Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 7

Joro saß alleine in seiner Hütte. Es war sehr spät geworden und er dachte schon eine geraume Weile nach.
"Celestus?"
Der dunkle Herr manifestierte sich auf einem Stuhl.
"Wie kann ich dir helfen, mein Sohn?"
"Sag mal, hast du mir nicht einmal gesagt, daß du der Ansicht bist, daß sich Götter nicht in die Belange der Menschen einmischen sollen?"
"Stimmt, wieso?"
"Warum hast du es bei mir dann die ganze Zeit getan? Seitdem ich in deinem Dienst stehe, ist alles um mich herum ohne mein Zutun geschehen."
"Ist es das?"
"Ist es das etwa nicht?"
"Alles, was ich getan habe, war, dich zu bitten, mir einen Friedhof zu bauen. Und dann, als die Gefahr zu groß wurde, habe ich Eilistraee gebeten, dich aus Bargum zu bringen, weil ich nicht wollte, daß dir etwas geschieht. Den Rest haben Drow und Menschen getan, nicht ich."
Joro wußte nicht, was er davon halten sollte.
"Was hast du mit mir vor?"
Celestus lachte.
"Du tust schon lange genau das, was ich von dir erwarten würde. Warum vertraust du nicht einfach auf dein Herz und tust, was du für richtig hältst? Du glaubst doch nicht etwa, daß ich dir alles erzählen werde, was du zu tun hast, oder doch?"
Das half Joro nun mal gar nicht.
"Heißt das, daß alles, was ich tun werde, sowieso richtig sein wird?"
"Netter Versuch, Joro."
"Was soll ich denn sonst davon halten?"
Der Gott seufzte.
"Joro, ich habe dich erwählt, weil du der Richtige bist. Mehr brauche ich dir nicht zu sagen. Im Übrigen: der Friedhof gefällt mir."
"Danke..."

__

Joro hatte schlecht geschlafen. In seinem Traum hatte er einen alten Mann gesehen, der ihm seltsam vertraut schien. Er wußte nicht warum, aber dieser Mann machte ihm irgendwie Angst.
Als Zuschauer hatte er gesehen, wie diese Person in ein Schlafzimmer schlich und zwei Personen, die dort schliefen, mit einem Dolch tötete. Dann hatte er sich zu Joro umgedreht und hämisch grinsend zu ihm gesehen und gesagt:
"Du bist der Nächste, Macun!"
Er war schweißgebadet aufgewacht und in völliger Verwirrung im Halbschlaf zur Quelle hochgetaumelt. Nach einer halben Minute Kopfeintauchen war er wieder heruntergelaufen und hatte sich vor den Ofen gehockt.
Da saß er nun brütend herum. Die Sonne war noch lange nicht aufgegangen, aber er wußte ziemlich genau, daß ein weiterer Versuch, sich hinzulegen, niemals einen Erfolg gehabt hätte.
Joro nahm ein Stück Wildschinken und einen Bissen Brot und schenkte sich einen Humpen Bier ein. Vor sich hin kauend dachte er weiter nach.
Unvermittelt bemerkte er, daß Celestus ihm gegenüber am Tisch saß.
"Wie lange sitzt du schon da?"
"Nicht lange. Du hast schlecht geschlafen, oder?"
"Ja. Wer ist der Mann?"
Celestus seufzte.
"Das wirst du, fürchte ich, noch viel zu schnell persönlich erfahren."
"Ach so?"
"Ja, aber ich kann dich beruhigen, zunächst einmal wirst du in Sicherheit sein."
"Da freu ich mich aber..."
Der Gott kratzte sich an seinem nicht existenten Bart.
"Ich wollte dir gestern noch etwas sagen, aber ich dachte, das hat Zeit bis heute... Ich möchte, daß du den Drow hier immer freundlich gesonnen bleibst und dir bewußt bist, daß sie deine Freunde sind. Das darfst du niemals vergessen."
"Das hatte ich sowieso vor..."
"Ich wollte es dir aber noch einmal sagen. Jeder braucht Freunde, Verbündete. Alleine wirst du das, was in deinem Leben auf dich wartet, nicht bewältigen können, das kann keiner. In der Einsamkeit verkümmert die Seele."
Joro wußte nicht, ob er das philosophische Geschwafel verstand, aber ihm war klar, daß der Gott ihm auf freundliche Art und Weise ins Gewissen reden wollte.
Celestus fuhr fort.
"Eins noch. Dinin mag dich. Vielleicht wirst du niemals einen besseren Freund finden als ihn. Wenn du irgendjemandem blind vertrauen kannst, dann ist er es."
Nach einem ernsten, langen Blick zwischen den beiden verschwand der dunkle Mann wieder.
Jetzt fühlte sich Joro noch seltsamer. Die Ansprache an sein Gewissen hatte sich für ihn fast wie ein präventiver Abgesang angehört. Sollte er sich so etwa sicher fühlen in seiner Haut?
Es klopfte an der Tür.
"Herein?!"
Dinin betrat den Raum, in dicke Winterkleidung gehüllt.
"Es ist wirklich arschkalt da draußen. Wir haben seit gestern fast zwei Fuß Neuschnee... Zieh dich an, wir müssen los."
"Dir steht der Schnee bis zum Hals was?"
Der Drow ignorierte ihn und sah ihn stattdessen auffordernd an.
Joro blickte aus dem Fenster. Es war immernoch völlig dunkel, nur durch den Schein des Feuers in seinem Ofen und der kleinen Kerze auf seinem Tisch konnte er erkennen, daß draußen ein schlimmes Schneegestöber herrschen mußte.
"Jetzt schon?"
"Ja, zieh dich an, alle anderen warten schon auf dich."
Glücklicherweise hatte Dinin ihm am Tag zuvor die dickeren Anziehsachen mitgebracht. Er fragte nicht, woher sie stammten, denn was ihre Größe anging waren sie wohl kaum für Drow gedacht und er glaubte auch nicht, daß irgendwer in weniger als zwei Tagen ein komplettes Set Winterkleidung stricken konnte.
Der Dunkelelf warf ihm einen Piwafwi zu, einen der typischen Umhänge, die sein Volk zu tragen pflegte. Soweit Joro wußte wurde man unsichtbar wenn man die Kapuze überzog, aber das war ihm in diesem Moment nicht wirklich wichtig.
"Den wirst du brauchen", meinte Dinin.
Joro nickte, setze seine Maske auf, hängte den Hammer in den Gürtel und beide verließen die Hütte.
Draußen warteten schon Nalfein, der ihm knapp zunickte, fünf weitere Drowmänner, und - zu Joros großer Freude - Vierna.
"Guten Morgen!"
"Oloth pholor doss, Jabbuk", entgegnete die Priesterin knapp und wies der Gruppe, aufzubrechen. Nalfein gab ihm ein paar Schneeschuhe, für die er sich bedankte, und alle zogen zusammen los in Richtung Portal.
Die Acht stapften den Berghang hoch und teleportierten auf die andere Seite herüber.
Am anderen Ende stand ein weiterer Drow, der mit einem Lastschlitten vor der Plattform auf sie wartete. Er grüßte Vierna knapp und sie machten sich alle zusammen auf den Weg in den Wald, keiner sprach auch nur ein einziges Wort.
Als sie auf einer Lichtung ankamen, stellten sie den Schlitten ab, den immer zwei von ihnen abwechselnd gezogen hatten, und begannen, Fallholz und Reisig zu sammeln. Nalfein hatte sich zwei große Kiefern ausgesucht, deren Fällung er nun akribisch vorbereitete.
Joro half dabei, das gesammelte Holz zu zerkleinern und aufzuladen, Dinin war in den Wald gelaufen, um zu kundschaften, und Vierna stand in der Mitte und schaute ihnen allen zu.
Sie schien auf etwas zu warten.
Plötzlich kam Dinin aus dem Wald geprescht, hinter ihm schlugen Pfeile in den Boden und die Bäume ein.
"Wir werden angegriffen! Schnell in Deckung!!"
Joro faßte unwillkürlich nach seinem Hammer (den am Gürtel).
Die Drow verteilten sich hinter den Bäumen, während Dinin sich nach einem Salto hinter dem Wurzelgeflecht eines umgestürzten Baumes in Sicherheit gebracht hatte.
Vierna stand hinter einem der Bäume und hatte angefangen leise zu singen, wobei ihre Hände begannen, in einem sanften, violetten Licht zu leuchten.
"Joro, komm aus der Mitte weg!" Dinin schrie fast.
Verdutzt bemerkte der Priester, daß er sich nicht einen einzigen Schritt bewegt hatte und völlig schutzlos neben dem nicht einmal kniehohen Schlitten stand.
Zwischen den Bäumen vor ihm erschien eine Gestalt, die in ein goldenes Kettenhemd gekleidet war und einen ebenfalls goldenen Flügelhelm trug.
Zwei Armbrusten wurden abgefeuert und der fremde Krieger brach zusammen. Hinter ihm erschienen jedoch zwei weitere Angreifer in der selben Rüstung, mit gezogenen Schwertern und Turmschilden.
Sie kamen direkt auf ihn zugestürmt.
"JORO! Wenn du deinen bleichen ARSCH da nicht gleich wegbewegst komm ich herüber und trete ihn persönlich hier herüber!" Diesmal hatte Nalfein gebrüllt und er klang wirklich besorgt.
Die Stimme in Joros Kopf war ruhig und klar.
"Du bleibst wo du bist. Streck deinen linken Arm aus."
Das tat er.
Zu seiner Verwunderung bildete sich eine Scheibe aus Dunkelheit darauf, die sich zu einem schwarzen, gut einen Schritt durchmessenden Rundschild verfestigte, auf dem eine rote Sichel prangte.
"Du kämpfst." Celestus duldete keinen Widerspruch, das war sicher.
Joro nickte, faßte den Hammer (immernoch den vom Gürtel) fester und ging langsam auf die heranstürmenden Gegner zu.
Zwei Pfeile sirrten ihm entgegen und prallte von einer unsichtbaren Barriere vor ihm ab. Als sie sie trafen, blitzte für kurze Zeit ein kleiner Kreis aus violettem Licht auf. Das mußte Vierna gewesen sein.
Aber die Angreifer hatten ihn erreicht und mit einem metallischen Krachen trafen Joro und einer von ihnen aufeinander.
Der Schmerz lähmte ihn fast, aber er wußte, daß er sich jetzt keinen Fehler erlauben durfte.
Es wurden ein paar Schläge ausgetauscht und sein Gegner ging zu Boden. Der andere wurde von einem weiteren Armbrustbolzen niedergestreckt.
Aber es war nicht vorbei, es stürmte noch mehr als ein Dutzend weitere Kämpfer auf die Lichtung und rannten alle auf Joro zu.
Schon hatte er ein paar Schläge einstecken müssen, da bemerkte er mit einem Mal Dinin und Nalfein an seiner Seite, ersterer links, der andere rechts von ihm.
Außerdem erklang direkt hinter ihm eine weibliche Stimme.
"Wenn, das heißt falls wir das hier überleben, werden wir beide uns mal dringend unterhalten müssen", zischte die Priesterin.
Aber Vierna schien ihn geheilt zu haben, denn die Schmerzen von den Treffern, die er bekommen hatte, verschwanden mit einem Male. Das brachte ihm neuen Mut, den er auch brauchte, denn der Strom der Gegner, die auf die Lichtung stürmten, schien nicht abzureißen und Joro konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie einer der anderen Drow zu Boden ging und ein Schwert in den Hals gerammt bekam.
"Celestus?"
"Ja?"
"Hilfe!"
Der Gott schien zu überlegen.
"Worauf wartest du? Wir werden alle sterben!!"
"Ich will ja nicht zynisch klingen, Joro, aber das müßt ihr sowieso irgendwann alle..."
"Genau der richtige Zeitpunkt für dämliche Witze!!"
Joro bemerkte, daß er das laut gesagt haben mußte, denn Dinin grinste ihn kurz an.
Der dunkle Gott schien leise zu lachen.
Und dann war plötzlich alles anders.
Der junge Priester fühlte eine unglaubliche Kraft in sich aufsteigen. Zugleich schienen seine Gegner immer langsamer zu werden.
Dinin, Nalfein und Vierna ging es offensichtlich genauso, denn sie bewegten sich immernoch so schnell wie vorher.
Wortlos und mit tödlicher Leichtigkeit begannen sie, durch ihre irgendwie verlangsamten Gegner zu pflügen und streckten einen nach dem anderen nieder, als stünden sie nur da und täten nichts. Joro sah einen Pfeil auf sich zu schweben und wischte ihn beinahe abfällig aus der Luft.
Nalfein keuchte.
"Was geschieht hier?"
Dinin lachte böse.
"Egal was es ist, ich werde jeden Augenblick davon genießen..."
Der restliche Kampf dauerte nicht mehr lange. Hieb um Hieb gingen die Angreifer zu Boden, Dinin machte kurzen Prozeß mit den gegnerischen Bogenschützen.
Beschmiert von ihrem eigenen und dem Blut der Gefallenen standen sie, nur noch zu viert, auf der Lichtung und bemerkten eine extreme Erschöpfung in sich aufsteigen.
Dinin lehnte an einem Baum und atmete schwer.
"Das müßten alle gewesen sein."
"Und wer waren die bitte?!" Obwohl Joro immernoch keuchend auf einem Felsen hockte, schrie er fast.
"Die goldene Legion. Aber was um alles in der Welt tun die hier, so weit im Norden?"
Vierna war über einen der toten Drow gebeugt und schien zu überlegen.
"Vielleicht sind die Geschichten wahr, die man in letzter Zeit hört..."
"Welche Geschichten?" Joro sah sie fragend an.
"Daß der Hochkönig der Hochelfen tot ist, ermordet, wenn man dem Gerede glauben darf. Und daß nun ein Prophet der Corellon über sie herrscht."
Joro sah sie verständnislos, immernoch recht atemlos an.
Sie fuhr fort.
"Dieser Mann hat den Ruf, alle Andersgläubigen zu hassen. Es wird davon gesprochen, daß er weit im Süden, wo die Hochelfen leben, einen Krieg angezettelt hat und mit seiner Legion jedes Land, das sich ihm nicht unterwerfen will, überrollt."
Dinin mischte sich ein.
"Die Hochelfen leben mehr als viertausend Meilen entfernt von diesem Ort! Was können sie hier wollen? Und vor allem: hier hat es doch nirgends Schlachten gegeben."
"Vielleicht haben sie ja nach etwas gesucht?"
"Dann stellt sich aber die Frage, was das wohl sein sollte..."
Joro ging zu einem der gefallenen Feinde herüber und schaute ihn nachdenklich an.
Die Rüstung der goldenen Legion war ein schwerer Schuppenpanzer aus vergoldetem Mithril, deren Helm die Form eines Falkenkopfes nachahmte. Er meinte sich erinnern zu können, daß der Falke im Süden als ein Symboltier der Sonne galt.
Vorsichtig nahm er der Leiche den Helm ab. Darunter kam ein schmales Gesicht mit einer beinahe weißen Haut zum Vorschein, die Ohren waren lang und spitz. Ein Hochelf, ohne Zweifel. Auf der Stirn des toten Legionärs war ein Sonnensymbol eingebrannt.
Dinin kam hinzu und betrachtete den Toten. Er spuckte aus.
"Ich wüßte nur zu gern, was die hier wollen... Moment mal, was ist das denn?"
Er zog der Leiche einen gefalteten Zettel aus dem Halsausschnitt, entfaltete ihn und begann zu lesen.
"Und?" Vierna kam ebenfall herüber.
Dinin pfiff leise durch die Zähne.
"Die haben hier in der Tat etwas gesucht. Und ich glaube fast, daß das relativ wichtig sein muß, die Befehle hier sind, gelinde gesagt, mit etwas Nachdruck geschrieben worden."
"Zeig her!" Vierna nahm ihm den Zettel aus der Hand und überflog ihn kurz.
"Hm. 'Grab des Nuktu'... Damit kann ich ehrlich gesagt nichts anfangen."

Nuktu. Joro war sich nicht sicher. Der Name sagte ihm etwas, aber woher kannte er ihn.
Da fiel es ihm ein. Sein Großvater hatte diesen Namen ein paar Male erwähnt, da war er noch ein Kind gewesen.
"Das ist eine Legende der Menschen. Eine sehr alte und sehr alberne Legende, wenn ihr mich fragt. Mein Großvater hat sie mir immer erzählt, wenn ich als Kind nicht artig war."
Vierna schaute ihn an und hob zweifelnd eine Augenbraue, was Joro rot werden ließ.
"Naja... er hat immer gesagt, wenn Kinder frech sind und nicht tun, was man von ihnen verlangt, dann kommt nachts der schwarze Ritter Nuktu vorbei und nimmt sie mit in seine Höhle ganz weit im Norden, wo er sie dann zu Eiszapfen macht."
"Das ist in der Tat eine sehr, SEHR alberne Legende."
Dinin schien das ganze etwas kritischer zu sehen als Vierna.
"Ob albern oder nicht, Legenden haben doch in der Regel einen wahren Kern, auf dem sie aufgebaut sind. Außerdem frage ich mich, wieso eine Armee weit aus dem Süden nach etwas suchen sollte, das nur eine alberne Legende darstellt. Irgendetwas muß an der Sache dran sein."
"Also haben die nach einer Höhle mit lauter vereisten Kindern darin gesucht, ja?" fragte Vierna spöttisch.
Dinin zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht..."
Die Priesterin schnaubte abschätzig. "Sammelt die Toten ein, wir gehen!"
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 8. Kapitel...

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