Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 1

Der Bolzen kam lautlos. Ein roter Blitz durchzog Joros Blickfeld und er merkte, wie seine Sinne schwanden. In Windeseile wich alle Kraft von ihm und er fühlte, wie er zu Boden sank. Während er das Bewusstsein verlor, sah er noch, wie zwei schwarzhäutige Gestalten auf ihn zukamen, wahrscheinlich um zu sehen, ob er auch wirklich tot war, dann wurde es dunkel um ihn herum.

Doch ein plötzlicher, stechender Schmerz in seiner Brust brachte ihn wieder zum Atmen, und als er Luft einsog, brannte es wie Feuer in seinen Lungen. Joro schlug die Augen wieder auf und das Licht und seine Umgebung prallten in unglaublicher Härte in sein Gehirn, obwohl alles grau und verschleiert wirkte. Trotz der unglaublichen Verwirrung, die ihn erfaßte, griff er instinktiv an seine Brust, wo ihn der Bolzen getroffen hatte.
Dieser hatte seinen Brustkorb offensichtlich durchschlagen, denn es klafft dort ein riesiges Loch. Wie konnte er noch leben, was geschah hier? Hatten ihn die Drow zu einem Untoten gemacht?
Eine ruhige Stimme erscholl neben ihm.
"Fürchte dich nicht, mein Kind."
Joro schaute, immernoch in Panik, nach rechts und sah auf einem Stein einen Mann sitzen. Sein Körper schien komplett aus Dunkelheit zu bestehen, Schwaden von Schatten waberten um ihn herum.
Joro sah auf und fragte:
"B-bin ich tot?"
"Ich fürchte ja..."
"Oh..." Eigentlich war es seltsam, wie nüchtern er das wegsteckte.
"Aber du bist noch nicht im Jenseits, mein Sohn, noch nicht. Ich habe Großes mit dir vor - wenn du es willst."
Das verwirrte Joro nun endgültig. Vom Unglauben, mit einem handbreiten Loch in der Brust dazusitzen, bis hin zum Zweifel, ob diese Situation wirklich real war, tobten ihm tausend Gedanken durch den Kopf.
Der dunkle Mann fuhr fort, zu sprechen.
"Ich weiß, daß das alles vermutlich gerade ein bißchen viel für dich sein muß. Aber dies sind der rechte Zeitpunkt und der rechte Ort, das kannst du mir ruhig glauben."
"Wenn ich eigentlich tot bin, aber noch nicht ganz, was soll das dann bedeuten? Wer bist du und warum gerade ich?"
Der Dunkle schien zu schmunzeln.
"Sei beruhigt, ich habe nicht Böses mit dir vor. Ich bin Celestus, der Gott der Toten. Der Grund, weshalb ich hier bin, ist, daß ich möchte, daß du mir dienst. Wenn du einwilligst, will ich dich dafür reich belohnen."
Joro fühlte sich jetzt zwar etwas weniger unsicher, aber er hatte immernoch Probleme, zu verstehen was ihm geschah.
"Du willst, daß ich einer deiner Priester werde, sehe ich das richtig? Ich, ein Toter?"
"Alle meine Priester waren bereits einmal tot. Aber du, du wirst etwas Besonderes werden."
"Inwiefern?"
"Der dir bestimmte Weg wird anders sein, als der meiner anderen Jünger."
Joro überlegte. Sterben - also richtig - wollte er nicht. Also hatte er vermutlich keine Wahl.
"Und... wenn ich 'ja' sage?"
Sein Gegenüber schien wieder zu schmunzeln.
"Sagst du 'ja'?"
Natürlich sagte er ja.
"Ja!"
Die riesige Wunde in seiner Brust begann sich zu schließen und die letzte Kälte wich von ihm und die Farben und Lichter um ihn herum schienen wieder an Intensität zuzunehmen. Er fühlte sich stark genug, wieder aufzustehen.
Instinktiv begann er, sich nach den Drow umzusehen, die ihn getötet hatten - oder zumindest versucht hatten, ihn zu töten.
Celestus hob die Hand.
"Halt! Ich weiß, daß es der menschlichen Natur entspricht, Rache üben zu wollen, aber das ist jetzt nicht mehr deine Aufgabe."
Joro hielt inne und starrte den Gott ungläubig an.
"Soll das heißen, daß ich es hinnehmen muß, daß sie mich eiskalt ermorden wollten?"
"Nein, von Hinnehmen ist hier nicht die Rede, aber ich erwarte von dir, daß du Gnade walten läßt. Diese niederen Gefühle müssen für dich ab jetzt Vergangenheit sein, ich brauche dich als Priester und nicht als Racheengel."
Er stand auf.
"Ich werde dich an einen Ort leiten, an dem du lernen wirst, was es heißt, mir zu dienen."
Der dunkle Mann verschwand und Joro stand alleine im Wald. Dort wo der Gott eben noch gesessen hatte, lag ein Bündel. Vorsichtig ging er darauf zu.
Auf dem Stein lag eine Maske, darunter etwas, was wie eine schwarze Kutte aussah. Er nahm die Maske mit einem prüfenden Blick hoch. Bis auf zwei senkrechte Atemschlitze und zwei rechteckige, horizontale Augenausschnitte war sie geschlossen.
Eine Stimme erscholl in seinem Kopf.
"Setze sie des Nachts auf, um dein Gesicht vor der Dunkelheit zu verbergen. Das Dunkel der Nacht ist mir heilig."
Joro nahm das zur Kenntnis.
Die Kutte war schlicht und gerade geschnitten und passte wie angegossen. Sie hatte einen handbreiten Gürtel aus scharlachroten Stoff, auf dem in etwas dunklerem Rotton kleine Sicheln aufgestickt waren.
Sah eigentlich ganz gut aus und war weder zu kalt noch zu warm.
Es lag noch etwas auf dem Stein, das er nicht gesehen hatte. Es war ein Hammer, etwa armlang, der genau wie Celestus selbst Schwaden von Dunkelheit absonderte und aus einem Metall zu bestehen schien, das auch noch das kleinste Bißchen Licht zu absorbieren schien. Das schwärzeste Schwarz.
Vorsichtig hob Joro ihn an und bemerkte, daß er erstaunlich leicht war, zumindest was seine Größe anging. Die Waffe lag gut in der Hand und er schwang ihn ein paar Male zur Probe hin und her, dann steckte er ihn zufrieden in die offensichtlich dafür vorgesehene Schlaufe im Gürtel der Robe.
Nun stand er da, alleine im Wald, Maske und Hammer am Gürtel und in eine schicke, schwarze Kutte gekleidet. Was nun?
Die Entscheidung wurde ihm von höherer Instanz abgenommen, denn plötzlich ertönte in der Nähe Kampfeslärm. Joro zögerte nicht lange und sprintete los.
Eine kleine Gruppe von Menschen kämpfte gegen drei Dunkelelfen, von denen einer bereits schwer verletzt zu sein schien.
Joro setzte die Maske auf, da er sich damit irgendwie sicherer fühlte, zog den Hammer aus dem Gürtel und ging schnellen Schrittes auf den Kampfschauplatz zu. Als er ankam, fiel der letzte Drow gerade zu Boden. Der Anführer der Menschen sah in seine Richtung, hob erst seine Waffe, ließ sie dann aber wieder sinken.
"Puh, gut, ein Totengräber."
Der Mann hatte ihn gemeint. Er war jetzt also ein "Totengräber". Warum wußte er eigentlich gar nichts über die Religion des Celestus?
"Warte es ab, du wirst schon noch alles lernen, was du wissen mußt", sagte die Stimme in seinem Kopf.
Der Anführer erhob erneut die Stimme.
"Seid gegrüßt, Ehrwürden, wollt ihr für die Toten beten?"
Da Joro Grund zu der Annahme hatte, daß das sein Sinn und Zweck seiner neuen Berufung war, nickte er. Er ging also wortlos zu den Leichen der Gefallenen und senkte seinen Kopf.
Die Stimme in seinem Kopf lachte.
"Ich wette, daß du keine Ahnung hast, was du sagen sollst, oder?"
"Das macht dir Spaß, nicht wahr?"
Celestus kicherte.
"Ein Bißchen... Bitte mich einfach, die Toten ins Jenseits zu geleiten."
"Äh, na gut." Joro tat das.
Dabei bemerkte er etwas. Einer der Drow, die tot vor ihm lagen, war noch nicht so ganz tot. Der Anführer der Menschen hatte das ebenfalls bemerkt und kam mit erhobenem Schwert auf ihn zugelaufen.
"Vorsicht, Ehrwürden!"
"NEIN!" Celestus’ Stimme hatte einen Klang, der absolut keinen Widerspruch zuließ.
Joro hob die Hand.
"Laß’ ihn am Leben!"
"Wie bitte?!"
"Der Herr befiehlt es..."
Langsam und ungläubig ließ der Mann sein Schwert sinken, wobei er Joro fassungslos anstarrte.
"Was soll ich tun", fragte er in Gedanken.
"Lege deine Hände auf seine Wunden und bitte mich, sie zu schließen."
Mit Erschrecken sah er, daß seine Hände begannen, Dunkelheit abzusondern, die in die Wunden kroch und sie dazu brachte, zu verschwinden.
"Warum tust du das, Totengräber?" Der Mann hinter ihm schien völlig außer sich.
Die Frage war nicht ganz dumm, am Liebsten hätte er den Drow selber getötet, und nun saß er da und heilte einen Feind.
"Der Herr Celestus hat es mir befohlen."
"Wirklich?"
"Ja, er spricht zu mir."
Das beeindruckte den Mann sichtlich, denn seine Körperhaltung entschärfte sich drastisch. Fast kleinlaut fragte er: "Erlaubt Ihr, daß wir die Toten begraben?"
Joro nickte. Das ging wohl in Ordnung, denn Celestus wandte nichts ein.
Der Drow kam wieder zu sich. Ungläubig sah er den Menschen vor sich an.
"Wie heißt du?", fragte Joro.
Es schien fast so, als überlegte der Dunkelelf kurz, ob er überhaupt antworten sollte, dann sagte er mit leiser Stimme: "Dinin." Dann sah er ihn ziemlich lange an und schien dabei auf etwas zu lauschen.
"Du hast keine Ahnung, warum du mich heilen solltest, oder?"
Joro war baff. Irgendwie erschien es ihm, als verlaufe sein Leben plötzlich in sehr ungewöhnlichen, aber von außen streng festgelegten Bahnen...
Dinin lächelte.
"Du mußt nicht antworten. Ich danke dir für meine Rettung." Der Drow sprang auf und verschwand in den Wald.
Der Anführer der Menschen kam herbeigeeilt.
"Hat er Euch etwas angetan?"
"Nein."
Der Mann kratzte seinen kurzen Bart und sah Joro nachdenklich an.
"Die Wege des Celestus sind seltsam... Wieso hat er so etwas gewollt?"
Der junge Priester zuckte mit den Achseln, sagte aber nichts.
"Mein Name ist Pentos, ich bin Hauptmann in der Garde von Bargum. Ich nehme an, Ihr wart auf dem Weg ins Kloster?"
"Äh, ich bin erst vor einer Stunde zum Priester berufen worden, mein Name ist Joro. Joro Macun."
Pentos musterte ihn und sagte dann mit einem Grinsen:
"Da gratulier ich aber. Vielleicht ist es ja keine schlechte Idee, wenn Ihr mir dann nach Bargum folgt, Joro Macun. Immerhin ist Bargum das Zentrum Eurer Religion."
"Äh... in Ordnung."
Unsicher folgte Joro der sich in Bewegung setzenden Menschengruppe.
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 2. Kapitel...

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