Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 6

Als der Morgen graute, stand Vierna im Zimmer ihrer Hütte und rollte gerade ihre Haare auf dem Hinterkopf zusammen, als es aufgeregt an der Tür klopfte. Sie schob eine Klammer in den Dutt und ging zur Tür.
Draußen stand eine aufgeregte Novizin, die wild mit den Armen ruderte, während sie kein einziges vernünftiges Wort herausbrachte.
"Beruhig dich und sag mir genau was du willst!"
"Priesterin! Ihr müsst Euch das ansehen!"
"Was hast du?"
"Es ist etwas ganz seltsames geschehen... Kommt schnell!"
Die junge Drow rannte los und Vierna blieb nichts Anderes übrig, als hinterherzulaufen. Die Novizin führte sie zu Joros Hütte (was Vierna sich schon fast gedacht hatte), um die sich eine nicht gerade kleine Gruppe der Drow drängte, die alle aufgeregt miteinander redeten.
Als Vierna näher kam, verstummten sie und machten ihr Platz.
Hinter der Hütte, am Berghang, an dem ein Pfad zu einer kleinen Quelle mit Basin hochführte, waren zehn Gräber ausgehoben und ein provisorischer Kiefernholzzaun gezogen worden.
Dinin stand mit vor der Brust verschränkten Armen an die Hütte gelehnt da und schmunzelte.
"Was grinst du so dämlich, Dinin?!! Wie konnte er das wagen??"
"Reg’ dich nicht auf, Vierna. Er ist ein Totengräber, wie du vielleicht bemerkt hast."
"Das ist doch noch lange kein Grund, hier einfach ohne eine Erlaubnis ein Gräberfeld auszuheben! Er hat nicht einmal gefragt!"
Die beiden wurden unterbrochen, als ein großer, dicklicher Mensch, nur in Hose und Stiefeln, den Hang von der Quelle heruntergestiegen kam, wobei er sich den Oberkörper abtrocknete.
Als die übrigen Drow die sprichwörtlichen dunklen Wolken über Viernas Kopf zusammenziehen sahen, zogen sie sich billige Entschuldigungen murmelnd zurück. Nur Dinin blieb stehen.
Die Priesterin ging mit brennendem Zorn in den Augen auf Joro zu und baute sich vor dem 
Menschen, der mehr als einen halben Meter größer war, auf.
"Habe ich zu irgendeinem Zeitpunkt den Wunsch geäußert, hier einen Friedhof haben zu wollen?"
"Nein... ich habe nur gesehen, daß ihr keinen habt und da ich nicht wußte ob und wie Drow mit dem Tod umgehen oder sterben, habe ich eben gedacht, es könnte vielleicht nicht schaden..."
Das schien Vierna in keiner Weise zu beruhigen. Stattdessen wurde sie nur noch wütender. Während sie vor ihm stand, ihm auf die Brust tippte und ansetzte, etwas zu brüllen, sah er kurz etwas in ihren wunderschönen violetten Augen, das ihn erstaunte. Konnte es sein, daß Vierna, nur für einen kleinen Moment, doch Gefallen an der Tatsache gefunden hatte, einen Friedhof zu haben?
Das konnte sie natürlich nicht zugeben, das war ihm auch klar.
Sie schnappte nach Luft, drehte sich dann aber wortlos um und stapfte davon.
Dinin wartete eine Weile, bis sie sich entfernt hatte, dann stellte er sich neben Joro und klopfte dem völlig verunsicherten Menschen auf die Schulter.
"Ich denke, du brauchst keine Angst zu haben. Sie findet das gar nicht so schlecht, aber du weißt ja wie Frauen sind."
Joro verzog das Gesicht.
"Meinst du?"
"Jupp!"

Immerhin: der Friedhof blieb. Und Vierna kam auch nicht wieder zurück, um ihn zur Sau zu machen. Trotzdem behielt er einen seltsamen Beigeschmack im Mund, denn eigentlich wollte er nicht als Störfaktor gelten, sondern hatte es in dem Gefühl gemacht, seinen Beitrag zu dieser Gemeinschaft leisten zu wollen. Joro kannte die Priesterin noch nicht einmal seit einem Tag und wollte nicht jetzt schon die Anführerin der Gemeinschaft als Feindin haben. Geschweige denn überhaupt!
Am Nachmittag hatte sich die Enklave wieder etwas beruhigt, es kamen hin und wieder Drow vorbei, schauten kurz und nickten ihm dann zustimmend zu. Scheinbar war es also doch kein kompletter Fehltritt gewesen.
Dinin war fortgegangen, kam aber am frühen Abend wieder und hatte ziemlich gute Laune.
"Ich habe mit Vierna geredet."
"Und was sagt sie?" Joro schaute besorgt.
"Sie ist immernoch ein bißchen entrüstet, ich glaube, weil sie sich übergangen fühlt, aber ich denke sie kommt darüber hinweg."
Der Totengräber verzog den Mundwinkel.
"Ich möchte nicht, daß sie böse auf mich ist..."
Dinin sah ihn auf eine besondere Art und Weise an.
"Joro?"
"Was?"
"Sag mal, gibt es vielleicht einen Grund, wieso du so einen geschwollenen Kram von dir gibst? Du hörst dich fast an, als seiest du in sie verliebt."
Das Gesicht des Menschen lief rot an.
"Äh..."
Der Dunkelelf lachte laut.
"Oh, Mann! Das war ein Volltreffer, oder? Deshalb starrst du sie auch dauernd an, was?"
Joro versuchte das Thema zu wechseln.
"Ähm, wie geht es denn nun weiter mit mir?"
Dinin ging darauf ein.
"Du wirst morgen früh mit den anderen in den Wald gehen und Brenn- und Bauholz sammeln. Glaub mir, du wirst hier immer genug zu tun haben."
"Und... wozu ist der Scheiterhaufen da hinten gedacht?"
"In drei Tagen ist Wintersonnwende. Das wird ein großes, sehr schönes Fest."
Der Drow wies auf einen Sack, der an der Hüttenwand lehnte, neben dem Bierfaß, das am Morgen schon da gestanden hatte, wie Joro freudig zur Kenntnis genommen hatte.
"Ich habe dir noch wärmere Kleidung mitgebracht und ein paar Essensvorräte. Magst du mitkommen, etwas jagen gehen?"
Joro schüttelte den Kopf.
"Ich baue erst den Zaun fertig, ich habe vorhin mit diesem Nalfein geredet, der scheint ein Zimmermann zu sein, er hat gesagt, daß er am Abend kommt, mir zu helfen."
Dinin schaute ihn freudig überrascht an.
"Nalfein hilft dir? Das ist ja wunderbar!"
"Öh, wieso?"
Der Drow grinste über beide Ohren.
"Vierna mag Menschen nicht, aber du kannst mir glauben, daß Nalfein euch haßt. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit und wenn er dir helfen will, dann hast du hier schon einen Fuß in der Tür."
"Wieso nicht beide?"
"Weil es da noch jemanden gibt, deren Hintern du andauernd anstarrst. Und dieser Jemand muß auch noch auf deiner Seite stehen..."
Mit diesen Worten ging Dinin kichernd davon, während er noch einen Abschiedsgruß winkte.

Nalfein kam am Abend. Er zog ganz alleine einen großen Lastschlitten, auf dem zwei Klafter Latten und mehrere Pfähle lagen. Wie eine nur knapp fünf Fuß hohe Person es schaffte eine Menge von etwa sechs Zentnern Holz zu ziehen, blieb Joro verborgen.
Die beiden machten sich schweigend an die Arbeit, schlugen Löcher in den gefrorenen Boden, setzten die Pfähle hinein, schlugen Latten daran. Es war schon lange Nacht geworden, als sie endlich fertig waren. Aus dem Abfallholz hatten sie ein kleines Feuer gemacht und Nalfein hatte eine Flasche Wein dabei, die sie nun zusammen tranken.
Während der ganzen Arbeitszeit hatten sie nicht ein einziges Wort miteinander gesprochen und auch jetzt saßen sie lange schweigend da. Mit einem Mal jedoch sah Nalfein Joro an und sagte:
"Sag mal, Jabbuk, wie fühlt sich die Aussicht an, mit uns hier leben zu müssen?"
Der Mensch sah verdutzt drein.
"Wie meinst du das?"
"Jetzt stell dich nicht dumm. Dinin hat mir erzählt, daß du von Drow angegriffen und fast getötet worden bist. Und daß deine ganze Familie von unserem Volk ermordet wurde", er hielt inne. "Kannst du mit der Maske überhaupt trinken?"
"Offensichtlich. Außerdem bin ich nicht fast getötet worden, sondern ich war tot."
"Hast du dich gerächt?"
"Nein. Erst wollte ich es, aber Celestus hat mir die Augen geöffnet."
Nalfein hob eine Augenbraue.
"Aha? Und inwiefern?"
"Nun... was hätte es gebracht? Ein Leben zu nehmen rechtfertigt es nicht, ein weiteres zu vernichten. Damit ändert man die Vergangenheit nicht und am Ende ist nur wieder einer tot."
"Haßt du uns?"
"Nein, warum sollte ich. Diese Gemeinschaft hier bestätigt mich sogar eigentlich darin, daß die Herkunft oder Zugehörigkeit zu einem Volk keinerlei wirkliche Aussage auf den Charakter einer Person treffen läßt", Joro machte eine ausholende Geste, "Wenn du ein schlechter Mensch... Verzeihung Drow wärst, hätten wir dann gemeinsam diesen Zaun hier gebaut?"
Nalfein nickte langsam vor sich hin.
"Also habe ich mich nicht in dir getäuscht, und Dinin auch nicht. Wenn Eilistraee dich akzeptiert, mußt du eine Person sein, die so denkt. Ich hatte natürlich Vorbehalte, aber ich sehe langsam, daß du wirklich in Ordnung bist. Außerdem bist du wirklich nicht ungeschickt mit deinen Händen."
"Mein Vater war ein Bauer, genauso wie sein Vater vor ihm. Ich habe schon als Kind beim Bau von Koppeln geholfen, er hat Rinder gezüchtet."
"Es ist gute, ehrliche Arbeit. Die meisten Priester, die ich unter den Menschen getroffen habe, sitzen auf ihrem fetten Hintern und lassen sich von anderen bedienen. Du bist anders, das gefällt mir an dir, Joro Macun."
Obwohl die Nennung der beiden Termini "Priester" und "Hintern" angenehm an etwas Anderes erinnerte, freute ihn die Aussage seines Gegenübers immens.
"Danke sehr."
Nalfein stand auf.
"Ich muß gehen, meine Frau wartet auf mich", irgendwie verzog er dabei sein Gesicht, "wir haben morgen Einiges zu tun, weil wir eine Menge Holz brauchen. Zum Bauen und auch zum Heizen."
"Wenn ich darf, komme ich morgen mit."
Der Zimmermann lächelte ihn an.
"Natürlich..."
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 7. Kapitel...

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