Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 27

Am Portal angekommen fiel ihm auf, daß er überhaupt keine Ahnung hatte, wie man es bediente. Bisher waren immer andere Drow mit ihm unterwegs gewesen, die das getan hatten.
Er überlegte eine Weile, dann versuchte er es einfach, indem er sich auf die Mitte stellte.
Nichts geschah.
Hatten die Drow vielleicht bestimmte Schlüsselgegenstände, die es aktivierten?
Er sah sich hilflos um, wobei sein Blick auf ein Drowmädchen fiel, das in der Nähe damit beschäftigt war, Blumen zu sammeln. Sie mußte ihm gerade einmal bis zum Knie reichen. Naja, vielleicht noch gerade so an den Oberschenkel.
"Hey, du?"
Das Mädchen erstarrte und setzte erst an fortzurennen. Doch die Neugier überwog wohl. Es stellte sich mit einem schüchternen Blick im Gesicht hin, die Arme hinter dem Rücken und fragte: "Jaaa?"
"Äh, weißt du, wie man das Portal hier bedient?"
Es schaute ihn mit auf die Seite gelegtem Kopf an.
"Bist du der Menschenmann, der hier lebt?"
Joro wurde rot.
"Ja, der bin ich wohl..."
"Und du bist in die Hohepriesterin verliebt?"
Hätte er gerade gemußt, hätte er aufgrund der peinlichen Berührung vermutlich in die Hose gemacht.
"Naja... weißt du..."
Sie kicherte.
"Ich bin auch verliebt, in einen Jungen von der anderen Seite des Dorfes, weißt du... Für den sind die Blumen."
Der Themenwechsel ließ ihn sich ein wenig entspannen.
"Da wird er sich bestimmt freuen."
"Najaa...", sie spielte sich in den Haaren herum, "eigentlich sind Jungs ziemlich doof und interessieren sich überhaupt nicht für Blumen, nur für Schwerter und son Zeugs...", die Enttäuschung darüber war ihr klar anzusehen, "aaaber..."
"Was denn?"
"Aber vielleicht mag er sie ja trotzdem. Und wenn nicht, dann schenke ich sie eben meiner Mama."
Joro kratzte sich am Kopf. Wenn es um das Liebesleben der Drow ging, war er ohne Zweifel nicht der richtige Gesprächspartner, aber er versuchte es einfach mal mit seinem hoffentlich gesunden Menschenverstand.
"Hm, mag er dich denn auch?"
Das Mädchen schien unschlüssig.
"Weißt du, er kann am weitesten spucken."
"Aha..."
"Und er hat ganz alleine eine Wühlmaus gefangen." So wie sie das sagte, mußte sie das tief beeindruckt haben.
"Das ist beachtlich."
Sie nickte heftig.
"Das finde ich auch. Außerdem hat er mir gesagt, daß er mich hübsch findet."
"Also wenn bei uns Menschen ein Junge zu einem Mädchen sagt, daß er sie hübsch findet, dann meint er damit meistens, daß er sie mag."
"Wirklich?" Das schien ihr zu gefallen.
Joro lächelte.
"Japp."
"Dann bringe ich ihm die Blumen und hoffe, daß er sie auch haben will."
Sie drehte sich um und begann, davonzuhüpfen. Hüpfen... schon wieder...
"Hey, warte doch mal, was ist mit dem Portal?"
Das Mädchen hüpfte einfach weiter und rief dabei:
"Da ist irgendwo ein kleiner Hebel an der Seite, der aktiviert es, wenn man kein Amulett dabei hat..." Dann war sie schon um eine Hütte herum.

Er suchte eine ganze Weile, bis er herausfand, daß eine der kleineren Säulen, die er für eine Verzierung des Portalrandes gehalten hatte, drehbar war. Nach einer Vierteldrehung leuchteten die Runen auf dem Portalboden blau auf und die Umgebung verschwand.
Dann stand er im Wald.

Der Anblick war verblüffend.
In weniger als zwei Wochen hatten die Jäger und Fallensteller aus Noth eine richtige kleine Siedlung von Baumhäusern und Hütten auf dem Waldboden errichtet. Alles davon stand auf hölzernen Stelzen, was, wie Joro annahm, darauf zurückzuführen war, daß der Boden mit seiner dem Frühjahr entsprechenden Mischung aus Steinen und Schlamm die Häuser am Abhang, der hier zwar nicht stark, aber immerhin vorhanden war, nicht gehalten hätte. Vor allem hier unter den dichten Bäumen kam die Sonne, egal wie stark sie schien, nicht bis zur Erde, es lag sogar noch eine ganze Menge mehr Schnee hier als in der Enklave selbst, obwohl diese wesentlich weiter im Norden war.
Zwischen den Hütten eilten die Menschen geschäftig hin und her und gingen ihren Alltagsgeschäften nach. Das Einzige, was an den Krieg erinnerte, waren die Aussichtsposten am unteren Rand des Waldes, die er von der etwas höhergelegeneren Position des Portalkreises erkennen konnte.
Auch die Rauchabzüge der Häuser waren so präpariert, daß keine Rauchfahnen aufstiegen, sondern der Rauch schon beim Austritt aus dem Haus so zerstreut wurde, daß man ihn kaum erkennen konnte. Er verstand, was die Drow gemeint hatten, als sie sagten, daß die Nothler auf sich aufpassen konnten.

Als er den kleinen Pfad vom Portal herunterschritt, bemerkten ihn die ersten Menschen und viele kamen auf ihn zugelaufen.
Er wurde sehr herzlich begrüßt und es hagelte Einladungen, jeder wollte sich persönlich bei ihm bedanken. Auch wenn er sich peinlich berührt fühlte, stimmte er dann doch zu, mit auf den kleinen Dorfplatz zu kommen, eine umfunktionierte Lichtung im Wald, um dort mit ihnen anzustoßen.
Nach einer kurzen Zeit kam auch Bregan dazu, der ihn ebenfalls herzlich begrüßte und ihn mit brennendem Wissensdurst ausfragte, was denn in den letzten Tagen geschehen sei.
Alle Anwesenden lauschten sie seiner Geschichte über die Duergar und was dort alles geschehen war.
Auch hier war vielen anzumerken, daß sie nicht sonderlich über die Neuigkeiten erfreut waren.
Bregan war der erste, der Worte dazu fand.
"Also werden wir uns ab morgen in der Gewalt eines Renegaten von einem Duergarkönig befinden?"
Joro schüttelte den Kopf.
"Nein. Erstens ist Balthasar ein echter König und zweitens wird er keinerlei Herrschaftsgewalt über euch haben. Ich glaube sogar eher, daß er euch sehr zu schätzen wissen wird. Ihr habt viele Talente und Fähigkeiten, die Zwergen nicht unbedingt angeboren sind, wenn du verstehst, was ich meine."
"Er wird nur die Befestigungsanlage kommandieren?"
"Die Befestigungen und die Höhlen, die er in den Berg zu treiben gedenkt."
"Warum sollte er sich auf so wenig einlassen? Wir wissen doch alle, daß Duergar gierige kleine Bastarde sind." Einige der Umsitzenden murmelten zustimmend.
Der Priester lächelte spöttisch.
"Genauso, wie Drow alle böse und heimtückisch sind?"
Bregan hatte die Anspielung sehr wohl verstanden und blickte schamhaft zu Boden.
"Du hast recht, vielleicht sollte ich nicht vorschnell urteilen."
Joro schüttelte den Kopf.
"Ich habe selber einige Vorbehalte, aber Balthasar hat sich bereiterklärt, uns zu helfen, und wenn wir nicht alle an einem Strang ziehen, werden wir über kurz oder lang von einer goldenen Lawine überrollt. Damit will ich nicht sagen, daß ihr nicht mißtrauisch sein dürft, aber vielleicht sollte er eine gerechte Chance bekommen, bevor ihr ihn zu einem Problem erklärt... Den Drow in der Enklave ist es übrigens auch nicht ganz recht."
Der alte Mann wirkte überrascht.
"Nicht?"
"Nein. Viele von ihnen haben wahrscheinlich die selben Vorurteile, wie ihr oder ich. Aber was hier zählen muß, ist nicht eine Vorverurteilung, sondern eine gerechte Betrachtungsweise dessen, was hier geschieht und geschehen wird. Außerdem braucht er uns mindestens genauso, wie wir ihn brauchen. Man sagt ja nicht umsonst, daß eine Kette nur so stark ist, wie ihr schwächstes Glied."
Das leuchtete dem Großteil der Anwesenden ein.
Joro stand auf, es war mittlerweile Abend geworden und das Sonnenlicht wurde schwächer. Er nahm seine Maske vom Gürtel und setzte sie auf.
"Ich muß langsam zurück. Morgen wird ein langer und harter Tag, für alle von uns."
Bregan klopfte ihm auf die Schulter.
"Gehabt Euch wohl, Totengräber. Ich spreche für alle hier, wenn ich Euch sage, daß ihr, wann immer ihr eine helfende Hand braucht, nur herkommen und fragen müßt."
Alle um sie herum machten zustimmende Geräusche.
"Ich danke dir, Bregan. Sollte das der Fall sein, komme ich zu euch", und zu den anderen gewandt fügte er hinzu, "für mich gilt das genauso. Wenn irgendjemand unter euch meinen Beistand braucht, bin ich jederzeit bereit, diesen zu geben."
Viele sagten 'Danke'.

Auf dem Weg nach oben zum Portal kam er an einer Hütte vorbei, durch deren Fensterverschläge er eine gebückte Gestalt sehen konnte. Es war zweifelsohne Hannah.
Er klopfte leise an die Tür und von drinnen erscholl ein überraschtes 'Herein!'
Als sie ihn sah, erhellte sich ihr Gesicht.
"Herr Totengräber! Wie schön Euch zu sehen!"
"Ich sagte doch, daß ich nach dir sehen werde. Wie ich sehe, hast du ein neues Heim und es geht dir gut."
"Naja, gut", sie lächelte gequält, "so gut, wie es einer alten Frau mit Gicht in den Bergen schon gehen kann." Sie setzte sich ächzend auf einen Schaukelstuhl in einer der Ecken der Hütte. "Außerdem vermisse ich meinen Gatten." Unvermittelt wurden ihre Augen feucht.
Joro nahm einen Schemel, der am Tisch in der Mitte stand, und setzte sich neben sie.
"Das verstehe ich gut. Und ehrlich gesagt kann ich nicht viel dazu sagen, ich habe den Tod meiner Eltern selbst noch nicht überwunden."
"Eure Eltern sind auch tot?"
"Die Drow... ein Horde von Marodeuren hat sie vor gut einem halben Jahr getötet, zusammen mit meinen Geschwistern."
Sie wirkte bestürzt und nahm seine Hand.
"Armer Junge. Dann ergeht es Euch noch schlimmer als mir..."
"Ich glaube kaum, daß man das vergleichen kann, aber du hast recht, schön war es nicht."
Hannah lächelte, mit Tränen in den Augen.
"Wißt Ihr noch, was Ihr mir damals sagtet, als ihr meinen Mann begraben hattet?"
Er mußte ebenfall lächeln.
"Ja. Ich hoffe, daß es ihnen gut geht, dort wo sie jetzt sind."
Sie ließ den Blick durch die Hütte schweifen.
"Jetzt habe ich Euch nicht einmal etwas zu Essen angeboten. Ich bin eine lausige Daishani."
Joro mußte lachen.
"Das macht überhaupt nichts, ich habe heute schon sehr viel gegessen. Die Leute hier haben den ganzen Nachmittag versucht, mich zu mästen."
Hannah mußte ebenfalls lachen.
"Dann fühle ich mich nicht mehr ganz so schäbig... Wie ergeht es Euch mit den Drow?"
"Sie sind sehr freundlich zu mir und einige von ihnen würde ich als echte Freunde bezeichnen."
"Diese Frau, damals in Noth..."
"Was ist mit ihr?"
"Sie ist ihre Anführerin, nicht wahr?"
"Ja, Vierna ist die Hohepriesterin der Eilistraee und die sprituelle Anführerin der Enklave."
"Schpiri...was?", sie wirkte etwas beschämt, und fügte mit einem traurigen Gesicht hinzu: "Ich bin nicht so gebildet, Herr Totengräber."
"Sie ist höchste geistliche Person unter ihnen."
"Ahhh...", sie überlegte kurz, "sie... sie ist Euch nicht ganz egal, oder?"
Wieder einmal fragte sich Joro nicht ganz ohne Zorn, ob es dermaßen offensichtlich war, daß er sich in sie verliebt hatte.
"Wie kommst du darauf?", fragte er unschuldig.
Hannah lächelte wissend. "Die Art und Weise, wie Ihr auf sie herabgeschaut habt, als sie Euren Arm nahm, hat mir viel verraten. Wenn man so alt ist, wie ich, weiß man solche Dinge gut zu deuten."
Er seufzte. "Nein, egal ist sie mir ganz und gar nicht. Aber wenn du mir jetzt sagst, daß Menschen und Drow einfach nicht zusammen passen, werde ich mich übergeben müssen."
"Also haben die Euch das auch gesagt, nicht wahr?"
"Ja..."
Die alte Frau machte eine zustimmende Miene.
"Mit der Liebe ist das so eine Sache. Irgendwie nimmt sie manchmal seltsame Wege und geht zielstrebig an Orte, an denen man sie nicht haben möchte. Oder an Orte, an denen andere sie nicht haben wollen."
"Das umschreibt meine Situation mit sehr klaren Worten, Hannah."
"Sie mag dich auch." Sie hatte keine Frage gestellt, es war eine klare Feststellung.
"Das hast du auch erkannt?"
"Ihre Art, mit Euch umzugehen, hat es gezeigt, da gibt es kein Vertun." Sie blickte zu ihm herunter. "Hat sie es Euch noch nicht gesagt?"
Er fühlte irgendwie, daß er ihr vertrauen konnte.
"Ja, das hat sie, sogar ziemlich eindeutig. Aber sie hat einen Gewissenskonflikt, weil sie die Führerin der Drow ist und viele der Dunkelelfen bestimmt etwas dagegen hätten."
Hannahs Blick wurde ein bißchen glasig und sie meinte: "Die Liebe ist wie ein Fluß. Egal, auf welche Hindernisse er trifft, er wird sich immer den Weg zum Meer suchen. So wird auch die Liebe am Ende ihren Weg finden, zwei Herzen miteinander zu vereinen."
Joro war verblüfft.
"Das ist ein wunderbarer Vergleich..."
Sie wirkte etwas verschämt.
"Das war ein Satz aus einem Liebesroman, den meine Tante mir einmal vorgelesen hat, als ich noch ein Kind war. Ich fand immer, daß er wunderschön ist, deshalb habe ich ihn mir gemerkt."
Der Priester stand auf und spähte aus den Fensterläden. Draußen wurde es zusehens dunkel, also war es langsam aber sicher Zeit, zu gehen. Vor dem morgigen Tag mußte er unbedingt noch etwas schlafen.
Zu Hannah gewandt meinte er: "Ich danke dir zutiefst. Du hast mir neuen Mut gemacht."
"Das war nicht der Rede wert, mein Herr. Ich stehe nach wie vor in Eurer Schuld."
Er schüttelte den Kopf.
"Nein, das tust du nicht. Aber nanntest du mich einen Freund, wäre ich sehr glücklich damit. Außerdem kannst du ruhig 'du' sagen, die förmliche Anrede finde ich irgendwie unpassend. Mein Name ist Joro."
Hannahs Gesicht strahlte. "In Ordnung, dann geh’ mit Celestus’ Segen, Joro."

Er ließ die Hütte hinter sich und ging den mit Fackeln beleuchteten Pfad nach oben zum Portal. Auch auf dieser Seite gab es eine drehbare Säule, die er benutzte, um wieder in die Enklave zu kommen.
Der Himmel über dem kleinen Tal war wolkenlos und von tausenden von Sternen übersät, was die Berge geradezu zwergenhaft im Angesicht dieses riesigen Himmelsgewölbes erscheinen ließ. Er hielt einen Moment inne und zog den Gürtel seiner Robe ein Stück enger, da ihm der Frost von unten in die Kleidung kroch. Drüben auf der anderen Seite war es doch deutlich wärmer gewesen.
Der Anblick war wunderbar und wenn er es sich hätte wünschen können, hätte er jetzt am liebsten Vierna dort gehabt und sie in den Arm genommen, um sie niemals wieder loszulassen. Aber das mußte wohl ein Traum bleiben, wobei er trotzdem wieder an den Satz mit dem Fluß denken mußte, den Hannah gesagt hatte. Er war voller Hoffnung, daß sein Fluß eines Tages das Meer erreichen würde.

Obwohl er müde war, nahm er noch die zehn Runden um das Dorf auf sich, um danach völlig geschafft in sein Bett zu fallen.
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 28. Kapitel...

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