61 Prozent."
"Zum Teil ist jeder daran schuld!" sagte Tim,
während er mit der Gabel im Fonduetopf herumstocherte. "Auf der einen
Seite die Politiker, die seit Jahren regieren, und jedes Mal aufs neue
das Volk verarschen, auf der anderen Seite die Bürger selber. Viele
sind sauer und gehen nicht mehr zur Wahl, oder sie wählen Nazis. Erst
letzte Woche kam so ein Bericht im Fernsehen. 85 Prozent der Bundesbürger
sind mit Deutschlands Politik unzufrieden. 39 Prozent gehen aus Frust gar
nicht mehr wählen. Weitere 12 Prozent könnten sich sogar vorstellen,
bei der nächsten Wahl lieber rechts zu wählen. Vier Prozent wollen
es dann sogar tun! Außerdem sehnte sich angeblich jeder achte Bürger
wieder nach einem "Führer"..."
"Ach!" Herr Müller machte eine wegwerfende
Handbewegung. "Ich würde mich nicht immer nur auf Statistiken verlassen.
Inzwischen hat man ja aus der Sache vom 1. Mai hier gelernt. Das kommt
bei uns so schnell nicht mehr vor."
"Da wäre ich mir nicht so sicher!" sagte
seine Frau jetzt. "Solange all das staatlich geschützt wird... Was
sich zum Beispiel die Bundesregierung im Sommer in Heiligendamm geleistet
hat, ist sowieso ein Skandal! Während etliche tausend Polizisten im
Einsatz waren und hunderte Millionen Euro ausgegeben wurden, nur damit
eine handvoll Politiker drei Tage ungestört Kaffee trinken konnte
und über Themen diskutierte, die man auch anders hätte regeln
können, wurden demokratische Grundrechte der Bundesbürger massiv
verletzt! So hatte die Polizei vorher (auf bloßen Verdacht der Richter)
Dutzende Wohnungen durchsucht, Computer und Tagebücher beschlagnahmt,
Handynetze abgehört und unschuldige Bürger verhört. Am meisten
regt mich aber auf, dass der Staat heimlich unsere Festplatten online ausspioniert!
Zwar wird immer beteuert, dass es sich nur um "einige wenige Ausnahmen"
handelt, aber wir alle wissen ja, dass das reine Ansichtssache ist. Wenn
ich bei 81,5 Millionen Bundesbürgern von "einigen wenigen" spreche,
ist das völlig anders, als bei fünfzig oder sechzig Personen",
sagte sie.
"Was man damit bezwecken soll, wissen nur
einige Politiker, obwohl man mittlerweile auch das anzweifeln muss!" schimpfte
jetzt Herr Hansen. "Da werden heimlich private PCs durchsucht, Bürger
die neue Ausweise brauchen, einer demütigenden Prozedur unterzogen,
die der Erkennungsdienstlichen Behandlung von Kriminellen gleicht, Telefon
und Internetverbindungen ein halbes Jahr gespeichert und terrorverdächtige
Flugzeuge sollen einfach abgeschossen werden!"
Tim blickte auf die alte Holzuhr über
dem Kamin. Es war 21 Uhr. Noch drei Stunden bis zum Feuerwerk! Dann würden
sie endlich nach Eteo fliegen!
Er sah durch das Fenster in den Sternenhimmel.
Eine riesige Freude, gleichzeitig aber auch Trauer durchströmte ihn.
Er würde hier alles zurücklassen: Sein Leben, seinen Vater, seine
Freunde und Nachbarn - und er konnte ihnen noch nicht mal Leb wohl sagen,
oder sich vernünftig verabschieden!
Dann dachte er wieder an die Welt, in der er
fliegen würde und an das kostbare Geschenk, das man ausgerechnet ihm
gemacht hatte.
"So, will noch jemand Fonduefleisch?" fragte
Frau Sellner. "Wir haben noch Nachtisch gerichtet."
Die Kinder nickten, die anderen Erwachsenen
dagegen lehnten dankend ab. Sie gossen sich lieber noch Wein nach.
Tim sah, dass schon acht Flaschen leer waren...
Den Nachtisch verschlangen die Kinder wie hungrige
Wölfe. Es war Vanillegries mit Heidelbeeren und Apfelmus.
Den Rest des Abends verbrachten die Erwachsenen
mit Kartenspielen, während Tim immer wieder Holz in den Kamin nachlegte.
Die anderen Kinder sahen immer wieder ungeduldig
auf die Kiste mit dem Feuerwerk. Den Rest des Abends spielten sie "Bleigießen".
Dann war es endlich so weit: Zehn vor zwölf!
Die Kinder zappelten schon ungeduldig.
Tim nahm sich die große Kiste mit den
Feuerwerkskörpern vom Schrank. Auch Christian und Susanne durften
jetzt den Karton mit den großen Knallern von der Vitrine nehmen.
"Nehmt am besten die leeren Weinflaschen zum
Abschießen der Raketen. Und die Verbundfeuerwerkpakete stellt ihr
am besten auf eine feste Unterlage", sagte Herr Müller. Seine Stimme
deutete darauf hin, dass er schon einige Rotweingläser intus hatte.
Er konnte auch nicht mehr geradeaus laufen. Frau Müller war dies offenbar
etwas peinlich, doch sie merkte, dass es den anderen Erwachsenen nicht
anders ging.
Kevin hatte eine kleinere Schachtel mit Kanonenschlägen
und Blitzknallraketen dabei. Tim stellte die leeren Weinflachen in seinen
Karton dazu, dann gingen sie zusammen auf den Parkplatz.
"Bleibt etwas von den Autos weg!" mahnte Frau
Sellner.
Die Kinder gingen an den Waldrand, etwa 50
Meter von der Hütte entfernt. Von hier aus hatte man einen schönen
Blick ins Tal.
Tim verteilte die Flaschen, während Herr
Müller die ersten Raketen hineinsteckte und startklar machte. Tim
holte ein Verbundfeuerwerkspäckchen aus seinem Karton und stellte
ihn auf den Standfuß.
"Das praktische an den Dingern ist, dass man
sie nur einmal zünden braucht!" stellte er fest. Auch Herr Hansen
grub mit einem Klappspaten mehrere "Römische Lichter" in den Boden
ein, und stellte ein Verbundfeuerwerk auf.
"Wann geht’s endlich los?" drängelte Susanne
ihre Mutter.
"Noch fünf Minuten!" antwortete sie.
Tim sah in die entgegengesetzte Richtung in
den Wald. Drakota, siehst du uns? Gleich geht’s los!!!
Der Drache antwortete: Verbrenn dich nicht,
Kleiner!
Dann überprüfte er noch mal, ob
alle Flaschen richtig standen und entfernte die Plastikschutzkappen an
den Zündlunten der Raketen. Unruhig spielte er mit dem Sturmfeuerzeug
in seiner Hand.
"Achtung, alle aufgepasst:" rief Herr Sellner,
während er auf seine Uhr blickte.
"Gleich kommt das neue Jahr!"
"Zehn, neun, acht, sieben,"
Alle anderen riefen laut mit: "Sechs, fünf
vier, drei, zwei, eins..."
Mit einem ohrenbetäubenden Knall startete
die erste Verbundfeuerwerksbatterie, die Tim fünf Sekunden zuvor gezündet
hatte. Blutrote Effektsterne verteilten sich knisternd über dem Himmel.
Kevin startete eine Rakete, Herr Hansen seine
Römischen Lichter. Der ganze Wald erstrahlte in einem Meer aus Farben.
Durch die Schneedecke wirkte alles doppelt so schön.
Der Krach war gewaltig. Kevins Kanonenschläge
und Tims Luftheuler sorgten dafür, dass man sich nicht mehr unterhalten
konnte.
Wie wilde Katzen fauchten die Raketen aus
den Weinflaschen, die Tim schon wie im Akkord ansteckte.
Auch die zweite Feuerwerksbatterie startete
er. Sie setzte am Himmel ein grünes Knattersternbukett mit Verwandlungseffekt
in Gang, während Herr Müller mehrere Raketen mit Bombenfüllung
abschoss.
Susanne durfte im Beisein ihrer Mutter einen
großen Vulkan zünden, der fast fünf Meter hoch silberne
Glitzerfunken versprühte.
Wunderschön! vernahm Tim im Kopf
die Stimme seines Drachens.
Tim blickte hinunter ins Tal. Über der
Stadt glitzerte der Himmel und ein leises Rumpeln kam hinauf.
"Da unten muss aber auch die Hölle los
sein!" rief er, doch bei dem Krach verstand ihn keiner.
Christian zündete mehrere Bodenwirbel,
Tim noch zwei weitere Ufos. Kevin warf Kanonenschläge in den Wald,
Herr Müller startete seine letzten zwei Raketen.
Nach etwa zehn Minuten war dann alles vorbei
und der Parkplatz vor der Hütte lag in einer dünnen Rauchschicht.
"Wow! Das war ein Inferno!" rief Tim. Seine
Ohren schmerzten, die er wohlbedacht schon den ganzen Abend unter seiner
Mütze versteckte.
Die Kinder sammelten noch die letzten Weinflaschen
ein, während die Erwachsenen wieder zurück in die Hütte
gingen.
"Jetzt köpfen wir noch die letzten Weinflaschen",
sagte Herr Sellner, der als letztes hineinging.
Tim und die anderen Kinder räumten den
Abfall weg und sammelten die Feuerwerksreste ein.
"Geht schon mal rein, ich mach den Rest!"
sagte Tim.
Die anderen zuckten mit den Achseln, dann
gingen sie auch in die Hütte.
"So, jetzt ist es soweit!" sagte Tim zu sich
selbst, während er den leeren Karton neben die Hütte stellte.
Er blickte noch ein letztes Mal durch das
Fenster, wo alle am Tisch saßen und feierten.
Dann drehte er sich mit Tränen in den
Augen um und ging los in den Wald.
.
Er arbeitete sich zwischen den Büschen
und Zweigen vorbei, bis zu jener Lichtung, wo Drakota geduldig auf ihn
wartete.
Hat die Party Spaß gemacht? fragte
der Drache, während er Tim beschnupperte.
Tim setzte sich auf seinen Rücken.
"Ja. Lass uns heimkehren!"
Mit einem Ruck stieß sich der Drache
ab und stieg in den Nachthimmel empor.
Tim blickte noch ein letztes Mal zurück,
dann schmiegte er sich an Drakotas Hals.
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