Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 22

Als er das nächste Mal erwachte, sprang sein Bewußtsein förmlich zurück in die Realität. Irgendetwas ließ sich ihm die Nackenhaare sträuben. Instinktiv sah er sich um, war aber allein in diesem Raum. Die Kopfschmerzen waren fort und schlecht war ihm auch nicht mehr. Aber dieses Ziehen im Nacken machte ihn fast wahnsinnig. Es war wie das Gefühl, das ein sensibler Menschen kurz vor einem Gewitter hat, wenn die Feuchtigkeit in der Luft langsam einen gewissen Grad erreicht und mit einem Male alle Vögel still werden. Er beeilte sich so schnell es ging in seine Rüstung zu schlüpfen, was ohne Hilfe alles andere als einfach war, wie er wieder einmal Mal feststellen mußte.
Draußen war es still. Es schien fast, als würden selbst die Wände nicht mehr knarzen. Den Hammer fest in der rechten Hand, den Schild auf dem linken Arm hielt er noch kurz inne und sandte ein Stoßgebet an Celestus, bevor er mit einem heftigen Nicken das Visier seines Helmes herunterschnellen ließ und dann durch die Tür trat.
Die Türen zu den Zimmern der Dunkelelfen standen halb oder ganz offen. Da ein Großteil ihrer Utensilien noch darin lagen, aber die Betten reichlich zerwühlt waren, folgerte Joro, daß auch sie spontan aufgewacht sein mußten, nur um schnell aus dem Bett zu springen und, naja, wohin waren sie?
Er sprintete in wachsender Sorge die Treppen herunter, wahllos in Türen spähend, an denen er vorbei kam. Überall das selbe Bild, als sei eine Art Großalarm gegeben worden.
Am Ende eines Ganges des Stockwerks, das er für das Erdgeschoß hielt, stand eine Doppelflügeltür offen.
Sie führte in das Speisezimmer, das erstaunlich sauber war, wenn er das jetzige Bild mit den letzten paar Erinnerungen seiner selbst verglich. Er durchschritt es und kam in den Thronsaal.
Zu seiner Überraschung war dieser aber nicht leer.
Auf den Thron, umringt von einer nicht gerade kleinen Menge anderer Duergarfrauen, alle in schwere Leder- oder sogar Kettenrüstungen gekleidet, saß Myellin auf dem Thron und bohrte ziemlich gelangweilt in der Nase. Als sie Joro eintreten sah, wies sie nur mit der anderen Hand auf den gegenüberliegenden Eingang des Saales.
"Die hauen sich da draußen, keine Ahnung warum jetzt schon wieder..."
Joro fragte nicht noch einmal nach, sondern hastete nur in die angewiesene Richtung.
Der Weg aus dem Palast und aus der Höhle war leicht zu finden. Der Lärm in der Ferne nahm mit jedem Schritt zu und er konnte zunehmend den Geruch von brennendem Holz wahrnehmen. Zwei Duergar, in massige Stahlpanzer gehüllt, stellten sich ihm in den Weg.
"Der König hat eindeutige Order gegeben, Mensch. Bis hierhin und nicht weiter!"
Joros Bewußtsein füllte sich mit einem gewaltigen Zorn. Vierna war mit Sicherheit da draußen. Dinin und Nalfein auch. Er würde sie nicht allein lassen.
"Hinfort!" Zu seiner Überraschung klang seine Stimme ungewöhnlich laut und hallte gewaltig nach. Die beiden Zwerge wurden von einer unsichtbaren Macht aus dem Weg gedrückt und Joro schritt durch die beiden verdutzt gegen die Kräfte, die sie zurückhielten, ankämpfenden Krieger und griff seinen Hammer so fest, daß seine Knöchel weiß wurden.

Am Fuß der Rampe, die in die Höhle heraufführte, konnte er bereits sehen, was das Problem war.
Im Lichte der aufgehenden Morgensonne hatten drei Luftschiffe der Legion offenbar versucht, auf den Befestigungen der Duergar zu landen, was die Zwerge wohl zu verhindern gewußt hatten, die Mauern waren gespickt mit Ballisten und noch einigen, viel abwegiger erscheinenden, dennoch ziemlich funktionablen Konstrukten jeglicher Art.
Über den Wracks der drei Schiffe kreisten mindestens ein Dutzend Lindwürmer, deren Reiter allerhand Gegenstände auf die unten Kämpfenden herabwarfen. In den Gräben und auf den Wehrgängen schlugen sich Zwerge und Hochelfen.
Ohne zu zögern stürmte Joro auf das nächstgelegene Geplänkel zu und krachte wie ein schwarzer Metallblock in den ersten Legionär in seiner Reichtweite. Dabei versuchte er, sich schon einmal einen Überblick zu verschaffen, wie groß die Bedrohung war. Vor allem aber fragte er sich, wie sie um alles in der Welt überhaupt geschafft hatten, hier herzukommen.

Es war nicht die Zeit zum Nachdenken, es war die Zeit zum Kämpfen. Joro hatte schon in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, daß sich bei wirklich ernsten Kämpfen irgendwie sein Geist abschaltete und sein Körper irgendwie nur das tat, was er mußte, um am Leben zu bleiben. Nalfein hatte in einer ihrer Trainingsstunden den "Geist des Kriegers" genannt. Er hatte gemeint, daß das der beste Zustand sei, wenn alle Gefühle und alles Überlegen fort war und nur noch das Handeln das Bewußtsein erfüllte.
Es fiel ihm allerdings auch nicht gerade schwer, in der massiven, schwarzen Metallschale, das Gesicht hinter der Maske des Celestus verborgen, ein Gefühl der Sicherheit und irgendwie auch Distanz zu der Welt um ihn herum zu haben. Dabei verlor er aber nicht seinen Sinn für die Gefahr, die ihm dabei drohte.
Nalfeins Lektionen zahlten sich aus. Es war zwar offensichtlich, daß er noch viel lernen mußte, da ihn immer wieder Schläge der gut trainierten Legionäre trafen, aber die Rüstung glich das glücklicherweise aus. Joro war sich trotzdem bewußt, daß jeder dieser Schläge theoretisch sein Ende gewesen sein konnte. Außerdem machte ihn die Rüstung ja nicht unverwundbar, daher mußte er sich so oder so vorsehen.

Er brauchte nicht lange, um trotz des Getümmels im immer stärker werdenden Sonnenlicht auszumachen, wo seine Begleiter waren.
Dinin war nahe der Bergwand in Deckung gegangen und beharkte mit einer Armbrust, die er sich von den Zwergen besorgt haben mußte, die fliegenden Feinde.
Nalfein und Vierna standen zusammen mit einer Reihe außergewöhnlich stark gepanzerter Duergar an vorderster Front und hielten die Hauptmacht der Hochelfen ab. Trotz der abgestürzten Schiffe waren immernoch erstaunlich viele von ihnen da und versuchten mit aller Macht, in den zweiten der insgesamt drei Belagerungsringe einzudringen.
Joro entging nicht, daß die Duergar sich bemühten, ihm den Weg freizumachen, als er zielstrebig auf die zentrale Gruppe zuging. Es entging ihm auch nicht, daß sie dabei geradezu peinlich darauf achteten, ihn nicht zu berühren.
Er kam an. Von Weitem hatte es nur wie ein kleines Hin und Her ausgesehen, aber aus der Nähe zeigte sich schnell, daß sich in dem kleinen Tordurchgang die Leichen stapelten. Zu seiner völligen Überraschung stand Balthasar ganz vorne, auf einem nicht gerade kleinen Haufen toter Hochelfen und schrie in einem fort Schmähungen in ihre Richtung. Dabei schlug er sich immer wieder mit der breiten Seite seiner Streitaxt gegen die Brust.
Anfliegende Pfeile wurden von einem unsichtbaren Schild abgelenkt, Joro konnte sehen, daß zwei Kleriker, beide knapp hinter den Torpfosten versteckt, continuierlich Zauber auf ihn wirkten.
Wann immer ein Hochelf ihm zu nahe kam, holte der Zwergenkönig mit einer unglaublichen Geschwindigkeit aus und hieb zu. Der Effekt war, daß der Angreifer entweder zurückgeschleudert wurde oder einfach tot zusammenbrach. Es dämmerte Joro, wie der Haufen entstanden war. Er konnte allerdings auch sehen, daß die nette Vorstellung, die Balthasar da gab, nicht mehr sehr lange gehen konnte, die beiden Kleriker hatte knallrote Köpfe und schwitzten beträchtlich.
Joro wartete nicht, bis er bemerkt wurde, sondern lief stattdessen hinüber zu einer der schmalen Treppen, die nach oben führten, und erklomm sie.
Hinter ihm erscholl Viernas Stimme.
"Was machst du hier draußen?"
Joro ignorierte sie, stieg die Treppe ganz herauf und drehte sich dann zu ihr um.
"Es ist mir egal, welche Gründe ihr hattet, mich nicht zu wecken, aber glaub ja nicht, daß ihr mich davon abhalten könnt, euch zu helfen."
Er blickte über den Platz hinter den Zinnen und hob in letzter Sekunde seinen Schild, der den anfliegenden Pfeil ablenkte.
Vierna war die Treppe ebenfalls hochgestiegen und hockte sich hinter einer Zinne auf den Boden. Sie nahm ein Stück Stoff aus einer der Taschen an ihrem Gürtel und band es sich um den linken Knöchel.
"Bist du verletzt?" Joros Stimme wurde sehr besorgt und er beugte sich zu ihr herunter.
"Geht schon, ich habe mich an dem Schwert einer herumliegenden Leiche ein bißchen angeritzt." Sie zog den Knoten fest und schaute dann zu ihm hoch. "Kannst du dir vorstellen, daß wir nur nicht wollten, daß dir etwas geschieht? Du bist noch lange nicht soweit, in einem solchen Kampf mitzuwirken."
"Wäre es nicht besser gewesen, mir genau das zu sagen?"
"Hättest du zugehört?"
"Das schon, aber in der Tat hätte ich darauf bestanden, mitzukommen."
"Siehst du... Genau deshalb haben wir dich lieber noch schlafen lassen, damit wir einen Vorsprung haben. Nach der bösen Sauferei war ich mir auch nicht sicher, ob du überhaupt aufstehen kannst..."
Sie hatte nicht ganz unrecht.
Joro hatte sich wieder aufgerichtet und lugte zwischen Schild und Zinne hindurch.
Von unten hatten die Hochelfen wesentlich zahlreicher gewirkt als von hier oben.
"Warum ziehen die sich nicht zurück?"
Vierna stand wieder auf, hielt sich allerdings peinlich genau hinter der Zinne versteckt.
"Habe ich mich auch schon gefragt. Nalfein meinte vorhin, daß die noch was vor haben. Vielleicht spielen sie auf Zeit, bis eine Nachhut eintrifft oder etwas in der Art."
Joro rückte seinen Schild so hin, daß sie auch etwas sehen konnte, was sie zu einem kurzen Lächeln und einem gehauchten "Dankeschön", gefolgt von einem kleinen Augenklimpern begleitet wurde.
Der junge Mann mußte sich zwingen, nicht zu lachen, aber es fühlte sich trotz des Kitsches gut an.
"Jetzt sagt mir nicht, daß ihr hier oben zusammenhockt und rumknutscht." Nalfein, mit einer stark blutenden Schramme auf der Stirn, kam die Treppe hoch, die Axt auf der Schulter. "Gib mir mal was zum Abwischen, mir läuft schon wieder die Suppe in die Augen!"
Vierna reichte ihm wortlos ein Stück Stoff aus der selben Tasche.
"Warum machen wir keinen Ausfall, die sind doch höchstens noch Hundert...?" fragte Joro.
"Frag nicht mich, frag Herrn 'Wie-hoch-kann-man-Hochelfen-stapeln' da unten", Nalfein spuckte aus, "und sag mir mal, in welchen Größenordnungen denkst du eigentlich?"
"Was meinst du?"
"Nur hundert?"
Joro wurde rot. "Naja, wir sind ihnen überlegen, oder?"
Nalfein entgegnete nichts, sondern spähte nur über den Rand der Zinnen. "Hm, Vierna, hast du eine Ahnung, was die Sechs da drüben machen?"
Vierna reckte sich und spähte in die Richtung, die er angedeutet hatte, Joro ebenfalls.
Die Priesterin schaute sehr besorgt und meinte:
"Die bereiten etwas Großes vor. Ich tippe auf ein Portal oder eine Mondbrücke oder vielleicht eine Beschwörung?"
Nalfein verzog das Gesicht.
"Wollen wir das wirklich herausfinden?"
Joro und Vierna schüttelten gleichzeitig den Kopf.
Der Drow tupfte sich noch einmal das Blut von der Stirn und sprang dann von der Mauer.
"Er redet mit Balthasar, nicht wahr?"
Sie nickte und Joro schaute sich um, um zu sehen, was Dinin wohl gerade tat.
Der Assassine war immernoch damit beschäftigt, auf die Lindwürmer zu schießen, hatte allerdings in der Zwischenzeit Hilfe bekommen. Drei Duergar standen ganz in seiner Nähe an einer Balliste und arbeiteten mit ihm zusammen. Dinin gab ein Kommando, die Zwerge schossen und er kurz darauf auch.
Dieses Mal wich der Reiter dem Bolzen der Ballista aus, wurde aber von Dinins Bolzen in den Kopf getroffen und der Lindwurm trudelte führerlos erst ein kleines Stück durch die Luft und schwang sich dann davon, als sei er befreit worden.
Diese Taktik mußte recht erfolgreich gewesen sein, denn es waren nur noch drei Lindwürmer über.
Joro wurde an der Hüfte gepackt und herumgerissen, wobei er fast zu Boden fiel. Vor ihm stand nun Balthasar, in Begleitung von Nalfein.
"Was machst du hier draußen, Junge?"
"Das selbe wie du, nur daß ihr mich alle nicht laßt."
"Soso", der König grunzte und schaute über die Zinne, "Ihr meint die sechs da hinten, Herr Nalfein?"
"Richtig, es ist denkbar, daß uns das, was sie dort drüben tun, nicht gefallen wird, wenn sie fertig sind."
"Dann sollten wir zusehen, daß sie damit aufhören. Wir machen einen Ausfall", er wandte sich Joro zu, "Und du bleibst hier und siehst zu, daß die Rüstung keine Kratzer bekommt."
Joro sah ihm mit einem kalten Blick in die Augen.
"Ich bin keiner deiner Untertanen, König Balthasar. Ich werde tun, was ich für richtig halte, und nicht das, was du mir befiehlst."
Der Duergar kniff seine roten Augen zusammen, starrte ihn kurz an, drehte sich dann aber um und stapfte die Treppe von der Mauer herunter.
Nalfein rümpfte die Nase.
"Du hast vielleicht im Saufen gegen ihn mithalten können, aber es ist eine reichlich schlechte Idee, einen König auf seinem eigenen Grund und Boden herauszufordern."
"Wenn du glaubst, daß ich euch einfach so da herausstürmen lasse, dann hast du dich geschnitten."
"Manchmal muß man diplomatisch sein, Joro."
"Nicht, wenn es um Leben und Tod geht und der Kampf bereits tobt."
"Das sollten wir ein anderes Mal weiterdiskutieren, ich glaube, es geht gleich los."
Joro blickte wieder zwischen Schild und Zinne hindurch.
Die Hochelfen hatten bemerkt, daß sich innerhalb des Walles etwas tat. Sie zogen sich zurück und formierten sich um die Sechs herum, die im Kreis standen und dort damit beschäftigt waren, Zeichen auf den Boden zu malen und dabei Worte vor sich hin zu murmeln.
"Was machen die da?" fragte er die Stimme in seinem Kopf.
"Die bereiten eine Beschwörung vor." Celestus hörte sich irgendwie besorgt an.
"Etwas Gefährliches?"
"Darauf kannst du dich verlassen."
"Dann müssen wir sie davon abhalten."
"Beeil’ dich. Sie werden nicht mehr sehr lange brauchen."
Joro klappte sein Visier herunter, das er vorher zum Reden hochgeklappt hatte, und nahm den Schild wieder auf den Arm.
Vierna und Nalfein sahen ihn fragend an.
"Celestus sagt, wir sollen uns beeilen, oder hier passiert ein Unglück."
Die beiden packten wortlos ihre Waffen und gingen vor Joro von der Mauer herunter.
"Das war nicht ganz das, was ich gesagt habe, Joro", meinte der Gott.
"War es anders gemeint?"
"Öh, nein."
Er ging ebenfalls die Treppe herunter.
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 23. Kapitel...

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