Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 4

Joro Macun war alles andere als ein geduldiger Mensch. Dazu kam noch erschwerend, daß er jemand war, der Probleme damit hatte, etwas zu tun ohne den Sinn davon zu verstehen oder vorher ausreichend erklärt bekommen zu haben. Dementsprechend waren die Vorkommnisse in Bargum im Nachhinein betrachtet mehr als fragwürdig für ihn und während er hinter dem Dunkelelfen herstapfte, haderte er auf massive Weise mit seinem Schicksal.
Dinin hatte schnell erkannt, daß der Mensch, der jetzt in seiner Obhut war, alles andere als einfach war, aber er hatte Vorbehalte, ihn darauf anzusprechen.
Der junge Mann stapfte jetzt seit Tagen hinter ihm her und murmelte unverständlichen Kram vor sich hin, aß nur wenig und schleppte sich nicht sehr koordiniert durch die Gegend. Aber irgendwann riß ihm der Geduldsfaden und er hielt ihn an.
"Was ist eigentlich dein Problem, Mensch?"
Joro sah ihn verdutzt an.
"Was meinst du?"
"Seitdem wir unterwegs sind, scheinst du die ganze Zeit über etwas zu grübeln. Du ißt nichts und ich mache mir langsam Sorgen um deine Verfassung. Da wo wir hingehen wird es noch kälter sein und da kannst du jedes Bißchen Kraft brauchen."
Der junge Priester schien kurz zu überlegen, was er antworten sollte, dann sah er Dinin herausfordernd an.
"Ich nehme einmal stark an, daß du in dem Moment, in dem ich dich vor Pentos gerettet habe, schon wusstest, daß dies hier eines Tages geschehen würde, oder?"
Der Drow drugste herum.
"Naja, ich wußte zu dem Zeitpunkt immerhin schon wer du bist."
"Aha?"
"Aber ich hatte keine Ahnung was genau passieren würde."
Joro schien ihm gar nicht zuzuhören.
"Genau damit fängt es doch schon an! Seitdem ich Celestus geschworen habe, ihm zu dienen, ist mein ganzes Leben praktisch ohne mein Zutun verlaufen und ich habe das Gefühl, daß hier jeder über alles Bescheid weiß außer mir!" Er trat einen Ast vom Weg.
Dinin kratzte sich am Kinn.
"Naja, du hast wahrscheinlich Recht, was deine Gefühle diesbezüglich angeht, aber ich denke, daß Celestus sichergehen wollte, daß du auch für das taugst, was du einmal für ihn tun sollst. Ich denke, es war ein Weg zur Vertrauensfindung."
Darauf wußte Joro nichts zu antworten. Nicht ohne ein Schmunzeln bemerkte Dinin, daß sich seine Haltung im Folgenden noch nachdenklicher gestaltete und der junge Mensch irgendwie noch mehr grübelte. Doch keine zwei Meilen später reckte er sich plötzlich und er konnte ein Feuer in seinen Augen sehen.
"Weißt du was, Dinin?"
"Nein, was denn?"
"Wenn Celestus sagt, daß es richtig ist, dann ist es das eben auch. Warum soll ich mir krampfhaft Gedanken machen, was mit mir geschehen soll? Mehr als Sterben kann mir in dieser Welt sowieso nicht mehr geschehen und das hab ich immerhin schon hinter mir, oder?"
Dinin wußte es besser, aber er entschied sich, Joros neuen, aufgeweckteren Zustand nicht gefährden zu wollen. Stattdessen nickte er und sie gingen weiter, wobei sie langsam aber sicher miteinander ins Gespräch kamen.

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Wer war eigentlich dieser Dinin? Joro wußte auch noch lange Zeit danach nicht wirklich viel über ihn, da sich der Drow prinzipiell in Schweigen hüllte, was seine Vergangenheit anging.
Der Drow war ein für einen Dunkelelfen mittelgroßer Mann von etwa 1,20m. Er hatte schulterlange, natürlich schneeweiße Haare, die er gewöhnlich im Nacken zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden hielt. Joro war schon sehr schnell aufgefallen, daß er wesentlich älter sein musste, als er auf den ersten Blick schien. Aber das konnte man bei diesem Volk ja sowieso nie vom rein optischen festlegen. Die Augen waren die einzige Quelle, die halbwegs sicher zeigte, wie alt ein Drow wirklich war. Was ihm allerdings auffiel, war, daß dieser Dunkelelf nicht so zu sein schien, wie er es gedacht hatte. Er schien beinahe... freundlich?

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"...und so kam es, daß ich endlich an der Oberfläche ankam und die Mondgöttin mich an sich nahm, um mich zu retten, während ich blind war von der Sonne."
Die Lebensgeschichte Dinins hatte aus etwa drei Sätzen bestanden und nicht wirklich etwas preisgegeben, aber Joro nahm an, daß es für einen Drow ein geradezu offenes Geständnis gewesen sein mußte.
Er hatte ihm im Gegenzug erzählt, wie er auf dem Bauernhof seines Vaters aufgewachsen war und wie vor einem halben Jahr die marodierenden Horden des Drowkönigs Welverin den Hof niedergebrannt und alle seine Verwandten ermordet hatten. Nachdem er seine Berufung ebenfalls erzählt hatte, starrte ihn Dinin wirklich erstaunt an.
"Du mußt deinem Gott wirklich vertrauen, wenn du jetzt wirklich mit mir mitgehst. Du hättest jeden Grund auf dieser Welt, mich auf der Stelle töten zu wollen."
"Und warum? Hast du meine Eltern und meine Geschwister verbrannt? Wenn ich dich umbringe, bekomme ich sie dann wieder?"
"Glaubst du, daß Rache eine rationale Sache ist?"
"Nein, aber du warst mir gegenüber sehr freundlich. Außerdem hat Celestus bestätigt, daß du seinen Willen tust, soll ich glauben, daß er mich wieder aufstehen läßt nur um mich wieder töten zu lassen?"
"Nagut, da hast du recht."
Eine Weile liefen sie nebeneinander auf dem immer steiler werdenden Pfad, der offensichtlich in die nördlichen Berge führte, vor sich hin.
"Sag mal, Dinin, wohin gehen wir eigentlich?"
"Zu einer Gemeinschaft der Göttin, die uns aufnehmen wird."
"Auch alles Dunkelelfen?"
Dinin grinste.
"Ich glaube, die sind alle recht harmlos, unsere Gottheit ist eine des Tanzes und des Gesanges."
"So weit im Norden Dunkelelfen... Bist du dir da sicher?"
"Ja, sie nannte es eine 'Enklave', was auch immer das bedeuten soll."
Das Wort kannte Joro, aber er hielt sich mit klugscheißen zurück und hielt lieber den Mund.
Nach ein paar weiteren Hügelketten kamen sie in ein Tal, in dessen Mitte ein kleines Dorf stand.
Der Priester hob eine Augenbraue.
"Moment mal, da stimmt doch etwas nicht."
"Wieso?"
"Schau dich mal um. Was ist das weiße Zeug hier auf dem Boden? Richtig, es ist Schnee."
"Ja und?"
"Schnee bringt normalerweise Kälte mit sich, was ja auch der Fall ist, nicht wahr? Auch wenn ihr Drow nicht blau frieren könnt, weil ihr sowieso schwarz seid, wird dir das nicht entgangen sein..."
"Du hörst dich wirklich gerne reden, oder? Komm mal zum Punkt, Mann."
Joro wurde rot.
"Na ja... siehst du auch nur über einer einzigen Hütte Rauch? Da unten brennt nicht ein einziger Kamin."
Dinin runzelte die Stirn.
"Hmm..."
"Was genau hat sie denn gesagt wonach du schauen sollst? Das hier kann es ja wohl nicht sein, oder doch?"
"Nun, sie sagte es sei ein Dorf in den Bergen, das sehr abgelegen sein soll", er blickte sich um, "und das sieht ziemlich abgelegen aus, oder nicht?"
Jetzt runzelte Joro die Stirn.
"Aber irgendwas ist hier nicht in Ordnung. Die Hütten sind in einwandfreiem Zustand aber nicht beheizt? Das ist mehr als seltsam."
"Laß uns doch erst einmal sehen, wie das ganze von Nahem aussieht. Vielleicht gibt es eine Erklärung..."
Dinin setzte sich in Bewegung und Joro folgte ihm widerwillig.

Als sie die Hütten erreichten, stellten sie fest, daß diese in der Tat perfekt gepflegt waren. An einigen Dachstühlen konnte Joro sogar einige neue Spacken erkennen. Es waren aber nirgends Fußspuren zu erkennen, die Räume zwischen den einzelnen Behausungen waren nicht vom Schnee befreit und als er durch ein Fenster schaute, war der Innenraum zu seinem Erstaunen komplett leer.
"Dinin..."
"Was?"
"Wenn das hier kein Ablenkungsmanöver darstellt, ist es definitiv eine Falle..."
Hinter ihnen erscholl die Stimme einer Frau.
"Ganz genau! Und ich denke, wir, das heißt in diesem Moment vornehmlich ich, fühlen uns alle etwas wohler, wenn ihr beiden Jungs eure Waffen fallenlaßt."
Joro und Dinin fuhren herum und sahen auf einem der Hüttendächer ein halbes Dutzend Drow stehen, die Armbrusten auf sie gerichtet hatten.
Den jungen Menschen traf der Schlag, als er deren Anführerin, die zu ihnen gesprochen hatte, zum ersten Mal sah. Sie wirkte nicht allzu freundlich, aber sie hatte etwas an sich, was ihn daran hinderte, fortzusehen.
Das schien ihr nicht zuzusagen, denn ihr Blick wurde eisig, als sie den seinen traf, sie sagte aber nichts.
Ein Dunkelelf, der neben ihr stand, ein erstaunlich muskulöser Mann mit einem kurz gestutzten Vollbart und straff nach hinten gebundenen Haaren, winkte mit seiner erstaunlich großen Axt in ihre Richtung und rief:
"Habt ihr nicht gehört, was die Priesterin sagt? Noch einmal wird sie das nicht tun!"
Dinin trat vor Joro.
"Oloth pholor doss, Sharess! Wir sind im Dienste der Göttin hier, wir suchen Unterschlupf in der Enklave!"
Das Gesicht der Priesterin nahm einen spöttischen Ausdruck an.
"Du und die Kalkleiste da? Wer ist dieser Jabbuk?"
"Dieser Mensch hat den Namen Joro Macun und ist ein Priester des Celestus. Er steht unter dem Schutz unserer Herrin."
Die Dunkelelfin schien in sich hinein zu lauschen und Joro vermutete, daß es sich hierbei um einen ähnlichen Dialog handelte, wie er ihn immer mit seinem Gott hielt.
Dann ließ sie ihre Armbrust sinken, wenn auch betont langsam. Die anderen Drow taten es ihr gleich.
"Also ich weiß zwar nicht warum und es gefällt mir schon gar nicht, aber ich werde euch beide hier willkommen heißen."
Dinin atmete hörbar auf, sie hob aber ihre Armbrust noch einmal.
"Ihr werdet uns folgen und zwar ohne Ärger zu machen, hört ihr?"
Die beiden nickten heftig und sie sprang mit den anderen vom Hüttendach herunter.
Joro starrte sie immernoch an. Sie war mindestens einen Kopf größer als Dinin und hatte den typisch elfischen, schlanken Körperbau. Ihre Haare waren zu einem riesigen Dutt im Nacken zusammengerollt und mußten offen ohne Probleme fast bis zum Boden reichen. Ein Ellenbogen traf seine Rippen.
"Hör bloß auf zu starren, Mann!" Dinin schaute ihn mit einer Mischung aus Ärger und Sorge an.
Der Mensch blickte verschämt zu Boden und murmelte eine Entschuldigung.
Wortlos zog die ganze Truppe los und ging auf einen kleinen Flecken Bergwald zu.
"Woher wußtest du, daß sie eine Priesterin ist?", flüsterte Joro seinem Begleiter zu.
"Na das ist doch offensichtlich, sie hat das Mal auf der Stirn."
"Äh, hat sie das?"
"Oh... Verzeihung, du als Mensch kannst das ja nicht sehen..."
Natürlich. Drow konnten in völliger Dunkelheit sehen, das hatte Joros Großvater einmal erzählt. Sie konnten scheinbar besondere Arten Licht wahrnehmen, die den Augen der Menschen verborgen blieben. Joro nahm an, daß das Mal auf der Stirn der Priesterin in einer Farbe gemalt war, die nur auf eben diese Weise zu sehen war.
Sie erreichten den Wald und während der junge Mann so hinter der Priesterin herstapfte, ertappte er sich dabei, wie er ihr kontinuierlich auf den Hintern starrte.
Die beiden Rundungen, die sich da unter der Wildlederhose abzeichneten, hatten etwas geradezu Magisches an sich, das ihn in seinen Bann zog.
Ein Schlag traf seinen Hinterkopf, Dinin sah ihn bitterböse an.
"Ich habe gesagt, daß du das lassen sollst!", zischte er, "oder willst du uns massiven Ärger einbringen?"
Mitten im Wald blieben sie, in der Nähe eines Berghanges, stehen, als die Priesterin eine Hand hob. Sie sprach ein paar Worte in der Drowsprache und der Berghang verschwand, nur um den Blick auf eine Plattform freizugeben, die in die Steinwand eingelassen war. Auf deren Boden knisterten Zeichen in einem hellblauen Licht. Sie wies alle an, sich daraufzustellen und sprach noch ein paar Worte. Die Landschaft um sie herum verschwamm.
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 5. Kapitel...

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