Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 37

Als Joro erwachte, schien die Sonne schon stark durch das kleine Butzenfenster am Kopfende seines Bettes.
Mit immernoch müden und schmerzenden Knochen rutschte er von der Pritsche auf die Füße und band sich die Haare mit einem Lederband, das er für diese Zwecke bei sich trug, zusammen.
Dann hielt er inne und schaute aus dem Fenster.
Erzbischof von Bargum. Ausgerechnet er. Und dann auch noch alle Leute aus dem Kloster geworfen. Mit dem nüchternen Geist eines Menschen kurz nach dem Aufstehen wirkte das Ganze wie ein schlechter Witz. Nun ja, der Tag würde zeigen, wie es weiterging.
Der Hof war völlig leer, was ja anhand der Tatsache, daß keiner mehr hier war, der dort hätte herumlaufen konnte, nicht verwunderte.
Ganz leer stimmte allerdings nicht. Auf einer Bank, die in der Mitte stand, saß Dinin und schnitzte mit einem seiner Dolche an einem Stück Holz herum. Als er Joro aus der Tür treten sah, hob er den Kopf und lächelte ihn an.
"Na, ausgeschlafen?"
"Geht so, mir tut immernoch alles weh von gestern."
"Es hat ja auch eine ganze Weile gedauert, bis du endlich ins Bett gekommen bist. Ich bin schon erleichtert, daß du nicht wieder zusammengebrochen bist, wie letzte Woche."
"Ja, das war ein denkwürdiger Tag..."
Der Drow stand auf und legte das Holzstück hinter sich auf die Bank.
"Das kann man wohl sagen." Er steckte den Dolch in die Scheide und streckte sich. "Albrecht und Toldor haben sich noch bis zum Mittag unterhalten, bis der alte Mann zu müde wurde. Ich glaube, daß die beiden sehr gut miteinander auskommen."
"Versteh mich nicht falsch, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß irgendjemand mit Albrecht 'gut auskommt'. Oder anders herum."
Dinin lachte. "Doch, die beiden haben, wie es mir scheint, in vielen Hinsichten sehr ähnliche Meinungen. Ich habe nicht einmal die Hälfte von dem, was sie geredet haben, verstanden, deshalb haben Olgerich und ich irgendwann angefangen über Frauen und Bier zu reden. Da konnte ich wenigstens etwas beisteuern."
"Stellt sich die Frage, über was von beidem du mehr weißt..."
Irgendwie schaute Dinin kurz gekränkt, aber er rappelte sich wieder auf.
"Das ignoriere ich jetzt einfach mal. Albrecht hat mir gesagt, daß ich dich, sobald du wach bist, in die Schreibstube des Bischofs bringen soll, er wird dann dort warten."
"Wie spät ist es denn? Anhand der Sonne sollte es fast Abend sein."
"Ja, sie geht bald unter."
"Na, dann gehen wir mal, oder?"
"Jupp."

Die Schreibstube war einen Gang entlang hinter der linken Tür des Thronsaales im Hauptgebäude. Durch eine offene Tür im Hintergrund sah er ein großes Zimmer, in dem hinter einem gewaltigen Schreibtisch ein großer Sessel stand. Das mußte der Raum des Bischofs sein.
In der Stube selbst stand Albrecht hinter einem Lesepult und musterte die Seiten eines alten Buches, das in Schweinsleder gebunden war.
Als Dinin und Joro eintraten, blickte er auf und winkte sie beide wortlos zu sich.
"Ich habe heute den ganzen Tag mein eigenes Werk mit dem verglichen, was die Kirche heutzutage so lehrt. Es erübrigt sich wohl, zu sagen, daß es kaum noch irgendeinen Satz gibt, der dem Original entspricht."
Joro war erstaunt.
"Das kann ich mir fast gar nicht vorstellen. In den knapp 650 Jahren haben sie alles umgestoßen, was du dir einmals ausgedacht hast?"
"So könnte man sagen, ja. Interessant dabei ist, daß die meisten Änderungen allerdings erst in den letzten dreihundert Jahren geschahen. Bis dahin war noch alles mehr oder minder im Urzustand. Da muß es einen bestimmten Bischof gegeben haben, der alles durcheinandergebracht hat. Leider kann ich seinen Namen nirgendwo finden, sonst würde ich sein Grab suchen, seine Leiche rausholen und seinen Schädel zerbröseln."
"Für jemanden ohne Gefühle hört sich das ganz schön nach Rache an. Und Celestus würde das auch nicht gefallen."
Albrecht zuckte mit den Achseln.
"Laß mich doch wenigstens ab und an so tun, als sei ich noch ein Mensch."
Joro war das zu albern, zumal er wußte, daß es noch nicht einmal lustig gemeint, sondern mit Sicherheit nur eine schlechte Angewohnheit Albrechts war. Deshalb wandte er sich lieber dem Buch zu und studierte ein paar Zeilen.
Die Schrift war schwer zu lesen, sie war so verschnörkelt, daß er kaum ein Wort beim ersten Lesen erkennen konnte und die Sätze waren so verschachtelt und kompliziert, daß ihm der Sinn des Ganzen verborgen blieb. Er rümpfte die Nase.
"Wie soll ein normaler Mensch denn so etwas verstehen. Daran muß auch gearbeitet werden."
Albrecht deutete stumm auf ein anderes Buch, das auf dem Ständer daneben lag.
Es war unglaublich alt und an den Rändern bröckelte das Leder des Einbands auseinander.
In einer klaren Handschrift standen dort einfache Lehrsätze, wie zum Beispiel "VIII: Du sollst den Untoten jagen, wenn es sein muß bis zu seinem Ruheort, und seine Existenz beenden, denn sie ist dem Herren zuwider."
Joro nickte. "Ja, so stelle ich mir das vor."
"Und das ist genau das, was ich damals geschrieben habe. Verstehst du jetzt, was ich meinte, als ich sagte, daß in den neueren Schriften kaum noch etwas wiederzuerkennen ist?"
"Wie, Moment... Das ist dein Original?"
Albrecht sah ihn an.
"Ach was."
Der neue Bischof wurde rot und versuchte schnell das Thema zu wechseln.
"Gut, äh, dann werde ich mir das jetzt einmal nehmen und mich da drüben an den Schreibtisch setzen, um es zu studieren."
"Paß auf, daß du mit deinen grobschlächtigen Pfoten nicht noch den Einband zerstörst."

Joro setzte sich hinter den gewaltigen Schreibtisch aus Ebenholz, der genauso pechschwarz war wie der Rest des Raumes, und legte das große Buch vorsichtig vor sich auf den Tisch. Hinter diesem Möbelstück fühlte er sich irgendwie wichtig, was ihn zu spontanem Grinsen brachte. Er klappte das Buch auf und begann zu lesen.

Dinin und Albrecht standen immernoch in der Schreibstube und redeten leise miteinander, aber Joro bekam davon schon gar nichts mehr mit. Nach einer kleinen Einleitung, in der sich Albrecht als Bischof und Autor vorstellte, begann ziemlich schnell das eigentliche Buch.
Es war in Kapitel gegliedert, die sich mit Dingen befaßten wie 'Rechte und Pflichten', 'Grabpflege' oder 'Umgang mit Reich und Arm'.
Geradezu hungrig nach Wissen verschlang er Satz um Satz und schon nach dem ersten Kapitel bemerkte er, daß ihm etwas fehlte.
"Dinin? Kannst du mal kommen?"
"Ja, was ist denn?"
"Kannst du mir eine Feder, ein Tintenfaß und ein paar Bögen Papier besorgen? Ich kann hier nirgends welche finden und ich möchte mir ein paar Notizen machen."
"Ist recht, Moment, hier drüben in der Stube steht alles voll damit."
"Danke."
Joro studierte den Anfang des nächsten Kapitels und bemerkte immer mehr, wie gut es tat, endlich einmal wirklich schwarz auf weiß zu sehen, worum es bei seinem Beruf eigentlich ging. Derweil kam Dinin wieder und legte ihm die gewünschten Gegenstände auf einem dafür gedachten Holzbrett mit Aussparungen auf den Tisch, neben das Buch.
"Sag mal, Joro?"
"Hm, was?"
"Ich will dich ja nicht stören, aber... hast du die Dose von Balthasar dabei?"
Joro grinste und deutete auf seine dicke Oberlippe.
"Was denkst du denn, hier."
Dinin nahm sich eine kleine Prise und trottete dann zufrieden lächelnd wieder zu Albrecht herüber.

Als er das nächste Mal aufsah, merkte er, daß er wohl die Zeit vergessen haben mußte, denn die Sonne war schon untergegangen. Im Raum brannten ein paar Öllampen, die mit Spiegeln dafür sorgten, daß der Raum in angenehmes Licht getaucht wurde. Albrecht stand allein vor dem Podest und studierte immernoch das Buch, das er schon zuvor betrachtet hatte, nur daß er eine große Zahl an Seiten weiter war. Als er bemerkte, daß Joro zu ihm hersah, schaute er ihn an.
"Und? Bist du mit dem, was du liest, zufrieden, Bischof Macun?"
Joro zögerte.
"Mit dem meisten, ja."
Albrecht legte den Kopf auf die Seite.
"Ach, mit dem meisten davon? Aber nicht mit Allem?"
"Naja, was war da... Warte mal..." Joro wühlte in den Zetteln, die er beschrieben hatte.
"Achja, hier! 'Wenn du gen Orridin gehst, siehe zu, daß du den Norden, den Süden, den Westen und den Osten meidest.' Warum hast du nicht einfach geschrieben, daß man nicht nach Orridin gehen soll? Und vor allem, warum soll man nicht nach Orridin gehen?"
"Warst du schon einmal in Orridin?"
"Nein."
"Dann hast du auch keine Ahnung, warum ich das geschrieben habe. In Orridin ist keiner willkommen, der nicht der dortigen Religion angehört. Und einen Totengräber werden sie im besten Falle verjagen, im schlimmsten aber jedoch sofort töten. Daher habe ich als Warnung einen möglichst eindringlichen Satz dort hingeschrieben. Hast du vielleicht auch inhaltliche Kritik?"
"Hmmm, so weit, wie ich bisher gelesen habe, eigentlich nicht. Das, was ich bisher gelesen habe, gefällt mir sehr gut."
"Na, da fühle ich mich aber geehrt."
Joro senkte den Blick wieder in den Wälzer. Dabei fiel ihm auf, daß er das Buch schon halb durch hatte, obwohl es bestimmt zweihundert Seiten haben mußte.
Es dauerte wieder einige gelesene Seiten, da ging die Tür der Schreibstube auf und der Geruch von Essen wehte herein.
Franz schob einen kleinen Wagen mit einigen Tellern und Schüsseln herein.
"Ich habe Euch etwas zu Essen gebracht, Eminenz. Euer Dunkelelfenfreund hat mir gesagt, daß Ihr wohl noch eine Weile in eurem Arbeitszimmer verbringen werdet, daher habe ich es nicht in den Speisesaal gebracht."
Joro war freudig überrascht.
"Das ist wunderbar, Franz, stell den Wagen doch einfach hier neben meinen Schreibtisch."
"Gerne."
Der dicke Riese schob den Wagen mit einer Grazilität, die man ihm nicht zugetraut hatte, durch die Pulte und stellte ihn dann neben den großen Tisch aus Ebenholz.
"Wenn Ihr noch etwas benötigt, sagt der Wache bescheid. Sie wird mich dann davon unterrichten."
Der Wagen war so vollgestopft mit Essen, daß er sich kaum vorstellen konnte, für den Rest der Woche noch etwas zu brauchen, aber er nickte trotzdem.
"Danke, Franz."
Mit einer höflichen Geste verließ der Koch wieder den Raum.
"Albrecht?"
Der Leichnam sah zu ihm herüber.
"Was?"
"Du ißt niemals, nicht wahr?"
"Nein."
"Und schlafen mußt du auch nicht?"
"So wie ich das sehe hast du die Kapitel über Untote schon gelesen, es sei denn, du hast sie übersprungen."
"Nein, ich habe sie gelesen, aber es ist so komisch, sich das vorzustellen."
"Es ist so, wie es in dem Buch dort steht."
Joro kratzte sich am Kopf.
"Sag mal..."
"Ja?"
"Du mußt doch eine unglaubliche Langeweile haben..."
Albrecht schüttelte nur betont müde den Kopf.
"Spätestens, seit sich unsere Wege gekreuzt haben, nicht mehr."
"War das der Grund, warum du dich entschlossen hast, mir zu helfen?"
"Ich könnte jetzt "ja" sagen, aber das stimmt nicht ganz. Eher ist es die Tatsache, daß ich sehe, daß ich helfen kann, etwas zu dem zurückzuführen, was es sein soll."
Der Bischof mußte wieder nachdenken. An Pflichtgefühl konnte es nicht liegen, woran aber dann? Albrecht hatte seine Gedanken durchschaut.
"Es ist nicht die Frage, ob ich mich verbunden fühle oder nicht. Es ist schlicht und ergreifend nicht richtig, so wie es jetzt ist. Und ich habe einen nüchternen Drang, mein geistiges Eigentum zu verteidigen."
"Also so eine Art Gefühls-Ersatz."
"Wenn du es so nennen willst..."
Das reichte Joro erst einmal an Informationen und er widmete sich wieder dem Buch, während er sich gedankenverloren einen Hühnerschenkel vom Speisewagen nahm und begann daran zu nagen.
Albrechts Stimme kam aus dem Nebenraum.
"Wenn du mit deinen Fettfingern das Buch anfaßt, komme ich herüber und reiße dir in Stücken die Kehle auseinander."
Der Bischof mußte schlucken und nahm sich eine der Servietten vom Wagen, um damit seine Hände abputzen zu können, wenn er das Buch anfassen mußte und sagte artig: "Verstanden."

Es waren wohl wiederum ein paar Stunden vergangen, als Joro das Buch schließlich zuklappte, im Nebenzimmer stand Albrecht immernoch regungslos am Pult und studierte weiterhin die Schriften vor ihm. Ein Blick auf den Speisewagen, dessen Ladung natürlich mittlerweile kalt geworden war, zeigte dem Bischof, daß sein Hunger groß gewesen war. Er hatte eine ganz gehörige Menge davon während des Lesens gegessen, was allerdings nichts daran änderte, daß immernoch eine geradezu obszöne Masse an Lebensmitteln darauf lag.
Die Tür ging auf und Toldor kam herein. Joro sah freundlich in seine Richtung und bot ihm einen der Sessel vor dem Schreibtisch an.
"Danke, Euer Eminenz", der alte Mann ließ sich mühsam auf den Stuhl nieder. Dann sah er Joro interessiert an.
"Wie ich sehe, habt Ihr das Buch vor Euch. Wie weit seid Ihr denn mit seinem Inhalt?"
"Ich habe es durchgelesen. Und ich kann nur sagen, daß es sehr aufschlußreich war, immerhin wußte ich vorher praktisch gar nichts von alledem... Wollt Ihr etwas essen, Toldor?"
"Nein, danke. Franz und ich habe vorhin in der Messe gegessen, Euer Freund Dinin hat uns Gesellschaft geleistet. Er ist für einen Dunkelelfen eine ausgesprochen sympathische und lustige Person."
"Hattet Ihr früher schon einmal Kontakt mit Dunkelelfen?"
"Nun, wir sind hier in Daishan, Euer Eminenz..."
"Nein, das ist mir schon klar, aber das meinte ich auch nicht. Eigentlich dachte ich eher in puncto kennenlernen und nicht von ihnen überfallen zu werden."
"Die Ehre hatte ich vorher nicht, nein. Daher bin ich sehr positiv überrascht, daß Dinin ein derart umgänglicher Mensch, äh, Drow ist."
Joro grinste.
"Ihr habt ihn noch nicht erlebt, wenn er betrunken ist."
Toldor gab ein Lächeln zurück.
"Es deucht mich wie ein Wunder, daß Ihr tatsächlich mit ihm befreundet seid. Für einen Daishani ist das nicht gerade selbstverständlich."
Der Bischof machte ein sehr ernstes Gesicht.
"Ich würde ihm jederzeit mein Leben anvertrauen. Auf Dinin ist uneingeschränkt Verlaß. Das Selbe gilt auch für Nalfein, seinen Großcousin, oder die Hohepriesterin der Enklave."
"Dinin hat ein bißchen davon erzählt. Er schien sich zunächst nicht sicher, ob er nicht zu viel sagt, aber ich denke, daß er weiß, daß er hier unter Freunden ist."
"Von den Drow, die ich dort kennengelernt habe, hat er Menschen gegenüber wohl die offenste Einstellung. Die anderen sind eher distanziert."
"Ach?"
"Ihr werdet es kaum glauben, Toldor, aber die Drow in diesem Land, die nicht unter der Erde leben, haben unter den Jahrhunderten des Hasses zwischen den beiden Völkern noch mehr zu leiden, als wir Daishani. Sie sind mitnichten böse gesonnen, aber sie sehen halt genauso aus, wie ihre Vettern unter der Erde, und der durchschnittliche Mensch in diesem Land macht deshalb keinen Unterschied, wenn er auf einen von ihnen trifft."
Der alte Priester nickte langsam.
"Das leuchtet ein. Allerdings ist es dann umso erstaunlicher, daß sie Euch ins Vertrauen gezogen haben."
"Daran hatte Celestus nicht gerade wenig Anteil. Ohne ihn wäre das mit Sicherheit nicht geschehen."
Toldor griff seine Frage von vorher wieder auf.
"Und, was habt Ihr in diesem Buch alles gelesen, was Euch zusagt?"
"Ich bin im Großen und Ganzen sehr mit dem gesamte Inhalt zufrieden."
"Oh Freude! Jetzt kann ich endlich in Seligkeit sterben", kam es trocken aus dem Nebenraum.
Joro ignorierte den Leichnam und fuhr fort:
"Es gibt ein paar kleinere Passagen, an denen ich die Sprache noch ein wenig vereinfachen würde, aber die Lehren darin würde ich jederzeit unterschreiben."
Der alte Priester schien erfreut zu sein, das zu hören.
"Also hättet Ihr nichts dagegen, auf dieser Basis eine neue Kirche aufzubauen? Albrecht und ich haben das schon näher besprochen und wir sind auch beide der Ansicht, daß sich damit etwas machen ließe."
Im Nebenzimmer erscholl ein zustimmendes Grunzen.
"Ja, allerdings..."
"Allerdings?"
"Toldor, könntet Ihr mir versprechen, daß Ihr auf eurem Stuhl sitzen bleibt, egal, was gleich geschehen mag?"
Der alte Mann sah ihn fragend an, nickte dann aber.
Joro stand auf, ging zur Tür des Zimmers und schloß sie. Dann wandte er sich an Celestus.
'Kannst du vielleicht mal kurz kommen? Ich halte es für wichtig, daß zumindest Toldor dabei ist, wenn wir das bereden, was ich vorhabe. Und mit Albrecht willst du ja nicht reden.'
Celestus manifestierte sich im Zimmer und zeigte auf Toldor.
"Sitzenbleiben."
Toldor seinerseits war vor Schreck wie gelähmt.
"Es ist schon gut, mein Sohn, du brauchst dich nicht zu fürchten, ich weiß ob deiner Loyalität zu mir."
"D...danke Herr", der Alte blickte demütig zu Boden.
Zu Joro gewandt fragte der Gott: "Und, was willst du mit mir bereden?"
"Die Kirche hat reichlich viel Geld angesammelt, oder?"
"Abzüglich dessen, was die Priester gestern gestohlen haben, als du sie vor die Tür gesetzt hast, müßte noch eine nicht unerhebliche Summe vorhanden sein, ja."
"Nun...", Joro drugste herum, "immerhin kommt von Süden eine gewaltige Armee. Ich glaube, daß wir selbst Truppen aufstellen sollten. Und mit dem Geld, das wir haben, könnten wir diese nicht nur ausrüsten, sondern auch für eine gute Ausbildung sorgen... Wäre das in deinem Sinne?"
Der Gott war erstaunt.
"Was erwartest du von mir, das ich darauf entgegnen sollte? Ich bin ein Gott der Toten und kein Kriegsgott."
"Heißt das, daß du dagegen bist?"
"Nun..." Celestus ging zu dem Stuhl, der neben dem stand, auf dem Toldor saß, und ließ sich darauf nieder, was den alten Mann noch ein bißchen stärker zittern ließ. "Ich bin mir nicht sicher, was ich darauf entgegnen soll. Immerhin sind die Zeiten andere, als sie in der Historie dieser Kirche, selbst in den Tagen ihrer Gründung, waren."
Joro versuchte, sich zu erklären.
"Es geht mir auch weniger darum, aus einer möglichen, neuen Kirche einen Kriegskult zu machen. Aber wir müssen uns verteidigen und Bargum ist als eine der größeren Städte der Nordostprovinzen Daishans ein bevorzugtes Angriffsziel."
Celestus verstand.
"Du hast recht, es wäre sträflich, nicht zuzusehen, daß die Leute hier den bestmöglichsten Schutz haben." Er wandte sich Toldor zu: "Sage mir, mein Sohn, wieviel Geld dürfte etwa in diesen Mauern lagern?"
Der alte Priester hatte immernoch Mühe, seine Fassung zu wahren.
"I..ich denke, es sollten mindestens einige Tausend Goldtaler sein, Herr."
"Das hört sich nach einer soliden Grundlage an", der Gott sah wieder Joro an, "dann solltest du einen Plan erarbeiten, was du damit machen willst, mein Bischof." Irgendwie sagte er das mit einem leicht spöttelnden, aber nicht verletzend gemeinten Unterton.
Joro beschloß, das zu tun. Nur eins brannte ihm noch auf der Seele.
"Ich habe das Buch gelesen, Celestus. Ich finde das, was Albrecht darin gesammelt hat, sehr gut, aber ich hätte gerne von dir eine Antwort, ob du damit auch zufrieden bist."
"Hast du mich in irgendeiner Weise protestieren hören?"
Der Bischof blickte beschämt zu Boden.
"Ich fürchte, daß ich vielleicht zu sehr mit Lesen beschäftigt war, als daß ich darauf geachtet hätte..."
Celestus lachte.
"Das, was der alte Trotzkopf da geschrieben hat, ist durchaus alles in Ordnung. Auch wenn ich das ungern zugebe, vor allem, weil er nicht aufhören kann zu lauschen."
Joro war erleichtert.
"Gut, dann werden wir das genau so wieder umsetzen. Und ich werde Sorge tragen, daß diese Schriften niemals wieder verfälscht werden. Eine derartige Schande, wie sie hier existiert hat, soll auf keinen Fall je wieder geschehen."
Der Gott hätte vermutlich gönnerhaft gelächelt, nur hatte er ja leider kein Gesicht. Stattdessen machte er eine zustimmende Geste, klopfte Toldor noch beruhigend auf den Arm und verschwand dann.
Dieser sah Joro sehr lange an. Dann rappelte er sich wieder ein wenig auf.
"Hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch einen einzigen Punkt des Zweifels gehabt, wäre er nun auf der Stelle verschwunden. Ich muß zugeben, daß mich Eure Person und alles, das sie umgibt, auf eine seltsame Weise fasziniert, vor allem aber beeindruckt, Euer Eminenz."
Der wurde rot.
"Zuviel der Ehre, Toldor. Es ist ja nicht so, daß ich mir das erarbeitet hätte, es kam einfach alles so über mich, ob ich wollte, oder nicht."
"Das schmälert nicht den Effekt, den es auf mich, und sicherlich auch auf andere hat, mein Bischof."
"Mir ist es lieber, wenn man mich aufgrund meines Wesens beurteilt und nicht der Dinge, die mich umgeben, Toldor." Joro verzog das Gesicht.
"Beides hat seinen Wert, Eminenz. Man muß nur zu unterscheiden wissen, was der Kern und was die Hülle ist."
Joro stand auf und blickte aus dem Fenster über den Wald, der sich unter dem Kloster erstreckte. Ihn packte eine gewaltige Sehnsucht, die hinter diesen Bäumen, in den Bergen und innerhalb eines Tales bei einer gewissen Person endete. Aber noch war hier nicht alles so, wie es sein mußte, damit er dorthin zurückgehen konnte. Er mußte einen klaren Kopf bewahren, um das, was vor ihm lag, zu bewältigen. Dennoch brachte es ihm fast Tränen in die Augen, nicht dort zu sein, wo sein Herz eigentlich ruhte. Doch genug dieser Gedanken, er hatte noch viel zu tun.
"Wißt Ihr, wie spät es wohl sein mag, Toldor?"
"Wir haben hier leider keine zwergischen Uhren, daher kann ich es nur schätzen, Eminenz. Es dürfte etwa um die siebte Abendstunde sein."
"Ich werde wohl beizeiten einen Bekannten von mir bitten müssen, eine Uhr für diese Stadt zu fertigen. Wenn ich einen guten Tag erwische, hat er vielleicht die nötige Laune, um eine zu bauen." Er reckte sich und schaute unschlüssig im Raum umher. "Ist es wohl zu spät, zum Fürsten zu gehen?"
Toldor schüttelte den Kopf.
"Im Alter schläft man nicht mehr viel, Eminenz. Olgerich wirkt jünger, als er ist."
"Dann sollte ich mal mit ihm reden. Wenn ich schon Pläne mache, hilft es vielleicht, sich Hilfe bei jemandem zu suchen, der sich damit auskennen könnte."
"Tut das, ich werde noch eine Weile mit Albrecht reden, bevor ich mich selbst zurückziehe."

Joro öffnete die Tür wieder und sah den Leichnam immernoch (oder wieder?) an dem Pult stehen und die Zeilen des Wälzers studieren, mit dem er sich schon am Nachmittag befaßt hatte.
Albrecht sah nicht einmal auf, als er durch das Zimmer in den Gang heraus trat. Hinter seinem Rücken konnte er aber hören, wie Toldor begann, mit ihm zu sprechen.
Draußen auf dem Hof saß Dinin gelangweilt auf den Treppenstufen, die zum Hauptgebäude heraufführten, und schnitzte immernoch an dem selben Stück Holz herum. Was es auch immer werden sollte, Joro konnte es nicht erkennen.
"Na, fertig mit dem Buch?"
"Ja, es war so langsam an der Zeit, daß ich etwas darüber erfahre, was ich eigentlich tun soll. Und dabei hat es mir auch sehr geholfen, ich fühle mich sehr viel sicherer."
"Das ist erfreulich. Und was hast du jetzt vor?"
"Zum Fürsten muß ich. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die ich mit ihm besprechen muß."
Dinin stand auf und blickte sich um.
"Hast du dir schon überlegt, was du mit Justin machen solltest?"
Joro sah zu Boden.
"Ja. Aber es gefällt mir nicht."
Der Drow sah ihn fragend an.
"Warum?"
"Weil es nur eine wirkliche Lösung gibt. Naja, zwei, aber die eine davon ist nicht viel wert."
"Nämlich?"
"Ich scheue mich fast, es auszusprechen, aber am besten wäre es, wenn er einfach tot wäre."
Dinin entgegnete nichts, also fuhr Joro fort: "Wenn wir ihn am Leben lassen und bis zum Rest seines Lebens eingekerkert, wird er vielleicht irgendwann einen Weg finden, aus der Gefangenschaft zu kommen. Und dann haben wir einen haßerfüllten Feind gegen uns... oder zumindest ich."
Wiederum sagte der Drow lange Zeit nichts, dann sah er Joro sehr ernst an.
"Wenn du willst, kann ich dafür sorgen, daß er dir keine Probleme mehr macht."
Ehrlich gesagt war er nicht überrascht, daß Dinin so etwas sagte, aber dennoch liefen seine Gefühle fast Amok gegen die Tatsache, daß ihm sein Freund gerade angeboten hatte, jemanden für ihn zu töten. Es war zu diesem Zeitpunkt einfach zu viel, um eine Entscheidung zu treffen.
"Erst einmal nicht, ich will keine Entscheidung treffen, die ich vielleicht bereue."
"Ich sehe zwar keinen Grund, warum du das bereuen solltest, aber es ist nicht meine Sache, sondern deine. Vergiß aber nicht, daß die Zeit gegen dich arbeitet, Joro."
"Ja, das ist mir klar... Aber jetzt gehe ich zunächst einmal zum Fürsten. Es gibt ein paar Dinge, die ich mit ihm besprechen muß..." Joro setzte sich in Bewegung Richtung Tor, aber hielt gleich wieder inne.
"Dinin?"
"Ja?"
"Wie schlimm wird es, wenn wir zurückkehren?"
"Du meinst in die Enklave?"
"Ja."
"Wenn du Glück hast, wird sie dich noch ein paar Stunden am Leben lassen."
"Danke. Das baut mich wieder auf."

Die Soldaten am Tor salutierten, als Joro hindurchtrat. Eigentlich hatte er kurz überlegt, ob er nicht die Rüstung anziehen sollte, da er nicht wußte, ob er vielleicht Racheaktionen der vertriebenen Priester befürchten mußte. Aber auf der anderen Seite war alles ruhig und auch unten in der Stadt war weder ein Massenauflauf, noch sonst irgendein Anzeichen für Unruhe. Also ging er die Straße herab zum Marktplatz und zum Schloß herüber.
Auch hier begrüßten ihn die Wachen knapp und militärisch und er betrat die Eingangshalle. Innerlich freute er sich, nicht zu viel Aufsehen erregt zu haben, außer ein paar Bürgern, die ihn höflich gegrüßt hatten, war er ohne viel Aufhebens zum Schloß gekommen.
In der Halle kam ihm sofort ein Lakai entgegengelaufen, der sich tief verbeugte und mit einem Händeklatschen ein Zeichen gab, auf das hin der Major Domo den Raum betrat.
"Es freut mich sehr, Euch hier begrüßen zu dürfen, Eminenz. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihr mit dem Fürsten zu sprechen wünscht?"
"Das ist richtig."
"Dann folgt mir bitte."

Es ging durch einige Gänge und zwei Stockwerke nach oben, bis sie vor einer mit schlichten Blumenfresken verzierten Tür stehenblieben.
"Wartet bitte einen Moment, Eminenz, ich werde Euch ankündigen."
Der Mann verschwand kurz durch die Tür und kam dann schnell wieder heraus.
"Fürst Olgerich erwartet Euch, tretet bitte ein."
Joro trat durch die Tür und kam in einen Raum, der erstaunlich klein und dessen Wände komplett mit Bücherregalen zugestellt waren. Der Fürst saß auf einem Sessel, um den herum drei große Öllampen standen, offenbar um möglichst viel Licht zu erzeugen. Auf dem Schoß hatte er einige Schriftrollen, eine davon hielt er aufgerollt in der linken Hand. Olgerich schaute freundlich in seine Richtung.
"Eminenz! Es erfreut mich, Euch hier begrüßen zu dürfen, auch wenn ich ein bißchen überrascht bin, daß Ihr um diese Zeit hier herkommt..."
"Es ist hoffentlich nicht zu spät für Euren Geschmack, Durchlaucht?"
"Nein, nein, ganz und gar nicht, ich bleibe für gewöhnlich sehr lange wach und lese. Verzeiht, wenn ich nicht aufstehe, aber ich fürchte, daß mir alles herunterfällt, wenn ich das tue."
"Kein Problem."
"Setzt Euch doch." Der Fürst wies ihm den Sessel, der seinem gegenüberstand.
"Danke." Joro ließ sich darauf nieder.
"Und?" Der alte Mann sah ihn erwartungsvoll an. "Was ist der Grund Eures Erscheinens?"
"Es gibt ein paar Dinge, die ich gerne mit Euch besprechen würde, Olgerich."
"Dann legt mal los, ich bin ganz Ohr."
Der Bischof sammelte sich erst einmal. Dann traf er eine Entscheidung, womit er anfangen wollte.
"Wie Ihr sicherlich wißt, hat die goldene Legion begonnen, die Südreiche zu erobern."
"Das ist mir bekannt, ja. Aber sie sind noch sehr weit von hier entfernt und wir werden reichlich Zeit haben, uns zu wappnen."
"Ich muß Euch leider widersprechen, Olgerich. Sie waren bereits näher an Bargum, als ihr denkt..."
Die Reaktion des Fürsten war Überraschung.
"In der Tat?"
"Ja, kennt ihr einen Handelsposten namens "Noth"? Er war etwa vier Tagesreisen von hier in den Bergen gelegen."
"Der Name ist mir durchaus ein Begriff. In der Vergangenheit haben ortsansässige Händler eine Menge Pelze und andere Fallenstellerprodukte von dort erworben."
"Nun, das werden sie jetzt nicht mehr können. Noth ist ein einziger Haufen verbrannter Holzbalken. Die goldene Legion hat den Ort vollständig niedergebrannt."
Olgerich schwieg, er hatte an dieser Nachricht zu kauen, was Joro Zeit gab, fortzufahren.
"Zudem haben sie auch noch eine Dunkelzwergenstadt sehr weit im Norden angegriffen. Sie sind mit ihren Luftschiffen und Lindwürmern weitaus mobiler und haben auch größere Reichweiten, als vielleicht einige annehmen würden."
"Das besorgt mich ein wenig."
"Oh, mich besorgt das sogar sehr stark, Durchlaucht. Wir werden weitaus schneller in großer Gefahr sein, als wir das beide wollen. Oder irgendjemand, der unten in der Stadt lebt."
"Da gebe ich Euch uneingeschränkt recht, Eminenz. Ich nehme an, daß der Grund Eures Erscheinens damit zusammenhängt, nicht wahr?"
"Ganz genau. Ich habe vorhin mit Toldor geredet und er hat mir bestätigt, daß wir eine ganze Menge Geld im Kloster haben, das meiner Ansicht nach nicht uns, sondern eher denen gehört, die es gespendet haben. Ihr mögt mich korrigieren, wenn ich da falsch liege, aber das sollten die Bürger dieser Stadt sein."
"Das ist richtig."
"Dann habe ich gleich zwei Fragen an euch."
"Nämlich?"
"Erstens: gibt es in dieser Stadt Waffen- und Rüstungsschmiede, wenn ja: wieviele, und zweitens: Habt Ihr einen Ausbilder an der Hand, der dazu in der Lage wäre, in kürzerer Zeit eine ganze Reihe von Soldaten auszubilden?"
"Ihr wollt eine Armee aufstellen, Eminenz?"
"Zumindest so viele Truppen, wie wir für ein paar Tausend Goldtaler ausheben können."
Olgerich sah ihn verblüfft an.
"Das ganze Geld, nur um Soldaten auszubilden? Damit könntet Ihr Euch einen ganzen Landstrich kaufen."
Joro machte ein ernstes, fast böses Gesicht.
"Warum sollte ich das wollen. Das Geld gehört mir nicht einmal. Außerdem habe ich gesehen, was die Legion imstande ist, zu tun. Wir werden jeden Mann, ob jung oder alt, brauchen, um uns zu verteidigen, wenn es soweit ist. Deshalb sehe ich Grund genug, sie so gut auszubilden und auszurüsten, wie es irgend möglich ist."
"Da werdet Ihr eher an die Grenzen der verfügbaren Materialien als an die Eures Geldes kommen. Es gibt hier in der Nähe keine nennenswert großen Eisenvorkommen."
"Dann müssen wir welches ankaufen, Olgerich."
"Auch das wird schwierig. Die umliegenden Provinzen wissen genausogut wie wir, daß sich die Legion nähert. Diejenigen, die Waffen und Rüstungen herstellen können, oder die Materialien dafür liefern, werden zweifelsohne zusehen, ihre Produkte so teuer wie möglich zu verkaufen."
Joro überlegte sich, Balthasar zu fragen, ob er nicht Eisen oder dergleichen besorgen könnte. Immerhin konnten seine Priester auch riesige Elementare beschwören, dann konnte es auch nicht so schwer sein, eine Metallader zu finden.
"Gibt es denn wenigstens die nötigen Handwerker vor Ort?"
Der Fürst dachte nach. Zunächst wirkte er nicht ganz überzeugt, doch dann kam ihm eine Eingebung.
"Natürlich, ja. Wir haben einen Hufschmied am Rande der Stadt, der früher als Rüstmeister in Hanlar gearbeitet hat, genauer gesagt in Tont, der Hauptstadt."
"Das wäre zumindest schon einmal ein Anfang. Gibt es sonst noch jemanden?"
"Da bin ich zunächst einmal überfragt. Die Ausstattung der Stadtwache und, wenn ich mich recht erinnere, auch der Klostergarde wurde bisher immer angekauft und nicht hier in Bargum hergestellt."
"Vielleicht kann ich den Duergarkönig, der mit uns bei der Enklave lebt, davon überzeugen, uns dabei ein wenig unter die Arme zu greifen."
"Das ist eine weitere Information, die Euch in meinen Augen mehr als seltsam erscheinen läßt, Eminenz." Der Fürst kniff die Augen zusammen als hätte er eine unangenehme Nachricht überbracht bekommen.
Joro lächelte.
"Es hat sich um mich herum einiges abgespielt, das man so bezeichnen könnte, Durchlaucht." Er sah sich um und dachte weiter nach. "Einen oder vielleicht auch noch ein paar mehr Ausbilder könnten wir gebrauchen."
Olgerichs Gesicht erhellte sich ein wenig.
"Da kann ich sofort helfen. Mein Hauptmann ist ein ehemaliger Söldner, der bereits in vielen Kriegen gedient hat. Er ist nicht gerade ein Gelehrter, aber ein überaus fähiger Soldat."
"Das ist erfreulich. Sobald ich mit Toldor und Albrecht alles geklärt habe, was hier zu tun ist, werde ich zurück zu den Dunkelelfen gehen und sehen, was dort zu machen ist."
"Ihr habt vor, uns schon wieder zu verlassen?" Überraschung spiegelte sich im Blick des alten Mannes wider.
"Es ist nichts, was ich ändern könnte, Olgerich. Ich weiß, welche Verantwortung ich auf meine Schultern geladen habe, als ich mich zum Bischof wählen ließ. Aber ich habe auch noch andere Verpflichtungen, und zu denen gehört neben dem Versuch, eine Armee aufzustellen, die die Legion aufhalten kann, auch noch meine Freundschaft zu den Dunkelelfen der Enklave."
"Das ist zwar verständlich, aber meint Ihr nicht, daß Ihr hier genauso gebraucht werdet? Nach der beinahen kompletten Auflösung der Kirche umso mehr?"
Joro schaute ihn traurig an.
"Wenn Ihr nur wüßtet, welche Gedanken in meinem Kopf herumtoben, Olgerich. Es fällt mir nicht leicht, es zu sagen aber..."
"Ja?"
"Es ist mir alles zu viel." Er hob die Hände und machte eine abwehrende Geste. "Ich weiß, ich weiß, das sollte ich nicht sagen oder zumindest nicht offen bekennen."
Der Fürst schmunzelte aber nur.
"Eure Ehrlichkeit ist etwas, was ich von den Jüngern des Celestus noch niemals erlebt habe. Mit Euch als Grundstein wird diese Kirche wachsen und blühen, wie sie es vermutlich das letzte Mal lange vor unserer Zeit getan hat. Außerdem habe ich mich entschlossen, einen Druiden zu bitten, mir das Mal aufzutragen."
"Wirklich?" Joro war freudig überrascht.
"Ja. Wenn wir hier schon eine neue Ära schaffen, dann sollte diese auch davon gekennzeichnet sein, daß nicht nur das geistliche, sondern auch das weltliche Oberhaupt dieser Stadt ein verläßliches Wort zu geben hat."
Es wunderte Olgerich überhaupt nicht, daß der Mund seines vielleicht jungen, aber manchmal sehr spitzfindigen Gegenübers sich zu einem Grinsen verzog. Dementsprechend wußte er auch schon, wie Joros nächster Satz lauten würde.
"Es hat nicht zufällig damit zu tun, daß Ihr vielleicht auch einen Sitz im Ältestenrat Daishans haben wollt, oder, mein Fürst?"
Sie lachten beide und als der alte Mann sich wieder beruhigt hatte, nickte er fröhlich.
"Das ist mit Sicherheit auch ein Grund, ja. Verdammt, Ihr verleitet mich dazu, die Wahrheit zu sagen, obwohl ich nicht einmal müßte."
Joro lächelte nur fröhlich, wurde aber bald wieder ernst.
"Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr Euch mit Albrecht und Toldor über einen Ausbildungsplan verständigen würdet. Euer Hauptmann, so er denn so ein guter Soldat ist, wird zweifelsohne viel dazu beisteuern können. Ich für meinen Teil werde mich bei König Balthasar währenddessen um die notwendigen Materialien bemühen."
Olgerich sah ihn kurz an und sagte dann mit einer sehr eindringlichen Stimme:
"Es ist mir bewußt, daß Ihr überfordert seid. Aber das Letzte, was Ihr jetzt tun solltet, wäre aufgeben. Man kann auch passiv aufgeben, indem man versucht, alles zu verdrängen, was ansteht, aber damit werdet Ihr weder den Leuten hier, noch in der Enklave, aber vor allem auch nicht Euch selbst einen Gefallen tun."
"..."
"Wenn Ihr Euch anstrengt und versucht, Euer Bestes zu geben, wird keiner, Euch eingeschlossen, Euch jemals einen gerechtfertigten Vorwurf machen können. Vergeßt das niemals." Er schaute kurz aus dem Fenster und fügte dann noch hinzu: "Zumal Ihr nicht alleine seid."
Joro verzog das Gesicht.
"Es ist trotz alledem viel einfacher gesagt, als getan, Fürst Olgerich."
"Das Gegenteil würde ich niemals wagen zu behaupten", entgegnete dieser fröhlich, "aber man muß sich nichtsdestotrotz dessen bewußt sein."

Sie verabschiedeten sich voneinander und Joro machte sich im Schein der Öllaternen, die die Straße in schwaches Licht tauchten, auf, um ins Kloster zurückzugehen.
Dabei grübelte er abwechselnd darüber nach, was als nächstes zu tun sei und wie es wohl derzeit in der Enklave aussähe.
Eine dunkle Gestalt trat vor ihm auf die Straße.
"Guten Abend, Herr 'Bischof'."
Die Art, wie das letzte Wort gesagt wurde, ließ darauf schließen, daß Joros Gegenüber das nicht ganz ernst meinte.
"Wie kann ich Euch helfen?" Joro griff sich unbewußt an den Gürtel, nur um zu bemerken, daß er keine Waffe bei sich trug.
"Nun, ich möchte diesen Moment nutzen, um Euch mitzuteilen, daß wir mehr als unzufrieden sind mit dem, was hier vor sich geht. Ihr habt Euch eine Menge Feinde gemacht."
Joro streckte das Kinn vor und sah dem Vermummten dorthin, wo sein Gesicht sein mußte. Dabei kniff er die Augen zusammen.
"Wer auch immer du bist, willst du mir drohen? Hast du auch nur den Ansatz einer Ahnung, was genau ich hier mache?"
Der Mann, der vor ihm stand, schien kurz unentschlossen, aber er faßte sich schnell wieder.
"Wir werden sehen, wer am Ende den längeren Arm hat, Bischof."
"Ich werde nicht zögern, das Richtige zu tun, Fremder. Und wenn das einschließt, einer gehörige Anzahl von Menschen, deren einziges Interesse weltlichem Reichtum gilt, den Garaus zu machen, dann soll es so geschehen. Wer auch immer dich geschickt hat, sollte wissen, daß ich sein Feind bin und jeden Weg gehen werde, ihn zu vernichten."
"Ihr überschätzt Euch, Bischof."
"Nein. Du unterschätzt mich!"
Wortlos drehte sich der Vermummte um und lief die Straße herab, Richtung Marktplatz.
Joro war verunsichert. Sicherlich hatte er nicht erwartet, daß man seine Aktion im Kloster hinnehmen würde, aber daß man schon knapp einen Tag später anfangen würde, ihn zu bedrohen? Albrecht und Celestus selbst mußten mit all ihrer Schwarzmalerei Recht gehabt haben.
Er nahm sich vor, auch was das anging so bald wie möglich Maßnahmen in die Wege zu leiten.
'Du solltest nicht überreagieren, Joro', Celestus’ Stimme klang besorgt.
'Wie meinst du das? Der Kerl eben hat mir doch ganz offen gedroht?'
'Das mag sein, aber du solltest versuchen, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, anstatt Anstalten zu machen, wild um dich zu schlagen.'
'Ich frage dich gar nicht erst, was du meinst, das angemessen wäre.'
Ein leises Kichern war zu hören, aber der Gott wurde schnell wieder ernst.
'Nimm einfach meine Ermahnung an und wähle jeden Schritt, den du tust, mit Bedacht, mein Sohn.'
Joro stapfte weiter die Straße herauf und hob im Vorbeigehen der salutierenden Wache als Gruß die Hand.

Drinnen angekommen war er sich zunächst nicht sicher, ob er einfach ins Bett fallen sollte oder noch einmal zu Albrecht gehen, um mit ihm zu reden. Es widerstrebte ihm sehr, sich mit dem Leichnam zu unterhalten, weil dessen Art so dermaßen respektlos gegenüber allem und jedem erschien. Auf der anderen Seite konnte er nicht umhin, zu akzeptieren, daß Albrecht zwar vielleicht nicht unvoreingenommen war, was seine Ansichten anging, aber er hatte dennoch einen sehr nüchternen Standpunkt, der hin und wieder von Nutzen sein konnte. Das nahm er jedenfalls an.
Es konnte wohl nicht schaden, also ging er noch einmal zur Lesestube hoch und war auch nicht im geringsten überrascht, daß der Leichnam, seine Maske allerdings abgesetzt, immernoch an genau dem selben Platz, an dem er schon den ganzen Nachmittag gestanden hatte, in das Buch vertieft war. Joro wäre nicht überrascht gewesen, falls er dabei nicht ein einziges Mal seine Füße bewegt hatte.
Als der Bischof den Raum betrat, schaute Albrecht in seine Richtung. Die geblekten Zähne im mumifizierten Gesicht des ehemaligen Kirchengründers wirkten fast wie ein höhnisches Grinsen in seine Richtung. Dabei wußte Joro aber, daß sie nicht diesen Eindruck vermitteln sollten.
"Na, was führt Euch hierher, mein Bischof?" Jeder Satz, den Albrecht sprach, wirkte wie eine Anfeindung, das ging Joro mächtig auf die Nerven.
"Wie weit bist du mit dem Lesen?"
Albrecht betrachtete die Seiten, die vor ihm lagen, einmal herauf und herunter und sah dann wieder zu Joro.
"Leider wohl immernoch nicht weit genug. Du kannst dir beim besten Willen nicht vorstellen, was die hier für einen Dreck zusammengeschrieben haben."
"Also ist das Buch gut für ein Lagerfeuer?"
"Nein... Nein, das würde ich nicht sagen." Der Leichnam starrte wieder kurz auf die Buchstaben vor ihm. "Eher könnte man sagen, daß sie ein wunderbares Zeugnis dessen sind, wozu Menschen in der Lage sind."
"Du meinst, was sie Schlechtes zu tun in der Lage sind?"
"Oh, nein. Ich meine das ganz nüchtern. Von den Änderungen, die ich gelesen habe, waren durchaus einige scheinbar tatsächlich in der Absicht geschrieben, etwas genauer oder hilfreicher auszudrücken. Es ändert aber natürlich am Ende leider nichts daran, daß das Resultat des Ganzen negativ ausfällt."
Joro war verwundert.
"Du gibst zu, daß einige Stellen besser waren als dein Original?"
"Was wundert dich daran, wenn ich fragen darf?"
"Du machst nicht den Eindruck, als wärst du sonderlich kritikfähig."
Albrecht sah ihm in die Augen und schüttelte dann den Kopf.
"Joro, du verwechselst da etwas ganz Entscheidendes. Nur weil ich gerne etwas abseits stehe und anderen ihre Fehler vor Augen führe, heißt das noch lange nicht, daß ich dadurch selbst für Kritik unempfänglich bin."
"Du wirkst mitunter sehr arrogant, Albrecht."
"Das wird vielen sicherlich so erscheinen, da stimme ich dir zu. Aber glaubst du, daß mir das etwas ausmacht?"
"Nein, naturgegeben wohl nicht."
Der Leichnam röchelte mal wieder. Es mußte wohl ein Reflex sein.
"Es gibt dieses alte Sprichwort, das sagt, daß man ein Buch nicht nach dem Einband beurteilen sollte. Hast du das schon einmal gehört?"
"Natürlich", Joro machte eine verletzte Miene.
"Manche Bücher, so wie ich eins bin, funktionieren nach anderen Regeln und man muß es schaffen, herauszufinden, wie sie zu lesen sind. Celestus sagt dir doch immer, daß du deinem Herzen folgen sollst, oder?"
"Ja..."
"Nun, er hat leider nicht völlig Recht damit. Manchmal muß man auch seinen Verstand gebrauchen. Es gibt schlichtweg Dinge, die der Instinkt einer Person nicht richtig wahrnimmt. Also mußt du vorher deinen Geist einschalten, bevor du dein Herz richten läßt."
Joro wollte um diese Uhrzeit keine Diskussionen mehr führen, eher war ihm daran gelegen, was der alte Erzbischof wohl an Ergebnissen zu präsentieren hätte.
"Was ist denn nun deine Beurteilung der Änderungen und wie können wir weiter vorgehen?"
Es war offensichtlich, daß Albrecht zunächst etwas im Geiste von "du bist der neue Bischof, das ist dein Bier" entgegnen wollte, aber er verwarf den Gedanken wohl und kam auf den Punkt.
"Ich werde vermutlich noch heute Nacht anfangen und die alten und die guten neuen Teile der Schriften zu einem komplett neuen Buch zusammenfügen. Hast du das, was in meiner Urfassung stand, alles verstanden?"
Hatte er. Die Idee der Celestusreligion war, den Weg des Toten in das Jenseits sicherzustellen und den Hinterbliebenen Trost und Unterstützung zu spenden. Außerdem bestand Celestus darauf, Untote jeglicher Couleur zu jagen und zu zerstören. Letzteres allerdings...
"Ja, in der Tat, aber sag mal..."
"Was?"
"Ich habe immernoch nicht ganz verstanden, ob ich dich jetzt eigentlich umhauen sollte oder ob deine Existenz vor Celestus gerechtfertigt ist."
Albrecht schien lachen zu wollen, aber selbst das Röcheln klang nicht einmal richtig.
"Schon als ich dir offenbarte, daß ich das bin, was ich bin, habe ich dir gesagt, daß du schon ein Aschehaufen sein würdest, bevor du den Arm heben kannst. Ich lebe vielleicht nicht mehr, aber meine Kräfte sind immernoch die des alten Priesters, der ich einmal war. Außerdem hat mich unser beider Gott zu dem gemacht, was ich bin. Ein Totengott kann auch Unleben schenken, Joro."
"Das heißt, daß du immernoch die Macht hast, Wunder des Celestus zu wirken?"
"Sozusagen, ja."
"Warum 'sozusagen'?"
"Weil ich ja eigentlich nicht mehr in seinem Dienst stehe. Deshalb 'sozusagen'."
"Wortklaubereien... Aber egal, wie lange denkst du, daß du für das Buch brauchen wirst?"
Albrecht machte eine abwägende Geste.
"Der Vorteil ist, daß ich nicht zu schlafen brauche und mich ohne dabei zu ermüden unablässig konzentrieren kann. Der Nachteil ist, daß Schreiben nicht gerade schnell geht. Jemand müßte einmal einen Apparat erfinden, der das schneller kann. Der sollte dann auch gleich die Rechtschreibung korrigieren..."
"Ich habe volles Vertrauen in dich, Albrecht." Eigentlich hatte Joro den Impuls, ihm bewußt provokant auf die Schulter zu klopfen, aber angesichts der extremen Kälte, die der Leichnam ausstrahlte, konnte er sich nicht sicher sein, ob ihm das nicht eine Frostbeule bescheren würde, daher beließ er es bei einer huldigenden Geste. "Ab in die Heia, heißt es für mich."
"Viel Spaß dabei, ich wünsche wohlige Ruhe."

Joro ging aus der Lesestube und war sich zunächst unsicher, ob er nicht einmal die persönlichen Gemächer des Bischofs aufsuchen sollte, um zu schauen, wie es dort wohl aussah. Aber er hatte wenig Lust dazu, sich in ein Bett zu legen, in dem der fette und widerliche Exbischof oder gar Justin geschlafen oder wer weiß was getan hatten. Er nahm sich vor, dafür zu sorgen, daß ein neues Bett darin aufgestellt wurde. Die kleine Zelle, in der er seit seiner Ankunft untergebracht war, fühlte sich auf eine seltsame Art und Weise sowieso gemütlicher an, auch wenn die Pritsche darin alles andere als komfortabel war.
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 38. Kapitel...

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