Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 5

Die Umgebung wurde wieder scharf und Joro gab einen Laut des Erstaunens von sich. Vor der eben noch im Wald stehenden Plattform war ein kleines, verschneites Tal erschienen. Darin stand eine Ansammlung von aus schwarzem Stein gebauten Hütten, die im typischen Drowstil runde Grundflächen und zahlreiche, ebenfalls runde Erker und Türmchen hatten. Aus den Schornsteinen drang Rauch und zwischen den einzelnen Behausungen war eine nicht kleine Anzahl an Drow zu erkennen, die ziemlich geschäftig umhereilten.
Am gegenüberliegenden Ende des Tals war ein riesiger Platz auszumachen, der wahrscheinlich mehr als 100 Meter Durchmesser hatte und ganz vom Schnee befreit war. In dessen Mitte war eine große Feuerstelle, in der ein großer Holzstapel aufgeschichtet war. Offensichtlich war da etwas vorbereitet und Joro ertappte sich dabei, stark zu hoffen, daß es nur ein Lagerfeuer werden sollte.
Die Priesterin hielt an, kurz bevor sie die Hütten erreicht hatten.
"Du", sagte sie zu Dinin gewandt, "wirst mit Nalfein mitgehen." Dabei wies sie auf den Mann mit der Axt.
Dieser nickte und wies Dinin mit einer ruppigen Geste an, ihm zu folgen, was er tat. Im Fortgehen sah er Joro an und zuckte mit den Schultern.
"Ihr anderen geht jetzt, ich will mit dem Menschen alleine reden!"
Die anderen Begleiter zerstreuten sich wortlos und Joro stand mit der Priesterin alleine da. Obwohl sie ihm gerade einmal bis zur Brust reichte, strahlte sie eine unglaubliche Bestimmtheit aus. Sie musterte ihn einmal von oben bis unten.
"Was soll ich jetzt mit dir machen..."
"Äh, ich weiß nicht..."
"Das war keine Frage, das war laut gedacht", sie sah ihn böse an und er schaute verschämt zu Boden.
"Du bist ein Mensch." Diese Feststellung hörte sich in der Art wie sie das sagte fast wie eine Beleidigung an. "Ein Jabbuk."
Joro wußte nicht, wie er reagieren sollte, er fühlte sich ziemlich alleine und ausgeliefert.
"Ich... ich weiß nicht, was ich sagen soll..."
Das größte Problem war eigentlich nicht, daß ihm nichts eingefallen wäre, aber wenn er diese großen, violetten Augen ansah konnte er sich beim besten Willen nicht konzentrieren.
Sie seufzte.
"Dort. Diese Hütte da", sie wies auf eine etwas abseits gelegene Behausung, "sie steht eigentlich leer, aber wir werden dir ein paar Möbel herschaffen. Erwarte nicht zu viel, das ist hier keine Luxusherberge. Der einzige Grund, wieso ich dich überhaupt mitgenommen habe, ist, daß die Herrin es mir geboten hat. Wenn das nicht der Fall wäre, hätte ich dich zur Hölle gejagt."
Sie wandte sich um und wollte gehen, aber Joro ergriff das Wort.
"Ich weiß auch nicht, was hier vor sich geht, und ich habe erst recht keinen Grund, deine Feindseligkeit zu hinterfragen, weil die sicherlich ihre Ursachen haben wird. Aber ich hoffe, ich werde dir beweisen können, daß alles, was du meinst über mich zu wissen oder von mir denken zu müssen, falsch ist."
Die Priesterin hielt kurz an und sagte, ohne sich dabei umzudrehen: "Wir werden sehen, Jabbuk."

__

Die Hütte war klein und hatte nur einen Raum. In der Mitte war ein Ofen und am Rand stand ein Bett, ansonsten war sie leer. Nach beinahe einer Woche Fußmarsch und übernachten unter Nadelbäumen, nur mit ein paar Zweigen als Unterlage und mit einem Lagerfeuer zum Wärmen, erschien Joro dieser Wandel fast wie das Paradies, so karg es auch war.
An Schlaf war aber nicht zu denken, die ganze Situation war einfach zu seltsam und unwirklich. Er fühlte sich verloren, ja, beinahe isoliert, vor allem weil seine einzige Bezugsperson, nämlich Dinin, sich nicht mehr bei ihm befand.
Er hatte sich aufs Bett gesetzt und gegrübelt, wie das so seine Art war, aber jetzt stand er auf und sah sich um. Irgendetwas sollte doch zu tun sei, vielleicht draußen?
Tatsächlich fand er hinter der Hütte einen Hackklotz und einen Stapel Feuerholz. Das war genau das, was er jetzt brauchte.
Knapp eine halbe Stunde später knisterte ein Feuer im Ofen und Joro stand vor der Hütte und zimmerte sich aus Holzstücken und -keilen, die vom Hacken übrig waren, einen provisorischen Hocker zusammen, auf den er sich alsbald prüfend setzte. Er hielt.
Als er gerade wieder hineingehen wollte, kamen Dinin und fünf weitere Drowmänner um eine Hausecke (na ja, Hausrundung) herumgelaufen. Sie zogen einen Lastschlitten hinter sich her, auf dem einige Möbelstücke lagen und standen.
"Sollen wir dich mal einrichten, Herr Totengräber?" Dinin grinste.
"Wenn du schon so nett fragst, dann gerne. Kommt herein!"
Sehr zu Joros Überraschung verhielt sich keiner der anderen Drow auch nur im Geringsten feindselig. Ganz im Gegenteil, sie schienen sehr fröhlich zu sein und rissen hin und wieder kleine Witze.
Sie hatten einen Schrank, einen Tisch und vier grobe Stühle aus Kiefernholz gebracht. Als sie alles eingeräumt hatten, verabschiedeten sie sich höflich und ließen Dinin und Joro allein.
Der setzte sich an den Tisch und legte ein Bündel darauf, was sehr zu Joros Freude einen Schinken, einen Laib Brot und etwas Käse enthielt. Außerdem stellte er noch eine Flasche auf den Tisch.
"Drowwein. Ich weiß nicht, ob der dir schmecken wird, aber einer der anderen hat gesagt, daß er dir bis morgen ein Faß Zwergenbier vor die Hütte stellt. Er hat auch gesagt, daß das Zeug so hart ist, daß es nicht einmal gefriert, also sei vorsichtig wenn du es ausprobierst."
"Danke, danke, danke... Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll."
"Erst einmal Klappe halten und essen, Joro."
Das Mahl dauerte eine ganze Weile und Joro fand dabei heraus, daß ihm der Wein zwar nicht gänzlich zuwider war, aber doch sehr seltsam schmeckte. Die grüne Flüssigkeit perlte wie ein Schaumbad und war irgendwo zwischen sauer und scharf. Aber es machte ein herrlich warmes Gefühl im Bauch, also beschwerte er sich nicht.
Er hatte aufgegessen, lehnte sich zurück und schaute Dinin fragend an.
"Sag’ mal, warum kann mich diese Priesterin eigentlich nicht leiden?"
Der Drow blickte von seinem Weinglas auf und schien von der Frage überrascht zu sein.
"Vierna?"
"Das ist ihr Name?"
"Ja... Weißt du, sie kann Menschen im Großen und Ganzen überhaupt nicht leiden."
"Woher kennst du eigentlich ihren Namen?"
Dinin zögerte.
"Ich...ich war nicht ganz ehrlich zu dir, weil ich mir nicht sicher war, ob ich dir trauen kann."
"Wie bitte?"
"Nun ja, ich bin schon seit über 120 Jahren Mitglied dieser Enklave..."
Joro war sprachlos.
"Warum hast du mir nichts gesagt?!"
"Du verstehst das vermutlich nicht, aber ich wollte mir sicher sein, daß du in Ordnung bist und keine Gefahr bist, bevor ich dir das erzähle. Wir leben in schweren Zeiten und wenn ich es dir gesagt hätte ohne sicher zu sein, daß du keine Sicherheitslücke darstellst, wäre ich Gefahr gelaufen, unsere geheime Basis preiszugeben."
Joro zog zweifelnd eine Augenbraue hoch.
"Achja, und jetzt weißt du also, daß du mir vertrauen kannst, ja? War es nicht deine Göttin, die dir gesagt hat, daß du mich holen sollst?"
Dinins Gesicht erschien mit einem Male kurzzeitig sehr kalt.
"Auch Götter machen einmal Fehler, Mensch. Ich bin ein sehr guter Beobachter und erkenne es meistens ziemlich genau, wenn einer etwas im Schilde führt. Hätte ich zu irgendeiner Zeit das Gefühl bekommen, das dich hätte verdächtig aussehen lassen, wärst du niemals lebend hier angekommen."
Joro schluckte, aber das Gesicht des Dunkelelfen wurde wieder freundlicher.
"Aber mach dir nichts draus, Joro. Ich habe den Eindruck, daß du ein sehr netter, pflichtbewusster und hilfreicher junger Mann bist. Ich hatte nie Bedenken deinetwegen, aber die Sicherheit der Gemeinschaft hier geht vor, du weißt selber, in welchem Verhältnis die Menschen und die Drow in diesen Landen zueinander stehen."
Dinin stand auf und ging zur Tür.
"Schlaf gut, Joro Macun. Morgen wird ein langer, harter Tag."
Er ging hinaus.
Der junge Priester war wieder alleine. Er wußte nicht, was er tun sollte, er war selbst zum schlafen zu müde. Sein Blick fiel unwillkürlich auf etwas im Raum, das er vorher nicht bemerkt hatte.
An einer Seite der Hütte stand an der Wand eine Schaufel, die dort zusammen mit einem Spaten und einer Spitzhacke in einer kleinen Nische lehnte.
Unwillkürlich mußte er grinsen.
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 6. Kapitel...

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