Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 13

Sie waren etwa die Hälfte des Weges gegangen, oder eher gehastet, da winkte Dinin, der ihnen voranlief um zu spähen, sie in ein kleines Wäldchen hinein.
Vierna, Nalfein und Joro sprangen, so schnell sie konnten, in das Dickicht.
Stumm deutete Dinin an den Horizont, an dem bei genauerem Hinsehen eine große Formation an Lindwürmern flog.
"Verdammt", zischte Vierna.
"Das sind ganz schön viele", sagte Nalfein, "Vierzehn, wenn ich richtig zähle."
Joro schaute besorgt.
"Die sind nicht gerade weit von der Enklave entfernt. Was machen wir, wenn sie sie finden?"
Vierna schüttelte beruhigend den Kopf.
"Mach’ dir keine Sorgen, Joro. Die Enklave ist mehrere hundert Meilen vom Eingangsportal entfernt. Und die Berge um sie herum sind so hoch, daß man sie auch nicht fliegend überqueren kann."
"Ach...?"
"Und der Eingang selbst ist von einer mächtigen Illusion geschützt, die unsere Göttin selbst darüber gesprochen hat."
Das erleichterte den Priester ein kleines Bißchen, aber ihr Gesicht nahm wieder einen ernsteren Ausdruck an.
"Das ganze gefällt mir trotzdem nicht. Das sieht mir langsam nicht mehr nach einer Art von Patrouille aus, ich glaube eher die bereiten eine Invasion vor."
Das dachte nicht nur sie. Joro hatte genug gesehen.
"Laßt uns mal zusehen, daß wir zurück kommen. Falls da noch jemand draußen ist und jagt, dann haben die ein Problem."
Vierna schien von seiner Weitsicht überrascht.
"Ja, du hast recht."
"Außerdem dürfte es reichlich schwierig werden, überhaupt noch herauszukommen, wenn die hier einen Krieg anfangen. Handeln oder selbst Bauholz holen können wir dann komplett vergessen."
Dinin stand wieder auf.
"Wir können weiter, sie sind fort."

Den Rest des Weges rannten sie nur noch, was Joro mit seiner Kondition, seiner Körperfülle und der Rüstung, die er trug, ziemlich schnaufen ließ. Allerdings machte er sich in diesem Moment keine Angst darüber.
Am Portal angekommen, wechselten sie herüber. Vierna lief sofort zielstrebig zu ihrer Hütte und holte einen mächtigen Gong heraus, den sie mehrere Male heftig anschlug.
Aus allen Häusern kamen die Dunkelelfen gelaufen und versammelten sich auf dem Festplatz.
Joro war überrascht, daß es so viele waren. Selbst am Sonnwendfest hatte er nicht so viele wahrgenommen, aber es war ja auch dunkel gewesen und er war, nun ja, abgelenkt gewesen.
Nachdem die Letzten angekommen waren, erklärte ihnen die Hohepriesterin knapp und hastig alles, was geschehen war, und was nun vermutlich auf sie zukam. Dann bat sie die Anwesenden, Vorschläge zu machen oder ihre Meinung dazu auszudrücken.
Joro wurde von etwas abgelenkt. Ein seltsames Ziehen entstand in seinem Nacken, zeitgleich machte sich ein leises, aber sehr unangenehmes Sirren in seinem Geist bemerkbar.
Er drehte sich um und versuchte auszumachen, was da vor sich ging. Als er zu seiner Hütte sah, wurde das Sirren allerdings lauter, also ging er, vorbei an dem ihn fragend anschauenden Dinin, auf seine Behausung zu.
An der Hütte angekommen, bemerkte er, daß das Sirren scheinbar vom Friedhof kam. Den Hammer vorsichtshalber gezogen, umrundete er das Gebäude und nahm dabei noch den Schild vom Rücken.
Als der Gnadenacker in sein Blickfeld kam hielt er erschrocken inne.
Auf den Gräbern der vier toten Drow standen schemenhafte Gestalten, ganz in grau, mit rotglühenden Augen und bis an die Zähne bewaffnet. Sie waren in Schwaden aus Nebel gehüllt und standen schweigend und unbewegt da.
Als sie ihn bemerkten, richteten sich acht glühende Punkte auf ihn und plötzlich formten sich Gefühle in seinem Kopf, die ganz klar nicht seine eigenen waren. Verzweiflung, Trauer und... Rachedurst. Ein schier unbändiger, verzehrender Rachedurst.
Joro fühlte sich total benebelt und begann zu wanken, aber die Stimme in seinem Kopf meldete sich.
"Laß dich nicht überwältigen, mein Kind. Sie können dich nicht beeinflussen, wenn du diese Emotionen nicht als die eigenen annimmst!"
Instinktiv schüttelte er den Kopf und dachte an Vierna. Die fremden Gefühle verschwanden sofort und eine wohlige Wärme erfüllte seinen Körper und seinen Geist.
Celestus kicherte.
"Auch eine Möglichkeit..."
"Wer sind die, was wollen die von mir?"
"Ich bin erstaunt, daß du sie überhaupt bemerkt hast, du überraschst mich immer wieder, mein Kind."
"Aha?"
"Das sind Shuras. Rachegeister, Kriegergespenster."
"Was sagt mir das? Wieso können die überhaupt hier sein, ich dachte, daß der Segen, den du mich sprechen läßt, dafür sorgt, daß die Seelen der Toten in die Vergessenheit geleitet werden."
"Das tut er auch. Er verhindert, daß irgendein Einfluß von außen dafür sorgt, daß sie diese Reise nicht antritt. Aber wenn die Seele selbst wieder zurück will, kann ich auch nichts tun, das hast du schon bei Nuktu gesehen. Ich bin nicht der "Herr der Seelen"; sondern der Schutzpatron der Toten..."
"Na toll, also habe ich jetzt ein Untotenproblem hier, ja?"
"Nein, das sind keine Untoten."
"Wie, nicht?"
"Nein. Eher so etwas wie Geisterwesen, so wie Irrlichte oder Banshees."
"Ich dachte immer, Banshees seien auch Untote?"
"Das ist diskutierbar, aber wir wollen doch nicht abschweifen, oder?"
"... Also was mache ich jetzt? Werden sie mich angreifen?"
Celestus lachte.
"Joro, du bist ein Totengräber. Du stellst für sie eine Möglichkeit dar, in diese Welt zu kommen. Ohne dich  können sie niemals Rache üben und nichts anderes wollen sie."
"Das heißt, ich kann sie herbeirufen wenn ich will?"
"Richtig, aber!"
"Ja?"
"Aber da gibt es noch ein Problemchen. Es kommt nämlich darauf an, wie alt der Shura ist. Wenn sein Tod noch nicht lange her ist, wird sich sein Haß auf ein bestimmtes Ziel richten. Wenn er dieses vernichtet hat, verschwindet er auf ewig in die Vergessenheit. Ist er schon länger tot, macht das keinen Unterschied mehr. Das macht ihn aber auch gefährlicher."
"Also wird er alles und jeden attackieren, wenn er zu alt ist?"
"Ja, alles und jeden außer dir."
"Oh..."
"Also... ich will jetzt nicht blöde klingen, aber diese vier dort drüben hassen doch wen, der schon tot ist, wir haben keinen der Hochelfen am Leben gelassen."
"Die nehmen das nicht so genau, weißt du. Ich denke, du kannst dich darauf verlassen, daß jeder einzelne von ihnen jederzeit alles geben würde, um einem Legionär den Weg ins Jenseits zu zeigen, wenn du verstehst, was ich meine."
"Das hört sich insgesamt wie ein reichliches Glückspiel an."
"Ich denke, daß du mit der Zeit herausfinden wirst, wie das Ganze funktioniert. Wie gesagt, dir selbst werden sie so oder so nichts tun."
Das genügte Joro als Informationen.
"Und was mache ich jetzt mit denen?"
"Sie werden hier sein, wenn du sie brauchst. Nun mußt du nur noch eine Gelegenheit finden, sie einzusetzen."
"Wir werden sehen, vielleicht dauert das nicht einmal sehr lange..."

Er ging zurück zum Festplatz und sah die Menge der Drow dort immernoch stehen und eifrig miteinander diskutieren. Vierna stand immernoch am Gong, den Schlegel in der Hand und redete mit zweien der Priesterinnen.
Nalfein stand etwas abseits, betrachtete das Szenario und rauchte Pfeife.
Als Joro näher kam, winkte er ihn heran.
"Na, wieder von deinem Ausflug zurück?"
"Habe ich irgendetwas verpasst?"
"Nicht wirklich. Unsere Leutchen sind sich mal wieder alle uneins, was sie tun sollen."
"Wie meinst du das?"
"Die einen wollen kämpfen, die anderen wollen sich hier verstecken."
"Hm."
"Egal wie sie sich entscheiden, am Ende wirst du reichlich zu tun haben, fürchte ich."
Joro sah sich um und betrachtete die Drow. Komischerweise bemerkte er, daß er sich irgendwie für sie verantwortlich fühlte. Die Vorstellung, daß einer von ihnen sterben sollte, gefiel ihm ganz und gar nicht. Ganz zu schweigen von Vierna, Nalfein oder Dinin.
"Du machst dir wirklich Sorgen um uns, Mensch?" Nalfein schaute ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Spott an.
Joro verschränkte die Arme vor der Brust und hob seine rechte Augenbraue.
"Manchmal werde ich nicht schlau aus dir, Nalfein. In einem Moment bist du ein Kumpel, wie er im Buche steht und dann, von einer Sekunde auf die nächste, verwandelst du dich in einen ignoranten Rassisten. Wie kommt es, daß du Tag für Tag normal mit mir reden kannst und dann in Momenten, die nun gar nicht passen, kommen deine Vorurteile zutage? Natürlich mache ich mir Sorgen um euch, warum sollte das auch nur im Geringsten anders sein?"
Nalfein überging das.
"Ist dir klar, daß unsere Entscheidung, egal wie sie ausfallen wird, auch dich betreffen wird? In allen Konsequenzen?"
"Soll mich das stören?"
"Ich würde erwarten, daß jemand, dessen Schicksal seit jeher direkt oder indirekten durch mein Volk fremdgesteuert ist, ein Problem damit haben dürfte."
"Und warum sollte es das? Ich sehe mich genauso als einen Teil dieser Gemeinschaft hier, wie du es vermutlich tust. Also ändert das nichts."
Der Zimmermann zog ein paarmal an seiner Pfeife und nickte dann langsam.
"Das heißt, du wirst folgen, egal was wir beschließen?"
"Natürlich. Allerdings glaube ich nicht, daß wir hier eine Wahl haben werden."
Jetzt hob Nalfein eine Augenbraue.
"Wie meinst du das?"
"Ich denke, daß die Würfel schon gefallen sind. Es wird Krieg geben, sowohl im Süden als auch hier, da bin ich mir völlig sicher."
Der Drow seufzte.
"Na, wenigstens sehe ich das nicht als Einziger hier so."
"Ach, da gibt es auch noch andere, die das nicht so sehen?"
Nalfein machte ein resignierendes Geräusch.
"Wenn du wüsstest."
"Aber es ist doch total überflüssig jetzt zu diskutieren, wir können es doch nicht mehr aufhalten."
Der Zimmermann blickte ihn herausfordernd an.
"Was schlägst du denn als Alternative vor?"
Diese Antwort packte Joro am Schopf.
"Äh, ich... Ich bin nur ein Bauernjunge. Von militärischen Taktiken habe ich etwa genauso viel Ahnung, wie du von der Rinderzucht."
Nalfein konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen und ließ nicht locker.
"Also?"
Der Priester fühlte sich ziemlich peinlich berührt.
"Nun... vermutlich sollten wir einen Notstandsplan ausarbeiten und Verteidigungsstrategien festlegen. Außerdem wäre es vielleicht ganz interessant, Wege zu finden, wie wir um das Kämpfen so viel wie möglich herumkommen."
"Das war doch gar nicht so schwer", antwortete Nalfein lächelnd.
"Naja, aber wie...?"
"Ich mache das dann schon." Der Drow klopfte ihm auf die Schulter. "Dumm bist du wirklich nicht, du Bauernjunge du. Und nebenbei hast du Recht, von der Rinderzucht verstehe ich absolut nichts, wahrscheinlich noch weniger als du dir vorstellen kannst."
Dinin gesellte sich zu den beiden. Im Gegensatz zu sonst wirkte er erstaunlich ernst.
"Die Späher sind gerade zurückgekommen. Einer von ihnen ist schwer verletzt, einer der Lindwürmer hat ihn mit dem Stachel erwischt."
"Die sind doch giftig oder? Soll ich mich um ihn kümmern?" fragte Joro, in der stillen Hoffnung, daß das auch in seinen Fähigkeitsbereich paßte.
"Nein, wir haben immer eine Priesterin bei den Spähern dabei. Aber es geht ihm trotzdem immernoch ziemlich schlecht."
Nalfein wandte sich an Dinin.
"Wie ist die Lage?"
"Schlimm. Sie haben angefangen, Truppen zu bringen. Neben Lindwurmgruppen sind auch Luftschiffe aufgetaucht. Die Späher haben zwei von ihnen auf dem Weg nach Noth gesehen. Ich fürchte fast, daß du deine Zimmermannsschürze bald für längere Zeit gegen deine Rüstung tauschen mußt..."
Nalfein knurrte.
"Den Satz habe ich heute schon ein paar Male zu oft gehört."
"Du bist hier der Einzige, dem die Leute das zutrauen."
"Kann Joro das nicht machen? Wenn er versagt ist wenigstens keiner enttäuscht."
Die beiden Drow lachten und Joro rollte mit den Augen. Menschenwitze. Haha.
Der Zimmermann hielt inne.
"Oh verdammt, ich glaube es gibt Ärger."
Joro und Dinin schauten in die selbe Richtung wie er und sahen zu ihrer Überraschung zwei dunkle Gestalten an der Hauswand hinter ihnen lehnen. Die eine war ganz klar Celestus, die andere war eine unglaublich schöne Drowfrau, die von einem silbrigen Glanz umgeben war.
Dinin und Nalfein fielen sofort auf die Knie, wobei der Zimmermann eine hektische Geste machte, die Joro gebot, das Selbe zu tun.
Der blieb stehen. Er starrte seinen Gott und seine Begleiterin an. Zu seiner Verwunderung schien niemand außer ihnen dreien die beiden zu sehen, denn keiner der anderen Drow nahm Notiz von den beiden Gestalten, auch nicht jene, die in ihre Richtung sahen.
Die Drowfrau ging auf ihn zu und berührte ihn sanft an der Wange.
Nalfeins "Joro, verdammt!" gebot sie Einhalt.
Sie musterte ihn lange und sagte dann, ohne ihren Mund zu öffnen:
"Das ist also der junge Mensch, von dem du gesprochen hast, Celestus."
"Richtig, werte Freundin, das ist Joro Macun", erwiderte der dunkle Herr.
Die Frau wandte sich Dinin und Nalfein zu.
"Wie ich sehe, habt ihr ihn hier gut aufgenommen, dafür danke ich euch."
Die beiden murmelten etwas Unterwürfiges, das Joro nicht verstand.
"Es kommen harte Zeiten auf Euch zu, mein werter Nalfein. Nehmt Euch diese zwei hier als Verbündete und beschützt zusammen die Eurigen. Zu dritt werdet ihr vieles schaffen, von dem keiner von euch glauben würde, daß es zu erreichen wäre. Außerdem werde ich meine Dienerin Vierna bitten, euch zur Seite zu stehen. Sie hat mein Wohlwollen, das könnt ihr mir glauben." Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr perfektes Gesicht.
Dann wandte sie sich wieder Joro zu.
"Du bist ein außergewöhnlicher Mensch, Macun. Dein Herr hat nicht gelogen, als er das sagte. Vertraue deinem Herzen, denn ich kann sehen, daß es ein gutes ist."
Sie kam ganz nah an ihn heran und Joro stellte fest, daß sie genauso roch wie Vierna.
Ihre Hand wanderte an sein Ohr, als ob sie ihm etwas zuflüstern wollte und sie sagte ganz leise, diesmal den Mund benutzend: "Ich glaube fast, daß du da ein Feuer an einem Ort entzündet hast, an dem es normalerweise nicht brennen würde, falls du weißt, was ich meine. Aber verrate niemandem, daß ich dir das gesagt habe."
Celestus ergriff das Wort
"Dinin und Nalfein, ich möchte euch beide darum bitten, Joro alles beizubringen, was ihr ihm beibringen könnt. Das meine ich sowohl im Physischen als auch im Geistigen. Ich vertraue auf eure Fähigkeiten."
Die beiden nickten demütig.
Joro setzte eine kritische Miene auf.
"Du bist Eilistraee, oder?"
Celestus und seine Begleiterin brachen beide in Gelächter aus und Joro wurde rot wie ein Puter. Aus Nalfeins Richtung hörte er ein leises 'Hornochse'.
"Schon gut, schon gut, ich halte die Klappe."
Die dunkle Maid kicherte.
"Du bist wirklich niedlich, Joro", sie fuhr ihm erneut mit der Hand über die Wange, "wirklich niedlich..."
Celestus fuhr herum, als schiene er etwas gehört zu haben.
"Wir müssen gehen, werte Freundin."
"Ja, ich weiß. Macht es gut, ihr beiden." Sie winkte Dinin und Nalfein zu, die wieder irgendetwas Unterwürfiges murmelten. Dann wandte sie sich noch ein letztes mal zu Joro um und machte eine verschwörerische Geste. "Du auch, Joro!"
Die beiden Gottheiten verschwanden.
Nalfein, Joro und Dinin standen wie benebelt da.
Dinin stand wieder auf.
"Es hat dir keiner gesagt, daß unsere Göttin eine derartige Sexbombe ist, was?"
Der junge Mensch starrte ihn verblüfft an.
"Naja, sie ist nicht schlecht, aber... Worüber reden wir hier eigentlich?"
Nalfein kam auch wieder hoch.
"Du hast deinen Gott gehört, Joro. Wenn du bereit bist, werde ich dich trainieren."
Joro sah Nalfein prüfend an. Klar, er hatte ihn kämpfen sehen und der Zimmermann war auch alles andere als ein schlechter Krieger, aber warum sollte ihn ausgerechnet ein Handwerker trainieren, wenn doch Dinin offensichtlich ein ausgebildeter Meuchelmörder war.
Dinin machte jedoch eine winkende Geste mit der rechten Hand und sagte:
"Oh, verdammt... das gibt wieder Ärger."
Nalfein nahm jedoch so etwas wie eine gekränkte Haltung an.
"Du glaubst nicht, daß ich dafür der Richtige bin, nicht wahr?"
Joro schaute verlegen.
"Nein, weißt du, äh..."
Der Zimmermann seufzte. Dann griff er wortlos an seine Brust und entfernte einen Lederlappen, der über seinem Herzen auf dem Wams gehangen hatte.
Der Priester erstarrte.
Auf Nalfeins linker Schulter prangte ein Wappen, das jeder Daishani nur viel zu gut kannte. Das allsehende Auge Vaerûns, darunter zwei gekreuzte Schwerter.
Das Wappen des Großkönigs Welverin.
"Du..."
Der Drow schüttelte den Kopf.
"Nein, nicht das, was du denkst. Aber irgendwann mußtest du die Wahrheit so oder so erfahren. Mein voller Name lautete Nalfein Veldrin’Ssreen. Ich bin Welverins Halbbruder."
In Joros Kopf tobte ein Sturm aus Gefühlen. Sein erster Impuls war es, auf den Dunkelelfen zuzustürmen und ihm den Kopf mit bloßen Händen vom Rumpf zu reißen. Doch der verschwand recht schnell wieder. Gemischt mit dem, was er über Nalfein wußte und mit ihm erlebt hatte, übermannte ihn schnell eine starke Traurigkeit. Der Zimmermann, der offenbar keiner war, tat ihm unglaublich leid, denn man konnte sich vorstellen, daß eine Person mit dem Charakter, den Nalfein aufwies, in einer Drowgesellschaft unter der Erde unvorstellbares Leid hatte erleben müssen.
Mit Tränen in den Augen ging er auf den völlig überraschten Dunkelelfen zu und nahm ihn fest in den Arm.
Selbst Dinin, der sich normalerweise niemals für einen blödsinnigen Kommentar zu schade war, wirkte betroffen.
Nalfein seinerseits, in Joros Umarmung, hatte seinen sonst so halsstarrigen, ablehnenden Geist komplett verloren und der Priester war sich auch später noch lange Zeit sicher, daß sich Nalfein in seinem ganzen Leben vorher und vielleicht auch nachher niemals so nackt und verletzlich gefühlt haben musste. Sich einem Menschen, gar einem Daishani so zu offenbaren, mußte ihn die schlimmste Überwindung seines Lebens gekostet haben.
Joro löste die Umarmung und sah Nalfein lange an, der wie ein Häufchen Elend vor ihm stand.
"Es wäre mir eine Ehre, von einem Drowkrieger zu lernen, Nalfein Veldrin’Ssreen. Und ich könnte mir keinen vorstellen, von dem ich lieber lernte als dir."
Der Dunkelelf antwortete nichts, sondern starrte ihn lange an. Dabei bemerkte Joro aus den Augenwinkeln, daß die anderen Drow alle verstummt waren und alle zu ihnen beiden herüberschauten.
Nalfein richtete sich auf, strich seinen Bart glatt und versuchte wieder eine halbwegs würdevolle Haltung anzunehmen, was auch halbwegs gelang.
"Gut! Dann werde ich dich ab morgen früh richtig rannehmen. Und jetzt gehe ich mich für den Rest des Tages besaufen."
Er drehte sich um und ging, leicht benommen torkelnd, davon.
Die anderen Dunkelelfen begannen wieder, miteinander zu tuscheln, aber diesmal sahen sie immer wieder verstohlen in Joros Richtung.
Dinin hatte sich auch wieder im Griff.
"Ich habe da noch eine gut abgehangene Wildschweinkeule, die wir braten könnten..."
Joro nickte und wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augen.
"Gut, kommst du zu mir, oder..."
"Ja, ich gehe sie holen."
Eine gute halbe Stunde später saßen sie hinter Joros Hütte an der Feuerstelle, die Joro mittlerweile neben den Friedhof verlagert hatte und die Keule brutzelte über der Glut.
"Das hat dich hart getroffen, oder?", fragte Dinin.
Der Priester verzog das Gesicht.
"Daß er das überhaupt überlebt hat, ist ein Wunder."
Der Assassine lachte.
"Was du bisher nicht weißt, und was auch sonst kaum jemand jemals erfahren hat, ist daß es Nalfein war, der Welverins Ende herbeigeführt hat."
"Aber... die Legende?"
"Die Legende ist kompletter Blödsinn, Joro. Alle Versionen, die ich bis heute gehört habe, angefangen von einem Mordanschlag bis hin zu einer Invasion einer llothtreuen Armee ist alles erstunken und erlogen. Welverin war nicht nur paranoid, er war auch ein ausgesprochen guter Planer und Heerführer. Er hätte sowohl von einem Attentat als auch einer Invasion lange vorher gewußt und die entsprechenden Maßnahmen getroffen."
"Du kanntest ihn gut, nicht wahr?"
Dinin drugste.
"Jetzt kommt noch so ein Bekenntnis, oder?", Joro schaute ihn erwartungsvoll an, "Bist du auch mit ihm verwandt?"
Der Drow ließ den Kopf hängen.
"Ertappt, und das mir... Bitte nicht in den Arm nehmen..."
Joro ignorierte das.
"Also?"
"Mein Vater und Welverin hatten die selbe Großmutter. Bis vor ein paar Jahren wußte ich nicht einmal, daß Nalfein und ich Großcousins sind. Aber wir haben schon damals miteinander zu tun gehabt und viel Zeit miteinander verbracht."
"Wie ich euch beiden kenne, habt ihr zusammen Welverins Ende geplant, stimmts?"
"So ähnlich. Geplant war es nicht, aber wir beiden haben seine Exzesse ab einem gewissen Punkt einfach nicht mehr ausgehalten. Die Entscheidung war ziemlich impulsiv und während ich die Wachen abgelenkt habe, hat sich Nalfein in sein Schlafzimmer geschlichen und sein Ding getan."
Dinin biß einen Happen von dem Fleischstück an seinem Dolch ab.
"Hat ganz schön lange gedauert und Nalfein war am Ende ganz schön ramponiert, als er aus dem Zimmer kam."
Joro erinnerte sich, an Nalfeins Hals und unter seinem Bart ein paar Narben gesehen zu haben.
"Und dann seid ihr beide geflohen?"
"Fast sofort. Als es offenkundig wurde, daß Welverin tot ist, habe seine Vasallen, oder besser gesagt, die, die sich so nannten, sofort begonnen, sich gegenseitig aufzuschlitzen, weil natürlich jeder der neue König sein wollte. In dem Chaos konnten wir dann entkommen, aber wir wurden getrennt."
"Na, dann hat es das Schicksal doch gut mit euch gemeint, daß ihr euch beide wiedergefunden habt, nicht wahr?"
Dinin ignorierte den frechen Kommentar und fuhr fort.
"Ich wurde von Vierna gefunden. Damals hatte ich noch schwer mit der Tagblindheit zu kämpfen, und eine Gruppe von Dorfbewohnern hätte mich fast gelyncht. Nalfein war schon früher zu den Anhängern der Eilistraee gekommen, seinen Glauben an Vaerûn hatte er schon lange verloren."
"Und du?"
"Nun, ich habe solange ich lebe niemals akzeptiert, daß Sterbliche den Göttern dienen sollen. Bei Eilistraee ist das allerdings anders und das hat mir zugesagt."
"Hm."
Joro biß auch ein Stück Fleisch ab und kaute eine Weile darauf herum. Dann sah er Dinin an.
"Wenn mein Vater hier wäre, ginge er jetzt in den Keller, stach sein besten Bierfaß an und stellte dir einen Krug her. Das war seine Art, jemandem wirklich herzlich zu danken. Außerdem hätte er Nalfein sein bestes Kalb geschlachtet, das kannst du glauben. Genauso wie du glauben kannst, daß er noch im Sterben dein Volk mit den schlimmsten Worten verflucht hat. Dennoch hätte er das jetzt getan."
Dinin nickte ernst.
"Das verstehe ich. Mir ging es, bis ich hier gelandet bin, erstaunlicherweise nicht anders, wenn ich ehrlich bin. Und komm’ mir jetzt nicht mit "Patriotismus", es sei denn, du willst was an den Kopf geworfen haben."
Er überlegte kurz, dann grinste er.
"Du wolltest Nalfein vorhin erst an die Wäsche, stimmts?"
"..."
"Ich war von deiner Reaktion mehr als überrascht und ich glaube da war ich nicht der Einzige."
Joro zog den rechten Mundwinkel hoch.
"Weißt du, ich hatte immer von mir gedacht, daß meine Kindheit "schlimm" gewesen sei, wenn du verstehst was ich meine. Aber wenn ich mir anschaue, was ihr beide erlebt haben müßt, denke ich, daß sich die beiden Schicksale nicht viel nehmen, oder? Und was Welverins Ende angeht..."
Er nahm noch einen Bissen und wedelte während des Kauens mit dem Dolch hin und her als wägte er etwas ab.
"Eigentlich macht euch das noch sympathischer, als ihr sowieso schon seid."
"Du hast das schon geahnt, oder?"
Joro schüttelte den Kopf.
"Nicht wirklich, aber mir war schon am Anfang klar, daß Nalfein keine böse Person ist. Also war es nur logisch, daß die Zeit, die er im Unterreich gelebt hat, für ihn nicht gerade rosig verlaufen sein kann."
Dinin nickte sinnierend vor sich hin. Dann grinste er plötzlich.
"Eins muß man dir aber lassen. Du schaffst es immer wieder, daß die Leute hier über dich tuscheln."
"Ach, tun sie das immernoch, ja?"
Der Drow lachte laut.
"Und wie! Als du vorhin Nalfein fast geknutscht hast, hast du damit einer Menge Leute hier den Wind aus den Segeln genommen. Da werden es in der Zukunft ein paar von ihnen schwer haben, irgendwelche rassistischen Kommentare von sich zu geben, denen wird nämlich keiner mehr zuhören."
"Ach, die gab es?" Joro fühlte sich irgendwie gekränkt.
"Hm, da fiele mir keiner außer Nalfeins Frau ein, wenn ich ehrlich bin..."
"Häh?"
"Naja, die wird eifersüchtig sein, weil ihr Mann mit anderen Kerlen herumfummelt... Aua!"
Joro hob das Stück Fleisch auf, das er Dinin an den Kopf geworfen hatte, strich den Dreck herunter und aß seelenruhig weiter.
"Sie, mein Herr, sind ein Sack."
Dinin kicherte, antwortete aber nichts. Doch Joro fiel noch etwas ein.
"Sag mal, warum habe ich Nalfeins Frau eigentlich noch nicht kennengelernt?"
Der Drow schluckte unvermittelt.
"Das muß er dir schon selber erzählen, das geht mich überhaupt nichts an und ich hätte auch kein Recht etwas darüber zu sagen."
Joro verstand nicht, was er meinte, aber er akzeptierte es.
Es war Nacht geworden und der Sternenhimmel war klar. Joro seufzte.
"Was ist los?", fragte Dinin.
"Ich weiß nicht. Es war ein reichlich harter Tag und ich bin mehr als erschöpft."
Dinin konnte nur zustimmen.
"Und die Aussichten auf die Zukunft lassen einen sich auch nicht so richtig wohl fühlen..."
"Ja, stimmt."
Der Drow stand auf.
"Ich, für meinen Teil, werde jetzt in die Falle hüpfen und zusehen, daß ich ein bißchen Kraft tanke. Solltest du auch tun, wer weiß, was der morgige Tag bringen wird."
Er stand auf und machte sich auf den Weg zu seiner Hütte.
Joro saß noch da und trank seinen Humpen aus.
Plötzlich schob sich etwas auf seinen Schoß. Zu seiner Überraschung war es Vierna. Sie blickte ihm tief in die Augen und gab ihm dann unvermittelt einen langen, intensiven Kuß.
Der junge Mensch saß komplett vernebelt da, konnte jedoch nicht umhin, es sehr zu genießen.
Als sich ihre Lippen von den seinen lösten, lächelte sie ihn an.
"Ich hatte schon befürchtet, Dinin würde niemals gehen."
"Äh, naja, er ist ja jetzt fort, nicht wahr?"
Sie lächelte immernoch und strich ihm über das Gesicht. Dann seufzte sie.
"Joro, mein Joro, du hast ja keine Ahnung, wie stolz ich auf dich bin."
"Warum?"
"Was heute mit Nalfein geschehen ist, hat alles übertroffen, was ich jemals von dir erwartet hätte."
"Warum beeindruckt das bitte alle so?"
"Sagen wir einfach, daß du heute deine vermutlich letzte Feuertaufe hier bestanden hast. Indem du der Wahrheit über ihn mit Mitleid begegnet bist, dürftest du alle Vorurteile unserer Leute dir gegenüber ausgelöscht haben."
"Deine auch? Nebenbei... wie war das mit "ich bin die Hohepriesterin, ich muß Abstand wahren"?"
Sie lächelte wieder und setzte ihm mit einem frechen Gesichtsausdruck noch einen Kuß auf die Lippen.
"Das willst du doch gar nicht!"
Joro runzelte unvermittelt die Stirn.
"Kannst du bitte mal den Mund aufmachen?"
Sie sah ihn überrascht und ein bißchen besorgt an.
"Wieso, stimmt irgendetwas nicht?"
"Ich möchte nur einmal sehen, ob Drow auch eine schwarze Zunge haben..."
Viernas Augen wurden groß, dann lachte sie.
"Du Mistkerl!"
Nachdem sie ein paar Male spielerisch auf ihn eingeschlagen hatte, stellte Joro fest, daß sich zumindest diese eine Drowzunge, unabhängig von seinem Wissen über deren Farbe, reichlich gut anfühlte, wenn sie mit seiner eigenen in Berührung kam. Also konnte die Investigation diesbezüglich vorübergehend auf Eis gelegt werden.
Er wußte nicht, wie lange sie da so saßen - davon abgesehen, daß er sich niemals im Leben gewünscht hätte, daß es vorbei ginge - da kam ihm plötzlich ein Gedanke.
"Sag mal, ist das nicht gefährlich, wenn man dich hier so sieht?"
Sie grinste.
"Ich kann ja immernoch behaupten, daß du mich überwältigt und dazu gezwungen hast..."
"Da kommt die kleine Llothpriesterin in dir hoch, was?"
Vierna brach in schallendes Gelächter aus.
"Oh, was kannst du doch für ein mieser Lump sein!"
Sie kam mit ihrem Gesicht ganz nah an seins, blickte ihm tief in die Augen und hauchte, ohne die Stimme zu benutzen: "Ich liebe dich." Dann sprang sie auf und huschte davon.

Im Gegensatz zu sonst hatte Joro zwar trotzdem einen Steifen, aber dieses Mal war das taube Gefühl fort, das er sonst immer hatte, wenn er mit ihr alleine gewesen war. Sie hatte es wirklich gesagt... wirklich!
Sein Herz sprang fast aus seiner Brust und er fühlte sich unglaublich lebendig. Lange saß er noch da und schwelgte in diesem Gefühl, bis er dann doch müde wurde und sich ins Bett legte.
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 14. Kapitel...

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