Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 21

Als er wieder erwachte, es mußte wohl Morgen sein, war sein Bett bis auf ihn selbst leer. Das machte ihm ein Gefühl des Verlustes, aber die Tatsache, daß Vierna mit ihm zusammen eingeschlafen war, war schon Grund genug, sich insgesamt wohl zu fühlen.
Er begann sich anzuziehen und trat schließlich vor die Tür. Der Gang war leer, also ging er zu Nalfeins Zimmer herüber und klopfte leise.
Die Tür ging einen Spalt auf und der Drow schaute hindurch.
"Ach du bists, schon auf?"
"Wonach sieht es denn aus?"
"Dinin ist auch schon wach, bei Vierna weiß ich es nicht."
"Kann ich hereinkommen? Hier auf dem Gang fühle ich mich nicht so recht wohl."
Nalfein machte die Tür wortlos weiter auf und ließ ihn hinein.
Joro hockte sich auf die Truhe, so gut es die Rüstung zuließ.
"Hast du eine Ahnung, wie das heute ablaufen wird?"
"Nun, ich nehme an, er wird sich vor die versammelte Mannschaft stellen und dich ihnen präsentieren. Dann hält er irgendeine Ansprache, um sich ins beste Licht zu rücken und dann macht er uns irgendein blödsinniges Angebot, das wir nicht ablehnen können werden."
"Hm."
"Was?"
"Warte mal einen Moment."
Joro ging in sich und fragte die Stimme in seinem Kopf:
"Sag mal, was war das gestern eigentlich für ein kurzer Auftritt?"
"Höre ich da Kritik von dir, Joro?"
"Sei ehrlich: Du hast alles, was bisher geschehen ist, bis ins kleinste Bißchen geplant, schon lange bevor ich geboren wurde, oder?"
"Das ist richtig. Eine der schönen Dinge am Gottsein ist, daß man schlecht überrascht werden kann. Ich wußte, daß diese Tage einmal kommen würden, aber Nuktu war damals Realität. Also habe ich beides miteinander verknüpft."
"Ich glaube dir immer weniger, daß du wirklich der Ansicht bist, daß Götter das Leben der Menschen nicht bestimmen sollen."
"Das ist jedoch in der Tat der Fall, mein Sohn. Ich habe allerdings niemals behauptet, daß ich nicht dafür Sorge trage, daß diejenigen, die mir etwas bedeuten, keinen Schaden nehmen."
Joros Zweifel daran blieb, aber er wollte sich nicht streiten.
Nalfein sah ihn aufmerksam an.
"Du redest wieder mit Celestus, stimmts?"
"Ja. Ich habe ihn gefragt, was sein Erscheinen gestern bedeutet hat."
"Und was sagt er?"
"Daß das alles seine Richtigkeit hat."
Der Dunkelelf sah ihn prüfend an. "Du selbst denkst da anders drüber?"
"Eine alte Diskussion zwischen mir und ihm."
"Aha."
Joro sah sich um und überlegte. "Sollen wir uns versammeln und gemeinsam herunter gehen oder ist das unhöflich?"
"Im Hause eines Königs wartet man darauf, bis man aufgefordert wird, zu erscheinen."
"In Ordnung. Dann bring mir in der Zwischenzeit noch ein paar Gesten bei."
Sie übten eine Weile, wobei ihm Nalfein zunächst vornehmlich militärische Gesten beibrachte, was er damit begründete, daß sie ihm am sinnvollsten erschienen.
Nach ein oder zwei Stunden klopfte es leise an der Tür.
Nalfein ging und machte sie auf, herein trat Vierna, wieder in ihre Rüstung gekleidet. Sie hatte Dinin dabei.
"Guten Morgen. Oder Mittag? In diesem Dunkel weiß man das ja nicht so recht."
Joro hätte schwören können, daß sie ihm kurz zugelächelt hatte.
Dinin rümpfte die Nase.
"Er läßt uns warten. Schwer zu sagen, ob das taktische Gründe hat, oder er so besoffen war, daß er noch nicht wach ist."
Vierna zuckte mit den Achseln.
"Beides, vermute ich. Er wird mit Sicherheit klar machen wollen, wer hier das Sagen hat, uns gegenüber und seinen Leuten später."
Joro schnaubte.
"Mich beeindruckt das nicht sonderlich..."
"Balthasar kann sehr gefährlich sein, vergiß nicht, wo wir sind und was er ist."
Dinin schaute Nalfein und Joro belustigt an.
"Was habt ihr hier gemacht? Getratscht?`"
"Nalfein hat mir ein paar neue Gesten beigebracht."
"Oh prima, dann kannst du uns hoffentlich endlich sagen, daß dein Großvater Rüben auf dem Kopf hat."
Unmerklich machte Nalfein ein paar Gesten mit den Händen und ein besonderer Blick deutete ihm, es ihm nachzutun.
Joro tat das und Dinin schaute mit einem Mal auf seine Hose.
Verwirrt schaute der Priester zu Nalfein, der in Lachen ausbrach.
"Sehr witzig, ihr beiden." Dinin machte ein schmollendes Gesicht, grinste dann aber.
Vierna sah tadelnd in die Runde.
"Ich hoffe, daß du ihm auch Sinnvolles beigebracht hast, Nalfein."
"Keine Sorge, werte Hohepriesterin, ich trage schon Sorge, daß unser Mensch hier das lernt, was er braucht", sagte er und fügte mit einem Grinsen hinzu, "und was Dinin angeht braucht man das immer einmal wieder, damit er auch hin und wieder die Klappe hält."

Es polterte von der anderen Seite an die Tür und eine Männerstimme sagte:
"Kommt mit, es geht los."
Vor der Tür stand Torkum, in ein Gewand gekleidet, das zeremoniell aussah. Ohne die Rüstung wirkte er kein Bißchen weniger imposant, der Duergar bestand nur aus Muskeln, vom Scheitel bis zu Sohle. Er hatte genau wie die anderen Dunkelzwerge knallrote Augen, sein Bart reichte ihm fast bis zu den Knien und war in zwei Zöpfe geflochten.
Er musterte Joro von oben bis unten und schnaubte dann verächtlich.
"Seltsam, daß mir das gestern nicht aufgefallen ist. Ich hätte niemals gedacht, daß wir das Ding irgendwann einmal auf diese Weise wiedersehen werden."
Zu Vierna gewandt fuhr er fort: "Folgt mir mit Euren Begleitern, Priesterin."
Die Treppe herab ging es dieses Mal direkt in den Thronsaal. Joro konnte nicht behaupten, die Architektur dieses Palastes zu durchschauen, denn alle Gänge sahen gleich aus. So oder so mußte es eine Weile dauern, bis man wußte, wohin man eigentlich ging, auch wenn man hier jeden Tag lebte.
Im Saal versammelt war eine beträchtliche Anzahl von Duergar, alle in ähnliche Roben gehüllt, wie sie Torkum trug.
Balthasar saß mit erwartungsvollem Blick auf seinem Thron, in einer goldenen Plattenrüstung und dieses Mal sogar mit einer Krone auf dem Kopf.
Als die vier zusammen mit Torkum eintraten, erhob er sich.
"Sehet diesen dort!"
Alle Zwerge im Raum drehten sich Joro zu, der rot wurde.
Ein Raunen durchzog ihre Reihen und einzelne konnten sich hektisches Tuscheln oder Gesten untereinander nicht verkneifen.
Balthasar gebot ihnen Einhalt.
"Ruhe! Seht, was dieser Mensch an sich trägt! Endlich, nach so viele Jahren sind die Insignien meiner Herrschaft wieder unter meinem Dache angekommen!"
Torkum trat vor den König, das Gesicht zu den Anwesenden.
"Hiermit erkläre ich Balthasar den Tapferen wieder zum König über unser Volk. Die Zeit des Exils ist aufgehoben!"
Einer der Zwerge in der Mitte des Saales hob die Hand.
"Wer sagt uns denn, daß das hier kein armseliger Trick ist?"
"Wenn du es nicht glaubst, geh und überzeuge dich selbst!"
Der Mann kam zu Joro herüber und betastete dessen Brustharnisch, genauso wie es am Tage zuvor der König getan hatte. Zunächst stand so etwas wie Häme in seinem Gesicht, doch die wich schnell wieder.
Er drehte sich zu den anderen.
"Bei den Göttern, sie sprechen die Wahrheit, sie ist es wirklich!"
Wieder kam Unruhe in die Versammelten, dieses Mal war es aber offenes Reden und jeder schien den anderen übertönen zu wollen, manche ruderten dabei mit den Armen als seien sie kurz davor, von einer Klippe zu stürzen.
"RUHE!!!", brüllte Balthasar.
Die Menge der Zwerge verstummte.
"Wie ihr also seht", fuhr er fort, "ist heute der Grund für unsere Verbannung aufgehoben worden. Im Namen meines Vaters und meines Großvaters nehme ich hiermit wieder meinen Thron in Besitz und verlange, daß ihr mir aufs Neue eure Loyalität bekundet. Alle ihr, die hier versammelt sind!"
Die Zwerge in der Saalmitte zögerten. Torkum hingegen kniete vor seinem dicken König nieder und zog seine Axt, die in seinem Gürtel hing, um sie Balthasar hinzureichen.
"Bei der Blutlinie, derer du angehörst, sollst du mein König sein und ich werde dir treu bis in den Tod dienen."
Balthasars Gesicht entwich eine gewisse Anspannung und er machte einen Schritt auf ihn zu, legte ihm dabei die Hand auf die Schulter.
"Ich nehme deinen Schwur an, mein werter General, und du sollst von nun an für alle Zeit bis zu deinem Tode meine Armee führen."
Es kam Bewegung in die anderen Duergar. Einer nach dem anderen trat vor und gab einen ähnlichen Schwur ab, wobei der König jedes Mal ein kleines Stück zu wachsen schien. In der Tat glaubte Joro eher, daß er nur seine krumme Haltung immer weiter aufgab, als fiele eine Last in kleinen Brocken von seinen Schultern.
Schließlich war auch der letzte Duergar mit seinem Schwur fertig und Balthasar sah mit einem stolzen Blick in die Runde.
"Gut. Nachdem ihr also alle wieder unter meiner Herrschaft zu dienen bereit seid, sollten wir zusehen, daß wir diesen Herrschaftsanspruch auch bekräftigen, nicht wahr?"
Ein im Vergleich zu den anderen Anwesenden eher dünner Zwerg trat vor und fragte:
"Also gehen wir zurück und übernehmen unser altes Königreich wieder?"
Das Lächeln auf des Königs Gesicht wurde ein kleines Bißchen säuerlich.
"Du weißt genausogut wie ich, daß das nicht möglich ist. Oder glaubst du, daß wir mit den Männern, die wir haben, eine ganze Stadt einnehmen können?"
Die Gesichter der Duergar im Saal verfinsterten sich alle. Offensichtlich war es ihnen allen bewußt, aber die Hoffnung war niemals ausgestorben.
"Was schlägst du also vor, mein König?", fragte Torkum.
Balthasar wandte sich an Vierna. "Hört, was diese Frau zu sagen hat."
Vierna, recht überrascht von dieser Ansprache, fing sich schnell und sprach:
"Die goldene Legion kommt aus dem Süden und überrennt alle Königreiche. Sie wollen jedes Volk und jedes Land unter ihre Kontrolle bringen, um sie alle zu Sklaven zu machen. Wir haben uns dazu entschieden, lieber zu kämpfen, als unterzugehen. Mit eurer Hilfe würde unsere Kräfte gewaltig ansteigen."
Der dürre Zwerg rümpfte die Nase.
"Und warum sollen wir einer Drow trauen? Jeder weiß, daß sie lügen und betrügen, wann immer sie können. Außerdem: Was ist für uns dabei drin?"
Die anderen murmelten zustimmend.
Balthasars Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an.
"Reichtum und Macht, was denkst du denn? Wenn wir die Hochelfen erst einmal vertrieben haben, können wir uns ein eigenes Reich aussuchen, über das wir dann herrschen werden."
Joro wollte etwas einwenden, aber Viernas Hand faßte seinen linken Unterarm und sie schüttelte unmerklich den Kopf.
"Wir haben viel zu wenig Männer, um einen Krieg zu führen, mein König. Zunächst müssen wir zusehen, daß wir uns verteidigen", warf Torkum ein.
"Darüber habe ich schon nachgedacht, General. Sendet Boten in alle noch so kleinen Duergarsiedlungen in der Umgebung und verbreitet, daß Balthasar der Tapfere erneut ein König ist. Sie sollen herkommen und sich unserem Kampf anschließen!"
Torkum nickte und gab ein Zeichen an eine der Wachen, die am Eingang des Thronsaales standen. Diese verschwand schnell durch die Tür.
"Gut, ich erwarte, daß heute Abend ein Festmahl abgehalten wird. Wer nicht erscheint, findet seinen Kopf morgen früh auf eine Ahlpike vor dem Tor unserer Stadt wieder! Ihr könnt jetzt gehen!"
Der letzte Satz wurde von den Anwesenden Zwergen offenbar genauso verstanden, wie er formuliert worden war. In aller Eile sahen sie zu, daß sie aus dem Raum kamen.
Nun waren nur noch Torkum, Balthasar und die vier Gefährten darin und Balthasar nahm grunzend die Krone vom Kopf.
"Muß das Ding so verdammt schwer sein?", fragte er.
Torkum machte eine beruhigende Geste.
"Ihr werdet Euch schon wieder daran gewöhnen, Majestät."
Der König wandte sich Joro zu.
"Das wäre geschafft. Nun muß ich nur noch herausfinden, wie ich die Rüstung hier behalten kann, ohne dich töten zu müssen."
Joro schluckte.
"Aber leider hat mir dein Gott gestern sehr eindringlich klar gemacht, daß Letzteres nicht in Frage kommt. Also müssen wir eine Lösung finden, die uns beiden gerecht wird. Deshalb habe ich euch vier noch hier behalten."
Der Priester ging ein paar Schritte auf Balthasar zu, wobei er bemerkte, daß Torkum seine Hand auf das Heft seiner Axt legte. Er ließ sich nicht beirren.
"Ich bin mir der Problematik durchaus bewußt, Balthasar, aber ich muß zuerst an die Meinen denken, genau wie du. Und mein oberstes Anliegen ist es, daß diesen Dunkelelfen und allen, die mit ihnen sind, kein Schaden geschieht. Wir sind gekommen, um von dir Hilfe zu bekommen. Verwehrst du sie uns, werden wir wieder gehen und dich auch nicht wieder fragen."
"Soso."
Unbeirrt fuhr Joro fort:
"Mir ist bekannt, daß dein Volk in seinem Wesen darauf beharrt, für erbrachte Leistungen immer einen Gegenlohn zu bekommen, egal ob es ihnen so oder so etwas nützt. Wenn dir das im Wege steht und du dich deshalb nicht dazu durchringen kannst, einfach nur deine eigene Haut zu retten, und die wirst du verlieren, ob du es einsiehst oder nicht."
In seinem Nacken konnte er spüren, wie sich Dinin, Nalfein und Vierna massiv anspannten, aber er war sich der Offenheit seiner Ansprache durchaus bewußt.
Balthasar hingegen schien eher beeindruckt als verärgert.
"Wie alt bist du, Joro Macun?"
"Neunzehn."
Der dicke Zwerg stand auf und kam zu ihm herüber. Angekommen baute er sich vor ihm auf und schaute ihm lange in die Augen, ohne etwas zu sagen.
Dann rümpfte er die Nase und meinte:
"Und mit deinen neunzehn Jahren wagst du es schon, einem alten Mann, der Zeit seines Lebens eine Sippe von 119 Zwergen geführt hat, zu erzählen, was er zu tun hat oder nicht?"
"Ich erzähle dir nicht, was du zu tun hast, sondern was ich zu tun gedenke, Balthasar", erwiderte Joro kalt zurück.
"Du hast gar keine Angst vor mir, oder?"
"Warum sollte ich?"
"Ich könnte dich und diese drei Drow dort drüben mit nur einer Armbewegung töten lassen."
"Dann fang mit mir an, versuch es."
Diese Antwort hatte der König mit Sicherheit nicht erwartet.
"Woher nimmst du diesen Mut, Jungspund. Oder ist das nur Dummheit?"
"Es ist Gleichgültigkeit gegenüber deinem Zorn, Großväterchen."
"Großväterchen?!"
"Ich hätte auch 'Tattergreis' sagen können, gefällt dir das besser, Duergar?"
Der König schnappte nach Luft und Torkum seinerseits hatte seine Axt schon halb gezogen.
Balthasars Augen funkelten vor Zorn.
"Du wagst es, mich hier in meinem eigenen Thronsaal zu beleidigen?"
"Gehen dir die Flüche aus, oder warum mußt du jetzt greinen wie ein Weib?"
"Du... duuuu... MISTKRÖTE!"
"Flohzirkus!"
"Haarloser Molch!"
"Speckiger, alter Sauhund!"
Der Duergar rang nach Worten. Dann, immernoch sprachlos, mehrere Male in Joros Richtung zeigend, ging er langsam zu seinem Thron zurück, Torkum entspannte sich ein wenig.
"Das schreit nach Rache, Mensch. Ich weiß nicht, woher du dieses Wissen genommen hast, aber du weißt hoffentlich, was jetzt auf dich wartet!"
Joro grinste unverhohlen.
"Ja, weiß ich, und da ich die Herausforderung ausgesprochen habe, wähle ich Ale als Waffe."
Balthasar kniff das linke Auge zu und ließ das rechte funkeln.
"Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich da eingelassen hast. Ich bin ein Duergar, falls du das vergessen hast."
"Und ich bin der Sohn eines Rinderzüchters, der seinen eigenen Braukessel im Keller hatte. Was meinst du, wer von uns beiden anteilig an seiner Lebenszeit schon länger Bier trinkt. Mach dich auf einiges gefaßt, mal sehen, ob dein Beiname "der Tapfere" auch heute Abend noch bestätigt wird."
"Ich werde vorbereitet sein, ich hoffe, daß du es auch bist. In vier Stunden beginnt das Bankett und wir werden sehen, wer der Stärkere ist, Jungchen."
"Ist recht, Opa."
"Geht jetzt!"

Wieder in Nalfeins Zimmer angekommen, bekam Joro von jedem der drei Drow einmal auf den Hinterkopf geschlagen.
Nalfein war der erste, der wieder Worte fand.
"Was in aller Höllen Namen hast du dir dabei gedacht, Joro??"
"Ganz einfach, ich habe einmal ein Buch über die Völker des Unterreiches gelesen. Darin wurde unter anderem aufgeführt, daß Duergar in Zeiten, in denen sie keinen Krieg führen, zum Schonen ihrer Leute Trinkduelle austragen, um die Rechtmäßigkeit ihrer Standpunkte zu beweisen. Dem voran geht normalerweise eine Absichtserklärung, die in möglichst schweren Beleidigungen ausgedrückt wird."
"Was hat dich so sicher gemacht, daß das nicht nur für Duergar gilt?"
"Mein Großvater hat mir daraufhin erzählt, daß er selbst einmal ein solches Duell austragen mußte, allerdings damals mit Kartoffelschnaps, den er auch im hohen Alter noch in Unmengen vertilgt hat. Es ist eine Frage der Ehre, die ein Duergar, ohne das Gesicht zu verlieren nicht ablehnen kann, so sind die Regeln."
Dinin schmunzelte.
"Also hat unser Herr Völkerverständigung gerade ganz vorsätzlich einen kulturellen Brauch mißbraucht, um möglicherweise seine Haut zu retten?"
Joro grinste gequält.
"Es ist für uns eine Situation, in der es nichts zu verlieren gibt, für Balthasar schon. Daher wird er mit Sicherheit irgendwelche Tricks benutzen, um zu gewinnen, wenn ich ihn recht einschätze."
Nalfein schüttelte den Kopf.
"Niemals. Er wird in seiner Arroganz niemals glauben, daß du gewinnen kannst. Aber ich glaube, wir können dir in der Tat ein bißchen helfen", er kicherte böse.
Aus seinem Bündel holte er ein kleines Fläschchen.
"Was ist das?", fragte Joro.
"Öl. Pflanzenöl, um genau zu sein. Ich benutze es normalerweise für meine Füße, wenn ich sie mir wundgelaufen habe. Wenn du das trinkst, wird es eine ganze Weile länger dauern, bis du betrunken bist. Das sollte dir ein wenig Zeit erkaufen."
"Ihr drei spinnt alle vollkommen. Joro, bist du dir eigentlich bewußt, in welche Gefahr du uns gebracht hast?" Viernas Augen hatten einen tiefroten Glanz angenommen.
Joro sah sie bestürzt an.
"Er hätte uns so oder so versucht, zu betrügen, Vierna. Was hätte ich wohl sonst tun sollen? Warten bis er uns irgendein dämliches Angebot macht, mit dem wir niemals zufrieden sein können?"
Sie schaute ihn sehr böse an.
"Ich rate dir gut, dein Bestes zu geben, weil du es sonst bereuen wirst, wenn ich dich hinterher in die Finger bekomme!"
Mit diesen Worten wandte sie sich um und rauschte aus dem Zimmer.
Nalfein gab Joro eine Ohrfeige.
"Aua, was soll das?"
"Fang jetzt nicht mit 'ich will nicht, daß sie böse ist' an, oder du bekommst noch eine. Steh deinen Mann und tu das, für das du dich entschieden hast. Keine Ausreden, oder du bekommst morgen zwei Tritte!"
"Ich halte ja schon meinen Mund."
"Gut. Und jetzt nimm die Flasche, geh in dein Zimmer und sieh zu, daß du dich noch eine Weile ausruhst. Es geht bald los."

Die nächsten drei Stunden verbrachte Joro in Einsamkeit in seinem Zimmer, gequält von dem furchtbaren Gefühl, das Nalfein ihm hatte austreiben wollen. Aber der Dunkelelf hatte vermutlich recht. Die einzige Möglichkeit, das Ganze noch zu retten, war nun nur noch, diesen Wettstreit zu gewinnen.
Als schließlich endlich, nach einer Ewigkeit, ein Klopfen an der Tür erscholl und er aufgefordert wurde, sich anzuziehen, nahm er die kleine Flasche und betrachtete sie. Ob Nalfein das Öl wohl wiederverwendete?
Die Frage ließ es leider nicht zu, sie weiter zu verfolgen, denn es war an der Zeit, die eingebrockte Suppe auszulöffeln.
Er schluckte das Öl, was leicht ranzig schmeckte, und mußte eine Weile dagegen ankämpfen, zu erbrechen. Dann warf er sich seine Robe über und trat auf den Flur. Die Drow warteten schon auf ihn und sahen ihn alle drei erwartungsvoll an.
"Ja, ich habs getan. Ich will allerdings nicht wissen, was du damit vorher gemacht hast, Nalfein."
"Nichts, nur Füße gepflegt."
Es kam ihm wieder hoch, doch Joro unterdrückte den Brechimpuls.
Dinin und Nalfein grinsten, während Vierna immernoch eine distanzierte Haltung aufwies.
"Gehen wir, Torkum hat mir vorhin gesagt, daß wir kommen sollen, wenn wir fertig sind. Unten ist wohl schon die Hölle los", meinte Nalfein.
Sie gingen die Treppen herab zu der Halle hinter dem Thronsaal, aus deren Richtung bereits lautes Gelächter, Gegröhle und Einiges an den so heißgeliebten Körpergeräuschen zu hören war.
Als sie den Raum betraten, verstummten alle Anwesenden und schauten grimmig in Joros Richtung.
Die Zwerge, die sich um die riesige Tafel versammelt hatten, waren größtenteils halbnackt, viele von ihnen mit Essensresten beschmiert und lümmelten sich auf den großen Armstühlen herum. Am Kopfende der Tafel saß Balthasar, neben sich ein Faß, genauso groß wie er, auf das er vielsagend klopfte. Er wies auf Nalfein und sagte:
"Dein Adjutant. Er wird sichergehen, daß ich nicht betrüge."
Dann deutete er auf das andere Ende der Tafel, an der neben einem leeren Sessel ein ebenso großes Faß stand. Torkum, der direkt neben diesem Platz saß, stand auf und deutete Joro, sich dort hinzusetzen.
Die anderen beiden Drow ließen sich auf den anderen leeren Sesseln nieder, die dort standen, Vierna unter anzüglichen Pfiffen aus Reihen der Zwerge, die sie ignorierte.
Torkum sah ihn ernst an.
"Jeder einen Humpen. Wenn einer seinen leert, muß der andere dies auch sofort tun, sonst hat er verloren. Verstanden?"
Joro nickte.
"Gut, hier ist der erste!"
Der Zwerg knallte einen Humpen von der Größe, die Balthasar am Tage zuvor gehabt hatte, vor ihm auf den Tisch. Jetzt erst fielen Joro die schieren Unmengen an Speisen auf, die auf der Tafel standen. Zwei ganze Schweine, Schalen voller Suppe, ganze Truthähne und scheinbar als Einzelhappen gedachte gebratene Nagetiere, wie sie Dinin ein paar Tage zuvor erlegt hatte.
Balthasar hob sein Trinkgefäß an und rief: "Es gilt!"
Er setzte an und trank.
Joro zögerte nicht, er wollte sich keine Blöße geben. Er hob seinen Humpen und nahm ein paar Züge des schweren, dunklen und sehr herben Ales. Dabei ließ er den König nicht eine Sekunde aus den Augen, was dieser ebensowenig tat. Sie leerten ihre Biere fast gleichzeitig und schlugen die Humpen auf den Tisch, was die 'Tischgesellschaft' mit einem begeisterten Gröhlen quittierte.
Schon Momente später stand ein neues Trinkgefäß, ebenfalls bis an den Rand gefüllt vor ihm.
Balthasar auf der anderen Seite des Raumes grinste und nahm sich erst einmal eine Schweinshaxe vor.
Joro hingegen ergriff den neuen Humpen, setzte an und soff, als hinge sein Leben davon ab. Ihm entging nicht, daß jeder Schluck, den er tat, bei seinem Gegenüber das Unwohlsein wachsen ließ.
Als er fertig war, nahm er seinerseits ein großes Fleischstück und biß mit Genuß herein, fröhlich grinsend.
Unter den Zwergen wurde ein Murmeln laut und immer mehr von ihnen sahen in Balthasars Richtung. Dieser griff hastig nach seinem Bier und begann es zu trinken. Joro griff auf der Stelle nach dem frisch gefüllten Humpen vor ihm und trank ebenfalls. Nach der Häfte setzte er ihn ab und aß seelenruhig sein Essen weiter.
So ging das eine Weile weiter, er bemühte sich dabei immer, unbeschwert auszusehen und Balthasar ein Stück im Hintertreffen zu halten, während er gegen den immer voller werdenden Magen ankämpfte und auch langsam, trotz des Öles eine gewisse Bewußtseinstrübung einsetzte.
Vierna würdigte ihn dabei keines Blickes, was ihn dazu brachte, sich voranzukämpfen, erfüllt von grimmigem Stolz.
Je mehr Bier insgesamt am Tisch geleert wurde, desto weniger angespannt wurde die Athmosphäre und bald bemerkte er, daß auch ein paar Zwerge hin und wieder anerkennend in seine Richtung schauten und ihm zunickten. Torkum hingegen saß neben ihm und schaute mit jeden leeren Krug, den Joro ihm reichte, mit einem wachsenden Gefühl von Erstaunen und offener Zustimmung an.

Ab einem gewissen Punkt erinnerte sich Joro nur noch an verschwommene Bilder und Geräusche, das nächste war, daß er sich fast eine halbe Stunde lang übergab.
Als er schließlich aufwachte, lag er in seinem Bett und die Kopfschmerzen, die in seinem Kopf tobten, waren so höllisch, daß selbst das Knarzen der Holzwände, das hin und wieder auftrat, sich anhörten, als stünde er in einem Gewitter.
Neben ihm, auf die Bettkante gehockt, saß Vierna.
Er wollte sich aufrichten, aber der Kater verhinderte das.
"Bleib liegen. Trink das hier."
Sie reichte ihm eine kleine Tasse, in der ein übelriechendes Gebräu war.
"Es riecht nicht gut, aber es wird dir die Kopfschmerzen nehmen und deinen Magen beruhigen."
"Bist du noch böse?"
"Ja. Das war nicht nur dumm, sondern auch außergewöhnlich kindisch."
"Hab ich wenigstens gewonnen?"
Vierna schnaubte.
"Männer..."
"Ja oder nein?"
Sie stand auf und stellte die Tasse auf den Rand des Bettes.
"Man hat am Ende auf ein Unentschieden plädiert, ihr seid beide irgendwann einfach umgefallen und weil alle zu besoffen waren, kann sich keiner mehr daran erinnern, wer der Erste war."
"Das heißt, wir haben beide unsere Ehre bewart und müssen uns als ebenbürtig ansehen..."
"Hast du ganz toll gemacht, Joro."
Er streckte die Hand aus und sah sie flehentlich an.
Zunächst schien sie einfach gehen zu wollen, dann nahm sie aber seine Hand und setzte sich wieder neben ihn aufs Bett.
"Joro?"
"Ja..."
"Versprich mir, daß du niemals wieder so etwas Dummes tust."
"Das kann ich nicht. Ich bin eben manchmal dumm."
"Dann versuch wenigstens, an dir zu halten, wenn du einen derartigen Impuls bekommst, hörst du?"
Er fühlte sich etwas erleichtert und nickte, so gut das sein Kopf zuließ.
"Versprochen."
Sie seufzte. Dann mußte sie unwillkürlich grinsen.
"Obwohl ich zugeben muß, daß du ihm ganz schön eingeheizt hast. Nach dem vierten Humpen kam er ganz schön ins Schwitzen."

Joro fühlte, wie er wieder sehr müde wurde, er nahm an, daß das eine Nebenwirkung des Gebräus war, das ihm Vierna eingeflößt hatte. Langsam entschwand sein Geist wieder in die Welt der Träume.
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 22. Kapitel...

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