Die nächsten beiden Tage des Marsches vergingen weiterhin mit
eifrigem Lernen seinerseits und einer Reihe von sehr heiteren Momenten,
wenn er kompletten Blödsinn gestikulierte. Dennoch hatte er in den
beiden Tagen zumindest die kurzen und klaren Aussagen der Gestensprache
gut erlernt und nahm sich vor, jeden Tag zu üben, um es nicht zu vergessen.
Die Menge an Dingen, die er in so kurzer Zeit von den Drow gelernt
hatte, fühlte sich fast beschämend an, wenn er zurückdachte
und überlegte, was er als Bauernjunge für ein Leben geführt
hatte.
Sein Großvater war ein sehr gebildeter Mann gewesen und hatte
ihm Lesen und Schreiben beigebracht. Er hatte unzählige Bücher
gehabt, die allerlei Dinge der Welt erklärten, über Ungeheuer,
andere Völker und dergleichen. Joros Vater hatte das immer für
sinnlosen Müll gehalten, aber da Joro nicht sein ältester Sohn
war, hatte er nicht so ein starkes Auge darauf, wie bei Joros großem
Bruder Talrid, der einmal sein Nachfolger mit der Rinderzucht hatte werden
sollen. So konnte Joro schon in jungen Jahren seiner Phantasie und den
Erzählungen seines Großvaters nachgehen. Wissen in jeder Form
hatte ihn immer interessiert und der alte Mann hatte sich dessen gerne
angenommen. Dieser war in seiner Jugend ein weitgereister Gelehrter gewesen,
der sich irgendwann in Daishan niedergelassen hatte und dort einen kleinen
Bauernhof gebaut hatte. Aber seine eigentlichen Interessen hatten ihn vermutlich
niemals losgelassen, so war er im Alter mehr als zufrieden, zumindest einen
Nachfahren zu haben, der sich für all diese Dinge begeistern konnte.
Trotz alledem war das, was die Drow ihm beibringen konnten so viel
mehr, als jemals in diesen Büchern gestanden hatte und er merkte auch
an diesem Punkte schnell, daß andere Völker in der Tat stark
andere Sitten hatten.
Gegen Ende des vierten Tages waren sie dem Tafelberg sehr nahe gekommen
und Nalfein schien irgendwie nach etwas zu suchen.
"Was ist los?" fragte Joro.
"Die haben normalerweise bestimmte Zeichen, an denen man seine Ankunft
ausdrücken kann."
"Häh?"
"Naja, die stellen irgendwelche Statuen und dergleichen auf, an
denen man ein Feuer entfachen kann, um ein Zeichen zu geben, daß
man da ist. Sie schätzen Fremde nicht sonderlich."
"Das kenne ich irgendwoher."
Nalfein grunzte nur.
Es dauerte nicht sonderlich lange, da sahen sie einen ausgetrampelten
kleinen Platz, auf dem das Abbild eines unglaublich dicken Zwerges stand.
Davor war eine Mulde in den Boden eingelassen.
Dinin und Nalfein sammelten ein paar feuchte Pflanzen und entfachten
ein kleines Feuer, auf das sie sie legten, was eine mächtige Rauchfahne
verursachte.
"Und nun?"
"Jetzt warten wir."
Die Nacht brach herein und nichts tat sich. Etwas abseits hatten
die vier ihr Lager aufgeschlagen und saßen nicht gerade entspannt
um das Feuer, immernoch in Erwartung auf eine Reaktion.
Es war fast Mitternacht, als sie kurz davor waren, schlafen zu gehen,
als Dinin plötzlich aufblickte.
"Wir sind nicht mehr allein."
In der Tat waren sie das nicht. Plötzlich erschien vor ihnen
aus dem Nichts ein Humanoide, der Joro nicht einmal bis zur Brust reichte,
aber fast genau so breit wie hoch war und unglaublich muskulös. Seine
Haut war im Schein des Feuers grau und seine Augen waren rot. Bis auf den
Bart im Gesicht, der ihm bis zum Gürtel reichte, war der Mann scheinbar
völlig haarlos. Er trug ein schwarzes, rötlich schimmerndes Kettenhemd
und hatte zwei im Vergleich zu seiner Körpergröße fast
unerhört große Streitäxte in den Händen.
Seine Stimme war nur ein rauhes Wispern.
"Was wollt ihr hier?"
Vierna stand auf und stellte sich vor ihn, scheinbar unbeeindruckt
davon, daß er seine Äxte hob und in eine defensive Stellung
ging.
"Wir sind hier, um mit Balthasar dem Tapferen zu reden."
"Und warum sollte unser König mit euch reden wollen?" Joro
fiel auf, daß der Zwerg das Wort "König" irgendwie seltsam aussprach.
"Weil wir ein wichtiges Anliegen haben, das keinen Aufschub duldet."
Der Zwerg spuckte aus und machte eine Handbewegung. Daraufhin erschienen
plötzlich mehr als ein Dutzend ebenso aussehender Zwerge, die sie
umzingelt hatten.
"Was ist für uns dabei drin, Drowabschaum?"
"Vielleicht die Rettung vor dem Untergang, Duergar. Die goldene
Legion ist auf dem Vormarsch nach Norden, falls ihr es noch nicht wißt."
"Na und? Was sollen sie uns schon tun, diese verdammten Kalkleisten?"
"Wenn sie erst einmal den ganzen Kontinent erobert haben, werdet
ihr eure Festung niemals wieder verlassen können, ohne daß sie
euch zu Tode hetzen, ist das Grund genug?"
"Was stört uns die Außenwelt, wir kommen auch ohne jeden
anderen klar."
"Es wird keinen anderen außer den Hochelfen mehr geben. Weder
zum Handeln noch für irgendwelche anderen Geschäfte."
Das verunsicherte den Zwerg.
Er fing sich schnell wieder.
"Ihr werdet hier warten, ich frage unseren Patriarchen, ob er gewillt
ist, mit euch zu reden."
Dinin stubste Joro an.
'Du starrst schon wieder', wisperte er ihm zu.
'Laß mich doch', gab Joro zurück.
Der Duergar ging zu der Statue herüber und schien tatsächlich
mit ihr zu reden. Dann drehte er sich wieder um und ging zu Vierna zurück.
"Ich habe zwar keinen Schimmer warum, aber er hat eingewilligt.
Ihr werdet uns folgen. Baut eure komischen Stoffhütten ab und folgt
mir."
Das Gepäck verstaut, gingen sie den Berg herauf, umringt von
den irgendwie unheimlichen Dunkelzwergen, die offenbar großen Spaß
an Körpergeräuschen jeglicher Art hatten, wie Joro schnell herausfand.
Je näher sie dem Massiv kamen, desto klarer konnte Joro eine
stark befestigte Anlage erkennen, die sich am Fuße des Berges befand.
Dort waren nicht nur Mauern gezogen, sondern auch allerhand Türme
und kleinere Wälle angelegt, die mit Zwergen bemannt waren, die darauf
auf und ab liefen. Das erschien ihm fast sinnlos, weil hier oben in den
Bergen nun wirklich keine größere Gefahr lauern konnte, aber
die Entschlossenheit der Duergar, sich aufs Äußerste zu verteidigen,
war mehr als offensichtlich.
Sie durchschritten ganze drei Schutzwälle, immer mehr als mißtrauisch
beäugt von ganzen Heerscharen von Zwergen. Joro konnte kaum zählen,
wie viele es wohl sein mochten. Wenn sie alle tatsächlich Abkömmlinge
von Balthasar waren, mußte der alte Herr mehr als fleißig gewesen
sein.
Seinen dunkelelfischen Begleitern stand die Anspannung ins Gesicht
geschrieben, was ihm seinerseits ein sehr schlechtes Gefühl machte.
Dabei war er sich nicht sicher, ob das von tatsächlicher Gefahr herrührte
oder nur von der generellen Haltung der Drow gegenüber ihren ehemaligen
Mitbewohnern des Unterreiches.
Sie kamen über eine gigantische Zugbrücke, die in den
Berg führte. Dort war nicht nur ein riesiges Fallgitter, sondern allerhand
Geschütze aufgestellt, die wohl gegen einen Ansturm von Feinden eingesetzt
werden sollten.
Der Anführer der Zwerge hielt an, mit ihm der ganze Troß.
Ein weiterer in eine Plattenrüstung gekleideter Duergar kam
ihnen aus dem Torhaus entgegen und begrüßte ihn knapp. Die beiden
flüsterten einander eine Weile zu, wobei der Zwerg in Platte mehrmals
ungläubig auf die vier Besucher schaute.
Dann kam er auf sie zugelaufen und deutete ihnen ruppig, ihm zu
folgen.
Der Tunnel hinter dem Eingang weitete sich schnell in eine Halle,
deren Decke Joro aufgrund ihrer Höhe nicht erkennen konnte. In die
Wände der Höhle waren überall kleine Behausungen gebaut,
die untereinander mit Holzbrücken und -treppen verbunden waren.
In der Mitte des Hohlraumes ragte ein ebenso erstaunlich großer
Palast in die Höhe, dessen Türme genauso wie die Decke im Dunkel
verschwanden. Sein Eingang war ein stilisiertes Gesicht eines Zwerges,
dessen offener Mund das Tor darstellte. Überall brannten Feuer in
großen Kohleschalen, die das ganze in ein rötlich schimmerndes
Licht tauchten.
Als sie die Tür durchschritten, passierten sie Zwerge, die
so vollgeladen mit Metall waren, daß sie aussahen wie kleine Männer
aus Eisen, bewaffnet mit Äxten und Schilden, die größer
waren, als sie selbst.
Joros Empfindungen waren irgendwo zwischen neugierigem Erstaunen
und einem sehr unguten Gefühl der Ängstlichkeit, da er merkte,
daß je weiter sie hier hereingingen, es weniger Chancen gab, im schlimmstmöglichen
Falle auch wieder gesund herauszukommen.
Sie hielten vor einer reichverzierten Holztür und der Duergar,
der sie anführte, wechselte ein paar Worte mit einer der Wachen, die
davor standen.
Sie gingen zur Mitte der Tür und zogen die beiden Flügel
auf, wobei zu sehen war, daß sie mehrere Handbreit dick war.
Der Raum dahinter verschlug Joro die Sprache.
Er hatte einen Thronsaal voller Gold, Edelsteinen und edlen Wandbehängen
erwartet. Stattdessen war es ein Raum, der lediglich mit Holztäfelungen
ausgekleidet war. An den Wänden waren mit kruden Farben ein paar Schlachtenfresken
gemalt, aber das war alles, was er an Schmuck hergab.
Am gegenüberliegenden Ende räkelte sich ein ausgesprochen
fetter, selbst für Zwergenverhältnisse nicht sonderlich gepflegter
Mann auf einem Holzthron, der ziemlich gelangweilt dreinsah. Als die Vier
mit ihrer Begleitung eintraten, richtete er sich schnell auf, um irgendwie
majestätisch zu wirken. Dabei hatte er nicht einmal eine Krone auf.
Der Duergar, der ihnen voran ging, kniete vor ihm nieder und sprach
ein paar Worte in einer Sprache, die Joro nicht verstand, er nahm an, daß
es sich um Dunkelzwergisch handelte.
Der Mann auf dem Thron nickte und deutete Joro und seinen Gefährten,
vorzutreten.
Er musterte die vier.
"Sieh’ mal einer an, die Priesterin und ihre zwei Gehilfen. Und
ein Mensch. Welch illustre Gesellschaft."
Er schnaubte in seine Hand und betrachtete das Resultat eine Weile.
Dann blickte er wieder auf, als hätte er für einen Moment vergessen,
daß dort jemand vor ihm stand.
"Und was verschafft mir die hohe Ehre eures Besuches?", er kicherte
eine Weile über den Witz, den er vermeintlich gerade gemacht hatte.
Vierna trat vor.
"Wir sind hier, weil wir Eure Hilfe brauchen, Balthasar."
Der Duergar brach in schallendes Gelächter aus, wobei ihm Tränen
über die Wangen tropften.
Als er sich einigermaßen gefangen hatte, beugte er sich auf
seinem Thron vor.
"Also hatte Torkum recht, ihr seid wirklich hier, weil ihr meint,
meine Hilfe beanspruchen zu können?"
Vierna blieb stoisch.
"Die goldene Legion hat die Grenzen im Süden überschritten
und marschiert gen Norden. Es ist eine Frage von nur einigen Monaten, bis
sie auch hier ankommen."
"Und was soll mich das kümmern? Sollen sie doch kommen mit
all ihren Lindwürmern und Luftschiffen und was weiß ich was.
Wir werden ihnen eine Niederlage bescheren, die sie niemals vergessen werden."
"Habt Ihr eine grobe Idee, wie viele sie sind? Ihr habt höchstens
ein paar Hundert Mann, auch wenn Ihr euch alle Mühe gebt, es so aussehen
zu lassen, als seiet ihr eine gewaltige Armee. Ihr mögt ihnen eine
Weile standhalten, doch am Ende werden sie euch niederwalzen."
Der dicke König zögerte kurz, aber ließ nicht locker.
"Ich werde mich eher stellen und untergehen, als mich auf irgendwelche
waghalsigen Bündnisse einzulassen."
Nalfein knurrte böse.
"Wir verschwenden hier nur unsere Zeit. Die ganze Reise umsonst,
der Kerl wird an seine Halsstarrigkeit so oder so nicht aufgeben."
Balthasar hatte seine Worte wohl gehört.
"Du kannst es bezeichnen, wie du willst, Drow, ich glaube nicht,
daß ihr mir irgendetwas geben könnt, was mich umstimmen wird.
Bringt sie heraus und macht ihnen klar, daß sie hier nie wieder herkommen
sollen!"
Der Duergar in Plattenrüstung deutete ihnen harsch, zu gehen,
und sie wandten sich alle um.
Sie waren schon ein paar Schritte gegangen, da ertönte eine
Stimme vom Thron.
"HALT!"
Ihr Führer hielt inne und sie alle drehten sich um.
Der grauhäutige König war noch bleicher geworden. Er deutete
auf Joro.
"Du! Komm her zu mir!"
Unsicher ging Joro vorsichtig auf den Thron zu.
Der König war aufgestanden und sein Bauch hing ihm über
den Gürtel. Fast wie benommen stolperte er auf den Menschen zu und
blieb in etwa zwei Schritt Entfernung vor ihm stehen.
"Nimm deinen Umhang ab, Mensch. Sofort!"
"Ich..."
"Sofort!"
Joro streifte den Piwafwi ab und ließ ihn zu Boden fallen.
Der Duergar vor ihm brach unvermittelt in Tränen aus, die seine
speckigen, rußgeschwärzten Wangen herunterliefen. Er machte
weitere Schritte auf Joro zu und strich mit seinen groben Händen über
dessen Brustpanzer. Dann drehte er Joro herum und tat das selbe mit dem
Schild auf seinem Rücken.
Der Priester fühlte sich unangenehm berührt, aber er wagte
es nicht, sich zu bewegen.
Nachdem er auch den Knauf des Hammers berührt hatte, stellte
er sich wieder vor Joro.
"Wo hast du diese Gegenstände her, Mensch. Und ich rate dir
tunlichst, mich nicht zu belügen."
Das hätte Joro auch gar nicht gekonnt.
"Aus dem Grab eines Mannes namens Nuktu."
"Nuktu..."
"Ja."
Balthasar starrte immernoch auf den Brustpanzer.
"Hat er dir diese Rüstung freiwillig gegeben?"
"Nuktu ist tot, aber ich bin mir sicher, daß er sie mir niemals
freiwillig überlassen hätte, ob mein Gott das nun gewollt hätte
oder nicht."
Der Zwerg sah ihm in die Augen.
"Du gestehst, daß du sein Grab geplündert hast?"
"Nein, das tue ich nicht. Ich habe im Auftrag meines Herrn diese
Rüstung aus dem Grab geholt, um sie wieder ihrer eigentlichen Bestimmung
zuzuführen."
"Und wer ist dein Herr?"
"Celestus, der Gott der Toten."
Der König sah ihn lange an und Joro war überrascht, daß
er diesem Blick standhalten konnte.
"Du sprichst die Wahrheit, nicht wahr?"
Balthasar langte an seinen Hals und zog ihn zu sich herunter.
"Ein Daishani. In der Tat."
Er wandte sich dem anderen Duergar zu.
"Geh, Torkum, laß mich mit ihnen allein."
"Seid Ihr sicher, Euer Majestät?"
"Ja, geh!"
Der schwer gerüstete Zwerg verbeugte sich und ging durch die
Tür nach draußen.
Der König wandte sich wieder Joro zu.
"Hat dir dein Herr gesagt, wer diese Rüstung gemacht hat?"
Das wußte Joro spätestens nach dem Tränenausbruch
des Mannes vor ihm selbst.
"Nein, aber ich bin mir sicher, daß du es warst."
Balthasar schneuzte sich auf den Boden, was er wieder damit quittierte,
kurz nachzusehen, was dabei herausgekommen war.
"In der Tat, ich habe diese Rüstung, diesen Schild und diesen
Hammer gefertigt. Und ich wünschte, ich hätte dies niemals getan."
© Matthias
Wruck
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