Als der Morgen graute, stand Vierna im Zimmer ihrer Hütte und
rollte gerade ihre Haare auf dem Hinterkopf zusammen, als es aufgeregt
an der Tür klopfte. Sie schob eine Klammer in den Dutt und ging zur
Tür.
Draußen stand eine aufgeregte Novizin, die wild mit den Armen
ruderte, während sie kein einziges vernünftiges Wort herausbrachte.
"Beruhig dich und sag mir genau was du willst!"
"Priesterin! Ihr müsst Euch das ansehen!"
"Was hast du?"
"Es ist etwas ganz seltsames geschehen... Kommt schnell!"
Die junge Drow rannte los und Vierna blieb nichts Anderes übrig,
als hinterherzulaufen. Die Novizin führte sie zu Joros Hütte
(was Vierna sich schon fast gedacht hatte), um die sich eine nicht gerade
kleine Gruppe der Drow drängte, die alle aufgeregt miteinander redeten.
Als Vierna näher kam, verstummten sie und machten ihr Platz.
Hinter der Hütte, am Berghang, an dem ein Pfad zu einer kleinen
Quelle mit Basin hochführte, waren zehn Gräber ausgehoben und
ein provisorischer Kiefernholzzaun gezogen worden.
Dinin stand mit vor der Brust verschränkten Armen an die Hütte
gelehnt da und schmunzelte.
"Was grinst du so dämlich, Dinin?!! Wie konnte er das wagen??"
"Reg’ dich nicht auf, Vierna. Er ist ein Totengräber, wie du
vielleicht bemerkt hast."
"Das ist doch noch lange kein Grund, hier einfach ohne eine Erlaubnis
ein Gräberfeld auszuheben! Er hat nicht einmal gefragt!"
Die beiden wurden unterbrochen, als ein großer, dicklicher
Mensch, nur in Hose und Stiefeln, den Hang von der Quelle heruntergestiegen
kam, wobei er sich den Oberkörper abtrocknete.
Als die übrigen Drow die sprichwörtlichen dunklen Wolken
über Viernas Kopf zusammenziehen sahen, zogen sie sich billige Entschuldigungen
murmelnd zurück. Nur Dinin blieb stehen.
Die Priesterin ging mit brennendem Zorn in den Augen auf Joro zu
und baute sich vor dem
Menschen, der mehr als einen halben Meter größer war,
auf.
"Habe ich zu irgendeinem Zeitpunkt den Wunsch geäußert,
hier einen Friedhof haben zu wollen?"
"Nein... ich habe nur gesehen, daß ihr keinen habt und da
ich nicht wußte ob und wie Drow mit dem Tod umgehen oder sterben,
habe ich eben gedacht, es könnte vielleicht nicht schaden..."
Das schien Vierna in keiner Weise zu beruhigen. Stattdessen wurde
sie nur noch wütender. Während sie vor ihm stand, ihm auf die
Brust tippte und ansetzte, etwas zu brüllen, sah er kurz etwas in
ihren wunderschönen violetten Augen, das ihn erstaunte. Konnte es
sein, daß Vierna, nur für einen kleinen Moment, doch Gefallen
an der Tatsache gefunden hatte, einen Friedhof zu haben?
Das konnte sie natürlich nicht zugeben, das war ihm auch klar.
Sie schnappte nach Luft, drehte sich dann aber wortlos um und stapfte
davon.
Dinin wartete eine Weile, bis sie sich entfernt hatte, dann stellte
er sich neben Joro und klopfte dem völlig verunsicherten Menschen
auf die Schulter.
"Ich denke, du brauchst keine Angst zu haben. Sie findet das gar
nicht so schlecht, aber du weißt ja wie Frauen sind."
Joro verzog das Gesicht.
"Meinst du?"
"Jupp!"
Immerhin: der Friedhof blieb. Und Vierna kam auch nicht wieder zurück,
um ihn zur Sau zu machen. Trotzdem behielt er einen seltsamen Beigeschmack
im Mund, denn eigentlich wollte er nicht als Störfaktor gelten, sondern
hatte es in dem Gefühl gemacht, seinen Beitrag zu dieser Gemeinschaft
leisten zu wollen. Joro kannte die Priesterin noch nicht einmal seit einem
Tag und wollte nicht jetzt schon die Anführerin der Gemeinschaft als
Feindin haben. Geschweige denn überhaupt!
Am Nachmittag hatte sich die Enklave wieder etwas beruhigt, es kamen
hin und wieder Drow vorbei, schauten kurz und nickten ihm dann zustimmend
zu. Scheinbar war es also doch kein kompletter Fehltritt gewesen.
Dinin war fortgegangen, kam aber am frühen Abend wieder und
hatte ziemlich gute Laune.
"Ich habe mit Vierna geredet."
"Und was sagt sie?" Joro schaute besorgt.
"Sie ist immernoch ein bißchen entrüstet, ich glaube,
weil sie sich übergangen fühlt, aber ich denke sie kommt darüber
hinweg."
Der Totengräber verzog den Mundwinkel.
"Ich möchte nicht, daß sie böse auf mich ist..."
Dinin sah ihn auf eine besondere Art und Weise an.
"Joro?"
"Was?"
"Sag mal, gibt es vielleicht einen Grund, wieso du so einen geschwollenen
Kram von dir gibst? Du hörst dich fast an, als seiest du in sie verliebt."
Das Gesicht des Menschen lief rot an.
"Äh..."
Der Dunkelelf lachte laut.
"Oh, Mann! Das war ein Volltreffer, oder? Deshalb starrst du sie
auch dauernd an, was?"
Joro versuchte das Thema zu wechseln.
"Ähm, wie geht es denn nun weiter mit mir?"
Dinin ging darauf ein.
"Du wirst morgen früh mit den anderen in den Wald gehen und
Brenn- und Bauholz sammeln. Glaub mir, du wirst hier immer genug zu tun
haben."
"Und... wozu ist der Scheiterhaufen da hinten gedacht?"
"In drei Tagen ist Wintersonnwende. Das wird ein großes, sehr
schönes Fest."
Der Drow wies auf einen Sack, der an der Hüttenwand lehnte,
neben dem Bierfaß, das am Morgen schon da gestanden hatte, wie Joro
freudig zur Kenntnis genommen hatte.
"Ich habe dir noch wärmere Kleidung mitgebracht und ein paar
Essensvorräte. Magst du mitkommen, etwas jagen gehen?"
Joro schüttelte den Kopf.
"Ich baue erst den Zaun fertig, ich habe vorhin mit diesem Nalfein
geredet, der scheint ein Zimmermann zu sein, er hat gesagt, daß er
am Abend kommt, mir zu helfen."
Dinin schaute ihn freudig überrascht an.
"Nalfein hilft dir? Das ist ja wunderbar!"
"Öh, wieso?"
Der Drow grinste über beide Ohren.
"Vierna mag Menschen nicht, aber du kannst mir glauben, daß
Nalfein euch haßt. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit und
wenn er dir helfen will, dann hast du hier schon einen Fuß
in der Tür."
"Wieso nicht beide?"
"Weil es da noch jemanden gibt, deren Hintern du andauernd anstarrst.
Und dieser Jemand muß auch noch auf deiner Seite stehen..."
Mit diesen Worten ging Dinin kichernd davon, während er noch
einen Abschiedsgruß winkte.
Nalfein kam am Abend. Er zog ganz alleine einen großen Lastschlitten,
auf dem zwei Klafter Latten und mehrere Pfähle lagen. Wie eine nur
knapp fünf Fuß hohe Person es schaffte eine Menge von etwa sechs
Zentnern Holz zu ziehen, blieb Joro verborgen.
Die beiden machten sich schweigend an die Arbeit, schlugen Löcher
in den gefrorenen Boden, setzten die Pfähle hinein, schlugen Latten
daran. Es war schon lange Nacht geworden, als sie endlich fertig waren.
Aus dem Abfallholz hatten sie ein kleines Feuer gemacht und Nalfein hatte
eine Flasche Wein dabei, die sie nun zusammen tranken.
Während der ganzen Arbeitszeit hatten sie nicht ein einziges
Wort miteinander gesprochen und auch jetzt saßen sie lange schweigend
da. Mit einem Mal jedoch sah Nalfein Joro an und sagte:
"Sag mal, Jabbuk, wie fühlt sich die Aussicht an, mit uns hier
leben zu müssen?"
Der Mensch sah verdutzt drein.
"Wie meinst du das?"
"Jetzt stell dich nicht dumm. Dinin hat mir erzählt, daß
du von Drow angegriffen und fast getötet worden bist. Und daß
deine ganze Familie von unserem Volk ermordet wurde", er hielt inne. "Kannst
du mit der Maske überhaupt trinken?"
"Offensichtlich. Außerdem bin ich nicht fast getötet
worden, sondern ich war tot."
"Hast du dich gerächt?"
"Nein. Erst wollte ich es, aber Celestus hat mir die Augen geöffnet."
Nalfein hob eine Augenbraue.
"Aha? Und inwiefern?"
"Nun... was hätte es gebracht? Ein Leben zu nehmen rechtfertigt
es nicht, ein weiteres zu vernichten. Damit ändert man die Vergangenheit
nicht und am Ende ist nur wieder einer tot."
"Haßt du uns?"
"Nein, warum sollte ich. Diese Gemeinschaft hier bestätigt
mich sogar eigentlich darin, daß die Herkunft oder Zugehörigkeit
zu einem Volk keinerlei wirkliche Aussage auf den Charakter einer Person
treffen läßt", Joro machte eine ausholende Geste, "Wenn du ein
schlechter Mensch... Verzeihung Drow wärst, hätten wir
dann gemeinsam diesen Zaun hier gebaut?"
Nalfein nickte langsam vor sich hin.
"Also habe ich mich nicht in dir getäuscht, und Dinin auch
nicht. Wenn Eilistraee dich akzeptiert, mußt du eine Person sein,
die so denkt. Ich hatte natürlich Vorbehalte, aber ich sehe langsam,
daß du wirklich in Ordnung bist. Außerdem bist du wirklich
nicht ungeschickt mit deinen Händen."
"Mein Vater war ein Bauer, genauso wie sein Vater vor ihm. Ich habe
schon als Kind beim Bau von Koppeln geholfen, er hat Rinder gezüchtet."
"Es ist gute, ehrliche Arbeit. Die meisten Priester, die ich unter
den Menschen getroffen habe, sitzen auf ihrem fetten Hintern und lassen
sich von anderen bedienen. Du bist anders, das gefällt mir an dir,
Joro Macun."
Obwohl die Nennung der beiden Termini "Priester" und "Hintern" angenehm
an etwas Anderes erinnerte, freute ihn die Aussage seines Gegenübers
immens.
"Danke sehr."
Nalfein stand auf.
"Ich muß gehen, meine Frau wartet auf mich", irgendwie verzog
er dabei sein Gesicht, "wir haben morgen Einiges zu tun, weil wir eine
Menge Holz brauchen. Zum Bauen und auch zum Heizen."
"Wenn ich darf, komme ich morgen mit."
Der Zimmermann lächelte ihn an.
"Natürlich..."
© Matthias
Wruck
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