Der dunkle Drache von Aretin von Wilddrache
Der Aretin- Fortsetzungs-Roman
Freund oder Feind (1)

Jahn war sich sofort sicher, den Herrscher von Wolkenstadt auf sich zukommen zu sehen. So wie den Magier eine Aura von Wissen und Magie umgeben hatte, so spürte er bei diesem Mann die Ausstrahlung von Macht und Autorität. Diese Person konnte Jeden dazu bringen, genau das zu tun, was er wollte, nur durch seine Anwesenheit. Stand man ihm gegenüber kam man sich klein und unsicher vor und bettelte förmlich danach, einen Befehl zu bekommen, da man sonst nicht gewusst hätte, was man tun soll. Vielleicht, so überlegte Jahn, war auch das eine Art der Magie. 
Der Mann war in einen langen, goldbestickten Mantel gekleidet, der bis zum Boden reichte und seinen ganzen Körper verhüllte. Sein Gesicht war weich, fast weiblich geschnitten und seine Haare zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt. 
"Das ist Soltan, der oberste Magister von Wolkenstadt selbst" flüsterte Pasre. Auch ihm war die Ehrfurcht deutlich ins Gesicht geschrieben. "Es muss etwas Wichtiges geschehen sein, normalerweise würde er nur wegen uns nie seinen Palast verlassen."
Soltan ging die Gasse entlang, die seine Wächter ihm frei hielten und bewegte sich auf den Magier zu. Die beiden unterhielten sich einige Minuten, wobei der Magier immer wieder mit wütenden Bewegungen auf Hormar und Jahn deutete. Auch Soltan warf ihnen daraufhin des öfteren nachdenkliche Blicke zu. Am Ende gab der Magier einem der umstehenden Soldaten einige Befehle und kehrte mit dem Magister in das Schloss zurück. 
Anscheinend betrafen die Anweisungen, die der Soldat bekommen hatte, das weitere Verfahren mit Jahn, denn der Soldat kam direkt auf ihn zu. In seinem Gesicht konnte er nichts von der Freundlichkeit erkennen, die Pasre ihm versprochen hatte. Im Gegenteil: Auf dem Weg zu ihm zog er sein Schwert, was Jahn angesichts seiner Situation - auf einer ausbruchssicheren Plattform, alleine, unbewaffnet und umgeben von Hunderten von Feinden - einigermaßen lächerlich vorkam. 
"Ich soll dich auf Befehl des Magisters in deine Unterkunft begleiten, Junge" sagte der Krieger, kaum dass er Jahn erreicht hatte. 
"Jahn" sagte Jahn automatisch und verschränkte die Arme vor der Brust. "Mein Name ist Jahn. Und ich gehe nirgendwo hin bevor du mir nicht gesagt hast, was mit uns geschieht!"
Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Wächters als stünde er vor einem bockigen kleinen Kind, das nur aus Trotz mit seinen Eltern streiten will. 
"Na gut, Jahn, ich habe Befehl, dich in eine leer stehende Wohnung zu bringen und dafür zu sorgen, dass du dort bleibst, bis der Rat der Magister über euch entschieden hat. Dein Babymonster sollst du mitnehmen, wenn du dafür garantierst."
Esmeralda warf dem Mann bei dem Wort "Babymonster" einen Blick zu, der ausgereicht hätte, eine ganze Armee von ausgewachsenen Bullen sofort tot umfallen zu lassen, falls Blicke wirklich töten könnten, hielt sich sonst aber erstaunlicherweise zurück. 
"Und was ist mit Hormar?" fraget Jahn und sah den Wächter herausfordernd an.
"Wenn du das große Mistvieh meinst, der wird in Schlaf gehalten, bis über sein Schicksal entschieden ist. Und jetzt komm, ich möchte nicht den ganzen Tag hier herumstehen und meine Zeit vertrödeln."
Jahn erwog den Gedanken, sich trotzig auf den Boden zu setzen und keinen Finger zu rühren, um dem Wächter zu helfen, ließ ihn aber angesichts des blanken Schwertes und den Muskeln seines Gegenübers wieder fallen. Seufzend warf er Pasre einen vorwurfsvollen Blick zu, der ihn peinlich berührt erwiderte und mit den Schultern zuckte. Dann folgten Jahn und Esmeralda dem Krieger.
Ihr Weg, der sie durch die halbe Stadt geführt hatte, endete vor einem kleinen Haus, das direkt an das Ufer des Sees gebaut worden war. Sein Begleiter gab ihm den Befehl, hinein zu gehen und dort zu bleiben, bis man ihn rufen würde. 
"Du brauchst keinen Gedanken an Flucht verschwenden, ich werde hier vor der Türe wache halten, Junge, und die Fenster zeigen alle in Richtung des Sees. Du wirst vielleicht gesehen haben, dass niemand von uns auch nur einen Fuß ins Wasser setzt und glaube mir, es hat gute Gründe. Du würdest keine zwei Schritte weit kommen. Ich werde dir bescheid geben, wenn über euer Schicksal entschieden wurde."
Mit diesen Worten stieß er Jahn in das Innere des Hauses. Von Esmeralda ließ er vorsichtshalber die Finger, vielleicht weil er diese noch eine Weile behalten wollte. 
Das Gebäude erwies sich als erstaunlich gemütlich. Es bestand aus drei Räumen: Einer kleinen Küche, die mit allem ausgestattet war, was Jahn vor dreihundert Jahren in einer Küche erwartet hätte. Über einem mit Holz befeuertem Herd baumelte ein kupferner Kessel und an den Wänden hingen Töpfe und Pfannen aus dem gleichen Material. Geschirr und Besteck waren aus Holz geschnitzt und in einer Ecke stand sogar ein Reisigbesen. Der Wohnraum enthielt einen Tisch mit vier Stühlen und an der Wand hing sogar eine Art Wandteppich, der kunstvoll aus verschieden farbigen Algen gewebt zu sein schien. Die kleine Kammer daneben enthielt ein Bett, auf dem ein Strohsack sowie eine Wolldecke zu finden waren. Alles in allem war diese Unterkunft wesentlich besser als alles, was Jahn in den letzten Wochen zur Verfügung gestanden hatte. 
Zum ersten mal hatte Jahn Zeit, in Ruhe über seine Situation nachzudenken. Das Ergebnis, zu dem er kam, gefiel ihm gar nicht. 
"Was meinst du, was werden sie mit uns machen?" fragte er Esmeralda, die sich auf der Wolldecke zusammengerollt hatte. 
"Das kommt ganz darauf an..." antwortete sie.
"Worauf?"
"Ob du ein Drache bist oder nicht. Dir werden sie wahrscheinlich nichts tun, du kannst ihnen alleine keinen Schaden zufügen. Bei mir und Hormar sieht die Sache ein klein wenig anders aus. Wenn ich Glück habe, werden sie mir nur die Flügel stutzen, damit ich nie wieder fliegen kann. Hormar werden sie zum Tode verurteilen, das ist so sicher wie Wasser nass."
"Aber wir haben ihnen doch gar nichts getan, vielleicht lassen sie sich überzeugen? Ich werde gleich morgen mit diesem Magister reden."
"Vergiss es einfach. Hast du nicht den Hass in ihren Augen gesehen und die Angst? Sie werden dir nicht einmal zuhören."
"Dann müssen wir fliehen, noch heute Nacht! Komm mit!"
Jahn schlich sich zur Türe, während Esmeralda nur gelangweit auf ihrem Bett liegen blieb. Kaum hatte er die Türe erreicht, schoss die Spitze eines Speeres so nahe vor seiner Nase vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte. Erschrocken zog er sich wieder ein paar Schritte zurück. Von Außen ertönte leises Gelächter. 
Jahn wandte sich dem Fenster zu. Die spiegelglatte Oberfläche des Sees lag nur wenige Meter unter dem Fenster, der Sprung dort hinab würde selbst für Esmeralda kein Problem sein. 
"Überlege dir gut was du tust, Junge" ertönte es von der Türe her, "mit den Stachelmahren ist nicht gut Kirschen essen. Früher wurden verurteilte Verbrecher in den See geworfen. Normalerweise haben sie noch etwa zwei Sekunden Zeit gehabt, um zu schreien, dann sah man sie nie wieder."
Nachdenklich ging Jahn zu Esmeralda hinüber.
"Was um Gottes Willen sind Stachelmahre?" fragte er.
"Oooch, stell dir einfach einen dreifach mannsgroßen Fisch vor, von dem man den Körper nicht sehen kannst, so ist er mit Stacheln vollgepfropft. Aber was du siehst ist ein riesiges Maul mit unendlich vielen spitzen Zähnen. Normalerweise jagen sie in Rudeln, indem einer das Opfer rammt, das dann von den anderen von den Stacheln gezupft wird. Sie schwimmen schneller als ich fliegen kann. Wenn du also als Schaschlik enden willst, brauchst du nur einen Fuß ins Wasser zu halten."
"Oh", sagte Jahn nur. Seinem Gesicht konnte man ablesen, dass er soeben einen eigentlich vielversprechenden Fluchtplan in einem tiefen Loch begraben hatte. 
"Aber wir müssen doch etwas tun können, irgendwas."
"Ja", antwortete Esmeralda gähnend, "wir könnten schlafen gehen, damit wir morgen bei Kräften sind. Irgendetwas sagt mir, dass die Entscheidung schon morgen fallen wird."
"Weibliche Inspiration, was?"
Jahn konnte es nicht glauben, dass die Drachendame so ruhig schlafen konnte. Er tigerte noch lange in dem Haus auf und ab, wobei er Hunderte von Fluchtplänen ersann und genau so viele wieder verwarf, bis er endlich vor Erschöpfung auf einem Stuhl einschlief. 
Er erwachte am frühen Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen auf sein Gesicht fielen. Jahn fühlte sich, als hätte er die ganze Nacht auf einer wilden Party zugebracht. Noch im Halbschlaf schlurfte er in Richtung Küche, um sich wenigstens zu waschen, und stieß prompt mit dem Schienbein gegen den Tisch. Humpelnd und wilde Flüche ausstoßend setzte er seinen Weg fort und ignorierte das schadenfrohe Kichern aus dem Schlafzimmer. 
Als er sich halbwegs gesäubert hatte, tauchte er seine Handgelenke in das kalte Wasser und spritzte es sich noch einmal ins Gesicht, um den Schlaf vollends zu vertreiben. 
"IIIIIEHH, wie kann man sich nur freiwillig mit Wasser bespritzen, das ist ja ekelhaft!!"
"Guten Morgen, Esmeralda" sagte Jahn und spritzte einige Tropfen in Richtung der Drachendame. Mit einem leisen Quieken stieß Esmeralda einen kleinen Feuerstoß aus, der die Tropfen noch in der Luft in winzige, wabernden Wolken verwandelte. 
"Wie waschen sich denn Drachen, wenn sie nicht ins Wasser gehen?" fragte Jahn, indem er sich Esmeralda zuwendete.
"Wir entfachen ein nettes großes Feuer und bleiben so lange darin, bis alles, was uns stört, abgefackelt wurde", sagte Esmeralda mit dem Versuch, ein Achselzucken nachzuahmen, was bei ihr ziemlich komisch aussah. 
"Bist du schon wach, Junge?" erklang die eindeutig müde Stimme des Wächters. 
"Jahn", antwortete Jahn, "und ja, ich bin wach"
"Gut. Ich soll dir ausrichten, dass ihr um die Mittagszeit zum Magister gebracht werdet. Er wird euch seinen Entschluss persönlich mitteilen."
Die folgenden fünf Stunden wurden die längsten in Jahns Leben. Er verbrachte sie hauptsächlich damit, sich ihr Schicksal in den buntesten Farben auszumalen, wobei er zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankte. Immer wieder ging er zum Fenster hinüber, um nach dem Stand der Sonne zu sehen, die an diesem Tag wie festgenagelt immer an der selben Stelle zu stehen schien.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, wurden sie von vier Männern der Wache abgeholt und zu einer bestimmten Stelle am Rand geführt. Dort war ein Podest errichtet worden, auf dem sich Magister Soltan, der Magier, der, wie Pasre ihm auf der Reise erzählt hatte, Saromir hieß und der Bruder Soltans war, auf prachtvoll ausgestatteten Stühlen unter einem Baldachin niedergelassen hatten. Flankiert wurden sie von einem halben Dutzend Wachen, deren Rüstungen in der Sonne strahlten. Um das Podest herum hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Eine erwartungsvolle Stille lag über dem ganzen Platz, es erschien Jahn, als ob es die ganze Bevölkerung von Wolkenstadt nicht erwarten konnte, die vermeintlichen Kriegstreiber sterben zu sehen. Ihr Blicke waren jedoch nicht auf die Neuankömmlinge gerichtet, sondern auf einen Punkt am Rand, an dem ein riesiges Gerüst ein Stück über den Abgrund hinausragte. Und an dem Gerüst hing... Hormar!
Jahn spürte, wie sein Herz vor Schreck einen Schlag aussetzte und danach wie ein Schmiedehammer gegen seine Rippen pochte. Sie hatten Hormar in Fesseln gelegt, so dass er sich aus eigener Kraft gewiss nicht mehr bewegen konnte. Der Drache hing frei baumelnd und wie eine Fledermaus mit dem Kopf nach unten, da man ihn an den Füßen an einem langen Seil an das Gerüst gebunden hatte. Ein eisiger Schreck durchfuhr Jahn, als er sah, dass Hormar aus seinem Schlaf erwacht war und seine Peiniger hasserfüllt anstarrte. Jahn spürte, dass seine Knie nachgaben und er sich kurz auf einem seiner Begleiter stützen musste, um nicht zu Boden zu gehen. Doch kaum hatte er seine Schwäche überwunden, riss er sich mit einem wütenden Ruck von den Wächtern los und rannte er schreiend auf Hormar zu. 
"Hormar! Hormar! Was haben sie mit dir gemacht?!"
Er sah, wie Hormar ihn anschaute, den Blick so voller Verzweiflung, Angst und Hass, dass es ihm schier das Herz brach und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Aber eine Antwort bekam er natürlich nicht, da die Schnauze des Drachen am sorgsamsten verschnürt war. 
Am äußersten Rand der Plattform blieb er stehen und klammerte sich an einen Pfosten des Gerüsts. Von dort aus sah er Esmeralda, die ebenso wild wie erfolglos versuchte, die Fesseln des großen Drachen zu lösen. Sie musste auf den Aufbau geklettert und die Distanz zu Hormar mit einem Sprung überwunden haben! Er konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen die Wangen herunter liefen, als er seine Hilflosigkeit erkannte. Er würde Hormar auf diesem Weg nicht erreichen können, um ihm zur Hilfe zu eilen, dazu fehlten ihm die Krallen, um steile Balken zu erklettern. 
In der Zwischenzeit hatten die Wächter sich von ihrer Verblüffung erholt, ergriffen Jahn von hinten und schleiften ihn vor das Podest. Jahn ließ es sich widerstandslos gefallen, dass sie ihn wie einen Sack hinter sich herzogen. 
Soltan erhob sich und ergriff das Wort.
"Jahn, wir haben lange beraten, was mit euch zu tun ist. Gegen den Rat einiger Mitglieder des Magistrats", hierbei warf er einen kurzen Blick zu seinem Bruder, "habe ich entschlossen, weitestgehend Milde walten zu lassen. Du und auch dein kleiner Drache sind frei und könnt gehen, wohin ihr wollt. Du selbst kannst als Gast bleiben, solange es dir gefällt, aber dein Drache muss die Stadt binnen einer Stunde verlassen und darf nie mehr wiederkehren. Ansonsten werden wir auch ihn töten. Das große Monster wird zum Tode verurteilt! Er wird über den Rand gestürzt, auf dass er sich den Hals bricht. Das Urteil wird sofort vollstreckt, wir haben noch andere, größere Probleme zu lösen." 
Die letzten Worte hatte er nur noch vor sich hin gemurmelt, aber Jahn hätte sie nicht einmal mehr gehört, wenn die Worte ihm gegolten hätten. Zu sehr schockierte ihn das Urteil. 
Jahn schrie gequält auf. Er hatte gewusst, dass ihm Hormar während ihrer Reise ans Herz gewachsen war. Aber nicht einmal ihm selbst war bewusst gewesen, wie groß seine Freundschaft zu Hormar wirklich geworden war. Er würde sich selbst opfern, um dem prachtvollen Drachen das Leben zu retten, wenn man ihm dieses Angebot machen würde, das wurde ihm in diesem Moment klar. 
"Wachen, gebt diesem Jungen seine Habseligkeiten wieder, die wir ihm bei seiner Gefangenname abgenommen haben. Danach wird das Urteil am Drachen vollstreckt!" fuhr Soltan fort. 
Ein Soldat kam auf Jahn zu und gab ihm die wenigen Dinge, die er bei sich gehabt hatte und zum Schluss sogar sein in die unscheinbare Scheide gewickeltes Schwert. Gleichzeitig wurde Esmeralda von ihren Fesseln an den Flügeln befreit.
"Du kannst dich gerne noch von deinem Freund verabschieden", sagte Saromir und seine Stimme troff vor Häme.
Der Soldat neben ihm machte eine auffordernde Geste in Hormars Richtung, dann drehte er sich um und verschwand in der Menge. Anscheinend war es Soltan ernst damit, dass er sich ab nun ungestört bewegen konnte. Er ging wieder zum Rand und beobachtete, wie Esmeralda, die ihre vergeblichen Befreiungsversuche aufgegeben hatte, Hormar leise etwas ins Ohr flüsterte. Daraufhin sah der goldene Drach Jahn erstaunt an, wobei dieser sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, warum. Er wollte Hormar noch irgendetwas sagen, Worte des Trostes oder ein Abschied, aber in seinem Hals saß ein Kloß so groß wie eine Kartoffel, der ihn am Sprechen hinderte. 
Inzwischen war ein Krieger auf das Gerüst gestiegen und begann den Knoten des Seiles, an dem Hormar hing, zu lösen. Mit einem leisen Knall sprang es auf und Hormar stürzte in die Tiefe. 
In dem Moment, als Hormar an Jahn vorbei fiel, konnte Jahn regelrecht spüren, wie seine Vernunft sich mit einem leisen Klicken ausschaltete. Er sprang ohne zu überlegen über die Klippe hinter dem Drachen her. Das musste Hormar aus den Augenwinkel heraus gesehen haben, denn er drehte sich mit einer Eleganz, die Jahn dem gefesselten Tier nie zugetraut hätte, mit dem Bauch nach unten, um der Luft einen möglichst großen Widerstand zu bieten. 
Panik erfaste Jahn, als beide dem Boden entgegenrasten. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, zerrte an seinen Haaren und ließ seine Augen tränen, so dass er nur noch verschwommen sehen konnte. Unendlich langsam, wie es ihm schien, näherte er sich dem Drachen und drängte die Panik, die in ihm aufzusteigen drohte, mit schierer Willenskraft zurück. Wenn er jetzt die Nerven verlor, würden sie beide sterben! Mit zitternden Händen zog er sein Schwert aus der Scheide. Der Wind zerrte an der Klinge und versuchte, sie ihm aus der Hand zu reißen. Aber Jahn klammerte seine rechte Hand mit aller Macht um den Griff, während er mit der Linken Hormars gefesselten Flügel zu ergreifen versuchte. Der erste Versuch schlug fehl, so dass Jahn beinahe am Drachen vorbei und damit in den sicheren Tod gestürzt wäre. Im letzten Moment gelang es ihm, festen Halt zu finden. Das Schwert flatterte in seiner rechten, als er versuchte, den Knoten von Hormars Fesseln zu durchtrennen. Nun stand die Magie eines Schwertes, das alles durchdrang, gegen diejenige der unzerreißbaren Fesseln. 
Der Boden schien den beiden Fallenden entgegen zu springen, als Jahn mit dem Schwert auf den Knoten schlug. Blaues Feuer knisterte die Klinge entlang, als sich die magischen Gegenstände berührten. Jahn hatte das Gefühl, mit bloßen Fingern in eine Steckdose gefasst zu haben. Die kleinen Flammen leckten an seinen Armen empor und hinterließen heiße rote Striemen, die beinahe unerträglich schmerzten. Zu den Tränen, die der Wind verursachte, kamen jetzt noch Schmerzenstränen hinzu, doch Jahn umklammerte den Schwertgriff mit aller Macht. Er wusste, wenn er jetzt den Griff von der Waffe lösen würde, hätte er keine Chance mehr, den Drachen zu befreien! 
Wenn nur die knisternden Flammen nicht wären!
In diesem Moment schien sich das Feuer ein klein wenig zurückzuziehen. Jahn handelte im Bruchteil einer Sekunde. Mit aller Macht seines Geistes befahl er dem Feuer, sich von ihm weg gegen den Knoten zu wenden. Mit einem lauten Zischen sprangen die Flammen auf den Knoten über, der mit einem peitschenden Knall zerfiel! 
Hormar sprengte die nun losen Fesseln um seine Flügel und entfaltete sie zu voller Größe. Ein gequältes Stöhnen entrang sich der Brust des Drachens, als die Schwingen die Luft auffingen und von dem riesigen Druck nach hinten gebogen wurden und zu zerreißen drohten. Jahn wurde auf den Rücken Hormars gepresst und verkrampfte sich mit beiden Händen in den Spalten zwischen den Schuppen des Drachen.
Mit aller Kraft versuchte Hormar den rasenden Fall abzufangen, aber noch immer stürzte der Boden regelrecht auf sie zu. Die Schwerkraft ließ ihre sicher geglaubten Opfer nicht mehr so leicht aus ihren Krallen reißen. 
Kurz vor dem Aufschlag zwang Hormar den Sturz in einen noch immer rasend schnellen Gleitflug. Mit schrecklicher Wucht prallte der Drache auf dem Boden auf und riss eine tiefe Furche in den Boden. Jahn wurde von dem Drachen herunter geschleudert und landete in einer der hautartigen Schwingen des Drachen. Wäre er mit dieser Geschwindigkeit auf dem Boden aufgeprallt, hätte er sich mit Sicherheit alle Knochen gebrochen. 
Noch immer rutschte der Drache den Boden entlang, wobei Steine, Boden und Pflanzen um ihn herum wie Geschosse durch die Luft flogen. Hormar überschlug sich und Jahn wurde zu Boden geschleudert. Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen. Im nächsten Moment schlug er mit dem Kopf schwer gegen einen Stein und verlor das Bewusstsein.

Das nächste, das Jahn spürte, war eine kleine, raue Zunge, die ihm kreuz und quer über das Gesicht fuhr. Stöhnend tastete er mit der Hand an seinen Kopf und fühlte warmes, klebriges Blut. Mühsam öffnete er die Augen und sah Esmeralda, die versuchte, ihm zusätzlich zu seinen Schürfwunden am ganzen Körper auch noch die Gesichtshaut vom Kopf zu schlecken. 
"Na los, du Faulpelz, wir haben keine Zeit für Schläfchen!"
Jahn versuchte sich zu erheben und obwohl ihm dabei der ganze Körper wie Feuer brannte, schien er sich wie durch ein Wunder keine Knochen gebrochen zu haben. Schwankend wankte er auf Hormar zu, der am Ende einer langen Furche regungslos am Boden lag. So schnell es seine zitternden Hände zuließen zerschnitt er die restlichen Fesseln, wobei er dem Drachen noch einige kleinere Schnitte zufügte. Aber Hormar rührte sich noch immer nicht. 
"Hormar, sag doch was! Wach auf! Du kannst doch nicht einfach tot sein!" rief er, als er panisch zum Kopf des Drachen stolperte. Er legte seinen Kopf nahe an die Nüstern des Tieres, um nach seinem Atem zu horchen. In dem Moment stieß Hormar eine kleine Rauchwolke aus, so dass Jahn hustend und keuchend zurückfiel. 
"Er lebt, er lebt!" jubelte Esmeralda und sprang vor Freude herum wie ein kleiner Hund, der sein lange vermisstes Herrchen begrüßt. 
Zum ersten mal sah sich Jahn nach der Wolkenstadt um, die zu seinem Erstaunen mehrere hundert Meter entfernt lag. Was er dort sah, trug nicht gerade zur Verbesserung seiner Laune bei. Vom Rand der Plattform hatten mehrere Holzgestelle an langen Seilen begonnen, herab zu sinken. Auf jeder Einzelnen befanden sich mindestens ein Duzend Krieger und auf einer sogar eine ganze Horde von Pferden. Zwar dauerte der Abstieg relativ lange, doch es war trotzdem nur noch eine Frage von Minuten, bis sie den Boden erreicht hatten, um die Verfolgung aufzunehmen. Sollten die Krieger sie hier einholen, hatten sie alle keine Gnade mehr zu erwarten!
Jahn schlug mit der flachen Hand so stark er konnte auf die empfindliche Nase des Drachen ein, bis jeder einzelne Finger schmerzte. Obwohl Hormar die Schläge kaum wahrnehmen konnte, öffnete er beide Augen und sah Jahn mit glasigem Blick an.
"Wwwas... Warum.... ist passiert?" stammelte er.
Langsam wurde sein Blick klarer und er richtete den Kopf auf.
"Auu, so schlecht habe ich mich nicht mehr gefühlt, seit mein Vater mich das letzte mal verdroschen hat", murmelte er und versuchte sich ganz aufzurichten. Nach einigen Versuchen, bei denen er immer wieder krachend auf der Schnauze landete, stand er auf wackeligen Beinen und streckte die Flügel. Er torkelte wie ein riesiges Fohlen bei den ersten Gehversuchen. 
"Wie geht es dir, hast du dich schwer verletzt?" fragte Jahn besorgt.
"Im großen und ganzen bin ich in Ordnung, glaube ich. Vielen Dank, dass du mir das Leben gerettet hast, Jahn. Ohne dich wäre ich jetzt nur noch ein großes Loch im Boden." 
Mit seiner ledrigen Zunge begann er Jahn das Gesicht abzulecken. 
"Äääh, lass das doch! Wir können nachher noch reden, jetzt sollten wir machen, dass wir hier weg sind, bevor wir Besuch bekommen. Kannst du fliegen, Hormar?"
Der Drache bewegte vorsichtig die Flügel. Schmerz durchzuckte sein Gesicht. 
"Es schmerzt, aber ein paar Meilen werde ich schon schaffen. Steig auf"
Jahn kletterte vorsichtig auf Hormars Rücken, um ihm nicht noch mehr unnötige Schmerzen zu bereiten. Daraufhin erhoben sich beide Drachen in die Lüfte, wenngleich es bei Hormar dieses Mal eher ein qualvolles Humpeln war als der gewohnt elegante Start.
Sie quälten sich eine Zeit lang durch die Luft, die Jahn eigentlich viel zu kurz vorkam, um einen ausreichenden Vorsprung vor ihren Verfolgern zu bekommen. Aber trotz der Verletzungen bewegte sich der Drache um ein Vielfaches schneller als jedes Pferd. Zudem hatten sie einen Fluss überflogen, der so reißend war, dass er die Krieger zu einem langen Umweg zwingen würde. Jahn bezweifelte sowieso, dass sie sich noch ernsthaft in Gefahr befanden, denn welcher Mensch, der seine Sinne auch nur teilweise beieinander hatte, würde einen verletzten und wütenden Golddrachen angreifen? 
Sie landeten an einem kleinen See, an dem sie ihre Wunden zumindest kühlen und auswaschen konnten. Jahn schälte sich aus seinen Kleidern, die sowieso nur noch aus Fetzen bestanden, und schaute an seinem Körper herunter. Er sah aus, als wäre er in das Mahlwerk einer Windmühle geraten. Die Fläche seines Körpers, die nicht von Schürfwunden und Prellungen oder Beulen bedeckt war, konnte kaum größer sein als eine Briefmarke. Ächzend ließ er sich in das seichte Wasser sinken, das sich herrlich kühl und erfrischend auf seiner Haut anfühlte, während Esmeralda hingebungsvoll die Wunden von Hormar leckte.
Sie blieben fünf Tage am Ufer des Sees und genossen das Gefühl, allmählich wieder zu Kräften zu kommen. Hormar ließ keine Gelegenheit ungenutzt, sich bei Jahn für seinen 'heroischen und unvergleichlichen' Mut zu bedanken, so dass es Jahn schon peinlich zu werden begann. Schließlich hatte der Drache ihm seinerseits schon mehrfach das Leben gerettet. In dieser Zeit flog Esmeralda des öfteren davon, einerseits um nach den Wolkenstädtern oder sonstigen Feinden Ausschau zu halten, andererseits um für Jahn etwas Essbares zu besorgen. Erst in dieser Zeit fiel Jahn auf, dass beide Drachen seit er sie kannte noch keine Nahung zu sich genommen hatten. Auf eine entsprechende Frage sagte Esmeralda, dass Drachen eben nicht so gefräßig seien wie Menschen und nur alle paar Monate etwas handfestes zu sich nehmen müssten. Trinken wäre für sie eine Folter, etwa so, als würden Menschen Feuer atmen. Ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass sie sich wunderte, wie so zerbrechliche, dauernd hungrige und wasserverliebte Wesen wie die Menschen überhaupt existieren konnten. 
Am Abend dieses Tages kam Esmeralda von einem ihrer Ausflüge zurück. Jahn sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte. Die Drachendame schoss pfeilschnell über die Ebene und keuche wie eine alte Dampflok, als sie zwischen den Freunden landete. 
"Wir müssen weg.... Armee... auf uns zu... riesig... Wasserwesen..." konnte Jahn zwischen dem Keuchen und Schnaufen Esmeraldas heraushören.
 

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Und weiter geht's im 2. Teil des 5. Kapitels: Freund oder Feind (2)

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