Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 32

Am Morgen des vierten Tages konnten sie in der Ferne den Felsen erkennen, auf dem das Kloster von Bargum stand. Am Vortag waren sie an eine Stelle gekommen, an der Joro darauf bestanden hatte, kurz innezuhalten, deshalb hatten sie sich am Ende des dritten Tages dazu entschlossen, doch noch eine Nacht im Wald zu kampieren.
Dinin wußte genau, was diese Stelle bedeutete, aber er hatte nicht ein einziges Wort gesprochen, als Joro auf einer Lichtung an einem flachen Stein, der dort auf dem Boden lag, Halt machte und eine Weile schweigend darauf gestarrt hatte.
Auch am Abend hatte er nicht einmal danach gefragt und war sich sicher, daß Joro ihm dafür dankbar war. Er war zwar selbst in seinem Leben mehr als einmal am Rande des Todes gewesen, das letzte Mal nicht einmal weit von diesem Ort entfernt, aber wirklich tot zu sein hatte garantiert eine andere Wirkung auf eine Person, als nur schwer verwundet im Wald zu liegen.
Er für seinen Teil verzichtete darauf, die Stelle aufzusuchen, an der er von der Stadtpatrouille aus Bargum angefallen worden war. Dabei verfluchte er innerlich die anderen Drow, die kurz vorher dort entlang gezogen waren, um zu plündern. Wahrscheinlich hatte die Stadtgarde sie damals mit eben denen verwechselt und sie deshalb attackiert.
Joro sprach an diesem Abend nur das Nötigste und eine grauenhafte Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Dinin wußte nicht, wie er darauf reagieren sollte, aber den Menschen in Ruhe zu lassen und ihm Zeit zu geben, sich zu sammeln, erschien ihm am wichtigsten.
So war es wieder Morgen geworden und sie kamen Bargum jetzt gefährlich nahe.
Der Drow konnte nicht mehr an sich halten und fragte:
"Hast du einen Plan?"
"Nein, ich werde einfach in die Stadt gehen und sehen, was geschieht."
"Mit der Rüstung und dem Schild wirst du dich umsonst um Unauffälligkeit bemühen."
"Hm, das stimmt. Warte mal kurz."
Der Priester zog seine Robe aus dem Bündel und legte sie über die Rüstung. Seinen Umhang zog er ebenfalls über und den Helm verstaute er in seinem Gepäck.
"Da fällt er trotzdem auf, willst du ihn mir nicht einfach geben, ich werde auf ihn aufpassen."
Das klang logisch, also gab Joro den Helm an Dinin weiter. Dabei betrachtete er den Drow.
"Du wirst hier draußen bleiben?"
"Ich sehe zu, daß ich ungesehen in die Stadt komme und auf dem Laufenden bleibe, was mit dir geschieht. Wenn ich mich da offen zeige, bin ich schneller tot, als du 'Ball' sagen kannst."
"Gut. Dinin? Ich möchte dir danken, daß du mitgekommen bist. Das gibt mir ein großes Gefühl von Sicherheit."
Der Drow machte eine finstere Miene.
"Das ist im Zweifelsfall weniger hilfreich, als du dir das denkst. Celestus hat das nicht umsonst gesagt. Man muß kein Gott sein, um zu wissen, daß hierzulande ein Drow in einer Menschenstadt einen ziemlich kleinen Aktionsradius hat."
"Trotzdem danke."
"Ist schon recht. Machs gut und paß auf, daß du nicht in Schwierigkeiten gerätst."
"Du auch."

Sie trennten sich und seit langer Zeit war Joro einmal wieder ganz alleine unterwegs. Das fühlte sich irgendwie komisch an, aber die Wichtigkeit seiner Mission in Bargum mußte hoch sein, wenn ihn sein Gott persönlich darum gekümmert hatte, daß er dort hinging.
Bargum hatte nichts von seinem Äußeren verloren, schon auf dem Weg hin zum Haupttor sah er viele Menschen in beiden Richtungen hindurchströmen. Er setzte seine Maske auf und zog die Kapuze des Piwafwi über den Kopf.
Als er sich dem Tor näherte, konnte er sich einen Blick in Richtung seines alten Friedhofes nicht verkneifen. Es machte ihn sehr betroffen, als er aus der Ferne erkennen konnte, daß die Hütte und der Zaun niedergerissen waren. Mehr wollte er gar nicht sehen, es hätte ihn nur traurig und ziemlich wütend gemacht.

Als er ans Tor kam, verbeugten sich beide Wachen tief vor ihm, was er mit einem Nicken quittierte. Er trat hindurch und in die Stadt hinein.
Eigentlich hatte Joro das Innenleben von Bargum niemals zu Gesicht bekommen, sondern war nur Tag für Tag auf dem Gnadenacker von den Bürgern besucht worden, die ihn als Bezahlung für die Begräbnisse mit allem versorgten, was er brauchte. Den Rest hatte er sich von reisenden Händlern, die kurz bei ihm anhielten und fragten, ob er etwas kaufen wolle, besorgt.
Also betrat er hier sozusagen Neuland und war von der Enge der Stadt erstaunt.
Natürlich hatte er auch auf seiner halbjährigen Wanderschaft durch Daishan ein paar kleinere Städte gesehen, aber diese hier war größer als alles, was er in seinem Leben gesehen hatte. Dabei war er sich darüber im Klaren, daß Daishan nach Aussagen diverser Quellen für eine Stadt sogar eher klein sein mußte. Wieviele Menschen hier wohl lebten? Zweitausend, vielleicht viertausend? Mit derartigen Zahlen konnte er nichts anfangen, für ihn war der Zug von fast 350 Duergar schon wie eine Völkerwanderung gewesen.
Das hier überstieg den Zug der Dunkelzwerge bei weitem. Überall war Leben, in den Gassen tummelten sich geschäftigte Bürger, Hunde, Pferde, Kutschen, Kinder spielten zwischen den Häusern. Ob man in Bargum wohl schon von der Bedrohung durch die Legion wußte?
Er sah sich um und war sich nicht sicher, wohin er gehen sollte. Vielleicht auf den Marktplatz, oder gar gleich in das Kloster?
Die Stimme in seinem Kopf begann zu sprechen.
"Gut zu sehen, daß du in einem Stück angekommen bist, mein Sohn. Du wirst schon bald verstehen, warum du hier bist. Gehe in die Mitte der Stadt, zum Stadtfürstenschloß."
Joro folgte der Hauptstraße weiter hinein in das Gedränge, wobei er aber niemals mit einem Menschen zusammenstieß, da jeder sich bemühte, ihm Platz zu machen. Vor sich konnte er bald einen Prachtbau ausmachen, den er für das Schloß hielt.
Ein Passant, den er ansprach, nickte eifrig, also war er auf dem richtigen Wege.
Auf dem Platz vor dem Schloß wurde gerade ein Markt abgehalten, überall standen Stände, an denen Händler alle möglichen Waren feilboten. Aber das interessierte Joro nur wenig, da er vielmehr an seiner Bestimmung hier interessiert war.
Die Händler hielten sich mit gehörigem Respekt davon ab, ihn zu bedrängen, so wie sie es mit anderen potentiellen Käufern taten, obwohl er merkte, daß viele von ihnen geradezu wild darauf waren, ihm etwas zu verkaufen. Vermutlich hatte das mit Prestige zu tun, wenn ein Celestuspriester bei ihnen etwas kaufte, aber das war ihm schlichtweg zu albern, als es auszuprobieren.
Als er sich dem Schloß näherte, konnte er ein interessantes Plakat erkennen, das am Tor angenagelt war.

Darauf stand in großen kunstvollen Lettern:

Bürger von Bargum!
Nach dem gewaltsamen Ableben unseres geliebten und verehrten Erzbischofes ist es an der Zeit, daß wir uns einen neuen erwählen. Die Zeiten sind hart und mit dem Krieg, der im Süden aufzieht, muß die vereinte Kirche des Celestus stärker denn je zusammenhalten.
So findet euch in drei Tagen hier auf dem Platz vor dem Schlosse unseres werten Fürsten Olgerich ein, auf daß wir ein neues Oberhaupt unserer geliebten Kirche erwählen werden, um dem Herren der Toten zu dienen und seine Botschaft des Friedens in die Welt zu tragen.

Darunter stand noch in recht kleinen Buchstaben:

Die Beteiligung an der Wahl setzt eine Gebühr von zehn Goldtalern als Spende an die Kirche voraus.

Joro ignorierte das Grunzen und Toben in den Tiefen seines Kopfes, da er bereits wußte, was sein Gott von derlei Gebahren hielt, stattdessen sprach er eine der Wachen vor dem Tor an, die die ganze Zeit über bereits ihren Blick ihm gegenüber senkten.
"Sagt, werter Herr, wann wurde dieser Aufruf an das Tor geheftet, ich komme gerade von einer langen Reise in die Stadt."
"Es wurde vorgestern angehängt, Euer Ehrwürden."
"Ich bin nur ein einfacher Totengräber."
"Eine wahrlich imposante Erscheinung, Herr Totengräber, äh, Ehrwürden."
Der Titel verwirrte ihn, das hatte er schon damals, als er vor Bargum auf Pentos getroffen war.
"Also vorgestern, sagt Ihr?"
"Ganz genau, Ehrwürden."
"Ich danke Euch, ich werde mich auf den Weg ins Kloster machen."
"Der Dank ist auf meiner Seite, Ehrwürden."

Er nahm allen Mut, den er hatte, zusammen und machte sich auf den Weg, die steile Straße hinauf auf den Felsen, wo der große Steinbau irgendwie grimmig auf ihn zu warten schien.

Die Tore des Klosters waren aus schwarzem Eisen, auf sie war die große, rote Sichel des Celestus gemalt. Davor standen etwa zehn Soldaten, alle in Plattenpanzer gerüstet, und hielten eine Menge von Bettlern und ähnlich abgerissenen Gestalten davon ab, sich ihnen weiter zu nähern.
Der Offizier, den Joro an seinem größeren Helmbusch erkannte, brüllte dabei herum wie ein Stier, daß sie sich vom Acker machen sollten, weil es sonst etwas setzen würde.
Als er den Priester den Weg hochkommen sah, veränderte sich seine Miene sofort zur sklavischen Unterwürfigkeit und er deutete den Soldaten, eine Gasse in die Menge zu treiben.
Mit ziemlicher Brutalität schoben diese die verlumpten Armen aus dem Weg und der Offizier verbeugte sich tief vor Joro.
Dieser hatte einige Wut im Bauch, als er sah, wie mit den Menschen dort umgegangen wurde.
"Was wollen diese Menschen, Offizier?"
"Sie kommen jeden Tag her und betteln um Essen und Kleidung."
"Und bekommen sie die auch?"
Der Mann, dessen Gesicht ziemlich fett war und von der Brüllerei leicht rötlich angelaufen war, sah ihn verständnislos an.
"Nein, natürlich nicht. Wir sind eine Kirche und nicht die Armenversorgung."
Joro reichte es.
"Du und du!" Er zeigte auf zwei der Soldaten.
Diese salutierten sofort. Er ging auf einen von ihnen zu und drückte ihm eine nicht unerhebliche Zahl an Münzen in die Hand.
"Ihr beiden geht jetzt sofort herunter zum Markt und kauft für das Geld Essen, das ihr gerecht und in gleichen Teilen an diese armen Menschen verteilt, habt ihr das verstanden?"
Der Soldat vor ihm war verwirrt, aber der Offizier brüllte ihn an.
"Hörst du nicht, was der Priester gesagt hat?! Seht zu, daß ihr Land gewinnt, ihr beiden!!"
"Und ich werde mich erkundigen, ob ihr auch wirklich das ganze Geld für Essen ausgegeben habt und dieses den Armen gabt. Und Celestus stehe euch beiden bei, sollte das nicht der Fall sein!!" blökte Joro den beiden hinterher, die sich beeilten, so schnell es in Plattenrüstung ging, die steile Straße nach unten zu laufen.
Wieder an den Offizier gewandt sagte er:
"Ihr werdet ebenfalls Sorge tragen, daß sie diese Aufgabe gewissenhaft ausführen, habt Ihr gehört?"
"Ja, Ehrwürden, gewiß, Ehrwürden." Dabei verbeugte er sich mehrere Male so heftig, daß ihm fast der Helm vom Kopfe fiel. Joro streckte sich, um möglichst majestätisch zu wirken, und ging dann auf den kleinen Einlaß in den Toren zu, den andere Soldaten bereits für ihn geöffnet hatten.

Hinter den Toren führte eine kleine Halle in einen gewaltigen Innenhof, in dem alle möglichen Männer in schwarzen Roben damit beschäftigt waren, sinnlos hin und her zu laufen. Zumindest wirkte das so. Joro sah sich einigermaßen hilflos um, da er nicht genau wußte, was er als nächstes tun sollte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als ein hagerer Mann mit kahlem Schädel, vermutlich so um die Fünfzig, auf ihn zukam und sich freundlich lächelnd vor ihm verbeugte.
"Seid mir gegrüßt, Bruder. Seid ihr ein Pilger?"
"Nein, ich bin ein Totengräber, ich bin extra zur Wahl des neuen Bischofs angereist." Es war ein Schuß ins Blaue gewesen, es hätte gut sein können, daß er sich im nächsten Moment in Schmerzen gewunden hätte, aber die Rune verzieh ihm diesen Ausspruch und wertete ihn als die reine Wahrheit. Genaugenommen war er das ja auch, obgleich er beim Aufbruch noch nichts davon gewußt hatte.
"Ah, dann werde ich Euch in die Gastquartiere führen. Wie kommt es, daß ihr die Maske auch des Tages tragt?"
"Das kann ich leider nicht sagen, wenn Ihr verzeiht."
"Ich verstehe... ein Gelübde, wie mir scheint. Da seid Ihr nicht der Einzige hier." Der hagere Mönch deutete ihm, zu folgen.
Es ging durch einen Durchgang in einen kleineren Innenhof, um den ringsum in zwei Etagen
Türen eingelassen waren.
"Hmmm", der Mann kratzte sich am Hals, "ich glaube, die 24 ist noch frei."
Er bewegte sich zielstrebig auf eine der Türen im Erdgeschoß zu und öffnete sie.
Dahinter war ein äußerst kleiner und kärglich eingerichteter Raum, in den er ihn freundlich wies. Das Zimmer hatte kaum Platz für die Pritsche und den Schreibpult, den es beherbergte.
"Ruht Euch aus, Bruder, zur sechsten Stunde wird in der Halle dort am Nordende das Pilgermahl ausgegeben", er wies auf eine Seite des Hofes, "und natürlich muß ich euch nicht sagen, daß wir um Mitternacht einen Gottesdienst zur bevorstehenden Wahl abhalten werden."
"Selbstredend", erwiderte Joro trocken.
"Jajaja..." Der Mönch verließ den Raum und der junge Mann blieb allein zurück.

"Und nun?" fragte er die Stimme in seinem Kopf.
"Jetzt heißt es warten, bis der rechte Zeitpunkt kommt."
"Ich fühle mich wie jemand, der mit einer Schweinehälfte vor einem hungrigen Wolf herumtanzt."
"Du kannst dich beruhigen, du bist hier in größerer Sicherheit, als du denkst."
"Es ist ja schon erstaunlich, daß er weder nach einem Beweis für meine tatsächliche Priesterschaft, noch meinem Namen gefragt hat."
"Ich habe dir schon, soweit ich mich erinnere, mehrfach gesagt, daß es in dieser Kirche an allen Ecken und Enden fault, wie auf einem Misthaufen. Sie sind so arrogant, daß sie sicher sind, daß es keiner wagen würde, sich als Priester auszugeben, der keiner ist. Auf so ein Vergehen steht hier die sofortigen Todesstrafe, aber kontrolliert wird das niemals."
"Das heißt mit anderen Worten, daß es hier eine ganze Menge Priester gibt, die keine sind?"
Celestus’ Lachen war jenseits von Bitterkeit.
"Anders herum wird ein Schuh daraus, Joro."
Dem Priester dämmerte es allmählich.
"So wenige?"
"Wenn ich mich hier so umsehe, sind es vielleicht drei oder vier, dich eingeschlossen."
"Au weia."
"So kann man es auch sagen."
"Aber hier müssen doch ohne zu übertreiben mindestens fünfhundert Menschen im Kloster sein."
"Ich habe niemals etwas anderes behauptet."
Joro war ehrlich verblüfft.
"Und ich soll mich jetzt zur Wahl stellen? Ist das dein Ernst?"
"Habe ich dergleichen von dir verlangt?"
"Nein, stimmt, das hast du nicht."
"Aber du findest die Idee verlockend, nicht wahr?"
"Ich weiß ja noch nicht einmal, was ein Bischof tun muß. Wahrscheinlich den ganzen Tag in irgendeinem Saal hocken und Audienzen geben."
"Bist du der Ansicht, daß das die Aufgabe eines Bischofs sein sollte?"
"Was weiß ich denn? Ich habe doch schon gesagt, daß ich keine Ahnung davon habe, was ein Bischof so tut."
Celestus seufzte resignierend. Dann versuchte er es anders.
"Also. Wenn du dir eine Kirche vorstellst wie eine große Familie. Die Priester wie die Eltern, die Gläubigen wie die Kinder und den Bischof wie einen Hausvorstand, sozusagen den Großvater der Familie... Kannst du mir soweit folgen?"
"Ja."
"Dann stelle ich dir die Frage: Was glaubst du, was der Großvater in dieser Familie tun sollte."
Joro überlegte, welche Rolle sein eigener Großvater auf dem Bauernhof seiner Eltern gehabt hatte. Eigentlich hatte dieser, obwohl sein Vater die Zucht leitete, ein gewichtiges Wort im Haus gehabt und wenn jemand einen Rat brauchte, das schloß auch den Vater mit ein, dann gingen sie immer als Erstes zu dem alten Mann und fragten ihn. Mehr noch. Wenn sein Vater zum Beispiel einen größeren Kauf tätigen wollte, zum Beispiel einen neuen Zuchbullen zu kaufen oder einen alten zu verkaufen, war der Großvater derjenige, der das letzte Wort hatte.
Aber das war in diesem Falle darauf zu begründen, daß Joros Großvater einfach eine Menge an Erfahrung und Weisheit mit sich brachte und daher eine unangetastete Autorität genoß.
"Ich bin gerade einmal neunzehn Jahre alt, Celestus. Das befähigt mich wohl kaum, eine Kirche zu leiten, oder?"
"Die Frage lautet weniger, ob du 'fähig' bist, sondern ob du dich dessen gewachsen fühlst."
"Ich bin seit einem Vierteljahr ein Priester und ich bin garantiert nicht alt genug."
"Was für einen Stellenwert hat denn das Alter für dich?"
"Man sagt doch immer, daß mit dem Alter die Weisheit kommt..."
"Das ist ein reichlich dämliches Sprichwort. Weisheit entspringt dem guten Herzen und dem gerechten Geist und nicht irgendwelcher Ziffern in der Zahl deines Alters." Celestus klang ein bißchen ärgerlich.
"Gebildet bin ich auch nicht gerade. Ich kann froh sein, daß ich lesen und schreiben kann. Und daß ich dazu in der Lage bin, meinen grauenhaften Akzent zu vermeiden, wenn ich mit Leuten von außerhalb spreche."
"Sehe ich das falsch, oder hast du keine sonderlich hohe Meinung von dir?"
"Ich versuche nur, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben."
"Nein, du wirfst dich flach hin, das ist ein großer Unterschied. Ich denke heute noch oft genug darüber nach, daß der Sohn eines Rinderzüchters mir gegenüber das Wort 'aszendiert' in den Mund, Verzeihung, in den Geist nahm. Ungebildet würde ich dich nicht gerade nennen."
Joro gab ihm innerlich durchaus ein bißchen Recht. Aber das, was er wußte, hatte er allein den Geschichten seines Großvaters zu verdanken und keiner echten schulischen Ausbildung. In seinem Heimatdorf hatte es ja nicht einmal eine Schule gegeben... Der Zweifel blieb.
"Ich weiß nicht recht, Celestus..."
"Wie ich bereits sagte: ich verlange hier überhaupt gar nichts von dir. Es ist deine Entscheidung, wie du mit den Vorgängen hier umgehst."

Die Stimme verstummte und gab Joro Zeit, nachzudenken, was auf ihn zukam und auch ein Bißchen auszuruhen. Als sich der Tag langsam dem Ende neigte, hörte er draußen jemanden rufen.
"Verzeiht, ihr heiligen Männer, ich suche den, der uns vorhin an den Toren die Ehre seiner Präsenz erwies."
Zunächst zögerte er, ob er hinausgehen sollte, aber der Trieb, herauszufinden, was geschehen war, brachte ihn dazu, doch durch die hölzerne Tür zu treten. Joro öffnete sie und trat heraus. Draußen stand der dickliche Offizier und lehnte sich, erschöpft vom vielen Brüllen, keuchend an einer Säule, hatte seinen buschigen Helm abgenommen und wischte sich mit einem Sacktuch den Schweiß aus dem Gesicht. Als er ihn erblickte, stopfte er sich den Helm, ziemlich schief, schnell wieder auf den dicken Schädel und salutierte.
"Ich melde, daß ich Euren Befehl ausgeführt habe, Ehrwürden. Die Armen wurden gespeist und haben einen Lobgesang auf Eure Person angestimmt."
Joro wollte erst erwidern, daß er es besser gefunden hätte, wenn sie Celestus gepriesen hätten, aber er wollte mit dem Büttel keine Diskussionen anfangen. Stattdessen machte er das, was er für eine gönnerhafte Geste hielt und gebot dem Offizier, wieder zu gehen.
Dieser hastete aus dem Hof zurück an seinen Platz vor dem Tor und Joro war wieder allein in diesem Bienenstock, der sich Kloster nannte.
Hinter ihm klatschte jemand betont langsam Beifall.
Er drehte sich um und sah Jan dort stehen. Die seltsame Silhouette mit dem breiten Torso und den dürren Gliedmaßen erkannte er sofort wieder.
"Ich gratuliere, Herr Totengräber, damit habt Ihr wahrlich einen Volltreffer gelandet. Euer Name ist in aller Munde, wobei... Leider nur unter den Armen und die haben hier in der Stadt keine Stimme, wie Euch unzweifelhaft schon aufgefallen sein dürfte. Aber vielleicht macht es Euch ja ein warmes Herz, ein paar armen Teufeln einen weiteren Tag in ihrer Trübsal geschenkt zu haben."
"Ihr seid ein großer Spötter, Jan. Woher diese Bitterkeit?"
Jan antwortete sehr leise.
"Weil diese Kirche nur noch ein Schatten dessen ist, was sie damals war, als ich noch als Priester durch die Lande zog."
'Wer ist er wirklich?' fragte Joro in seinem Kopf.
Celestus schwieg.
'Du willst mir nicht antworten, nicht wahr? Du bist es aber nicht, oder?'
Der Gott sagte kein Wort und der Pilger schnaubte verächtlich.
"Du redest mit Ihm, nicht wahr?"
"Wie bitte?"
"Du weißt, wen ich meine." Jan hielt kurz inne, dann schüttelte er den Kopf, als Joro nichts sagte. "Du brauchst nicht zu antworten. Ich sehe mehr und verstehe mehr, als die meisten denken. Nur traut es mir keiner zu."
"Euer Verhalten und Eure Worte verwundern mich, Jan... Ehrlich gesagt, weiß ich immernoch nicht, wen ich vor mir habe, denn Ihr scheint mir mehr zu sein, als ein einfacher Pilger."
Jan verschränkte die Arme vor seiner Brust und die rötlichen Punkte unter seiner Maske, die er ebenfalls, genau wie Joro, nicht abgelegt hatte, schimmerten verschmitzt.
"Von 'einfach' war doch niemals die Rede, oder erinnert Ihr Euch daran, daß ich das je gesagt hätte."
"Nein. Ein Schlitzohr seid Ihr auf alle Fälle."
"Ich halte nur nichts davon, jedem jederzeit alle Informationen zu geben, die sie über mich gewinnen können. Das ist besser als Daishani, denn Lügen können wir ja bekanntlich nicht."
Joro nickte. In diesen Worten schwang durchaus eine intelligente Idee mit, obwohl er das auch irgendwie unehrlich und halb gelogen fand. Aber er hatte sich auch selbst schon oft genug dabei ertappt, daß er in gewissen Situationen lieber den Mund hielt, als vielleicht zu viel zu sagen.
"Ihr denkt viel nach, das gefällt mir an Euch, Totengräber."
"Danke."
"Wen werdet ihr morgen wählen?" Jan ließ einmal mehr sein röchelndes Lachen hören, offenbar hatte er gerade einen Witz gemacht.
"Was war an der Frage so lustig?"
"Oh, ihr wißt nicht einmal Genaueres von der Wahl? Ich dachte, Ihr seiet extra dafür angereist."
"Der Zweck meiner Reise war mir zu deren Beginn noch nicht ganz klar."
"Ein äußerst fragwürdiger Grund, auf eine Reise zu gehen, findet Ihr nicht auch?"
Joro schüttelte den Kopf.
"Nein, die Frage war nicht, warum ich die Reise mache, sondern daß ich sie mache."
"Interessant. Eine Eingebung von ganz oben, was?" Jan erwartete gar keine Antwort, das machte der Ton seiner Frage deutlich.
"Also was war nun der Grund für Euer Lachen?"
"Es gibt nur einen Kandidaten."
Das verblüffte den jungen Priester.
"Wie, nur einen? Was für einen Sinn hat denn die Wahl dann überhaupt?"
"Prestigegewinn für diejenigen, die das Geld bezahlen, um für den einen Kandidaten ihre Stimme abzugeben. Keiner der reichen Bürger wird auch nur einen Augenblick daran denken, sich das entgehen zu lassen."
"Warum gibt es denn keine anderen Kandidaten?"
Jan sprach wieder sehr leise, als er antwortete:
"Weil hier eine einzige Vetternwirtschaft herrscht und jetzt, nach dem gewaltsamen Tod des alten Bischofs, rückt sein ehemaliger Ordinarius auf seinen Platz nach."
"Justin?!"
Der Pilger schaute sich gehetzt um und legte seinen Zeigefinger über das Mundloch seiner Maske.
"Ihr solltet zusehen, daß Ihr kein Aufsehen erregt. Man schätzt hier keine Leute, die Fragen stellen, versteht ihr?"
Doch dann legte er den Kopf schief.
"Ihr kennt Justin?"
"Ich... bin ihm begegnet, ja."
"An Eurer Reaktion auf seinen Namen lese ich Eure Einstellung bezüglich seiner Person ab. Wir teilen diese."
Joro dachte nach und versuchte sich so gut er konnte an den hageren, arroganten Mann zu erinnern, der ihn vor einigen Wochen versucht hatte, herumzukommandieren.
"Außer ihm hat sich keiner zur Wahl gestellt?"
"Nein. Er ist der Einzige, der in Frage kam. Zumindest nach der Meinung der Kleriker hier im Kloster."
"Durfte sich also kein anderer wählen lassen?"
"Oh doch, jeder Priester der Kirche könnte sich aufstellen lassen. Aber es wagt eben niemand, sich gegen Justin zu stellen. Der Gesichtsverlust wäre immens."
"Aber wenn doch der Bischof von den Bürgern Bargums gewählt wird, dann sollten die auch entscheiden, wen sie haben wollen, oder klingt das völlig unlogisch?"
Jan lachte leise.
"Ihr habt einen scharfen Verstand, Totengräber, und nein, ich gebe Euch völlig recht, das wäre durchaus sinnvoll."
"Dann sollten sie auch zusehen, daß derjenige gewählt wird, der von den Menschen gewollt wird, und nicht der, den sich irgendwelche alten Männer in einem Kloster für sich aussuchen."
"Hier geht es um Geld, Totengräber. Um nichts anderes."
Joro grunzte nur und ließ den Kopf hängen. Das Ganze war ihm zu verworren, als daß er es hätte in seinem Kopf speichern können.
"Das wurmt Euch, nicht wahr?"
"Ja, das tut es. Ich wünschte es gäbe jemanden, der etwas unternimmt."
"Das wünschen hier viele." Jan sah sich um.
"Meint Ihr das ernst?"
"Würde ich Euch anlügen?" Der Pilger machte ein Geräusch, das Joro für den Versuch eines Kicherns hielt. "Natürlich gibt es unglaublich viele hier, die sich die alte Kirche zurückwünschen. Aber die sind nicht in diesem Kloster, die laufen da unten in der Stadt herum."
Hinter ihnen erscholl eine Glocke und beide drehten sich herum. Ein dicker Mönch mit Vollbart stand auf einem Podest und läutete zum Essen.
"Laßt es Euch schmecken, Totengräber, ich werde jetzt ein bißchen in der Stadt umherstreifen und mich dort umsehen."
"Ihr eßt nichts?"
"Ich weigere mich, etwas zu essen, was mit dem Herzblut der Armen erkauft wurde. Nehmt es Euch aber nicht allzusehr zu Herzen, wenn Ihr es nicht eßt, bekommen es nachher die Mastschweine des Klosters."
Der Pilger ging durch den Durchgang zum großen Innenhof davon.
 

© Matthias Wruck
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
Und schon geht es hier weiter zum 33. Kapitel...

.
www.drachental.de