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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern zur
besten Fantasy-Fortsetzungs-Story 2006 und 2008 im Drachental gewählt!

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Xendium - Manifestation von I.S. Alaxa
Teil 1 - Geschenk des Himmels
Kapitel I

Im Gegensatz zu den wahrscheinlich meisten jungen Menschen, die der Schulpflicht nachkommen mussten, fing für Tigris Aurora Windwibb der beste Teil der Woche mit Montag an und endete zu ihrem größten Bedauern mit Freitag.
Werktags nämlich wohnten Tigris und ihre Mutter für gewöhnlich in Düsseldorf, weit weg von Windwibbenburg, weit weg von der Sippe, weit weg von ihnen. Und nun, da sie seit mehr als zehn Jahren diese andere Art Leben kannte, fand Tigris, es gäbe nichts schöneres, als auf das Albert-Schweitzer-Gymnasium zu gehen, sich wie alle anderen in der Klasse langsam, aber sicher auf das Abitur vorzubereiten und vor allem mit ihnen, diesen tollen, gut verträglichen, stinknormalen Leuten abzuhängen. Leute wie Tigris selber: Jene, die nicht irgendwelche außergewöhnlichen Fähigkeiten besaßen, die nicht andauernd alles, was nicht niet- und nagelfest war, durch die Gegend fliegen ließen, die nicht ständig die Stromleitungen in ihrer direkten Umgebung lahm legten, die sich nicht regelmäßig aufspielten, die man nicht andauernd bewundern musste und denen man nicht dumme Streiche oder blöde Scherze nachsehen sollte, da das Schicksal ihnen eine schwere Bürde auferlegt hatte. Eben alle, die ihrer Meinung nach normal waren.
Und obwohl ihre eigene Mutter wegen ihrer außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit genau genommen auch einer der ›Freaks‹ von Windwibbenburg war, kämpfte sie jedoch seit Jahren wie ein Löwe dafür, endlich aus der Sippe entlassen zu werden, damit ihre einzige Tochter unter dem großen Rest der Menschheit aufwachsen konnte, der nicht den blassesten Schimmer von Orten wie Windwibbenburg und seine Bewohner besaß.
Allerdings bestand sie immer noch darauf, dass Tigris am Wochenende mit nach Windwibbenburg kommen musste, da Danubia Windwibb dort Samstags und Sonntags unterrichtete. Leider half dagegen nichts, weder raffinierte Schmeicheleien und kreative Überredungskünste, noch Gemotze und auch nicht der beleidigte Hinweis, man sei ja wohl schließlich mit siebzehn Jahren alt genug, zwei Nächte ohne Mutti zu verbringen.
Samstag und Sonntag waren also unvermeidbar Windwibbenburg und die Sippe angesagt - aber irgendwann einmal würde damit Schluss sein, und an diese Hoffnung klammerte sich Tigris und spann bereits an den buntesten Zukunftsplänen.
Und auch am Morgen jenes schicksalhaften Samstages schien die Welt für sie noch relativ in Ordnung - wenn man gnädigerweise außer Acht ließ, was für ein Ort Windwibbenburg im Bayerischen Wald war, und wenn man vor allem tolerant darüber hinwegsah, wer dort lebte. Die Nacht zuvor hatte sie wie so oft über die vergangene, erfreulich normale Woche nachgedacht, sich an witzige Erlebnisse mit Berenike Messner, ihrer besten Freundin aus der Schule, erinnert und vor allem an Darius Alessi, ihrem heimlichen Schwarm. Es war auch sein Gesicht, das sie mit hinüber in ihren Traum nahm - ein überaus angenehmer Traum übrigens, in dem er ihr mitten in einem Streitgespräch plötzlich einen langen wilden Kuss gab. In diesem Moment setzte der Chor mit ›And my Heart will go on‹ ein, doch bevor es noch peinlicher werden konnte, brüllte jemand aus Leibeskräften: »Ich kann Wind machen! Bei mir ist das Xendium ausgebrochen! Um genau 4 Uhr 46!«.
Selbst Tigris’ Bett erzitterte, als gleich nach dieser freudigen Verkündung dieser Jemand lautstark die Treppe hinunterstürmte.
Sie schnellte verschlafen aus den Kissen hoch und starrte benommen auf die halb offene Zimmertür. Von unten her hörte sie Tellergeklapper und Stimmgewirr, Türen wurden zugeknallt und aufgerissen, doch erst beim anschließenden Gekeife aus den Zimmern nebenan fand Tigris endgültig zurück in die Realität.
Die Realität von Windwibbenburg, unglücklicherweise.
»Antigua, du übernachtest nie wieder in unserem Zimmer! Du hast meinen CD-Player explodieren lassen!«
»Oh, entschuldige vielmals, Rhenèlle. Das nächste Mal entlade ich mich an deiner Nase! Als ob ich es absichtlich gemacht hätte...«
»Leute, benutzt blooß nicht die Jungen-Toilette! Bat Furan hat den Sitz intoniert, und wenn ihr euch aufs Klo setzt, gibt es komische Würgelaute von sich.«
Tigris seufzte resigniert auf.
»Ach ja, wir sind ja in Windwibbenburg«, fiel es ihr ein, woraufhin sie sich lustlos zurück ins Kissen fallen ließ. Dann warf sie einen müden Blick auf den Wecker: 07:23, Frühstückszeit und noch knapp eine Stunde bis zur täglichen Morgenmesse, in der Livas Windwibb, der Sippen-Oberste, lange Predigten hielt, aus der Weißen Bibel vorlas und unzählige Engelslobpreisungen und sonstige fromme Liedchen anstimmen ließ. Darin ging es meistens um die abgrundtief bösen Dämonen, die allgütigen Engel und natürlich Gott, den Allbarmherzigen, Allgeheimnisvollen. Für jemanden, der nichts mit Xendium und all dem Kram zu tun hatte und auch niemals nichts zu tun haben wollte, waren das zwei Stunden bleierner Langweile. Bei dem Gedanken daran schaute sie sehnsuchtsvoll zu der schmalen Buchenholztür neben dem Kleiderschrank. Es war kinderleicht, einfach aufzustehen, durch das Tor schreiten und sich mit einem Schritt drüben in ihrer Wohnung im etwa 400 km entfernten Düsseldorf zu befinden, wodurch man dem Trubel, der unten beim Frühstück herrschte, mühelos entgehen und selig bis mittags weiterschlafen konnte. Aber dann gäbe es bei der nächsten Gelegenheit sowohl von ihrer Mutter als auch von Livas eine Gardinenpredigt. Eine Standpauke von dem Sippen-Obersten war jedoch noch nervtötender und langweiliger als jede Morgenmesse in Windwibbenburg und daher unbedingt zu vermeiden. Aber vielleicht kam ja Ember, ihr bester Freund in diesem Kaff, zum Frühstück - wenn er nicht gerade wieder einmal irgendwo in der Welt auf einem Seminar bei irgendeiner anderen Sippe war.
Bei der Aussicht darauf schwang sich Tigris endlich aus dem Bett, riss Gardinen und Fenster auf, um die frische Gebirgsluft ins Zimmer zu lassen und schlurfte dann mit Jeans und Pulli unter dem Arm in Richtung Mädchen-Badezimmer, das sich ein paar Türen weiter befand.
Im ersten Geschoß des dreistöckigen Fachwerkhauses Rosenhag 3 wohnten immer zwei Mädchen in einem Zimmer, insgesamt 8, wenn man großzügigerweise Tigris dazurechnete. Im zweiten Stockwerk befanden sich die Wohnungen der älteren Windwibbs von Rosenhag 3, und auf der Etage unter dem Dach lebten fünf Jungen zwischen elf und neunzehn Jahren. In der kleinen Siedlung unterhalb der Burg standen insgesamt elf schmucke Häuser mit gepflegten Gärten, allesamt bewohnt von ganz speziellen Leuten, von denen etliche ursprünglich aus anderen Ländern Europas kamen - Ember etwa war aus Ungarn. Viele, wie auch er, waren sogar unter normalen Menschen zur Welt gekommen und aufgewachsen - bis das Xendium bei ihnen ausgebrochen war und sie Dämonen sehen konnten. Da dummerweise der größte Teil der Menschen dazu nicht fähig war, führte der Weg der von Xendium geschlagenen Unglücklichen letzten Endes fast immer in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie. Und nur ein gnädiges Schicksal ließ sie in einer der Kliniken weltweit landen, in der Mitarbeiter der Rosenstern-Allianz beschäftigt und dabei behilflich waren, sie aus der Klinik zu schleusen und einer Sippe zuzuteilen, die die Neulinge ›adoptierten‹.
Glücklich, wer dagegen von Anfang an in eine Sippe hineingeboren und dort groß wurde!
»Ember, ich kann jetzt endlich immer Wind machen, wenn ich will!«, frohlockte es wieder durch den Eingangsbereich. Tigris beugte sich über die Brüstung der Balustrade und sah Arktur unten wie einen Gummiball auf dem Kirschholz-Parkett herumspringen. Er war dünn, fast magersüchtig, wie viele von den Xendii und überaus frech, weswegen ihn Tigris schon seit Jahren ›Frettchen‹ nannte. Anscheinend hatte die ach so schwere Bürde des Xendiums endlich auch ihn ereilt, nachdem er mit fast vierzehn Jahren schon längst überfällig war. Meistens brach es zusammen mit den ersten Pickeln aus.
»Wind machen konntest du doch schon immer am besten, Arktur«, hörte sie Embers sanfte Stimme. Er stand - für Tigris nicht sichtbar - unterhalb der Balustrade, die im ersten Stockwerk den großen rechteckigen Eingangsbereich umlief. »Na, dann beglückleide ich dich recht herzlich. Willkommen im Club der potentiellen Opfer von Dämonenattacken.«
›Gott sei Dank ist Ember da, sonst überstehe ich die Messe nicht‹, dachte Tigris beim Klang der vertrauten Stimme erleichtert. Sie stürmte ins Badezimmer und wäre fast gegen Antigua geprallt, die vor dem ersten der vier Waschbecken stand und ihre glatten langen, silberblonden Haare ausgiebig und verträumt fönte. Selbst in dem schlichten, beigen Overall, den die europäischen Xendii bei der Messe und im Unterricht trugen, sah sie noch umwerfend gut aus.
»Ist das nicht ein wenig riskant?«, fragte Tigris spitz. Antigua, ursprünglich bei einer dänischen Sippe aufgewachsen, hatte die seltenste der drei Arten von Xendium: Sie konnte Energiearten wie etwa Elektrizität nicht nur anziehen, sondern auch noch speichern - theoretisch jedenfalls, da sie zwar seit Monaten eine entsprechende Ausbildung für diese Begabung erhielt, aber dennoch nicht besonders umsichtig damit umgehen konnte.
»Für mich riskant oder für dich?«, gurrte sie ohne Tigris eines Blickes zu würdigen.
»Na ja, eigentlich für den Fön, wenn man es genau nimmt...«
»Immerhin vertragen meine Haare den Fön, im Gegensatz zu deinen.«
»Immerhin kotze ich nicht jede zweite Nacht das Bett voll, im Gegensatz zu euch.«
»Immerhin ist unser Leben nicht so langweilig wie deins.«
»Dafür bin ich Gott sehr dankbar, da ich gute Chancen habe, nicht von Dämonen gegrillt zu werden -«
So schlagartig, wie der Fön ausgeschaltet wurde, bereute Tigris ihren letzten Satz.
»Das solltest du wirklich!«, stieß Antigua mit zitternder Stimme hervor und flüchtete aus dem Bad.
Tigris seufzte schuldbewusst. Zwar hatte sie bei dem Spruch eigentlich nur allgemein an die Gefahr gedacht, in der die Xendii stets schwebten, aber natürlich war Antigua überzeugt, er wäre auf den schrecklichen Tod ihres Vaters gemünzt gewesen, der bei einem Kampf in der australischen Wüste von Dämonen verbrannt worden war, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
›Ich werde mich wohl oder übel bei ihr entschuldigen müssen, auch wenn ich es nicht so gemeint habe, sonst ist Mama sauer‹, dachte Tigris und versuchte, die unangenehmen Gedanken abzuschütteln, indem sie sich voll und ganz darauf konzentrierte, ihre dunklen lockigen Haare zu kämmen, ohne hinterher wie nach einer Elektroschockbehandlung auszusehen.
Aber ihre Gedanken kehrten wieder zum Xendium zurück und was es mit sich brachte. Die Xendii, so fand Tigris, hielten sich für etwas ganz Besonderes, redeten ganz beiläufig von diesem oder jenem Xendi aus anderen Sippen, der im Kampf für die Rettung der Welt sein Leben verloren hatte, und von ihrem zukünftigen eigenen Tod, aber am allerliebsten natürlich über ihre tollen Fähigkeiten und Erfolgserlebnisse ihrer Ausbildung.
Als Ember vor vier Jahren von der Domén Arx nach Windwibbenburg zur Adoption vermittelt worden war, ganz und gar nicht glücklich über seine außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit, hatte sie erstmals die Schattenseiten des Xendiums erfahren: Häufige wahnsinnige Kopfschmerzen, Magenkrämpfe, spastische Anfälle, Schübe hohen Fiebers, zeitweilige Lähmungen und Depressionen, die bis hin zu Selbstmordgedanken führten. Nein, Ember hatte sich die ersten Monate überhaupt nicht auserwählt, sondern eher verdammt gefühlt. Und diese Empfindung hatte er hin und wieder immer noch. Die anderen Xendii hingegen verulkten sich gegenseitig mit diesen ganz und gar nicht bewundernswerten Nebenwirkungen, manche führten gar Listen über die Häufigkeit von Kopfschmerzen, Magenkrämpfen und epileptischen Anfällen.
»Was dir als Arroganz erscheint, ist in Wahrheit der missglückte Versuch, ein elendes Schicksal als Auserwählung zu verkaufen«, hatte Ember ihr noch vor wenigen Wochen erklärt, als sie sich wieder bei ihm über das Verhalten der Xendii beklagt hatte. »Hättest du einen Tag lang das Xendium - du würdest uns bemitleiden. Und vor allem dich selber. Es ist nichts Bewundernswertes an einer Fähigkeit, die dich so oder so eines Tages entweder umbringt, zum Krüppel werden lässt oder dir einen Lebensabend im Bett mit den Augen starr zur Decke beschert. Ist dir noch nie aufgefallen, dass es hier - wie in allen anderen Sippen - sehr wenige Leute gibt, die älter als fünfzig sind? Wenn sie nicht schon längst von Dämonen getötet wurden, sollen sie auf irgendwelchen Inseln leben, zu denen wir keinen Zutritt haben. Das sind Dinge, die die Jüngeren noch nicht erfahren dürfen. Sie sollen bloß nicht sehen, was aus jenen wird, die alle Dämonenkämpfe überstanden und alt geworden sind.«
»Und woher weißt du das, wenn es doch geheim gehalten wird?«, hatte sie daraufhin neugierig gefragt.
»Jemand, der es weiß, hat es mir erzählt. Er hat mir noch viel unglaublichere Sachen berichtet, aber darüber möchte ich nicht sprechen.«
Ember war, was die Sippen und insbesondere die Windwibbs anging, oft der gleichen Meinung wie sie. Im Gegensatz zu ihr fühlte er sich jedoch besonders der Spezialtruppe der Domén Arx De Navarris, jene Großsippe, die über ganz Mitteleuropa wachte, zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet, weil sie ihn aus der Budapester Psychiatrie befreit hatten. Dorthin war er eingeliefert worden, nachdem er angeblich ein Kaufhaus in der Innenstadt angezündet hatte, das deswegen bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Für einen blassen, blonden Waisenjungen von zwölf Jahren mit tiefen Ringen unter den Augen, der eisern daran festhielt, dass es Dämonen gewesen waren, brachten nur gewisse Ärzte Verständnis auf, die auch schon neue, wunderbare Pillen für seinen schweres Leiden kannten. Ihr fiel einer seiner Scherze über Windwibbenburg ein. »Wieso kann es mir nicht so ähnlich wie diesem Neo in ›Matrix‹ ergehen? Warum lässt mich keiner zwischen Wahn und Wirklichkeit entscheiden... Ember, ich stelle dich vor eine einmalige Wahl: Willst du dieses neuartige Medikament oder tägliche Gottesdienste in Windwibbenburg? Oh bitte, bitte, ich kenne Livas Windwibb, Herr Doktor, geben Sie mir gleich fünf Pillen auf einmal!« Tigris musste lächeln: Der gute Ember! Noch dazu, laut ihrer Mutter, die ihm und einigen anderen Seher-Schülern Unterricht gab, ungeheuer talentiert mit seinen knapp sechzehn Jahren.
›Und ich werde in einer Woche siebzehn!‹, dachte sie frohlockend. ›Aber diesen Geburtstag feiere ich mit ganz normalen Leuten drüben in Düsseldorf, gehe mit ihnen ganz normal in eine ganz normale Disko und vergnüge mich ganz normal. Und Ember lade ich auch ein, er hat mal eine kleine Abwechslung nötig.‹ Tigris rollte die Augen bei dem Anblick ihres Spiegelbildes. ›Und ich drei Tage Schlaf hintereinander.‹
Seit einigen Tagen bekam sie nachts kaum ein Auge zu, was nicht gerade zu einem frischen Aussehen verhalf. Nun, eine Schönheit wie Antigua würde sowieso niemals aus ihr werden; nicht mit diesen dichten störrischen Locken, die nur mit guten Nerven und viel Geduld in eine einigermaßen zivilisiert aussehenden Hochsteckfrisur gezwängt werden konnten. Auch besaß sie keine niedliche Stupsnase und keinen noch niedlicheren kleinen Puppenmund, sondern eher genau das Gegenteil davon. Auf ihrer ohnehin ein wenig zu breiten Nase hatte sich vor zwei Jahren ein Pferd mit dem völlig unpassenden Namen Angelfeather durch einen Tritt verewigt. Zwar hatte der Huf sie nur mehr gestreift als richtig getroffen, doch durch die Wucht immerhin noch zu einer Delle im Nasenrücken gereicht. Und ihr Mund kam ihr auch viel zu breit und groß vor. Aber immerhin zogen ihre Augen die Blicke der anderen auf sich, so groß und vor allem strahlend honigfarben wie sie waren. Und Wimperntusche brauchte sie bei diesen langen schwarzen Wimpern auch nicht.
»Ach du Schande. Mit diesen Ringen unter den Augen sehe ich ja fast aus wie die Xendi-Freaks«, seufzte sie und zog sich endlich an, um hinunter ins Speisezimmer zu gehen.

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Wie üblich, saßen die jungen Xendii ein wenig abseits an den Plätzen am großen Fenster und palaverten über ihre Fähigkeiten und Seminarserlebnisse. Weiter vorne ging es weitaus sittsamer und ruhiger zu. Dort nahmen die älteren Xendii sowie diejenigen ihr Frühstück ein, bei denen das Xendium nicht aktiv war, sondern als eine Art Erbanlage in ihnen schlummerte, weswegen man sie Träger nannte. Ihre Mutter war noch nicht da, doch da fiel Tigris auch wieder ein, dass sie mit Livas vor der Messe sprechen wollte.
»Tig, hey! Hier ist ein Platz an meiner grünen Seite. Direkt vor mir befindet sich übrigens die Erdnussbutter«, rief Ember ihr zu. Er saß an der langen Tafel am begehrten Fensterplatz und hatte ihr einen Stuhl neben sich freigehalten.
»Das ist aber auch schon der einzige Grund, mich neben einen Xendi zu setzen!«, rief sie zurück und quetschte sich an der langen Reihe Stühle vorbei in Richtung Ember. Dabei kam sie an Antigua vorbei und blieb neben ihr stehen. Antigua sah natürlich demonstrativ in die andere Richtung.
»Es tut mir leid, was mir da eben oben im Bad rausgerutscht ist...«, sagte sie genauso demonstrativ laut und deutlich - was noch demonstrativer missverstanden wurde.
»Aber Tigris, Teuerste!«, warf Bat Furan gespielt entsetzt ein. »Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, nur weil du zur Abwechslung mal etwas Nettes zu Antigua gesagt hast.«
»Selbst wenn es so wäre, ginge es dich schon einmal überhaupt nichts an, Batman«, entgegnete Tigris spitz und wandte dem hünenhaften Wandler den Rücken zu, um weiterzugehen. Gerade noch rechtzeitig erkannte sie durch einen mehr zufälligen Blick zurück zu Bat Furan, wie sich die Senftube auf dem Tisch vor ihm langsam drehte und mit der Spitze auf sie zeigte, während es in ihrem Inneren deutlich sichtbar rumorte. Geistesgegenwärtig ging sie auf Tauchstation, während ein Strahl ›Bayrischer Löwensenf‹ über ihren Kopf hinwegschoss und dann in dekorativen Schlieren an den Holzpanelen herunterlief.
»Huch! Da ist mir aber jetzt etwas herausgerutscht.« erklärte Bat Furan gespielt zu Tode erschrocken.
Der missglückte Schuss ließ das Gekicher und Gegrinse der jungen Xendii zu offenem Gelächter und Spötteleien anschwellen. Selbst Bat Furan bekam sich kaum ein vor Lachen, beeilte sich jedoch, die verdächtigen Spuren auf der Wand mit einer schnellen Handbewegung in wenigen Augenblicken verdampfen zu lassen, bevor die gesetzteren Herrschaften am anderen Ende der Tafel Verdacht schöpften. Das war ohnehin eine der leichtesten Übungen für ihn, wurde er doch von allen für einen gottbegnadeten Wandler gehalten, weil er beispielsweise mit nur achtzehn Jahren bereits einen Stein in seiner Handfläche im Bruchteil einer Sekunde zu Sand pulverisieren konnte. Allerdings hatte jegliche Überanstrengung auch seinen Preis bei ihm, wie bei jedem Xendi. Bat Furan etwa bekam fast jeden Tag mehrmals Nasenbluten.
»Apropos herausrutschen, Batman« Tigris wandte sich bei der Erinnerung daran noch einmal zu Bat Furan um, als sie ihren Stuhl erreicht hatte. »Du hast doch letztens so sehnsüchtig meine Packung O.B.s angesehen. Vielleicht solltest du dir einen Ruck geben und mich einfach fragen.«
»Das sollte ich wirklich, die Dinger wären vielleicht eine echte Alternative zu Taschentüchern und Fleckensalz. Hast du denn noch welche übrig, die nicht irgendwie irgendwo rausgerutscht sind?«, gab Bat Furan grinsend zurück und ließ so das anhaltende Gelächter einmal mehr anschwellen.
»Ihr seid dekadent und arrogant und ich mag euch gar nicht«, rief Tigris verächtlich, verdrehte die Augen und ging endgültig zu ihrem Platz.
»Genau das selbe denken wir von dir«, tönte es noch hinter Tigris her, was eindeutig von Antigua kam.
»Oh Gott, jetzt haben wir doch etwas gemeinsam!«, rief Tigris und ließ sich auf den Stuhl neben Ember sinken. »Hey, du lebst noch!« Das sagte sie jedes Mal zu Ember, wenn sie sich längere Zeit nicht gesehen hatten. Sie strahlte ihn an und umarmte ihn dann ganz fest.
»Ja, sicher, ich bin ja auch noch nicht fertig mit meiner Ausbildung. Alles ist noch so nett und spielerisch, auch die Magenkrämpfe sind noch spielerisch und gar nicht ernst gemeint...«
»Immer noch so schlimm?«
»Na ja, deine Mutter - äh, Lux Danubia hat mir autogenes Training beigebracht. Damit kriege ich es schnell wieder in den Griff.«
»Von so etwas hat sie wirklich Ahnung. Wie war eigentlich dieses Seminar in Sydney, von dem du mir letztens erzählt hattest? Hat Livas doch noch sein O.K. gegeben?«
Ein schneller Seitenblick ließ Tigris den einen oder anderen missbilligenden Blick der Xendii in ihrer Nähe registrieren: Erfahrene, ältere Xendii mussten nämlich von jüngeren Sippenmitgliedern stets mit dem Titel ›Lux‹ angeredet werden, was das lateinische Wort für ›Licht‹ war. Sogar auch nur das Erwähnen ihres Namens machte diesen Zusatz erforderlich.
»Ja, Gott sei Dank, es hat geklappt. Aber nur, weil auch einige andere Sippen ihre Schüler dorthin geschickt haben. Immerhin gehörten die Lehrerin und über die Hälfte der Teilnehmer nicht zur Allianz.«
»Zu wem denn sonst? Zu den Dämonen?«
Tigris wusste, dass die meisten Sippen auf der Welt der RSA, der Rosenstern-Allianz angehörten, die vor über hundert Jahren als Reaktion auf ›die um sich greifende moralische und charakterliche Verderbtheit von Sippen und Individuen‹ gegründet worden war. Sie bildete den Dachverband für Gemeinschaften auf der ganzen Erde, die in etwa an das gleiche glaubten und das gleiche Ziel hatten: Die Menschheit vor den Dämonen zu beschützen, die ihrerseits scheinbar keinen anderen Lebenssinn gefunden hatten, als die Welt zu vernichten.
»So ähnlich. Das Seminar wurde von den Abtrünnigen veranstaltet. Jedenfalls fand ich Lux Savannis Fähigkeiten der Wahrnehmung wirklich beeindruckend für ein moralisch und charakterlich verderbtes Individuum. Doch wie pflegt Lux Livas immer zu sagen: Sogar die Dämonen besitzen Weisheit.«
»Mathematik ist garantiert so eine Dämonenweisheit, worunter Leute wie ich noch heute leiden müssen.«
»Das ist wahr. Dämonen lieben Mathematik. Sie sind ganz vernarrt in Zahlen.«
»Deswegen mag ich die Engel viel lieber. Die haben mit so etwas bestimmt nichts am Hut. Hat eigentlich jemand von euch mal wieder in Windwibbenburg einen Engel gesehen?«, fragte Tigris mehr spaßeshalber und schaute gelassen in die Runde.
»Oh ja, gestern erst wieder«, erzählte Ember begeistert. »Stell dir vor, Tig: Sie können sogar richtig witzig sein.«
»Ach was, Ember!«, sagte Ilvyn, ein dünnes vierzehnjährige Mädchen mit Brille und sah ihn kritisch an.
»Das war kein richtiger Engel, den wir gestern oben in der Burg gesehen haben. Als ob Engel die Gestalt von Miss Marple annehmen...«
»Und was sonst, wenn Dämonen keinen Fuß nach Windwibbenburg setzen können, ohne vernichtet zu werden?«
»Vielleicht höchstens ein Cherub. Jedenfalls kein richtiger, Hoher Engel wie der Heilige Gabriel oder der Heilige Michael.«
»Auch wenn es jemand aus der unteren Hierarchie war: Es war ein Engel. Und ich fand sie sympathisch. Es war zwar merkwürdig, was sie zu mir gesagt hat, aber ich konnte doch ganz deutlich ihre Aura erkennen; das ist doch das erste, was ein Seher lernt!«
»Und was hat sie gesagt?«, wollte Tigris begierig wissen. Das meiste an der merkwürdigen Religion der Sippen ließ sie kalt, aber Engel... Engel faszinierten sie vollkommen.
»Klapp’ den Mund zu, Junge, und bleib locker. Oder hast du noch nie einen Cherub gesehen? Aber ich gebe keine Autogramme, damit das schon mal klar ist.«
»Häh?«, Tigris musste kichern.
»Ja, ich schwöre bei meiner unsterblichen Seele, genau das hat sie gesagt und Ilvyn hat es gehört.«
»Ein richtiger Engel würde so etwas niemals sagen«, beharrte Ilvyn und löffelte mit finster zusammengezogenen Brauen weiter ihr Müsli.
»Dieser Cherub hat es aber gesagt. Und Cherubim sind - wie wir alle in den allerersten Stunde Angelogie gelernt haben - ebenfalls Engel, wenngleich der untersten Hierarchie. Danach kommen die Melegonin und dann die Heiligen Zerrafin.«
»Vielleicht war es ein cooler Engel, der keine blonden langen Haare und Flügel mochte?«, sagte Tigris heiter lächelnd.
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung, Tigris!«, zischte Ilvyn da zornig. »Für dich und andere von deiner Sorte sind Engel und Dämonen doch nur Hirngespinste. Ihr glaubt nur das, was ihr seht, was sehr hochmütig ist, wenn man in Wahrheit kaum etwas sieht.«
»Natürlich glaube ich an Engel, auch wenn ich armes Menschlein sie nicht sehen kann. Vielleicht wollt ihr nur das sehen, was ihr sehen wollt! Gibt es eine Art Kleiderordnung bei höheren Mächten?«
Ilvyn holte tief Luft und sah Tigris fest an - was diese bitter bereuen ließ, sich wieder einmal mit jemandem auf eine Diskussion eingelassen zu haben, der morgens mit der Weißen Bibel der Xendii aufwachte und abends darin las, bis er darüber einschlief. Es folgte, wie nicht anders zu erwarten, ein Zitat aus daraus.
»Wer aber ist schöner als der Siebte Erzengel Gottes? sprach der König. Seine Augen sind klar und strahlend, kein böses Wesen kann ihrem Blick standhalten, ohne dass seine Seele sich gegen seine Bosheit erhebt und es augenblicklich fliehen möchte. Doch es hält den Atem an und wagt sich nicht zu rühren. Wenn die goldenen Schwingen des Erzengels schlagen, weht Blütenduft umher gleich einer Sommerbrise im Garten. Kraftvoll und stark ist er, ein furchtloser Kämpe seines Herrn.
Das Geheime Buch des Mose 2. Absatz, 1 - 8 Vers.«
Sie erhob sich mit Tränen in den Augen. »Es ist Zeit für die Morgenmesse.« Dann eilte sie aus dem Speisezimmer, wobei sie fast Tigris' Mutter in die Arme gelaufen wäre.
»Ach, Tigris«, seufzte Bat Furan. »Du weißt doch, wie sensibel sie ist. Ich wette, wir dürfen uns jetzt eine geschlagene Stunde lang eine Predigt über die Bedeutung des Geheimen Buch des Mose anhören, was ja Lux Livas’ Trost für gekränkte Seelen ist. Und die Strafe für widerborstige Freidenker wie dich.«
»Wie sie wohl eine Diskussion mit einem eingefleischten Atheisten überstehen würde?«, fragte sich Ember laut.
»Wahrscheinlich würde sie abwechselnd ohnmächtig werden und in Tränen ausbrechen.« Tigris rollte missmutig die Augen, weil sie auch schon ihre kleine, zierliche Mutter auf sich zukommen sah.
»Tigris Aurora, was hast du wieder zu Ilvyn gesagt?«, fragte Danubia vorwurfsvoll und hielt Tigris fest im Blick ihrer lindgrünen Augen.
»Eigentlich nichts Schlimmes«, erklärte Ember, bevor Tigris den Mund aufmachen konnte. »Wir unterhielten uns über den Cherub, der gestern wegen einer Beratung mit Lux Livas hier bei uns gewesen war. Er hatte eine... etwas ungewöhnliche Erscheinungsform gewählt.«
»Und deswegen ist sie weinend hinausgelaufen? Wenn du sie irgendwie verletzt hast, solltest du dich entschuldigen, Tigris. Wir wollen unsere letzten Wochen in Windwibbenburg doch besser friedlich verbringen.«
Tigris klappte der Mund herunter. »Wie...? Wir dürfen für immer in Düsseldorf bleiben?« Sie schlug selig lächelnd die Hände vor den Mund.
»Ja. Nach den Feiern zu Equinox Veris wird das Tor zwischen unserer Wohnung in Düsseldorf und Windwibbenburg gelöscht«, erklärte Danubia knapp. Da es auffällig still am Tisch geworden war und alle noch Anwesenden sie groß ansahen, fuhr sie fort: »Das Talent, Dinge zur unpassenden Zeit herauszuposaunen, hat Tigris anscheinend von mir. Ja, Lux Livas hat sich endlich einverstanden erklärt. Ihr wisst, dass es mir sehr am Herzen liegt, dass Tigris ... unter ihresgleichen lebt. Genau wie viele von euch es genauso selbstverständlich für das Richtige halten, ihre Kinder hier unter ihresgleichen aufwachsen zu lassen.«
»Aber was ist mit deiner Aufgabe als Lehrerin?«, fragte Lux Montana bestürzt, eine der wenigen Mittvierzigerinnen Windwibbenburgs. »Willst du all deine Pflichten einfach von dir werfen und diejenigen alleine lassen, die auf deine Anleitung angewiesen sind? Die Zeiten sind schlimm geworden.«
»Wieso halten wir es nicht wie bisher?«, warf auch Lux Joel ein, ein ernster, fünfundzwanzigjähriger Seher. »Die Lösung von zwei Wohnsitzen, schnell zu erreichen durch ein Privates Tor, war doch für uns alle angenehm.«
»Ehrlich gesagt, fühle ich mich ausgebrannt«, sagte Danubia leise. »Ich habe der Rosenstern-Allianz fünfzehn Jahre lang gedient. Ich mache von meinem Recht auf frühzeitige Entlassung Gebrauch. Vielleicht nicht für immer. Aber im Moment sehe ich mich nicht mehr in der Lage, meine Schüler mit angemessener Ruhe zu unterrichten.«
Tigris sah, dass ihre Mutter die Hände so fest in das Holz der Stuhllehne vor ihr krallte, dass die Knochen ihrer schmalen, zierlichen Hände weiß hervortraten. Gleichzeitig glaubte sie die unausgesprochene Missbilligung in den Augen zu sehen, die sie, Tigris - zufällig oder nicht - mit ihrem Blick streiften. ›Klar, sie geben mir alleine die Schuld, egal, was Mama sagt‹, dachte sie betrübt und wäre am liebsten augenblicklich aufgesprungen, nach oben zum Tor und geradewegs zurück in ihr Zimmer in Düsseldorf gerannt.
»Wer von uns wünscht sich nicht, seinem Schicksal entfliehen zu können«, sagte Ember leise und zog so etliche unverhohlen zornige Blicke auf sich. Impulsiv umarmte Tigris ihn beschützend und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Doch Ember wollte auf etwas anderes hinaus.
»Aber ob man so ein selbstgewähltes Exil wirklich ertragen könnte, mit dem Wissen um die Wahrheit? Ich glaube, ich könnte es nicht. Mit einem kleinen Bernstein ist es möglich, die Aura des Xendiums für die Dämonen zu verwischen. Erinnerungen kann er jedoch nicht löschen. Bringe ich es fertig, vor dem Fernseher auf der Couch zu liegen, mit der Gewissheit, dass andere Xendii tagtäglich im Kampf gegen die Dämonen sterben?«
»Es gibt mehr als genug Seher, geradezu im Überfluss«, wandte Danubia ein und strich sich unsicher eine Strähne ihrer schulterlangen, dunklen Haare aus dem Gesicht. »Wirklich wichtig sind wir eigentlich nicht. Die wahre Verantwortung lastet auf den Schultern der Rufer und Wandler.«
»Noch«, entgegnete Lux Montana mit ihrer rauen Stimme. »Es gab schon mehrmals Zeitalter auf unserer Welt, in denen die Kämpfer ohne gute Seher niemals hätten entscheiden können, ob sie einen wahren Menschen vor sich hatten oder einen fleischgewordenen Dämonen. Wie könnten wir sicher sein, dass diese Zeiten nicht eines Tages wieder anbrechen? So bedrohlich war die Lage in den letzten dreihundertfünfzig Jahren nicht mehr, wie wir sie in diesen Tagen vorfinden. Der Einfluss der dämonischen Gesellschaften auf die Menschen nimmt stetig zu, und wir leisten nichts als Sisyphusarbeit. Wo wir einen Dämon vernichten, tauchen zehn neue in den nächsten Stunden auf. Nicht zuletzt dank diesen Dämonenfreunden, diesen... Abtrünnigen.«
»Mein Entschluss steht fest. Wenn die Situation sich jedoch wirklich verschärft, werde ich für die Sippe und die Rosenstern-Allianz antreten«, sagte Danubia. »Und nun sollten wir uns besser auf den Weg zur Burg machen, die Messe fängt in einer Viertelstunde an.«
Etliche ältere Xendii erhoben sich seufzend, während die Jüngeren rasch hinauseilten, miteinander tuschelten und Tigris Blicke zuwarfen, die dieser offen feindselig vorkamen.

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»Lass uns die Predigt gemeinsam durchstehen«, sagte Tigris und hakte sich bei Ember unter, um in gebührendem Abstand von irgendeinem anderen Xendi den etwa eineinhalb Kilometer langen Waldweg hoch zur Burg Windwibb zu gehen. Ihre Mutter befand sich  sehr weit vorne, voll und ganz von Lux Montana und Lux Joel in Beschlag genommen, die erregt auf sie einredeten.
»Und wie stehe ich es durch, wenn du bald für immer weg bist? «, fragte Ember leise.
»Wie stehst du es denn durch, wenn ich - wie so oft - gar nicht da bin?«
»Nun ja... Hin und wieder gelingt mir die Selbstversenkung. Dann sehe ich zwar wach und aufmerksam aus, schlafe aber in Wahrheit.«
»Das ist ja mal eine prima Taktik. Könnte ich hin und wieder auch für die Geschichtsstunden gebrauchen.«
»Es ist nur so schwer, sie zum richtigen Zeitpunkt zu beenden. Deswegen bin ich bis jetzt ziemlich oft aufgeflogen. Einmal hat mich Lux Livas zur Strafe einen ganzen Tag und eine ganze Nacht in der Kapelle sitzen lassen, ohne dass ich es gemerkt habe. Erst Antigua hatte Mitleid mit mir und hat mich am nächsten Morgen mit einem kleinen elektrischen Schlag wachgerüttelt.«
»Antigua ist schon eine Sache für sich. Sie sollte niemals eine Großstadt wie New York betreten. Hinterher bricht Chaos aus, weil wegen ihr die Stromversorgung in der ganzen Stadt ausfällt.«
»Antigua wird von Woche zu Woche besser. Sie ist eigentlich ein herzensgutes Mädchen. Und wenn du wüsstest, welches Schicksal sie hierher nach Windwibbenburg geführt hat, würdest du vielleicht netter zu ihr sein.«
Ember warf Tigris einen ernsten Blick zu.
Doch Tigris schnaubte nur trotzig. »Ich kann nichts dafür, dass ihr Vater von Dämonen getötet worden ist!«
»Es hat nichts mit dem Tod ihres Vaters zu tun, sondern eher mit bestimmten, wirklich grausamen Regeln der Allianz. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es hat tiefe Wunden in ihrer Seele hinterlassen. Und sie ist definitiv nicht eingebildet.«
»Doch, ist sie. Die meisten Xendii sind eingebildet«, beharrte Tigris und kickte missmutig in den Schotter des Waldweges, dass er in hohem Bogen aufspritzte. » Sie fühlen sich auserwählt, weil sie Fähigkeiten haben, die normale Mensch-«
»Was soll das denn heißen, normale Menschen?«
»Ja, Entschuldigung! Dann eben Menschen ohne Xendium oder das Wissen darüber. Sie würden die Xendii jedenfalls beängstigend finden. Und die Xendii fühlen sich mächtig und toll und halten uns für Schäfchen, die man zwar beschützen, aber sonst nicht weiter ernst nehmen muss.«
»Das ist Unsinn, Tig. Die meisten jungen Xendii beneiden dich um dein normales Leben. Wie gerne würden wir einfach mal in den Städten spazieren gehen, einfach einen netten Tag mit den anderen Menschen erleben, Spaß haben und lachen. Aber das geht nicht. Sobald irgendein Dämon einen Xendii wahrnimmt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Dann würde der Ausflug unter Umständen Unschuldige das Leben kosten, Häuser würden zu Bruch gehen und die Xendii wahrscheinlich in der nächstbesten Psychiatrie landen, wenn sie nicht schnell genug fliehen können. Wir schotten uns nicht vom Rest der Menschheit ab, weil wir uns überlegen fühlen. Wir müssen uns von ihnen möglichst fernhalten, weil sie uns - wie du schon richtig gesagt hast - nicht verstehen und Angst haben und weil wir sie schon durch unsere bloße Anwesenheit gefährden könnten. Das war schon immer so.«
»Soll das heißen, du würdest nicht zu meiner Geburtstagsfeier kommen? Ich feiere nächstes Wochenende in Düsseldorf, und du bist herzlich eingeladen!« Tigris blieb stehen und sah Ember flehentlich an. Der junge Seher seufzte aus tiefstem Herzen und senkte traurig seine samtbraunen Augen. Tigris merkte ihm deutlich an, dass es ihm ehrlich leid tat, als er sagte: »Mal abgesehen von den zig Regeln, die so etwas verbieten - die ich für dich übrigens ohne weiteres brechen würde -... Ohne einen Bernstein bin ich die Käseplatte und die Dämonen die hungrigen Mäuse. Ich könnte mich überhaupt nicht gegen sie wehren.«
»Ich würde sogar Bat Furan einladen, damit er dich beschützt, nur damit du kommen könntest!«
»Das würdest du tun?« Ember grinste und zog sie für einen Moment fest an sich. »Was für ein Opfer, wo du ihn am allerwenigsten leiden kannst. Dabei mag er dich wirklich gerne.«
»Das habe ich ja eben gemerkt«, entgegnete Tigris kühl.
»Trotz des Xendiums ist er tatsächlich auch nur ein Junge. Und Jungs sind so. Jedenfalls erinnere ich mich an die Zeit, bevor das Xendium bei mir ausgebrochen ist. Da hieß es: Je mehr du ein Mädchen magst, desto heftiger solltest du sie ärgern.«
»Dann ist es wohl unsterbliche Liebe bei ihm. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft der Inhalt irgendwelcher Flaschen oder Tuben bei Tisch von einer Sekunde zur anderen plötzlich in meinem Gesicht oder meinen Klamotten gelandet ist. Oder diese nette Art, Türen vor meiner Nase zufliegen zu lassen, irgendwelche Gegenstände auf der Treppe auftauchen zu lassen, während ich beschwingt hinauf- oder hinuntergehe oder - ganz liebevoll - mitten in der Nacht die Fenster aufspringen und irgendwelche ekligen Insektenschwärme  in meinem Bett landen zu lassen. Ich dachte, so etwas machen nur kleine, pubertierende Jungen.«
»Bei uns Männern geht die Pubertät niemals restlos vorüber.«
»Wieso verhältst du dich nicht so ätzend? Du bist immer so freundlich und ernst, ganz lieb und vor allem so geduldig mit allen.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich wenigstens um mich herum Frieden haben möchte, wenn es schon in meinem Kopf so chaotisch zugeht.«
»In deinem Kopf ist alles in Ordnung, glaub es mir.«
»Ich weiß nicht. Manchmal denke ich...«. Ember sah sich besorgt um, sodass Tigris wusste, dass er wieder einmal etwas ansprechen wollte, was nicht im Einklang mit den Vorstellungen der Sippen war. »Manchmal denke ich zum Beispiel, dass die Abtrünnigen gar nicht so übel sind, wie sie von der RSA dargestellt werden. Bei ihnen gibt es keine Sippen, keine Erbsünde, nicht Millionen von Regeln, die man zu beachten hat... sie sind viel freier. Jeder Seher, der sich unter die anderen Menschen mischen möchte, bekommt anstandslos einen Bernstein... Viele von ihnen leben sogar mitten unter den Menschen; ich weiß nicht, wie sie es schaffen, dass die Dämonen sie dort nicht belästigen. Stell dir einmal vor...«. Er senkte die Stimme. »Bei ihnen ist es nichts besonderes, wenn etwa zwei Frauen oder zwei Männer eine Beziehung haben - du weißt schon, diese Art Beziehung, für die man in den Sippen sofort exkommuniziert wird.«
»Ich wüsste auch nicht, was daran so gotteslästerlich sein soll. Als ob man es sich aussuchen könnte, wen man liebt. Die Sippen sind wirklich altmodisch und rückständig. Was für ein Kampf es war, bis Livas sich vor zwei Monaten dazu durchgerungen hat, Computer mit Internetzugang anzuschaffen! Ich habe zu Hause schon seit drei Jahren so ein Ding stehen.«
»Lux Savanni hat mich wirklich beeindruckt«, Ember lächelte, versunken in anscheinend sehr erfreulichen Erinnerungen. »Sie ist noch so jung, gerade mal neunzehn. Wenn sie sich stark genug konzentriert, kann sie sogar kurz Gedanken lesen. An ihr ist nichts Dämonisches. Sie ist die Güte in Person. Ich glaube, die Abtrünnigen werden nur deswegen mies gemacht, weil die Domén Arxes der Welt ihre Macht mit niemandem teilen wollen. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, dass schon fünf der Zwölf Noden unter der direkten Kontrolle der Abtrünnigen stehen. Aber im Gegensatz zur Allianz erlaubt PAGAN, die Organisation der Abtrünnigen, jedem Xendii ungeachtet seiner Abstammung, durch die Noden und die damit verbundenen Tore wohin auch immer zu gehen. Wenn ein Abtrünniger Wege benutzen will, die der RSA unterstehen, wird er stundenlang aufgehalten und schikaniert.«
»Pagan. Was für ein komischer Name. Ist das nicht englisch und bedeutet ›Heide‹?«
»Das auch. Aber eigentlich sind es die Anfangsbuchstaben von Paranormal Associations Global and Autonom Network. He, was ist denn vorne los?«
Tigris wandte daraufhin den Kopf und betrachtete neugierig die Szene, die sich in einiger Entfernung weiter vorne auf dem Waldweg abspielte: Die älteren Xendii und Träger waren stehen geblieben und schienen ziemlich aufgebracht über etwas zu sein. Dann sahen sie Bat Furan auf sich zu rennen. Ganz aus der Puste blieb er bei ihnen stehen. »Die Gute Nachricht: Der Gottesdienst fällt aus - Lux Livas muss zu einer Notversammlung in der Domén Arx. Die Schlechte: Wir haben eine weitere Node verloren! Die Domén Arx von Atlantika ist zu den Dämonenfreunden übergelaufen!«
»Oh...«. Ember sah ziemlich verdattert aus. Immerhin hatten sie keine Minute vorher genau darüber gesprochen.
»Fällt die Morgenmesse aus, steht das Weltenend ins Haus«, bemerkte Tigris und sah gespielt ängstlich in den Himmel.
»Nicht ganz«, sagte Bat Furan mit todernstem Gesicht. »Fällt die Morgenmesse aus, steht ’ne Fete uns ins Haus. Während die Lehrer und die anderen Erwachsenen jetzt bestimmt im Gemeindesaal diskutieren und sich über diesen Schock einen oder zehn genehmigen, werden wir die Gelegenheit nutzen und uns in die Südsee verdrücken.«
»Mal abgesehen davon, dass dort jetzt auch strahlender Sonnenschein um...«. Ember sah auf seine Uhr. »Neun oder zehn Uhr abends herrscht: Man würde uns niemals den Zutritt zu den Noden der Abtrünnigen erlauben. Nicht ohne Sondergenehmigung und Sippen-Siegel.«
»Dann eben Zypern oder die türkische Adriaküste. Egal, irgendwie werden wir die unerträgliche Freizeit schon nutzen. Wir könnten ja auch in Düsseldorf bummeln gehen. Mit unserer Besten Freundin Tigris.«
»Wenn ihr euch traut, bitte sehr. Ich besuche euch jedenfalls nicht im Gefängnis oder in der Heilanstalt«, sagte Tigris spöttisch und verschränkte die Arme, insgeheim Stoßgebete gen Himmel sendend, dass Bat Furan sich ja nicht an dieser Idee festbiss. Sie musterte ihn argwöhnisch. Groß, breitschultrig, dunkelhaarig, die Augen so blau wie der Himmel bei bestem Sommerwetter - er war genau der Typ Junge, auf den beispielsweise ihre beste Freundin Berry augenblicklich fliegen würde. Nein, das kam gar nicht in Frage. Andererseits... sie betrachtete Ember liebevoll. Er sollte bei ihrem Geburtstag dabei sein. Er musste dabei sein! Er war wie ein Bruder für sie, und er hatte es verdient, einmal für ein paar Stunden der Enge Windwibbenburgs und seiner Sippe zu entfliehen.
»Hättest du Interesse an einem Job als Bodyguard?«, fragte sie Bat Furan daher möglichst beiläufig.
»Aber Tigris! Ich bin entsetzt! Nur weil wir dich nicht leiden können, heißt das noch lange nicht, dass einer von uns dich deswegen umbringen würde.«
»Da wäre ich mir überhaupt nicht so sicher. Nein, es geht um meinen Geburtstag, den ich in Düsseldorf feiern werde. Ich möchte Ember dabeihaben. Und damit ihm nichts passiert, sollst du mitkommen. Wenn du möchtest. Und wenn du dich traust, natürlich.«
»Also, ich würde mich dann theoretisch und auch praktisch trauen«, bemerkte Ember in seiner gewohnt bescheidenen Art.
»Das ist ja wohl das geringste Problem«, antwortete Bat Furan und sah nachdenklich in die Baumwipfel des Waldes. »Aber es wäre besser, wenn Antigua auch mitkommt. Sie steckt locker etliche Schüsse von Dämonen weg. Ich kann zwar gut schießen, aber mit den Körperschildern hapert es noch bei mir.«
»Warum feiere ich es dann nicht gleich hier in Windwibbenburg?«, stöhnte Tigris und verdrehte die Augen. »Gut, ich überlege es mir. Falls sie mir überhaupt zuhören würde. Sie ist noch sauer wegen eben. Dabei habe ich es gar nicht so gemeint, wie sie es aufgefasst hat.«
»Das ist dein Problem. Ich gehe dann mal wieder zu den anderen«, rief er und stürmte davon zu den Grüppchen der jungen Xendii, die sich vor einem umgestürzten, moosbewachsenen Baumstamm versammelt hatten, der einige Schritte abseits des Weges im Wald stand. Vor ihnen hüpfte Arktur nervös von einem Bein aufs andere, während die Xendii ihre Scherze rissen.
»Na los, zeig mal, was du schon drauf hast!« »Wir dachten schon, deine Mutter hätte sich bei deiner Zeugung im Mann geirrt und du wärst vollkommen unbegabt.« »So unbegabt wie Tigris.« »Tigris kann gut abspülen, sagt nichts gegen Tigris.«
Tigris setzte ihren verächtlichsten Gesichtsausdruck auf und schlenderte untergehakt bei Ember langsam zu ihnen.
»Ich kann schon echt gut Wind machen, ich habe heute Morgen um fünf sogar meinen Drachen steigen lassen. Aber er ist zu Hause, sonst könnte ich es euch zeigen«, sagte Arktur und leckte sich nervös und verlegen über seine ewig rissigen Lippen.
»Wir könnten doch Tigris nehmen, dann würden sich eventuell mehrere Probleme auf einmal lösen«, schlug Dheneb, eine vierzehnjährige, burschikose Wandlerin vor. Wie Arktur war sie nach einem Stern benannt. Andere trugen Flussnamen - wie Tigris selber - oder den Namen eines Windes - wie Bat Furan.
»Um mich auch nur einen Zentimeter hoch schweben zu lassen, braucht ihr mindestens zehn starke Wandler und nicht dieses Frettchen«, entgegnete Tigris müde lächelnd.
Bat Furan zog sich edelmütig seine Diesel-Jeansjacke aus, die er erst eine Woche zuvor auf einem Markt in Singapur billig erstanden hatte. »Das reicht für den Anfang. Wenn du es schaffst, sie mindestens drei Meter hoch zu wehen, gebe ich dir ein Eis in meinem Lieblingsbistro in Istanbul aus.« 
Er breitete sie vor Arktur auf den vertrockneten Blättern des Waldbodens aus und trat dann zurück.
»Okay, das kann ich schaffen«, sagte Arktur, schloss die Augen und holte tief Luft.
Wider willen beobachtete Tigris ihn gespannt.
Arktur begann sich langsam im Kreis zu drehen. Noch wirbelten nur die Blätter durch seine Schritte auf. Erstaunlich rasch fing jedoch das Laub in einem Radius von etwa zwei Metern an, aufzufliegen, als scheuchte es der Junge mit einem unsichtbaren Stock in die Höhe.
»Nicht übel, er benutzt Aethron-Nebel, um die Luft zu bewegen«, raunte Ember den anderen zu.
Aethron.
Tigris wusste, dass letztendlich die Fähigkeiten der Xendii darauf zurück zu führen waren, dass sie im Gegensatz zu den anderen Menschen das allgegenwärtige Aethron wie Engel oder Dämonen beeinflussen konnten. Es kam angeblich überall im Universum vor, war laut Ember etwas völlig natürliches und besaß die Eigenschaft, auf Materie zu wirken. Für die meisten Menschen auf der Welt war es unsichtbar, weswegen sie die unheimlichen Dinge, die ein Xendi vollbringen konnte, auf in ihm sitzende Kräfte zurückführten, oder auf einen Pakt mit dem Teufel. Wie so vieles, was die Menschen glaubten, stimmte das natürlich überhaupt nicht. Ohne Aethron kein Xendium, keine Xendii - so einfach war die Formel. Man konnte diese Fähigkeiten nicht erlernen, und auch nicht an der Garderobe abgeben. Einmal ausgebrochen, konnte nichts und niemand das Xendium wieder verlöschen lassen. Einzig die Seher hatten durch einen besonders präparierten Bernstein die Möglichkeit, ihre Aura für Dämonen zu verwischen und so möglichen Angriffen zu entgehen. Allerdings hatte das für sie bei lang anhaltendem Gebrauch den gravierenden Nachteil von Konzentrationsschwäche und Bewusstseinsstörungen.
»Hey, Arktur, du Naturtalent!«, johlten die Xendii. Der schmächtige Junge drehte sich nun sehr schnell im Kreis, während ein Schleier aus trockenem Laub und dürren Zweigen sich um ihn herum und mit ihm bewegte. Die Jeansjacke schwebte schon in Arkturs Brusthöhe.
»Er hat es echt drauf. Wer hätte das gedacht?«, rief Bat Furan anerkennend.
Mit einem Mal blieb Arktur stehen und warf die Hände in die Höhe, woraufhin das Kleidungsstück steil nach oben zwischen die Baumwipfel flog - und in den Ästen einer kahlen alten Eiche hängen blieb.
»Drei Meter hätten gereicht, du Angeber!«, lachte Bat Furan und sah eigentlich überhaupt nicht erbost aus. Doch Arktur, der den älteren Wandler zutiefst verehrte, stampfte zornig mit dem Fuß auf und rief: »Blöder Baum!« Gleich darauf machte er eine heftige Schleuderbewegung in Richtung der Jacke. Es gab ein hässliches, endgültiges Geräusch von splitterndem Holz - dann stürzten zwei große Äste mitsamt Bat Furans Jacke zu Boden. Als sie auftrafen, wirbelten sie eine große Wolke aus trockenem raschelndem Laub auf.
»Schießen kannst du sogar auch schon, Kleiner!«, sagte einer der jungen Xendii und alle lachten.
»De Navarris ist ganz wild auf Talente, die es den Dämonen so richtig besorgen können!«
Nur Ember schaute bestürzt auf die herabgeschossenen Äste, während Tigris vor Wut kochend auf Arktur zuschoss und ihn anbrüllte: »Du Spinner! Der Baum hat dir nichts getan!« Zornesrot fuhr sie herum und zischte den amüsierten Xendii zu: »Ich dachte, Bäume sind heilig und man soll sie nicht ohne Grund verletzen, und schon gar nicht aus Spaß zerstören!«
»Reg’ dich ab, Tigris. Er hat ein wenig überreagiert, das war alles«, sagte Antigua kalt.
»Arktur? Du siehst so grün aus...«, bemerkte Ember besorgt und legte dem Jüngeren die Hand auf die Schulter.
»Tja, das gehört dazu. Wer angeben will, muss auch was hergeben«, kicherte Dheneb. »Die ersten Wochen nach Ausbruch meines Xendiums habe ich gleich zehn Kilo abgenommen, weil ich gar nichts soviel essen konnte, wie ich wieder auskotzen musste.«
Schon begann Arktur zu husten und zu würgen. Stöhnend sank er auf die Knie, die Hände auf seinen Magen gepresst. Plötzlich sprang Ember zu Seite, gerade noch rechtzeitig, so dass der unappetitliche, erbärmlich stinkende Schwall aus Arkturs Mund ihn nicht traf.
Die anderen Xendii, die sich einige Schritte zurückgezogen hatten, betrachteten Arkturs Brechanfall seelenruhig und augenscheinlich ohne größeres Mitleid.
»Man sollte es anfangs ruhig angehen und nicht soviel mit Aethron herumspielen«, befand Antigua.
»Aber man tut es dann natürlich doch, man kann nicht anders«, sinnierte Bat Furan. »Was habe ich mir damals die Seele aus dem Leib gebrochen. Und die Magenkrämpfe haben mich fast umgebracht. Im Moment ist Nasenbluten angesagt... Gott wollte nicht, dass wir allzu viel Spaß mit unserem Xendium haben, das steht fest.«
Inzwischen war Arktur zu einem schluchzenden, zitternden Häufchen Elend zusammengebrochen, wurde in unregelmäßigen Abständen von einem spastischen Anfall durchgeschüttelt und erbrach in der Zeit dazwischen die letzten Reste seines Frühstücks.
›Das geschieht ihm ganz recht‹, dachte Tigris voller Genugtuung. ›Das geschieht ihnen allen ganz recht. Sie halten sich für etwas Besonderes und geben ständig mit ihren Fähigkeiten an. Gott ist gerecht.‹
»Versuche, tief und regelmäßig durch zu atmen«, schlug Ember vor, der als einziger bei Arktur auf dem Waldboden hockte und ihm beruhigend über den Rücken strich. Doch dieser kroch auf allen vieren benommen durch das raschelnde Laub, würgte und hustete fast ohne Unterbrechung.
Tigris seufzte. Allmählich begann Arktur ihr Leid zu tun. Er war zwar ein Spinner, der aus unerfindlichen Gründen oft wie eine Klette an ihr und Ember hing, wenn Tigris in Windwibbenburg war - aber im Gegensatz zu manchen anderen bedachte er sie nicht mit blöden Sprüchen oder spielte ihr irgendwelche hirnrissigen Streiche.
Sie kramte in ihrer Jeansjacke nach einem unbenutzten Taschentuch und ging zu dem unglücklichen Arktur. Er brach inzwischen nicht mehr, sah aber immer noch hundeelend aus und zitterte.
»Hier, wisch dein Gesicht ab, Frettchen«, sagte sie und hielt ihm das Tempo hin.
»D-danke«, ächzte Arktur. Tigris zerstrubbelte ihm aufmunternd die rotbraunen borstigen Haare.
»Tigris hat doch ein Herz für uns Xendii«, spöttelte jemand hinter ihr.
»Kotzende, spastisch zuckende Leute mit Nasenbluten und tiefen Ringen unter den Augen kann selbst ich nicht hassen«, erwiderte Tigris kalt. »Jemandem, der leidet, zu helfen, ist eine zutiefst menschliche Regung.«
»Dämonen kennen kein Mitleid«, entgegnete Bat Furan. »Und sie halten dir ganz bestimmt kein Taschentuch hin. Man muss lernen, diese Nebenwirkungen auszuhalten. Besser, Arktur gewöhnt sich von Anfang an daran. Übersensible Xendii leben in der Regel nicht lange genug, um ihre Wehwehchen zu kultivieren.«
»Ja, ihr seid ja alle so hart im Nehmen, ich weiß. Die Helden, die permanent die Menschheit vor dem Bösen schützen, ohne dass sie es überhaupt weiß...«. Tigris funkelte die Gruppe der Xendii feindselig an.
»Tigris!« Ember zupfte seine Freundin vorwurfsvoll am Jackenärmel.
»Ember, keine Sorge«, sagte Antigua gelassen. »Sie kann uns gar nicht verletzen. Was weiß sie schon von uns oder über die Welt. Die wahre, ganze Welt?« Antigua schnaubte verächtlich auf und wandte sich als erste zum Gehen um, woraufhin alle anderen Xendii es ihr wie auf Kommando gleichtaten. Sie hingen immer zusammen, mindestens aber zu zweit. Und jeder Seher blieb in der Nähe eines Wandlers oder bei Antigua, der einzigen Ruferin in Windwibbenburg.
»Wartet auf mich, ich bin wieder okay«, krächzte Arktur, kam mit Embers Hilfe schwankend wieder auf die Beine und torkelte Seinesgleichen hinterher. Die Gruppe nahm ihn in ihre Mitte und entfernte sich rasch in Richtung Burg. Der Waldweg, den sie beschritt, endete in etwa achthundert Metern Entfernung vor einer langen und steilen Granittreppe, die hinauf zu dem alten Gebäude führte. Tigris mochte das düstere, kalte Gemäuer überhaupt nicht. Früher hatte sie sich oft gefragt, wo die Xendii unterrichtet wurden, war die Burg doch eigentlich ziemlich klein. Inzwischen wusste sie, dass es dort oben größtenteils Korridore mit zahlreichen Türen gab - Türen, die zu Zimmer führten, die sich irgendwo anders in Deutschland befanden, zumeist Passagen zu den Mayor Arxes - den Burgen - der größten Sippen. Da Windwibbenburg eine eher kleine, unbedeutende Sippe war, gab es in der Burg keine direkte Passage zur herrschenden Sippe Europas nach Barcelona. Dort lebte die über Europa wachende Gemeinschaft, die Domén Arx, dort lebten die De Navarris. Und dort befand sich auch die Node von Europa, einer der zwölf Knotenpunkte auf der ganzen Welt, von dem aus viele Passagen in andere Gegenden Mitteleuropas führten und der mit allen anderen elf Noden verbunden war, sodass man innerhalb weniger Minuten buchstäblich vom Nordpol zum Südpol gehen konnte, wenn man nur wusste, welche Noden und Tore man dafür durchschreiten musste. Was sich für Menschen wie Tigris wie ein Scherz anhörte: ›Ich geh’ mal rüber nach Grönland, wir treffen uns in zwei Stunden auf Fidji‹, war für die Xendii, Träger des Xendiums und einige wenige Menschen ohne Xendium etwas völlig Normales, und das schon seit Jahrtausenden. Wer brauchte da noch Besen oder fliegende Fabelwesen? Das waren ohnehin Legenden, die die Xendii entweder selber über sich in Umlauf gebracht hatten oder die aus zufälligen Ereignissen heraus entstanden waren. Jedenfalls glaubten die ›vernünftigen‹, ›aufgeklärten‹ Menschen in der Welt ohnehin nicht mehr an Hexen und Zauberer, was von diesen genau so beabsichtigt war. Und inzwischen galten sowohl ›Hexe‹ als auch ›Zauberer‹ inzwischen als Schimpfwörter und Beleidigungen unter den Xendii und bezeichneten jemanden, der sich mit seinem Talent ziemlich tollpatschig anstellte oder damit ein merkwürdiges Ergebnis erzielte.
Tigris bemerkte, dass Ember sehnsüchtig den Weg zur Burg betrachtete. »Du möchtest rauf, stimmt’s?«, fragte sie ein wenig gekränkt.
»Hm... ja, aber nicht wegen den anderen. Ich wollte noch etwas erledigen. Aber das kann warten.«
»Da aus dem Gottesdienst nichts mehr wird, hat meine Mutter bestimmt nichts dagegen, wenn ich ein paar Stunden in Düsseldorf bleibe. Sie ist ja ohnehin fürs erste beschäftigt mit der Sippe. Ich wollte mit Berry noch ein paar Besorgungen für nächste Woche machen. Geh also ruhig, Ember.« Sie lächelte ihn zur Bekräftigung strahlend an.
»Wirklich? Aber du bist doch spätestens zum Abendessen wieder zurück, oder?«
»Klar«, sagte Tigris und seufzte lustlos bei dem Gedanken daran. »In Wahrheit kann ich doch nicht ohne die permanenten Sticheleien meiner lieben Freakfreunde leben und brauche sie hin und wieder.«
»Sie denken bestimmt dasselbe. Auf eine Art bist du genau wie diejenigen, die du ständig kritisierst. Du grenzt dich selber ab - und beklagst dann die Arroganz der anderen Seite.«
»Antigua hat recht: Ich verstehe euch nicht. Dieses ständige Gerede von Dämonen und Tod, von Heiligen Engeln und bösen Abtrünnigen - wer nicht in der Xendii-Welt steckt, kann einfach nur annehmen, sie haben nicht alle Tassen im Schrank. Weißt du was?« Tigris sah Ember entschlossen an. »Dir und meiner Mutter zuliebe versuche ich aber trotzdem, mich ab jetzt zusammenzureißen. Bald sehe ich die meisten von euch nie mehr wieder...«
»Wie wahr. Falls du einige Jahre später wieder hier auftauchen solltest, sind viele bestimmt schon tot.«
Tigris schluckte und versuchte den schrecklichen Gedanken zu verdrängen, der für einen Moment in ihr aufgetaucht war: Wenn du einige Jahre später wieder hier auftauchen solltest, könnte Ember schon tot sein.
»Okay, wir sehen uns heute Abend«, sagte sie deshalb kurzentschlossen, drückte Ember noch schnell und flüchtete dann regelrecht zurück in die Siedlung.
Sie stürmte in das hübsche Fachwerkhaus, fegte die Holztreppe hinauf bis in ihr Zimmer und blieb dann außer Atem vor der schlichten Buchentür neben ihrem Bauernschrank stehen, um sich die Tränen vom Gesicht zu wischen, die sich mit einem Kribbeln in der Nase angekündigt hatten und die sie nicht zurückzudrängen vermochte.
»Wenn ihm etwas passiert, falle ich tot um«, dachte Tigris mit einem Kloß im Hals. Noch nie war ihr so stark bewusst geworden, wie grausam sich schon allein der Gedanke an den Tod eines Freundes anfühlte. Dann fiel ihr das Lied ein, das Ember ihr einmal leise vorgesungen hatte, als sie beide in den Alten Turm in den Wäldern Windwibbenburgs entflohen waren, ihrem Versteck, wo sie sich ihre geheimsten Gedanken und Träume gegenseitig offenbarten.

Wischt fort, ihr Lieben, die Tränen geschwind 
Gott hat mir endlich Frieden gegeben
Nun fliegt meine Seele frei wie der Wind
Ohne Schmerz ist mein neues Leben

Die Engel sind heute zu mir gekommen
Küssten zart mir das kalte Gesicht 
Haben mich in ihre Arme genommen
Trugen meine Seele hinauf in das Licht

Weint nicht, ihr Lieben, lächelt mir zu
Singt für mich nur fröhliche Lieder
Das schmerzvolle Leben verglüht im Nu
Bald schon sehn wir uns wieder

Sie schniefte und blieb immer noch unschlüssig vor der Tür stehen. Jetzt fingen schon wieder diese Kopfschmerzen an, diese Unruhe in ihrem Herzen. Seit einigen Tagen fühlte sie sich seltsam rastlos, wie jemand, der schon ein Gewitter herannahen fühlte, während die anderen noch fröhlich in der Sonne spielten.
Plötzlich fingen bunte Punkte an, vor ihren Augen zu tanzen. Lichtwirbel und strahlende Spiralmuster drehten sich um sie herum. Ihr wurde so schwindelig, dass sie sich gegen die Wand lehnte und ihre pochende Stirn gegen den kühlen Stein drückte.
In diesem Moment hörte sie zum ersten Mal eine raue, kalte Stimme von irgendwoher sprechen, die ihr merkwürdig vertraut vorkam. Doch woher kannte sie sie bloß? Es wollte ihr nicht einfallen.
Die Stimme klang verzweifelt und traurig:
›Einen mächtigen Palast habe ich mir und ihr gebaut, dort lebe ich für alle Zeiten angekettet. Er steht inmitten eines dunklen unfruchtbaren Landes, dessen giftige Wolken jeden Sonnenstrahl und jeden Stern aussperren. Blutiges Eis aus bitteren Tränen umfängt die verdorrten Gärten. Es ist so kalt, dass jeder erfrieren würde, beträte er es. Unüberwindbare Berge bewachen den Palast, erbaut aus Schuld und Hass auf alles.
Dies ist meine Zuflucht, die ich mir selber erwählt habe, mein Exil, das ich mir zu Recht für mein abscheuliches Verbrechen verdient habe.
Für das, was ich ihr angetan habe.‹
Benommen schüttelte Tigris den Kopf. Die Stimme verhallte, die Punkte und Lichterscheinungen verblassten. Erschrocken schaute sie sich um. Doch sie stand ganz alleine im Zimmer, irgendwo im Bayerischen Wald, an einem Ort, den die normalen Menschen aus bestimmten Gründen nicht wahrnahmen noch dessen Natur sie kannten.
›Die Freak-Schwingungen zerkochen auch schon mein Gehirn. Höchste Zeit, von hier abzuhauen!‹, dachte Tigris wütend, riss energisch die Tür auf und trat in die undurchdringliche Finsternis ein.
Ein Tor zu passieren, dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und fühlte sich in etwa an, als stünde man genau vor einem voll aufgedrehten Bassverstärker - nur ganz ohne Musik. Wenn man es das erste Mal in seinem Leben durchschritt, wurde man von der einen Moment lang dauernden grenzenlosen Panik befallen, in einen Abgrund zu stürzen. Doch dies währte nur solange, bis der ausgestreckte Arm eine glatte, harte Fläche fühlte und dagegen stieß. Dann ging eine andere Tür auf, und das Bein, das man ausgestreckt hatte, setzte beispielsweise auf stinknormalem Laminatboden auf.
Tigris seufzte erleichtert, als sie im Flur ihrer Düsseldorfer Wohnung stand. Ärgerlich stieß sie den zwei Meter hohen Barock-Spiegel hinter sich zu, der das Tor nach Windwibbenburg schloss und ging sofort zum Telefon, um Berry anzurufen.
Sie brauchte jetzt normale Menschen um sich, ganz stinknormale Leute, die sich nicht ständig mit Aethron, Kotzen und dem Tod beschäftigten.
 

© I.S. Alaxa
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Und schon geht's weiter zum 2. Kapitel...

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