Der dunkle Drache von Aretin von Wilddrache
Der Aretin- Fortsetzungs-Roman
5 (2): Freund oder Feind (2)

"Nun mal langsam und der Reihenfolge nach", ermahnte sie Hormar. Trotz seiner äußerlichen Ruhe schwang eine leichte Nervosität in seiner Stimme mit. Esmeralda brauchte noch einige Minuten, bis sich ihr Atem so weit beruhigt hatte, dass sie zusammenhängende Sätze heraus bringen konnte.
"Ich war auf Nahrungssuche im Osten. Nachdem dort nichts zu finden war, bin ich nach Westen geflogen und habe dort eine Staubwolke gesehen, nicht weit von hier. Vielleicht sind das irgendwelche Tiere dachte ich mir und flog darauf zu. Aber es war kein Wild, es war eine Armee, die genau in unsere Richtung zog. Sie hatten sogar ein paar Wasserriesen bei sich. Fragt jetzt bitte nicht, wie sie aus ihren Tümpeln herausgekommen sind, ich weiß es nicht. Aber es sind zu viele für uns! Wir müssen schnell aufbrechen, um nicht von ihnen entdeckt zu werden."
"Vielleicht sind es Freunde" mutmaßte Jahn.
"Freunde?? Mit Wasserriesen?? Nie im Leben." Hormar schüttelte entschieden den Kopf. 
"Hatten sie Flieger dabei, Esmeralda?"
"Ich habe keine gesehen, Hormar" antwortete Esmeralda.
"Nun gut, vielleicht sollten wir uns das Ganze mal aus der Luft ansehen, schnell, steig auf Kleiner."
Geführt von Esmeralda bewegten sie sich nach Westen und entdeckten schon nach kurzer Zeit die verräterische Staubwolke. Langsam glitten die Drachen herunter, um sich den Zug aus der Nähe anzusehen. Aus immer noch sicherer Höhe starrten die Drachen hinunter. Jahn versuchte es ihnen gleich zu tun, aber bis auf ameisenkleine Punkte konnte er nichts erkennen. 
"Du hattest recht, Esmeralda, da unten sind wirklich Wasserriesen" sagte Hormar verblüfft. 
"Was hast du denn gedacht, Trampel. Ich erkenne dieses Gelumpe, wenn ich es sehe!"
"Unglaublich! Sie können nicht über Land marschieren, sie würden verdunsten!" sagte Hormar.
"Diese anscheinend nicht" gab Esmeralda zurück. "Aber schau da, am Ende des Zuges, Hormar. Sie haben einen Gefangenen!"
Hormar verlor etwas an Höhe, um besser sehen zu können. 
"Er ist aus dem Sattel gefallen!" schrie Esmeralda. "Sieh doch nur."
Die Drachen beobachteten das Geschehen noch einige Minuten, in denen Jahn immer unruhiger wurde, weil er außer einer Staubwolke nichts erkennen konnte. 
"Was ist denn los?" maulte er.
"Sie haben ihn einfach liegen gelassen!" sagte Hormar ungläubig "Er bewegt sich nicht, vielleicht ist er tot. Sehen wir nach."
Zu Jahns Verblüffung drehte Hormar ab und flog in die Richtung zurück, aus der das Heer gekommen war. 
"Was soll das, ich dachte, wir wollen dem armen Kerl helfen!" rief er Hormar zu. 
"Werden wir auch, aber wir müssen außer Sichtweite dieses Ungeziefers tiefer gehen, sonst sehen sie uns."
Innerlich verfluchte sich Jahn dafür, nicht selbst auf diese eigentlich einleuchtende Tatsache gekommen zu sein. Schon bald verloren die beiden Drachen an Höhe und näherten sich der Stelle, an welcher der Gefangene zurückgelassen worden war. Mit einem Sprung war Jahn von Hormar herunter und drehte den Krieger auf den Rücken.
"Das ist ja ein Wolkenstädter!" fauchte Hormar, "den sollten wir in den Boden stampfen, wäre für ihn eh das beste, wenn er noch leben sollte!" Hormar hob die rechet Vorderpfote, um seine Worte sogleich in die Tat umzusetzen. 
"Dann werden wie nie erfahren, wer die Kerle da hinten sind", sagte Jahn mit einem Kopfnicken in Richtung der sich langsam entfernende Staubwolke. 
"Na gut, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben."
Esmeralda hatte den Mann inzwischen eingehend untersucht. 
"Er lebt noch, aber gerade man so", sagte sie. "Wenn wir ihn nicht schleunigst zum Wasser bringen, wird er sterben."
"Und wie willst du das bitteschön anstellen?" maulte Hormar. "An unserem Teich wimmelt es bald von Wasserriesen. Aber vielleicht lassen sie uns ja in Ruhe, wenn du ihnen sagst, dass wir nur kurz ihren Gefangenen wiederbeleben wollen und dann wieder abhauen!"
"Quatsch, du Trampeltier, wir müssen zurück zu dem Fluss, den wir gesehen haben, und dort eine seichte Stelle suchen."
"Zum Fluss!?" keuchte Jahn "Aber da wimmelt es sicher vor lauter Wolkenstädtern. Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist, Esmeralda?"
"Nein, bestimmt nicht. Aber solange du keine bessere hast, ist es die einzige. Also los!"
Hormar grummelte etwas vor sich hin, das sich verdächtig nach 'einstampfen und Schluss' anhörte, als Jahn den Bewusstlosen mit Esmeraldas Hilfe auf den Rücken des Golddrachen hievte.
Schon bald darauf hatten sie den Fluss erreicht, der sich in wilden Kehren durch die kärgliche Landschaft schlängelte. Sie folgten seinem Verlauf in südlicher Richtung, bis sie an eine Stelle kamen, wo sich das Gewässer zu einer Art kleinen See verbreiterte. Er war umgeben von einem breiten Ring von Bäumen, die Schatten und Schutz vor zu neugierigen Blicken versprachen. 
Hormar landete ganz in der Nähe des Ufers, wo sie den Krieger so sanft wie möglich in den Sand legten. Die Bewegungen schienen ihm große Schmerzen zu bereiten, denn er stöhnte trotz seiner tiefen Bewusstlosigkeit gequält auf, als er den Boden berührte. 
Jahn rannte zum Wasser, tränkte sein T-Shirt und begann dann, das Gesicht des Mannes von dem getrockneten Blut und dem Schmutz zu befreien, die sich wie eine groteske Maske über seine Züge gelegt hatten. 
"Ich kenne den Mann" sagte Jahn überrascht zu Esmeralda. "Das ist der, der mich im Haus in Wolkenstadt bewacht hat!"
"Es sieht ziemlich übel für ihn aus. Was weißt du über Heilkräuter, Jahn?" fragte Esmeralda und schaute besorgt auf den Krieger aus Wolkenstadt herunter. 
"Nichts, so etwas gab es nicht, da wo ich herkomme."
Esmeralda warf Jahn einen derartig erstaunten Blick zu, dass er schon Angst hatte, sie würde ihn für verrückt halten. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Hormar kam ihr zuvor. 
"Goldklee. Er braucht Goldklee, sonst wird er keine Stunde mehr überleben. Wenn ihr Glück habt, werdet ihr in dem Wald etwas davon finden. Geht ihr auf die Suche, ich werde mich rührend um den Kerl kümmern, keine Sorge."
Jahn sah den großen Drachen zweifelnd an. 
"Aber du..." setzte er zu einem Protest an.
"Nun haut schon ab, ich werde ihm kein Haar krümmen – auf jeden Fall nicht gleich. Los jetzt!"
Nach einem letzten prüfenden Blick machten sich Jahn und Esmeralda auf den Weg. 
"Wir sollten uns trennen, dann finden wir den Klee schneller. Das Problem ist nur, wie sieht Goldklee denn eigentlich aus, Esmeralda?"
"Ach, ganz einfach. Klein, mit vier Blättern und er schimmert eben wie Gold. Wenn du ihn wirklich finden solltest, wirst du ihn sofort erkennen."
Jahn wandte sich nach links und drang in den Wald ein. Eine wohltuend kühle Woge umfing ihn wie ein seidener Mantel. Stille breitete sich in ihm aus und er hatte das Gefühl, als wären alle Sorgen etwas kleiner und alle Schmerzen und Entbehrungen der letzten Tage und Wochen weniger schlimm gewesen. 
Selbst die Verletzungen des Kriegers am Teich schienen ihm nicht mehr so bedrohlich wie noch vor kurzer Zeit. Eigentlich, so überlegte er, stand es doch gar nicht so schlimm um den Mann, er konnte sich ruhig etwas Zeit lassen und den herrlichen Frieden dieses Ortes genießen. 
Er legte sich in das weiche Moos des Bodens und beobachtete, wie vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Baumkronen weit über ihm fielen und kleine Staubkörnchen in dem Licht ihren Tanz in der Luft aufführten. Kein Laut störte die Ruhe. Wenn Jahn die Augen schloss, konnte er sich vorstellen, ganz alleine in einer riesigen Kirche zu sein. Seine Gedanken schweiften ab und flogen hierhin und dorthin und je länger Jahn diesen Zustand der absoluten Entspannung genoss, desto sorgloser und unbekümmerter wurde er. 
Sogar der Gedanke an den dunklen Drache entlockte ihm nicht mehr als ein flüchtiges Stirnrunzeln, denn in Jahn reifte die Einsicht heran, dass Xarkur eigentlich kein Problem darstellte, über das nachzudenken sich lohnen würde.
Wo war das Problem, ein Weltenwanderer zu sein und diesen Planeten retten zu müssen, wenn er doch einfach hier liegen und das Leben so richtig genießen konnte? 
Wieder schloss Jahn die Augen und genoss das wärmende Gefühl der Sonnstrahlen, die auf sein Gesicht fielen. So bemerkte er die himmelblau schimmernden Nebelschwaden nicht, die langsam und lautlos von den Bäumen herunter wogten. Am Boden angekommen bildeten sich lange, dünne Arme, die sich auf Jahn zu bewegten und begannen, ihn wie Schlingpflanzen zu überwuchern. Je mehr der wabernden Tentakel sich um Jahns Körper schlangen, desto entspannter wurde sein Gesichtsausdruck und desto ruhiger ging sein Atem. Jahns Gesicht begann in dem selben Blauton zu leuchten, der auch den Nebel umgab. 
Er fühlte sich, als würde er fliegen. Schwerelos ließ er sich treiben, durchflog im Geiste die Wolken und betrachtete die Welt weit unter sich. Alles war so klein und unbedeutend. Winzige Tiere gingen ihren Beschäftigungen nach, Menschen lebten ihr Leben in Städten und Dörfern. 
Langsam wurde es langweilig für Jahn, immer nur diesen uninteressanten Planeten zu beobachten und er schwang sich in seinem geistigen Höhenflug weiter nach oben, der Unendlichkeit des Alls entgegen. 
Es war ein unglaubliches Gefühl! Nachdem er seine schwere körperliche Hülle am Boden zurückgelassen hatte, konnte er sich bewegen, wohin immer er wollte. Es gab für ihn keine Grenzen mehr. Er konnte astronomische Entfernungen in einem einzigen Augenblick überwinden, von einem Planeten zum anderen springen wie ein Vogel von Ast zu Ast. Die ganze Unendlichkeit war zu seinem Spielplatz geworden!
Flüchtig dachte er an seinen Körper und ob er wohl zu ihm zurückkehren sollte, aber der Gedanke daran, wieder den Gesetzen der Physik unterworfen zu sein und seine neuen Fähigkeiten dadurch wieder zu verlieren, erschien ihm im Moment als zu furchtbar.
Indessen war das Leuchten, das von Jahns Gesicht ausging, stärker geworden und fast sein ganzer Körper war von einer gleißenden Nebelwolke eingehüllt. 
Je strahlender das blaue Licht, das von Jahn ausging, wurde, desto unwirklicher wurde sein Körper. Es war, als würde er beginnen, sich aufzulösen und zu genau dem Nebel zu werden, der ihn fast vollständig umschloss. Durch Jahns Finger schimmerte schon das Grün des Grases, auf dem er lag, und in seinen Händen waberte ein bläulicher Nebel wie Tinte, die in ein Glas Wasser geschüttet wurde. 
Weiter und weiter entfernte sich Jahns Geist von seiner Hülle und flog über Planeten und durch unvorstellbar weit entfernte Nebel dahin. An seine neuen Freunde dachte er nur noch wie an Jemanden, den er vor langer Zeit gekannt und dann aus den Augen verloren hatte. 
In diesem Moment fand ihn Esmeralda, die mit einem ganzen Bündel Goldklee in den Pfoten die kleine Lichtung betrat. 
Sie stieß einen entsetzten Schrei aus und rannte auf Jahn zu, dessen Körper langsam aber sicher mehr und mehr von seiner Festigkeit verlor. Mit verzweifelten Bewegungen versuchte sie, den Nebel zu vertreiben, aber genauso gut hätte sie versuchen können, eine Loch in Wasser zu graben. Sie rüttelte an Jahns Schulter und schlug ihm ins Gesicht, aber der zeigte keine Reaktion, im Gegenteil, das glückliche Lächeln auf seinem Gesicht wurde von Sekunde zu Sekunde verzückter. 
Schließlich gab sie ihre erfolglosen Versuche auf und rannte auf den Waldrand zu. 
"Hormar!! Hormar!! Jahn ist von einem Kerdelan angegriffen worden!! Ich kriege ihn nicht mehr wach!!" schrie sie, sobald sie dem großen Drachen ansichtig wurde. 
Hormar fuhr herum wie von der Tarantel gestochen. 
"Ein Kerdelan!? Hier!? Das ist doch unmöglich."
"Du kannst ja gerne noch überlegen, wo er herkommt, aber dann ist von Jahn nur noch eine stinkende Nebelwolke übrig! Was sollen wir bloß tun?"
"Es gibt in diesem Zustand nur noch eine einzige, kleine Hoffnung für ihn. Er muss sich an etwas erinnern, das ihm wichtig genug ist, in seinen Körper zurückzukehren, bevor er sich vollständig aufgelöst hat."
"Und wenn nicht?" fragte Esmeralda mit bebender Stimme.
"Dann wird sein Geist für alle Ewigkeit in der Unendlichkeit treiben, ohne Hoffnung, jemals Ruhe zu finden."
"Und was können wir machen?"
"Nichts, Esmeralda. Wir können seinen Geist nicht erreichen. Das größte Problem dabei ist, dass er sich im Moment allmächtig vorkommt. Es ist ein Rauschzustand, der ihn keinen klaren Gedanken fassen lässt. Aber eine Ewigkeit ist lang, vor allem die letzten hundert Jahre. Und das, was ihm jetzt noch wie ein Paradies vorkommt, wird bald zur absoluten Hölle werden."
"Wie kannst du in so einem Moment noch schlechte Witze machen, du Untier!" 
Mit ihren Vorderkrallen trommelte sie auf Hormars Nase ein, bis ihre Kräfte nachließen. 
"Gehe zu ihm" sagte der Golddrache "und warte, bis er wiedergekommen ist oder... Ich kümmere mich derweil um den Soldaten hier."
Langsam drehte sich Esmeralda um und trottete auf den Waldrand zu. Kurz bevor sie Jahn erreichte, schloss sie die Augen, um das grässliche Leuchten nicht mehr sehen zu müssen. So saß sie im Gras und heiße Tränen rollten ihre Wangen hinunter und tropften zischend ins Gras. 
Jahn durchflog gerade die Atmosphäre eines wunderbaren Planeten, als er einen leisen Ruf zu hören glaubte, der seinen Namen rief. Irgendetwas an der Stimme berührte ihn. Er verließ seinen Himmelskörper und suchte nach der Quelle der Stimme. 
Bald erreichte er einen Stern, der ihm vage bekannt vorkam. Er fand eine Stadt und in der Stadt eine Frau, die an einem Tisch saß und weinte. Gerade als er sich fragte, warum gerade dieser Mensch ihn so berührte, fiel sein Blick auf ein Bild in einem Regal. 
Die Erinnerungen trafen ihn wie ein Faustschlag! Es war sein Bild und die Frau war seine Mutter! Sie machte sich furchtbare Sorgen um ihren Sohn! Jahn versuchte, ihr zu sagen, dass es ihm gut ging und dass er auf dem Weg zu ihr sei, aber sie konnte ihn weder sehen noch hören. Als er sie berühren wollte, flog er geradewegs durch sie hindurch, als wäre sie nur eine Holographie. Entsetzt wandte er sich ab und versuchte verzweifelt, Hormar, Esmeralda und damit auch seinen Körper wiederzufinden. Doch ein Stern am Himmel sah für ihn plötzlich genauso aus wie der andere. Verzweifelt huschte er von einem Planeten zum anderen, nur um wieder und wieder enttäuscht zu werden. Einmal fand er eine Gegend, die ihn an den Ort erinnerte, an dem er Hormar das erste Mal gesehen hatte, aber schon bald musste er feststellen, dass auch dieser Weg ihn in die Irre geführt hatte. Er wollte schreien oder vor Verzweiflung weinen, aber alles was er empfinden konnte, war das tiefe Mitleid mit seiner Mutter. 
Nach einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, in der er unzählige Sterne abgesucht und genau so viele Enttäuschungen erlebt hatte, fühlte er die Anwesenheit von Jemandem, der sich um ihn sorgte. Und es war nicht seine Mutter! Blitzschnell wandte er sich in die Richtung, in welcher das angenehme Gefühl stärker wurde, und so fand er wieder zurück zu Esmeralda, die noch immer mit geschlossenen Augen vor seinem Körper saß, der sich schon fast zur Gänze in wabernden Nebel verwandelt hatte. Wie der Blitz schoss er nach unten und versuchte, wieder eins mit dem durchsichtigen Ding zu werden, neben dem Esmeralda Wache hielt. Es ging erstaunlich schnell, sein Geist wurde von seinem Körper buchstäblich aufgesogen und verschluckt. Es war, als hätte er auf Jahns Rückkehr gewartet wie ein Verdurstender in der Wüste auf einen Krug Wasser. 
Er schlug die Augen auf und bemerkte, dass der Nebel, der ihn umhüllt hatte, sich wie wiederstrebend von ihm löste und in langen Bahnen im angrenzenden Wald verschwand. 
Jahn klopfte Esmeralda leicht auf einen Flügel. Die Drachendame zuckte zusammen, riss die Augen auf und starrte Jahn ungläubig an. Dann sprang sie an ihm hoch wie ein junger Hund und versuchte, ihm mit ihrer heißen Zunge das Gesicht zu lecken.
"Wir dachten schon, du würdest uns verlassen und auf ewig irgendwo da draußen rumirren", sagte Esmeralda. 
"Es war verdammt knapp, Esmeralda", antwortete Jahn. "Ich erzähle euch später davon, aber jetzt lass uns aus diesem verdammten Wald verschwinden, bevor dieses Ding zurückkommt."
Immer noch wackelig auf den Beinen stand Jahn auf und wankte auf den Waldrand zu.
"Du kommst spät, Jahn", begrüßte ihn Hormar, als ob Jahn nur von einem Spaziergang zurückgekehrt wäre. 
"Schau mal, was der Goldklee mit deinem lieben Freund hier gemacht hat."
Tatsächlich saß der Krieger aus Wolkenstadt aufrecht am Wasser des Sees. Offensichtlich fühlte er sich in der Gegenwart des Drachen nicht sehr wohl, denn er hatte sich so weit von ihm entfernt wie es überhaupt möglich war, ohne nasse Füße zu bekommen. 
"Ich habe schon versucht, mit ihm zu reden, aber er stammelt jedes Mal nur unverständliches Zeug und versucht, noch weiter ins Wasser zu kriechen. Nicht sehr höflich für jemanden, dessen Leben ich gerade gerettet habe. Versucht ihr doch mal euer Glück."
Jahn warf einen kurzen Blick zu seinem ehemaligen Wächter hinüber. Er konnte die Gefühle des Mannes in seinem Gesicht ablesen. Schmerz, Verwunderung und Angst. Kein Wunder bei jemandem, der sein Leben lang in der Vorstellung gelebt hatte, Drachen seien die schlimmsten Feinde seines Volkes. Und nun hatte ein solches "Monster" seine Wunden verbunden und ihn vor dem sicheren Tod gerettet. Warum? Vielleicht um ihn foltern, um Informationen aus ihm heraus zu bekommen? 
Was die Informationen anging, hatte der Krieger sogar recht, nur nicht mit der Art der Fragestellung.
Jahn ging mit Esmeralda im Schlepptau langsam zu dem Mann hinüber, der ihnen misstrauisch entgegen sah. Vor allem die kleine Drachendame behielt er fest im Auge, als könnte sie jeden Moment anfangen, ihm todbringendes Feuer entgegen zu schleudern. Sie merkte das natürlich sofort und konnte es nicht lassen, eine kleine Rauchwolke in seine Richtung zu blasen. Der Krieger zuckte zurück, ein Zug unglaublichen Entsetzens fuhr durch sein Gesicht. Er riss die Arme nach oben, wie um sein Gesicht vor einer großen Gefahr zu schützen. Jahn fragte sich automatisch, was diesem Menschen wohl über Drachen erzählt worden war, um eine solch extreme Reaktion eines erwachsenen Mannes vor einer Kreatur zu rechtfertigen, die ihm nicht einmal bis zu den Knien reichte. Jahn hob Esmeralda vom Boden auf, drehte sie in die entgegengesetzte Richtung und gab ihr mit einem unsanften Schubs zu verstehen, dass sie ihn mit dem Krieger alleine lassen sollte. 
Dieser schaute Jahn erstaunt an. 
"Du musst ein mächtiger Zauberer sein, wenn dir diese Untiere gehorchen." meinte er mit deutlichem Erstaunen in der Stimme. 
"Quatsch, sie gehorchen mir nicht, auf jeden Fall nicht so, wie du es meinst. Wir sind nur gute Freunde, das ist alles"
"Du versuchst mich zu täuschen. Kein Mensch ist je der Freund eines Drachen gewesen, seit vielen Jahrhunderten. Diese Zeiten sind ein für allemal vorüber."
"Glaubst du wirklich, wir hätten uns so einfach von euch fangen lassen, wenn ich ein ach so mächtiger Zauberer wäre? Und dass wir beide beinahe in den Tod gestürzt wären, wenn ich nur einige Worte hätte aussprechen müssen, um uns zu retten? Ich bin kein Zauberer. Und auch nicht euer Feind. Eure wirklichen Feinde hast du ja wohl schon kennen gelernt, oder?" 
Der Man nahm endlich die Arme nach unten und schaute Jahn ins Gesicht. 
"Das meinst du ehrlich, oder nicht? Du willst mich nicht reinlegen oder so. Ihr werdet eurer Wege gehen und uns nicht mehr angreifen?" Der Zweifel in seiner Stimme war unüberhörbar, aber ebenso die Hoffnung darauf, wenigstens dieser vermeintlichen Gefahr entgangen zu sein. 
"Du hast mein Wort darauf." antwortete Jahn und hielt seinem Gegenüber die Hand hin. Einen Moment lang schaute der Krieger sie noch erstaunt an, dann schlug er ein. 
"Gut also. Was werdet ihr nun mit mir machen?" 
"Du hast es immer noch nicht verstanden. Warum sollten wir etwas mit dir machen? Du solltest dich beeilen, in deine Stadt zurückzukehren und dein Volk vor der drohenden Gefahr zu warnen."
"Also dann, lebe wohl, Kleiner. Vielleicht sehen wir uns wieder." Mit diesen Worten richtete er sich stöhnend auf und humpelte davon in die Richtung, in der Wolkenstadt lag. Kein Dankeschön oder sonst ein nettes Wort kam mehr über seine Lippen, als er sich so dahinschleppte. Der Goldklee hatte zwar sein Leben gerettet, abr ihn noch lange nicht alle seine Kräfte zurückgegeben.
"So kommt er nirgends hin" bemerkte Hormar kopfschüttelnd. "Er ist noch viel zu schwach. Los, sag’ ihm, dass ich ihn bis nach Hause bringe."
Nun war es Jahn, der sich staunend dem Drachen zuwandte. 
"Ich dachte, du hasst alle Wolkenstädter. Warum willst du ihm jetzt plötzlich helfen?"
Hormars Stimme hörte sich an, als ob zwei rostige Eisenstangen gegeneinander gerieben würden, als er antwortete:
"Wenn es etwas gibt, das ich noch mehr hasse als ihn da", er wies mit seinem mächtigen Kopf auf den Wolkenstädter, der sich noch immer am Fluss entlang schleppte, "dann Wasserriesen. Wo die ihre Finger im Spiel haben, kann nichts Gutes dabei rauskommen. Und jetzt mach schon, bevor ich es mir anders überlege."
Kopfschüttelnd eilte Jahn dem Mann hinterher. Noch nie hatte er bei dem freundlichen Drachen einen derartigen Hass in den Augen leuchten sehen wie in diesem Moment. 
Hormar sah dem Jungen hinterher, wie er dem ihm verhassten Krieger nacheilte. Als er ihn erreicht, entbrannte ein wilde Diskussion, in deren Verlauf der Wolkenstädter immer wieder den Kopf schüttelte und eindeutige Gesten machte, die nur den Schluss zuließen, dass er nie freiwillig auch nur in die Nähe eines Drachen gehen würde.
Nach einiger Zeit wurde es dem Golddrachen zu dumm. Mit einem lauten Rauschen entfaltete er seine Flügel. Gras und kleine Steine wurden in die Luft gewirbelt, als sich Hormar in die Luft erhob und auf die beiden Streithähne zuflog. Als er sie erreicht hatte, packte er den Krieger aus Wolkenstadt am Kragen seines Gewandes, zog ihn in die Höhe und verschwand in Richtung der Stadt. Die verzweifelten Schreie des Mannes waren noch lange zu hören, nachdem der Drache außer Sichtweite war.
Kurze Zeit später erschien er als kleiner Punkt am Horizont, der rasch an Größe gewann und sich bald darauf mit einem fetten Grinsen im Gesicht neben Jahn niedersinken ließ. Durch den Luftdruck, den der Drache dabei verursachte, wurde er von den Füßen gerissen und landete unsanft auf seinem Hosenboden, was das Grinsen in Hormars Gesicht nochein paar Grade fieser werden ließ. 
"Na, hast du ihn wenigstens heil und unbeschadet abgeliefert?" fragte Jahn, während er sich den Staub aus seiner Hose klopfte. 
"Jawohl, obwohl er sich gewehrt hat wie ein Berserker. Knapp außer Sichtweite der Stadt habe ich ihn sanft wie eine Feder zu Boden gebracht und mich dann wieder auf und davon gemacht. Nicht mal bedankt hat er sich, der unhöfliche Kerl. Na ja, hätte ich vielleicht auch nicht, wenn man bedenkt, dass über dem Boden fünf Fuß Wasser gestanden haben." 
Das Grinsen zog sich jetzt buchstäblich von Ohr zu Ohr und Jahn meinte ein leises gluckern im inneren des Drachen zu hören, als ob er mühsam einen Lachanfall zu unterdrücken versuchte. 
"Du hast WAS getan?" 
"Na ja, man könnte sagen der Stoff seines Kittels hat nicht länger gehalten als bis zu dem Fluss. Nicht dass ich auch nur irgend was damit zu tun gehabt hätte... Auf jeden Fall ist er dann prustend ans Ufer gewatet und wie von Furien gehetzt abgehauen."
Jahn schüttelte ungläubig den Kopf und wandte sich in die Richtung, in der Esmeralda saß, hauptsächlich damit Hormar nicht sah, dass auch er bei dieser Geschichte ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Aber dann erinnerte er sich daran, wie er Hormar kennen gelernt hatte und empfand doch einen Anflug von Mitleid mit dem Mann. 
Langsam trotteten sie zu Esmeralda zurück. 
"Glaubt ihr, dass die Menschen der Stadt auch nur einen Hauch einer Chance gegen diese Armee haben?" fragte er, als sie die Drachendame erreicht hatten.
Esmeralda schaute ihn träge an.
"Wenn sich die Wasserriesen wirklich einmischen wohl eher nicht. Wie sollen sie etwas bekämpfen, das keinen wirklichen Körper hat sondern nur aus fließender Flüssigkeit besteht?"
"Aber vielleicht ist ihr Magier stark genug, um sie zu vernichten. Immerhin hat er auch uns gefangen." Jahn sah hilfesuchend von einem zum anderen. Hormar machte ein Gesicht, als hätte er eine ganze Kiste Zitronen gekaut. 
"Das war nur ein dummer Zufall, weil sie uns überrascht haben. Den Wasserriesen wird das nicht passieren, da kannst du ganz sicher sein. Außerdem hat jede Armee eigene Magier dabei, die nichts anderes tun, als magische Angriffe unmöglich zu machen. Nein, keine Chance."
Betroffen blickte Jahn zu Boden. Obwohl sich die Menschen der Stadt sich ihnen gegenüber vorsichtig ausgedrückt nicht gerade als besonders freundlich gezeigt hatten, erfüllte ihn der Gedanke daran, dass sie alle einfach ausgelöscht werden sollte, mit kaltem Grauen. Vor allem der Gedanke an Pasre, der ihm in der kurzen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, doch ans Herz gewachsen war, ließ ihm fast die Tränen in die Augen schießen.
"Es muss einfach einen Weg geben, es muss!" rief Jahn und schlug mit der geballten Faust auf den Boden. 
Die Drachen sahen ihn erstaunt an.
"Du willst doch denen nicht etwa wirklich helfen!" sagte Esmeralda erstaunt. "Sie haben uns gefangen, gefesselt, fast verhungern lassen, eingesperrt, verurteilt und fast getötet und was das schlimmst ist, mich ein blutrünstiges Monster genannt! Sollen sie doch sehen, wie sie zurecht kommen!"
"Das ist doch nicht euer Ernst, oder?" Zweifelnd schaute er zu Hormar hinüber.
"Bist du schon einmal über einem kilometerhohen Abgrund gehangen, um zu Tode gestürzt zu werden? Sie haben es nicht verdient, dass wir ihnen helfen, und ich wüsste sowieso nicht, wie."
"Aber tun euch die vielen Menschen denn nicht leid?" 
Die beiden Drachen überlegten kurz.
"Nein", antworteten beide wie aus einem Munde. 
Jahn wurde immer verzweifelter. 
"Aber es ist doch einfach nicht gerecht!" schrie er.
"Gerecht? Was ist gerecht? Dass die Wolkenstädter überleben? Oder dass es die Wasserriesen tun? War es gerecht, dass die Drachen vom Felsen ausgerottet wurden? Ist es gerecht, dass sie auch alle anderen jagen? Wer sind wir, dass wir uns anmaßen zu entscheiden, was gerecht ist und was nicht. 
Unsere Welt ist nicht gerecht, Jahn, sie ist unbarmherzig. Die Starken überleben, die Schwachen müssen Platz machen. So einfach ist das."
"Aber ich bin auch schwach, Hormar. Soll ich auch von den Stärkeren vernichtet werden?" 
"Du hast starke Freunde, Jahn. Das ist wichtig in dieser Welt. Alleine wärst du nicht einmal aus meinem Wald herausgekommen."
"Nein, wahrscheinlich nicht. Ich könnte mir vorstellen, du hättest mich selber um ein Haar gefressen. Und jetzt sind wir Freunde geworden, oder etwa nicht?" 
"Das kann man so sagen, Kleiner."
"Was spricht also dagegen, dass es bei den Wolkenstädtern nicht genauso sein kann? Vielleicht können Drachen und Menschen wieder zusammen leben und ihr euren angestammten Platz auf dem Felsen wieder einnehmen?" 
Hormar blickte Jahn nachdenklich an.
"Kein Drache hat sich mit denen da oben anfreunden können, schon seit Jahrhunderten nicht."
"Und wie viele haben es versucht?" hielt Jahn dagegen.
"Wahrscheinlich nicht allzu viele" musste Hormar zugeben.
"Und glaubst du nicht auch, dass sie eine Chance verdient hätten, diesen Krieg zu beenden?"
An Hormars Gesichtsausdruck konnte Jahn ablesen, dass er auf dem richtigen Weg war. Der Drache wurde immer nachdenklicher.
"Und nebenbei hast du die Gelegenheit, ein paar Wasserriesen unschädlich zu machen. Alleine das müsste es dir doch wert sein."
Hormar lächelte.
"Dir liegt wirklich viel daran, dass wir wenigstens nachsehen, ob wir helfen können. Also gut, Kleiner. Mal sehen, was geht."
Esmeralda verdrehte die Augen, sagte aber nichts mehr. Also machten sie sich auf, um die Armee zu suchen, die auf Wolkenstadt zuzog. Schon bald hatten sie die riesige Staubfahne wieder entdeckt, die das Heer hinter sich herzog. In sicherer Höhe folgten sie den Kriegern, bis sie nach drei Tagen Fußmarsch endlich das Gebiet rund um die Stadt erreichten. Hormar landete auf einem kleinen Hügel, auf dem einige hohe Büsche wuchsen, um sie vor allzu neugierigen Blicken sowohl der Angreifer als auch der Verteidiger zu schützen.
Sogar Jahn mit seinen im Vergleich zu den Drachen schlechten Augen konnte sehen, wie gewaltig das Heer war, das sich um den dünnen Stamm der Stadt zusammengezogen hatte. Ein breiter Ring rund um die Felsnadel war schwarz vor Kriegern, die sich jedoch nicht näher als eine Pfeilschussweite an den Fuß des Stammes heranwagten.
Auf eine entsprechende Frage Jahns antwortete Esmeralda:
"Was glaubst du, was passiert, wenn sie näher herankommen? Die Menschen oben würden sie mit allem möglichen bewerfen. Und aus dieser Höhe ist sogar schon ein kleines Steinchen tödlich. Nein, Wolkenstadt ist vom Boden aus unangreifbar, auf jeden Fall für normale Wesen."
In diesem Moment begann die Luft über der Stadt zu flirren und zu glitzern. Zwar sah Jahn von seinem ungünstigen Blickwinkel aus keines der Gebäude, doch schien sich ein engmaschiges Netz aus roten Funken über die Stadt zu legen. Lichtblitze sprangen rasend schnell hin und her und hüllten so bald die ganze Stadt ein. Der Lichterwirbel wurde immer dichter und dichter, bis sich eine kompakte Glocke aus reinem roten Glanz über die ganze Plattform gelegt hatte. 
"So," sagte Esmeralda "jetzt sind sie auch aus der Luft so gut wie unverwundbar. Nicht einmal Hormars gewaltiges Feuer könnte diesem Schutzwall aus reiner Magie etwas anhaben."
"Aber wenn die Stadt sowohl von unten als auch von oben so gut wie uneinnehmbar ist, warum versuchen die da unten es dann überhaupt?"
"Das frage ich mich auch", antwortete Hormar. "Sie müssen genau gewusst haben, wie aussichtslos ihr Unterfangen ist. Aber sicher haben sie noch irgend eine Teufelei geplant."
"Die Menschen fühlen sich sehr sicher in der Stadt. Siehst du, wie sie am Abbruch stehen und sich über die Angreifer lustig machen?" fragte Esmeralda, die das Schauspiel sichtlich genoss. Sie hatte sich auf ihre Vorderpfoten gestützt wie jemand, der es sich auf einem Sofa vor dem Fernseher besonders gemütlich machen will. 
Jahn konnte natürlich keine der Gestalten auf dem Felsplateau erkennen, genau genommen konnte er nicht einmal sagen, ob dort oben überhaupt irgendjemand stand. 
In diesem Moment kam Bewegung in den Jahn und seinen Begleitern zugewandten Teil der Armee. Eine Gasse öffnete sich, die aus dem Herzen der Angreifer genau auf den Stamm von Wolkenstadt zuführte. Und durch sie schritten die Wasserriesen!
Kaum hatten sie die unsichtbare Grenze, die die Armee bisher aufgehalten hatte, überschritten, begannen die Wolkenstädter, einen wahren Regen von Steinen und anderen Geschossen auf die Angreifer herunterprasseln zu lassen. Und trotz der langen Zeit, die sie bis zum Boden brauchten, trafen doch erstaunlich viele genau ihr Ziel. Jahn meinte, das gewaltige Klatschen, mit dem die Geschosse die Riesen trafen, bis zu ihrem Versteck hin hören zu können. 
"Es macht ihnen nichts aus!" rief Esmeralda, die die Szene gebannt beobachtete. "Die Steine fallen einfach durch sie hindurch auf den Boden."
"Wie bei dem Kampf gegen das Pegasus" sinnierte Jahn. "Es konnte die Riesen am See auch nicht verletzen."
"Sie haben den Stamm erreicht." Esmeralda hörte sich an wie ein Reporter, der ein besonders spannendes Spiel  zu kommentieren hatte. 
"Und ... ach du großer Drache! Jetzt weiß ich, was sie vorhaben! Sie zertrümmern den Stamm!!" 
"Aber... Aber das können sie doch nicht machen! Die ganze Stadt wird zu Tode stürzen." Jahns Stimme überschlug sich vor Entsetzen. 
"Genau das wollen sie ja", sagte Hormar ruhig.
Die Wasserriesen standen in einem wahren Hagel von mehr oder weniger großen Geschossen und setzten ihr Werk in aller Seelenruhe fort. Zwar konnten auch sie trotz ihrer Riesenkräfte immer nur kleine Stücke aus dem Stamm herausschlagen, doch sie kannten keine Müdigkeit und würden tage- und zur Not auch wochenlang arbeiten, bis ihr grässliches Werk vollendet und die ganze Stadt mit allem was in und auf ihr lebte, in den sicheren Tod stürzen würde.
Jahn konnte seinen Blick nicht von dem grausigen Schauspiel abwenden, das unter ihm stattfand. Langsam, aber mit einer fast schon mechanisch wirkenden Kontinuität fraßen sich die Wasserriesen in den Stein wie eine Fräse beim Bau eines Tunnels. Sie hatten sich rund um den Stamm aufgestellt und bearbeiteten ihn von allen Seiten gleichzeitig, und Jahn meinte, schon einen leichten Einschnitt erkennen zu können. Mit tonloser Stimme wandte er sich an Hormar.
"Was meinst du, wie lange sie brauchen werden, bis die Stadt zusammenbricht?"
"Ich schätze, so einen Tag, sicher nicht viel mehr" antwortete der Drache, wobei man ihm deutlich anhörte, dass es ihm noch immer ziemlich egal war, ob die Stadt die nächsten Tage überlebte oder nicht. 
Jahn wandte sich wieder dem Stamm zu und überlegte fieberhaft, wie er die Wasserriesen von dort vertreiben könnte. Doch alle seine Pläne scheiterten entweder an den gewaltigen Kräften der Riesen, denen nicht einmal Hormar gewachsen war, oder der Armee, die die Felsnadel in einem weiten, geschlossenen Ring umgab. 
Er wusste nicht mehr, wie lange er schon da gesessen und zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschwankt hatte, Hoffnung bei jeder neuen Idee und Verzweiflung, wenn sie sich wieder als unbrauchbar herausstellte. Die Drachen sahen ihn nur jedes Mal traurig an, wenn er ihnen wieder eine seiner 'aber diesmal klappt es bestimmt' Vorschläge unterbreitete. 
Die Sonne war schon fast untergegangen, als ihn eine Eingebung wie ein Blitz durchfuhr! Warum hatte er nicht gleich daran gedacht? 
"Hormar" schrie er und packte den Drachen vor lauter Erregung an einer seiner großen Krallen.
"Ich muss sofort nach Wolkenstadt hinauf und mit dem Magister reden! Ich weiss jetzt, wie wir die Riesen aufhalten können! Schnell!"
"Und wie willst du das dieses mal anstellen, Knirps?"
"Keine Zeit für lange Erklärungen! Bitte, bring mich hoch."
Der  Drache entfaltete seine riesigen Schwingen
"Na gut, aber nur, weil ich sowieso mal wieder einen Spazierflug machen wollte. Hier rosten einem ja die Flügel ein vor lauter Langeweile."
Jahn war gerade auf den Rücken des Drachen geklettert, als dieser ihn fragte:
"Hast du dir überlegt, wie du näher als auf eine Pfeilschussweite an sie rankommen willst, ohne dass sie ein Nadelkissen aus dir machen? Mir macht das ja nichts aus, aber ihr Menschen seid da immer gleich so empfindlich."
An so einer Kleinigkeit durfte Jahns Plan nicht scheitern! Angestrengt überlegte er, wie er den Wolkenstädtern eine Nachricht überbringen konnte, bevor sie versuchen würden, ihn umzubringen. Aber ihm fiel nichts ein, wie er den magischen Schutzschirm aus sicherer Entfernung überwinden könnte. 
Wieder einmal war es Esmeralda, die die Situation rettete. 
"Wenn du schreiben könntest..." sagte sie nachdenklich. 
"Was wäre dann?" fragte Jahn und wandte sich der Drachendame zu.
"Nun, wir könnten eine Nachricht in ein Stück Stoff ritzen und dieses Fallen lassen. Der magische Schirm hält nur Dinge zurück, die für die Stadt gefährlich sind. Und das ist ein Fetzen Stoff sicherlich nicht."
Jahn wunderte sich kurz darüber, wie viel Esmeralda von Magie verstand, und auch Hormar schaute sie verwirrt an. Doch dann riss er sich mit fliegenden Finger einen langen Streifen aus seiner ledernen Hose. Mit dem Messer ritzte er die Worte 'Wir bringen Hilfe' hinein. Schnell klaubte er noch einen faustgroßen Stein vom Boden auf.
"So, jetzt können wir. Los, Hormar"
Der Drache schwang sich mit dem üblich eleganten Sprung in die Luft und begann in engen Kreisen höher zu steigen. Natürlich wurden sie sowohl von der Armee als auch von den Wolkenstädtern sofort bemerkt. Auf dem Plateau der Felsnadel erhob sich sofort ein lautes Geschrei und viele Krieger eilten zum Rand hinüber um dem vermeintlich neuen Feind entgegen zu treten. Viele Augen waren auf sie gerichtet, als Hormar mit wild schlagenden Flügeln genau über dem Zentrum der Stadt in der Luft stand. 
Da die Luft - abgesehen von dem Wind, den die Schwingen des Drachen verbreiteten - windstill war, bereitete es Jahn keine Mühe, den Stein in den Stofffetzen zu wickeln und so die Nachricht über der Stadt abzuwerfen. Sie fiel nach unten, löste sich von dem Stein, durchdrang den Schutzschild und landete nicht weit von der Burg des Magisters entfernt im Wasser des Sees. Sofort machten sich einige Soldaten auf, den Fetzen mit langen Stöcken zu bergen, wohlweislich darauf bedacht, der Wasseroberfläche nicht zu nahe zu kommen. 
'Gut' dachte Jahn, 'wenigstens das haben sie verstanden'. 
Er konnte sehen, wie das nasse Leder zu Soltan gebracht wurde, der es eingehend studierte. Dann warf er einen langen Blick nach oben und ging schließlich zu seinem Bruder hinüber, der nicht weit entfernt gewartet hatte. 
Es entbrannte ein hitziger Streit zwischen den Beiden, während dessen sie immer wieder nach oben und hinunter auf die Armee zeigten. Es war eindeutig, dass Soltan überlegte, ihr Angebot anzunehmen, während sein Bruder seinem Hass auf Drachen freien Lauf ließ.
Am Ende siegte die weltliche über die magische Macht und der Zauberer von Wolkenstadt machte eine zornige Bewegung in Richtung der Kuppel. Das rote Strahlen erlosch schlagartig in einem kleinen Bereich, gerade groß genug, um Jahn und Hormar einzulassen.
"Willst du wirklich da hinunter? Du weißt nicht, was dich dort erwartet", versuchte Hormar noch einmal, Jahn von seinem Plan abzubringen. 
"Ja, unbedingt", antwortete Jahn.
Mit einem Schulterzucken ging der Drache tiefer und flog direkt auf das Loch des Schutzschildes zu. Jahn vermeinte ein leises Knistern zu hören, als sie wie ein Pfeil durch die Öffnung schossen. Als er den Kopf wandte sah er, dass sie sich direkt hinter ihnen wieder schloss. 
Hormar flog nicht direkt zu Soltan, wie Jahn vermutet hatte, sondern landete an einer Stelle des Sees, die weit genug entfernt von allem Wolkenstädtern war, um noch fliehen zu können, sollten diese sie angreifen. Es kam jedoch nicht die Streitkraft der Wolkenstädter auf sie zu, sondern nur Soltan alleine. 
Hormar knurrte wie ein Kampfhund, als er ihn kommen sah, und auch dem Magister sah man deutlich an, wie sehr es ihm widerstrebte, einen freien Drachen in der Stadt zu haben. Schnell bedeutete Jahn Hormar mit einer Bewegung der Hand, ruhig zu bleiben und ging Soltan entgegen. 
Soltan setzte sich zu Boden und bedeutete Jahn wortlos, dasselbe zu tun. Als auch er platzgenommen hatte, schaute der Magister Jahn lange an. Widersprüchliche Gefühle huschten dabei über sein Gesicht. Verzweiflung und Wut, Unverständnis und Neugierde, aber auch Erstaunen und so etwas wie Anerkennung. 
"Es ist sehr mutig von dir, hierher zurückzukehren, Drachenreiter. Du kannst dir sicher vorstellen, dass wir geschworen haben, euch alle zu töten, sollten wir euer habhaft werden. Und nun kommst du freiwillig in die Höhle des Löwen zurück. Warum tust du das?"
"Wir haben beobachtet, wie die Wasserriesen eure Stadt angreifen und wollen euch helfen."
Wieder schaute Soltan Jahn für eine lange Zeit nachdenklich an.
"Mein Bruder sagt, ihr seid nur deswegen hier, um den magischen Schild zu entkräften und uns damit verwundbar zu machen", sagte er nach einer Weile.
"Warum sollten wir das tun?" entgegnete Jahn. "Wenn wir euer Verderben wollten, müssten wir doch nur abwarten, bis die Riesen ihr Werk vollendet haben. Warum also sollten wir uns in Gefahr begeben?" 
"Genau das ist der Grund, aus dem ich hier bin. Warum solltet ihr das tun?"
"Ich habe eine Idee, wie ihr wenigstens vielleicht die Wasserriesen aufhalten könnt. Ihr seid Menschen, so wie ich. Ich kann nicht zulassen, dass ihr alle sterbt, auch nicht nach allem, was ihr Hormar antun wolltet."
"Und dein Drache hat dir dabei geholfen uns zu helfen? Ich dachte eher, er würde die Riesen bei ihrem Zerstörungswerk unterstützen und jubeln, wenn Wolkenstadt fällt."
"Drachen sind nicht so böse wie ihr alle zu denken scheint. Auch sie haben Gefühle und empfinden Mitleid, genau wie ihr. Aber lass uns jetzt bitte über meine Idee sprechen, wir haben wahrscheinlich nicht mehr sehr viel Zeit!"
Wie um seine Worte zu bestätigen lief ein fast unmerkliches Zittern durch den Boden, vielleicht das Zeichen eines besonders wütenden Schlages der Feinde.
"Du hast wohl recht, Drachenreiter. Also sage mir, was du zu sagen hast."
Es dauerte nicht lange, Soltan den Plan zu erklären.
Jahn begleitete den Magister zum Versammlungsplatz. Schon auf dem Weg dorthin hatte dieser Befehl gegeben, dass sich alle Hauptmänner der Stadtwache dort einzufinden hätten, so dass sie nicht lange warten mussten, bis auch der letzte Mann dort eintraf. 
In kurzen Worten setzte Soltan seiner Wache den Plan auseinander. Jahn sah viele skeptische Gesichter, aber die meisten schienen wieder einen Funken Hoffnung zu empfinden, dem sicher geglaubten Ende doch noch zu entgehen. 
Der ganze Trupp zog in Richtung des Lagerhauses davon. Dort angekommen wurden die schweren Türen von Soltan geöffnet und die Soldaten begannen, so viele Mehlsäcke wie sie finden konnten, herauszutragen und überall am Rand der Plattform zu verteilen. Auch Jahn schnappte sich einen Sack, wuchtete ihn sich auf die Schulter und schleppte ihn an den Rand. Dort band er ihn an eines der langen Seile, an denen normalerweise die Plattformen bis auf den Boden herabgelassen wurden. Jahn schaute an den kilometerlangen Seil entlang. Es war pedantisch genau aufgewickelt worden, damit es sich beim Ablassen einer Plattform nicht verhedderte und reichte genau bis auf den Boden hinunter, wenn er Soltan glauben durfte. Für seinen Plan waren das etwa fünf Meter zu viel, weshalb er mit fliegenden Fingern eine lange Schlaufe in das Seil knotete. Nachdem er sich mit einem scharfen Ruck davon überzeugt hatte, dass seine Konstruktion wirklich stabil war, stellte er sich an den Rand und wartete auf Soltans Zeichen. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass, soweit sein Auge reichte, Krieger an vielen Stellen des Randes genau das gleiche getan hatten wie er und nun angespannt auf Soltans Signal warteten. Jahn versuchte sich vorzustellen, was sie in diesem Moment empfanden. Sie saßen in der Falle wie eine Maus in ihrem Loch, vor dem eine Katze lauerte. Ja, mehr noch, die Katze hatte schon damit begonnen, das Loch auf zu reißen und sich die Maus zu schnappen. 
Sollte Jahns Plan nicht funktionieren würde er sich auf Hormars Rücken springen und davonfliegen. Vielleicht konnte er noch einige wenige Einwohner der Stadt in Sicherheit bringen, aber mehr bestimmt nicht. 
Für ihn war es also trotz allem nicht mehr als ein Abenteuer, ein Spiel, bei dem er, so grausam es war, nichts zu verlieren hatte. Für die Wolkenstädter jedoch war es todernst, und das im wahrsten Sinne des Wortes. 
Hormar hatte recht gehabt, als er sagte, diese Welt sei unbarmherzig. Jahn kannte die Gründe nicht, aus denen die Armee die Stadt angriff. Vielleicht waren sie im Recht, vielleicht auch nicht. Vielleicht gab es so etwas wie "Recht" nicht in dieser Welt. Und wenn, dann nur das Recht des Stärkeren. Vielleicht würde er in dieser Armee stehen, wenn er anstelle von Hormar auf einen der Wasserriesen getroffen wäre? 
Er war so in seine düsteren Gedanken vertieft, dass er das Signal von Soltan, der sich weithin sichtbar auf einem Podest aufgestellt hatte, fast verpasst hätte. Erschrocken fuhr er zusammen und raffte den angebundenen Mehlsack auf. Vorsichtig robbte er auf dem Bauch nach vorne, bis sich sein Kopf über einem schwindelerregenden Abgrund befand. Einen furchtbaren Augenblick lang drehte sich alles um Jahn herum und die Stadt schien sich schon jetzt auf grässliche Weise zur Seite zu neigen. 
Jahn schloss die Augen und atmete ein paar mal tief durch. Danach konnte er in den Abgrund sehen, ohne das Gefühl zu haben, jeden Moment von der Plattform zu fallen. Die Stunden auf Hormars Rücken, die er in schwindelnden Höhen zugebracht hatte, zahlten sich jetzt aus. 
Vorsichtig zog er den schweren Sack bis an die Kante und schob ihn noch viel vorsichtiger darüber hinaus. Die magische rote Schutzwand, die vor ihm flimmerte, ließ sich so mühelos durchstoßen wie klare Luft, anscheinend war der Schutz nur in eine Richtung undurchdringlich. 
Der Sack kippte einen Moment hin und her, als wollte er sich überlegen, ob er dem Gesetz der Schwerkraft gehorchen oder ihr trotzen wollte. Am Ende siegte wie immer die Physik und er verschwand über der Kante. Das Seil, das an ihm befestigt war, begann schneller und immer schneller über die Kante zu stürzen und der sorgfältig aufgerollte Stapel wurde zusehends kleiner. 
Jahn trat einen Schritt zurück, um nicht aus versehen von dem an ihm vorbei zischenden Tau getroffen zu werden und beobachtete fasziniert, wie es sich weiter und weiter abrollte. 
Erstaunlich schnell war das Seil ganz in der Tiefe verschwunden und mit einem peitschenden Knall nahm die rasende Reise des Mehlsacks eine abruptes Ende. Jahn robbte wieder auf den Rand zu, um hinab zu sehen, aber außer einem kleinen weisen Punkt am Boden, der leicht zu wabern schien, konnte er nichts entdecken. Hoffentlich war der Sack wirklich zerrissen, so wie er es sich vorgestellt hatte!
Hastig sprang er auf und rannte auf Hormar zu, der noch immer am Rande des Sees auf ihn wartete. 
Jahn konnte es kaum erwarten zu sehen, ob sein Plan Erfolg gehabt hatte. Mit fliegenden Schritten rannte er auf den Drachen zu. 
"Los los, du Faulpelz" rief er atemlos, als er ihn erreicht hatte. "Wir müssen runter und nach den Wasserriesen sehen, schnell!"
Noch während er redete kletterte er auf Hormars Rücken. Doch anstatt sich in die Luft zu erheben, wie Jahn es erwartet hatte, schüttelte sich der Drache einmal heftig, so dass Jahn sich krampfhaft festklammern musste, um nicht wieder herunterzufallen. Dann trottete er langsam auf den Rand zu. 
"Hast du mich nicht verstanden oder was?" rief Jahn und trommelte auf den Schuppenpanzer des Drachen. 
"Ist ja schon gut, Kleiner, brauchst mich ja nicht gleich zu erschlagen. Wir werden zu der Kante gehen und nachsehen, okay?"
Mit nervtötender Gelassenheit schlenderte Hormar zur Kante hinüber. Jahn auf seinem Rücken wurde immer nervöser und ertappte sich sogar dabei, ungeduldig auf den Nägel zu kauen.
Inzwischen hatte sich an der gesamten Kante entlang eine große Menschenmenge versammelt. Alle starrten nach unten, als ob sie auf die Entfernung bis zum Boden hin etwas erkennen könnten. Als sie sich der Menge bis auf etwa hundert Schritte genähert hatten, gab Hormar ein dumpfes Grollen von sich, dass sich anhörte, als ob in großer Entfernung eine Steinlawine einen steilen Hang hinunterstürzte. Einige der Einwohner Wolkenstadts, die in den dicht gedrängten hinteren Reihen standen, drehten sich erstaunt um. Mindestens einer von ihnen stieß einen entsetzten Schrei aus, als er den Drachen auf sich zukommen sah. Eine Welle der Panik lief durch die Menge, als sich mehr und mehr Menschen herumwarfen und Hormar entsetzt anstarrten. Noch waren sie durch den Schrecken wie gelähmt, aber es konnte nur noch Sekunden dauern, bis die Menge schreiend in alle Himmelsrichtungen davon stieben würde. Wie viele von ihnen dabei über die Kante gedrückt werden würde, wollte sich Jahn gar nicht vorstellen!
"Hormar" schrie er, "zurück! Schnell!"
Der Drache drehte seinen Kopf zurück und sah Jahn mit einem Blick an, der nur bedeuten konnte: 'Wenn du bald weißt, was du willst, ist es mir auch recht'. Aber er blieb trotzdem stehen und machte sogar ein paar kleine Schritte zurück, um der Menge mehr Raum zu geben. 
Es war, als würde ein unsichtbarer Keil die Menge spalten. Binnen Sekunden war die Stelle, auf die sich Hormar zu bewegt hatte, von sämtlichen Menschen verlassen. Ein Streifen von sicherlich fünfhundert Schritt Länge war nun wie leer gefegt und nur die mutigsten hatten nach dieser Strecke angehalten, um zu sehen, was das vermeintliche Ungeheuer als nächstes tun würde. Hormar ließ seinen Blick langsam von links nach rechts schweifen und ein verächtliches Lächeln spielte um sein Maul. Aber Jahn glaubte auch eine Spur von Trauer darin zu erkennen. 
Der Drache setzte sich wieder in Bewegung, bis er über den Rand hinunter sehen konnte. 
"Und, was geschieht da unten?" fragte er ungeduldig, als Hormar nicht sofort Bericht erstattete.
"Na ja", zierte sich der Drache noch ein wenig, was Jahn fast zur Weißglut brachte, " im Moment wabert da unten eine riesige weiße Wolke. Sonst ist noch nichts zu erkennen... aber warte mal..." 
In diesem Moment fühlte Jahn eine leichte Briese in seinem Gesicht, gerade stark genug, um eine luftige Staubwolke zu vertreiben. Im ersten Moment dacht er noch an einen Zufall, aber dann fiel Jahn wieder ein, wie der Magier das Luftschiff angetrieben hatte. Wahrscheinlich hatte er die Finger im Spiel. Aber im Moment war das Jahn herzlich egal, als Hormar weitersprach:
"Die Wolke verzieht sich und..." 
Der Drache wurde so sehr von einem Lachkrampf geschüttelt, dass Jahn angst und bange wurde. 
"Was ist los, was siehst du? Nun sag doch schon!" 
"Du solltest die Wasserriesen sehen!" prustete Hormar. "Sie rennen, als ob Xarkor selbst hinter ihnen her wäre! Und dabei verteilen sie sich langsam in kleinen, handlichen Stücken auf der ganzen Ebene!" Hormar schlug vor Lachen mit beiden Vorderbeinen immer wieder auf den Boden.
"Das Mehl hat noch viel besser gewirkt, als du vorhergesagt hast! Beim großen Drachen, Junge, sie müssen den Staub geradezu aufgesogen haben! Sie haben sich in einen ekligen, klebrigen Brei verwandelt! Ich kann sogar eine Stelle am Stamm sehen, wo noch eine Faust eines dieser Stinker klebt! Und mit jedem Schritt, den sie tun, verlieren sie noch einen Teil von sich! HaHaHa, bis die ans Wasser kommen sind es keine Wasserriesen mehr sondern nur noch Pampezwerge!"
Jahn ließ sich schnell vom Rücken Hormars herunter gleiten, bevor dieser damit begann, sich aus lauter Heiterkeit am Boden zu wälzen. In ihm tobten die widersprüchlichsten Gefühle: Einerseits konnte er sich das Lachen kaum verkneifen, wenn er sich die Situation am anderen Ende des Stammes bildlich vorzustellen versuchte. Er war Stolz darauf, dass sein Plan derartig gut funktioniert hatte und Wolkenstadt somit wohl gerettet war, zumindest vorerst. Auf der anderen Seite fühlte er Mitleid mit den Wasserriesen, diesen anscheinend unbesiegbaren Wesen, die nun auf die lächerlichste Art und Weise flüchten mussten, besiegt von ein paar Säcken voll Mehl! 
In diesem Moment bemerkte Jahn Soltan, der in sicherer Entfernung von ihm und vor allem Hormar stand und verwirrt zu ihnen herüber sah. Anscheinend hatte er noch nie einen Drachen gesehen, der sich alle Mühe gab, sich tot zu lachen. Langsam ging Jahn zu ihm hinüber. 
Soltans Blick hing entgeistert an Hormar, so dass er Jahn im ersten Moment gar nicht wahrnahm. Erst als der Junge dezent hüstelte, konnte der Magister sich von dem Drachen abwenden und schaute Jahn ins Gesicht. 
"Heißt die offensichtliche Freude des Monsters, dass dein Plan funktioniert hat oder dass wir doch noch alle sterben werden?" fragte Soltan. Sein Stimme zitterte leicht, wie bei einem Angeklagten, der den Schuldspruch des Richters erwartet. 
"Die Wasserriesen sind geschlagen, Soltan. Wenn ihr noch genug Mehl habt, habt ihr nichts mehr vor ihnen zu befürchten."
Einen Augenblick lang schien es Jahn, als würde Soltan ihm vor lauter Freude um den Hals fallen wollen, aber im letzten Moment besann sich der Magister auf seine Würde und streckte Jahn die Hand hin. 
"Jahn Drachenreiter, im Namen aller Einwohner von Wolkenstadt möchte ich dir unseren tiefsten Dank aussprechen. Du hast uns alle vor dem sicheren Tod gerettet. Wie können wir das jemals wieder gut machen?"
"Ich war es nicht alleine, hätte Hormar seinen Hass euch gegenüber nicht überwunden, würde ich mit meiner Idee immer noch in der Ebene hinter den Büschen sitzen. Vielleicht solltest du dich auch bei ihm bedanken."
 
© Wilddrache
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Und weiter geht's im 6. Kapitel: "Menschen und Drachen"

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