Xendium - Manifestation von I.S. Alaxa
Teil 1 - Geschenk des Himmels
Kapitel II

»Wen lädst du denn nun eigentlich so alles ein, Tigris?«, fragte Berry auffällig unauffällig.
Sie saßen gegen ein Uhr mittags des gleichen Tages in Tigris Zimmer auf dem Flokati, tranken Tee und legten sich wieder einmal gegenseitig die Tarot-Karten. Nach dem sechsten Versuch war zumindest Berry endlich zufrieden mit dem Ergebnis.
»Die üblichen Verdächtigen, denke ich«, entgegnete Tigris. »Wieso? Oh, lass mich raten... er ist dunkelhaarig, hat braune Augen und grinst dich jeden Morgen an, bevor er in seine Klasse verschwindet.«
»Ach, was, der... ich bin vollkommen zufrieden mit Andreas. Mann, ich dachte da eher an jemanden, der sich in der Matrix verirrt hat und ohne deine Hilfe wohl nicht mehr herausfindet«. Berry umschlang mit ihren langen schlanken Fingern die henkellose Steingut-Tasse mit japanischem Symbol und lächelte verschwörerisch.
»Matrix?« Tigris hob amüsiert ihre Braue. »Der hat sich wohl eher in der Elms’ Street verirrt und möchte nur ungern wieder hinaus ins reale Leben manövriert werden. Aber süß ist er schon, doch doch.« Tigris schaute versonnen in ihr Spiegelbild im grünen Tee und seufzte. »Darius würde doch niemals kommen. Es sei denn, wir halten eine Schwarze Messe ab und schlitzen ein Ferkel auf, um aus den Eingeweiden die Wettervorhersage für die nächsten dreitausend Jahre zu lesen.«
»So krass ist er auch wieder nicht. Okay, er ist etwas schräg und Gothic, aber du bist die Einzige, die er jeden Morgen höflich grüßt.«
»Nur weil ich mich im Religions-Seminar mit der Rautenberg zerstritten habe und zum Schluss meinte: ›Marx hatte Recht: Religion ist das Opium des Volkes. Anstatt sich hier und jetzt für eine bessere Welt einzusetzen, murmeln die Fanatiker ihre Gebete, um in den Himmel zu kommen, von wo sie dann hämisch auf die Anderen herabsehen, die Gottes SM-Studio nicht mehr verlassen dürfen. Das ist doch Volksverdummung. Und deswegen bin ich gegen jegliche Art Religion.‹
Das gefiel Darius wohl sehr gut. Dann hat er der Rautenberg noch giftig zugezischt: ›Welche moralische Glaubwürdigkeit besitzt eigentlich logisch gesehen jegliche Religion, die ihre Anhänger unter Androhungen großer Schmerzen und Qualen im Jenseits oder auch schon im Diesseits bei der Stange halten muss?‹«
»Bäh, Religion. Mich wundert es sowieso, wieso es dich trotzdem hin und wieder in eine Kirche verschlägt.« Berry grinste, während sie eine Strähne ihrer kurzen, glatten Blondhaare mit den Fingern verzwirbelte.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte Tigris und rollte sich auf den Rücken, um das indianische Windspiel an ihrer Decke zu beobachten. »Vielleicht, weil ich diese Stille mag und den Gedanken an jemanden, der sich für alle aufgeopfert haben soll. Letztendlich darf man nicht vergessen, dass für viele Leute die Religion die letzte Stütze ist, ohne die sie sonst gnadenlos ins Bodenlose stürzen würden. Alles hat eben gute und schlechte Seiten. Und Darius soll nicht so tun, als wäre er so rational. Rennt mit Drudenfüßen und Widderköpfen durch die Gegend. Das ist dasselbe, nur noch viel menschenverachtender.«
»Satanismus! Schwarze Magie! Pah! Ich glaube nicht an so was, das sind doch alles Ammenmärchen.«
»Na ja, wer weiß? Meine Mutter glaubt schon an Engel und Teufel«, entgegnete Tigris vorsichtig.
»Das erklärt ja, wieso sie damals so ausgeflippt ist. Weißt du noch: Als wir hier mit Alexa und Daniela Gläserrücken gemacht haben? Mann, so wütend habe ich sie noch nie erlebt.«
Tigris seufzte und schloss sie Augen, während sie an diesen blamablen Vorfall zurückdachte, der noch nicht allzu lange zurücklag.
Berry und zwei weitere Klassenkameradinnen wollten nach einer turbulenten Halloween-Feier bei Tigris übernachten. Danubia Windwibb war mit ›normalen‹ Freunden dem Trubel in ein In-Restaurant außerhalb Düsseldorfs entflohen, somit hatten die Mädchen sturmfreie Bude vorgefunden. Womöglich hatte es daran gelegen, dass Tigris auf acht Tassen fünfzehn Teelöffel Kaffe genommen hatte, vielleicht auch daran, dass Berry wieder einmal die besten Sprüche ihrer tiefgläubigen Großmutter zum Besten gegeben hatte - jedenfalls war Daniela und Berry gleichzeitig die Idee gekommen, doch einmal Gläserrücken auszuprobieren. Sie hatten nicht lange gefackelt, hatten die 26 Buchstaben des Alphabets, die Zahlen von 0 bis 9 und Ja und Nein aus Karton ausgeschnibbelt, hatten dann ein kleines Schnapsglas umgedreht in die Mitte des Kreises gestellt, ihren Zeigefinger leicht auf den Rand des Glasbodens gelegt und die ›Geisterbeschwörung‹ begonnen. Zunächst hatten sie nur herumgealbert, mit grabestiefer Stimme unglaublichen Unsinn in die Runde geworfen oder sich völlig konfuse Antworten gegeben, indem eine von ihnen das Glas von Buchstabe zu Buchstabe dirigierte. Irgendwann einmal aber war Tigris merkwürdig still geworden, bevor sie dann leise und nachdenklich gesagt hatte: »Ich würde gerne wissen, wie es meinem Vater im Jenseits geht.«
Daraufhin hatte sich die fröhliche Atmosphäre schlagartig gewandelt, stattdessen waren alle nachdenklich, vielleicht auch ein wenig ängstlich geworden, während sie Buchstabe für Buchstabe die Antworten gedeutet hatten, die das Glas und die Buchstaben ihnen offenbarten. Sie hätten sogar schwören können, dass sich das Glas fast wie von selbst bewegt hatte, dass sie es kaum mehr mit ihren Zeigefingern berührt hatten.
»W... W-e-l-c-h-n- de-e-n-?«, hatte Tigris gelesen.
»Wie bitte? ›Welchen denn‹?« Ein Schlag in die Magengrube!
Und auf einmal - sie hatten es gar nicht bemerkt – hatte Danubia Windwibb regungslos in der Tür gestanden, sie schweigend und fassungslos beobachtend.
»Räumt augenblicklich dieses Zeug weg und geht ins Bett!« hatte sie mühsam beherrscht gezischt. Und als die vier Mädchen immer noch vollkommen überrascht zurückgestarrt hatten, ohne sich zu rühren, hatte sich die Anspannung von Danubia Windwibb mit einem Mal in blanke Wut aufgelöst. Sie war auf sie zugestürmt, hatte als erstes das Glas gepackt und es mit zornigem Schwung gegen die Wand in den Flur geschmettert. »Das ist kein Spiel für euch!«, hatte sie gerufen, sich den Papierkorb geschnappt - noch immer hatten die Mädchen sich nicht zu rühren gewagt - und grimmig die Buchstaben und Zahlen vom Tisch hineingewischt. »So etwas kommt mir nicht in meine Wohnung! Wagt es nicht noch einmal, so einen Unsinn aufzuführen!«
Letztendlich war sie aus Tigris’ Zimmer gerauscht, ein verdächtiges Glitzern in den Augenwinkeln. Erst als die Schlafzimmertür zugeknallt worden war, hatten die Mädchen wieder zu sprechen gewagt.
»Oh mein Gott! Ist die vielleicht ausgetickt!«, hatte Berry geflüstert, die Hände vor den Mund geschlagen und die anderen drei immer noch verstört der Reihe nach anschauend.
»Sorry, Mädels. Vielleicht hat sie einen schlechten Abend gehabt... ich weiß nicht, wieso sie so ausgerastet ist. Ich schwöre, ich habe sie noch niemals so erlebt«, hatte Tigris zurückgewispert.
»Wahrscheinlich hat sie das mal selber ausprobiert und es sind sehr miese Antworten dabei herausgekommen.«
Am nächsten Tag dann, als sie wieder alleine mit ihrer Mutter gewesen war, hatte diese sich sofort bei Tigris entschuldigt und versucht, ihre Gefühlsanwandlung zu erklären.
»Es liegt nur daran, dass ich wenigstens hier in unserer Wohnung nichts von irgendwelchen Geistern, Engeln und Teufeln hören will. Und außerdem: Das kann ziemlich fatal enden. Dämonen interessieren sich zwar hauptsächlich für Xendii, aber das heißt nicht, dass sie die anderen Menschen nicht wahrnehmen können.«
Da ihre Mutter wieder einmal das Mehr-gibt’s-dazu-nicht-zu-sagen- also-geh-schön-spielen- Gesicht aufgesetzt hatte - eine Mimik zwischen Strenge und Sorge, nicht ohne die strenge Falte zwischen den Augenbrauen, abgerundet von den entschlossen geblähten Nasenflügeln - hatte Tigris nur genickt und das Thema nie wieder angeschnitten. Allerdings auch nie wieder Gläserrücken gespielt.
»Und lädst du Darius jetzt ein? Komm, bitte! Einfach nur, um zu sehen, ob er nicht tot umfällt, wenn du ihn ganz süß fragst!«
Berrys Stimme riss Tigris aus den Gedanken. »Weiß ich noch nicht. Vielleicht sollte ich dann aber schon einmal die Abstellkammer mit Spinnweben und Schweineblut dekorieren. Da hat er dann wenigstens einen Ort, an dem er sich wohl fühlt.«
»Du kannst ziemlich gemein sein, weißt du das?« Berrys zierlicher Körper bebte vor Lachen.
»Ach was... Wetten, er und sein Verein lästern auch über die armen Menschlein ab, die nicht an die Macht Luzifers glauben, der sogar Gott besiegen wird, oder schon besiegt hat? Irgend so etwas hat er mir neulich erzählt. Hab aber nach einer Weile nicht mehr zugehört, weil es mich wirklich angenervt hat.«
»Mehr als die Zeugen Jehovas, mit denen du und deine Mutter euch schon ein paar Mal herumgestritten habt?«
»Ja, genauso. Ich wollte übrigens gleich noch einmal in die Stadt, um was Witziges als Partydekoration aufzugabeln. Und um schon mal nach einem Geschenk für meine Mutter Ausschau zu halten.«
»Ach, ja. Hatte sie nicht irgendwann im April Geburtstag?«
»Am 14., richtig. Ich dachte an eine schöne Kette oder Ohrringe.«
»Oh, ja, vielleicht lässt sie dieses hässliche Vieh von Bernstein, das von Silberdraht umwickelt ist, dafür sausen. Das sieht wirklich absolut daneben aus.«
»Wohl kaum. Sie trägt das Ding Tag und Nacht. Sie badet sogar damit.«
»Vielleicht hat sie ihn ja von ihrer Oma geerbt?«
»Nein. Sie sagt, es wäre ihr Glücksbringer. Und wenn sie es auszieht, fällt ihr der Himmel auf den Kopf. Und dann lacht sie immer, wahrscheinlich über sich selber.«
»Tsss! Glaubt an Teufel, Engel und die Kraft von Amuletten. Wirklich absolut schräg, deine Mam. Okay, dann komm, lass uns losziehen. Ich könnte eigentlich auch ein neues Top für deine Feier gebrauchen.«
Berry sprang auf und zog Tigris zu sich hoch.
»Den Wievielten haben wir heute eigentlich?«, fragte Tigris stirnrunzelnd, als ihr Blick auf den Kalender fiel, der jeden Tag des Jahres einzeln auswies und auf der Rückseite mit Aussprüchen berühmter Persönlichkeiten bedruckt war. Er zeigte FEB 21 an, was bewies, dass er bei Tigris und ihrer Mutter ein stilles, unbeachtetes Dasein an der Wand fristete.
»Wir haben deinen Geburtstag minus eine Woche.«
»Den 3. März, ach ja«, Tigris riss etliche Blätter vom Kalender und dachte insgeheim triumphierend: ›Noch achtzehn Tage bis Equinox Veris, bis zum Frühlingsfest der Xendii. Und noch achtzehn Tage, bis das Tor geschlossen wird.‹ Sie drehte sich abrupt um und wollte schon zur Haustür gehen. »Oh, Moment! Wo sind denn meine Schlüssel?« Ihr Blick wanderte über den Tisch im Esszimmer, auf dem neben dem Obstkorb noch die neue Post lag, die Tigris am Tag zuvor  nach der Schule aus dem Briefkasten geangelt und achtlos auf die fliederfarbene Tischdecke geworfen hatte.
Plötzlich stutzte sie. »Hey, der ist für mich!«, stieß sie überrascht aus, und griff nach dem großen Brief mit ihrem Namen darauf. »Juwelier Kürtner? Was habe ich mit dieser Omaklunker-Bude am Hut?« Dennoch riss sie den Umschlag auf und sah dann perplex zu Berry.
»Ich habe was gewonnen! Obwohl ich niemals im Leben bei irgendeinem Gewinnspiel mitgemacht habe. Komisch.«
»Vielleicht hat deine Mutter gleich für dich mitgemacht, und du hast jetzt eben gewonnen...«
Tigris reichte Berry den Brief mit der äußerst echt wirkenden Unterschrift aus blauer Tinte.
»Tata! Ich habe ... einen Bernstein-Anhänger gewonnen!«
Sie lachten sich beide schlapp über diesen unglaublichen Zufall. Berry meinte dann, immer noch kichernd: »Wahrscheinlich hat deine Mutter ihre hässliche Kette damals von Kürten. Und weil sie das Kleingedruckte nicht richtig gelesen hat, hat sie sich verpflichtet, den Anhänger Tag und Nacht zu Werbezwecken zu tragen. Wenn sie es auszieht und ohne Anhänger erwischt wird, droht ihr eine Strafe wegen Vertragsbruch.«
»Na, das erklärt doch einiges«, Tigris grinste. »Aber das Ganze sieht ziemlich echt aus. Ich soll heute um 12:03 Uhr dort erscheinen und mir meinen Gewinn abholen. Äh, sollte erschienen sein und mir den Gewinn abgeholt haben«, Ihr Blick fiel auf die Uhr.
»Mist, jetzt haben wir schon kurz nach ein Uhr. Bis wir dort ankommen, ist es halb zwei.«
»Ach, Gewinn ist Gewinn. Du warst verhindert!« Berry stopfte den Gutschein in Tigris’ Tasche und zog sie mit sich ins Freie.
»Wer weiß, vielleicht finde ich sogar etwas wirklich Schönes in dem Laden für meine Mutter.«
»Klar! Sogar dieser monströse Rubin-Anhänger meiner Oma sieht tausendmal besser aus als das ätzende Dingsbums an der Kette deiner Mutter.«
Es wurde allerdings kurz nach zwei Uhr, als Tigris und Berry endlich vor dem Juweliersgeschäft standen. Sie hatten fast eine geschlagene Dreiviertelstunde in ihrer Lieblingsboutique zugebracht, um die neuesten bauchfreien Oberteile begeistert anzuprobieren und dann zum Ärger der genervten Verkäuferin doch nichts zu kaufen. Nicht gerade eilig waren sie dann die Hauptstraße entlang geschlendert, immer wieder Blicke in die Auslagen mit Modeschmuck oder Dessous werfend.
»Und du willst also wieder Bernstein für deine Mutter besorgen...«, sagte Berry, während sie auf dem Weg zu Juwelier Kürtner waren, dessen Geschäft in einer Seitenstrasse der Berliner Allee lag.
»Na ja, wenn ich doch schon so etwas gewonnen habe...«
»Oh Gott, Bernstein. Ich hasse Bernstein! Meine Oma hatte mal einen Ring mit einer dicken Knolle aus Bernstein. Sie wollte ihn mir sogar schenken. Das Ding sieht aus wie glasierter Popel mit Ungeziefer drin«, lachte Berry und prüfte vor dem Hineingehen noch kurz ihr Aussehen in der Ladenscheibe. Ihr blondes Haar glänzte jedoch und saß perfekt, das sorgfältig aufgetragene Make-up wirkte frisch und dezent.
Tigris zog inzwischen den Brief aus ihrer Tasche und öffnete dann entschlossen die Tür.
Hinter der Glastheke, unter der sich besonders teure Goldringe befanden, stand ein dicklicher älterer Mann in einem grauen Anzug und sah ihnen durch dicke Brillengläser misstrauisch entgegen.
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein? Eigentlich wollte ich gleich schließen«, fragte er mit erhobener Braue, die andeutete, dass es nicht sehr oft vorkam, dass zwei jungen Mädchen in Jeansjacken, Schlaghosen und hohen Schuhen sich in seinen Laden verirrten, der vor zwei Jahren sein dreißigjähriges Bestehen gefeiert hatte und eigentlich zumeist von Leuten älteren Jahrgangs aufgesucht wurde.
»Ich komme wegen meines Gewinns«, sagte Tigris strahlend.
»Ihr.. was?! Da muss ein Irrtum vorliegen!« Noch misstrauischer und zudem zutiefst erschrocken, nahm er langsam das Schreiben auf und las es durch. Mehr und mehr zogen sich seine Brauen zusammen, während sich allmählich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Das passierte eigentlich nur, wenn die Kasse nicht stimmte, oder Kunden um den Preis feilschen wollten.
»Ähm... ich weiß nicht, wer Ihnen diese Gewinn-Mitteilung zugeschickt hat, aber sie ist nicht echt. Wir haben noch nie ein Gewinnspiel veranstaltet. Und außerdem führen wir zurzeit keinen Bernstein-Schmuck.« Etwas nervös gab er Tigris den Brief zurück. Das Briefpapier war echt, kein Zweifel, der Schriftzug 'Heribert Kürtner' sah täuschend echt aus. Und doch hatte er niemals dieses Schreiben aufgesetzt.
»Oh... das ist ja... merkwürdig.« Die beiden Mädchen tauschten fragende Blicke aus.
Schließlich dachte Tigris kurz nach, setzte dann ihren genervtesten Gesichtsausdruck auf und versuchte, so energisch und selbstbewusst wie nur möglich zu wirken.
»Tatsache ist aber«, begann sie, ohne ihren Blick von dem Juwelier abzuwenden, »ich sollte heute um zwölf Uhr meinen Gewinn abholen. Na ja, es ist etwas später geworden. Aber gewonnen ist gewonnen, oder nicht? Wieso kann ich dieses Teil nicht bekommen? Behandeln Sie Ihre Kunden immer so mies? Ich bestehe auf meinem Gewinn!«
Herr Kürtner atmete tief durch und sah leicht verzweifelt aus. »Ich musste das Geschäft heute Morgen wegen eines Termins vorübergehen schließen! Ich wäre um zwölf Uhr also ohnehin nicht hier gewesen. Aber mal abgesehen davon: Wir hatten wirklich kein Gewinn-Spiel, das können Sie durch einen Rechtsanwalt prüfen lassen! Jemand hat unseren Briefbogen in die Hände bekommen und meine Unterschrift gefälscht - oh Gott!« Bestürzt sah er sich seine Schätze ringsum in den Vitrinen und Regalen an. »Wenn nun noch mehr Leute - nein, nicht auszudenken! Ich rufe am besten die Polizei und meinen Anwalt an!«
Berry sah Tigris augenverdrehend an, doch diese hatte den Gewinn schon geistig abgehakt.
»Vielleicht hat sich jemand wirklich einen blöden Scherz erlaubt«, murmelte sie und zog ihre Freundin am Ärmel, um sie mit sich Richtung Ausgang zu ziehen.
»So’n geiziger Spinner!«, giftete Berry, gab aber schließlich nach. Wütend sah sie ihn an, doch er war schon dabei, jemanden über Handy völlig aufgelöst von dem Schreiben zu berichten.
Die beiden Mädchen rauschten missgelaunt aus dem Laden.
»Ich mal wieder!« Tigris schüttelte den Kopf. »Mann, ich hätte darauf bestehen sollen. Vielleicht hätte er nachgegeben. Wenn wir ihm angeboten hätten, niemanden davon zu erzählen? Ich bin viel zu lieb.«
»Hin und wieder«, Grinsend zog Berry ihre beste Freundin an sich. »Du hättest ihn eher mit deinen hübschen Honigaugen ein wenig verführerisch beklimpern sollen. Das hätte schon eher geklappt.«
»Nein, so was könnte ich nicht«, murmelte Tigris verächtlich.
»Wieso nicht? Ich wette, selbst Darius klappt dann die Kinnlade herunter.«
Tigris seufzte und löste sich aus Berrys Umarmung. »Ich brauche doch keinen Teufelsanbeter. Meine Mutter zerreißt ihn in der Luft.«
»Ich kann es mir regelrecht vorstellen«, sagte Berry grinsend und schlenderte mit Tigris die Einkaufsstrasse wieder hinunter. »Du suchst dir aber auch andauernd Kerle aus... immer diese Problemfälle, die schon mit sich selber genug zu tun haben.«
»Hach, ja, ich weiß. Ich und mein Helfersyndrom!« Tigris verdrehte die Augen.
»Ja, genau!« Berry erhob dramatisch die Arme zum Himmel, und jeder, der an den beiden vorüberging, warf ihnen erstaunte Blicke zu oder schüttelte missbilligend den Kopf. »Oh, ihr Zugekifften, Schuldkomplexbeladenen, von Schicksal gebeutelten, psychisch gestörten Typen dieser Welt: Kommt zu Tigris! Ja, so heißt sie wirklich: Tigris Aurora Melisande Windwibb! Sie wird euch trösten, aufbauen und stärken für diese ungerechte, harte Welt!«
»Schade«, seufzte Tigris, um das Thema zu wechseln. »Ich hab mich schon so darauf gefreut, meiner Mutter ein kleines Geschenk machen zu können! Was soll’s.«
»Aaah, junges Frau sucht Geschenk für Mamutschka?«
Die Köpfe der beiden jungen Mädchen schnellten gleichzeitig zur Seite. Verwundert starrten sie die alte, zahnlose Frau an, die sie hinter ihrem kleinen Verkaufstischchen vor dem Bäckerladen gegenüber breit angrinste. Schneeweißes Haar lugte unter dem geblümten Kopftuch hervor, die faltigen, fleckigen Hände zitterten, als sie einladend auf den Schmuck wies, den sie auf einem etwas staubigem blauem Samttischtuch zum Verkauf bot.
»Sind wir blind, oder was?«, wisperte Tigris Berry zu. »Ich hätte schwören können, dass sie dort eben nicht stand.«
»Ach was. Wir haben nur nicht auf sie geachtet«, Berry lächelte und trat an den Tisch, um einen Blick auf die Silberschmuckstücke zu werfen.
»Ziemlich kitsch- aua!« Befremdet sah sie Tigris an, die sie heftig in die Seite geknufft hatte.
»Ziemlich, hm... antiker Stil«, Tigris lächelte freundlich und warf der alten Frau heimliche, rasche Blicke zu, während sie die Ringe, Ohrringe und Ketten betrachtete. Wie ärmlich die Alte aussah, und doch wirkte das runzlige Gesicht so freundlich und gelassen - genauso hatte Tigris sich immer die gütigen Großmütter in den Märchen vorgestellt.
»Sie haben nicht zufällig etwas mit -«
»Bernstein?!« Das Großmütterchen strahlte sie an und knallte mit einem Mal erstaunlich kraftvoll eine silberne Kette auf das Samttuch.
Ein Pentagramm! In Tigris’ Kopf begannen sämtliche Alarmglocken zu schrillen, die sie jedoch entschlossen ignorierte. Dämonen interessierten sich nicht besonders für gewöhnliche Sterbliche, das wusste sie von den Xendii. Und wie ein Dämon sah die süße, alte Frau auch gar nicht aus.
»Hey! Cool... Darius würde es bestimmt interessant finden!«, flüsterte Berry Tigris zu, die die alte Dame immer noch schockiert anstarrte. Wieso schon wieder ausgerechnet Bernstein?
Dann musterte sie zögernd das Schmuckstück.
»Ich weiß nicht, ob meine Mutter es gut finden würde, wenn ich damit ankäme...«, murmelte sie schüchtern.
Das Pentagramm war aus lauter kleinen silbernen Rosenblüten geschmiedet, in seiner fünfeckigen Mitte aber befand sich honiggelber, warm schimmernder Bernstein. Und im Bernstein schwebten ein winzigkleines Insekt, einem Schmetterling ähnlich, und eine ebenso kleine, zwölfblättrige Blüte.
Und es sah beinahe haargenau aus wie das Logo der Rosenstern-Allianz. Doch das musste ein Zufall sein.
»Es ist wirklich sehr hübsch, aber...«
»Oh, bitte!« Die Alte lächelte Tigris herzlich an, wobei die kleinen, braunen Augen in tiefe Fältchen versanken. »Einmal anprobieren! So ein hübsches junges Frau mit schöne Honig-Augen. Kette wie gemacht für sie!«
»Hm, nein danke. Aber diese Ohrringe könnten meiner Mutter gefallen. Sie mag auch Perlen. Sind sie sehr teuer?« Tigris wies auf ein Paar am Rande des Tisches. Dann schnellte ihr Blick irritiert zu der Alten zurück. Wieso sah die Frau sie so merkwürdig an - so... befremdet?

›Ah, raffiniert! Du traust der Neutralen neben dir nicht. Deine Tarnung ist wirklich ausgezeichnet, aber jetzt zieh das DiSfakt endlich an, bevor irgendwelche MDL-Agenten hier vorbeispazieren. Mach schon. Es sieht doch wirklich äußerst elegant aus, es erinnert mich an gute alte Zeiten...‹

»Bitte?« Tigris starrte die alte Frau entgeistert an. Ihre Stimme war in ihrem Kopf gewesen!
Eine faltendurchzogene Braue hob sich in die Höhe.

›Mach schon! Dieses Ding ist höchst gefährlich. Es darf unter keinen Umständen der MDL in die Hände fallen. Luz’farion-‹

»LUZIFER?«
Die Alte fuhr schockiert zusammen, und auch Berry sah ihre Freundin mit großen Augen an. Selbst Passanten warfen Tigris höchst missbilligende Blicke zu. Einfach so herumzuschreien, noch dazu so etwas!

›Oh Gott soll dich - schützen‹, zeterte eine nun wesentlich tiefere, männliche Stimme in ihrem Kopf los, dass Tigris sich benommen an dem Tisch festhalten musste.

›Wieso haben wir nicht gleich d-mails an alle MDL-Agenten verschickt, dass die Übergabe hier stattfindet? Bist du von Sinnen, Erdengeschöpf? Warum hat P.A.G.A.N. sich eine blutige Anfängerin für die Übergabe ausgesucht? Ich dachte, die besten Krieger wären gerade gut genug für eine derart heikle Angelegenheit! Wir verschieben das ganze ein Weilchen! Bis bald. Und dann sei bitte nicht sooo... unsensibel. Adios!‹

Was dann geschah, sollte Tigris noch bis in den Abend hinein beschäftigen: es gab ein säuselndes Geräusch, dann schien ganz kurz die ganze Welt für einen Augenblick zu flirren und zu verschwimmen, als ob sie dabei wäre, sich aufzulösen. Und schließlich - war die alte Frau samt Stand weg.
»Was...«, keuchte Tigris und schaute wild um sich.
»Hey, was ist denn los mit dir?« Berry lächelte unsicher. »Du bist ja ziemlich blass um die Nase geworden. Ist dir nicht gut? Lass uns in ein Café gehen.«
»Wo ist die alte Frau hin?«, flüsterte Tigris und fühlte einen kalten Schauer über ihren Rücken kriechen.
»Was für eine alte Frau? Hier gibt’s etliche davon.« Berry sah um sich.
»Na, die mit dem Stand. Mit der komischen Kette, an der so ein Pentagramm...«, Tigris brach abrupt ab, als sie Berrys verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte. Aber sie hatte doch eben alles selber miterlebt!
Oder doch nicht?
Was war nur passiert?
Ein Tagtraum, schon wieder!
Das war die einzig mögliche Erklärung.
»Ich... ich glaub, mir ist nicht so gut. Ich will nach Hause. Ich hab seit Nächten kaum geschlafen...«
»Soll ich dich begleiten? Du siehst aus, als hättest du eben ein Monster gesehen! Nicht, dass du mir mitten auf der Straße umkippst.« Berry streichelte ihr besorgt die Schultern.
»Nein, ist schon okay. Es ist nichts Schlimmes. Ich glaube, heute schmeiße ich mir eine Ladung Schlaftabletten ein. Wenn ich einmal richtig tief und fest durchgeschlafen habe, ist alles wieder in Ordnung.«

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Tatsächlich fiel Tigris zu Hause in ihrem Bett auch ohne Pillen in einen unruhigen Schlaf mit merkwürdigen Traumbildern, die offenbar erschreckend gewesen sein mussten, denn mit einem Mal wachte sie auf und war wieder schweißgebadet.
17:30! Das Abendessen in Windwibbenburg hatte schon begonnen, verdammt!
Völlig zerschlagen wusch sie sich das Gesicht und stand nach zwei Minuten wieder in dem altmodisch eingerichteten Jugendzimmer, das bald Antigua alleine gehören würde.
Die Vorhänge waren zugezogen, um das letzte Licht des vergehenden Tages auszusperren.
Und es roch nach Zigarettenqualm.
Tigris wandte den Kopf zu den Betten am Fenster und sah den kleinen rotglühenden Punkt in demjenigen von Antigua.
»Hat Livas euch nicht das Rauchen verboten?«, fragte Tigris knapp und wollte schon aus dem Zimmer gehen, die Hand bereits auf der Klinke.
»Verpetz mich doch, wenn es dich glücklich macht.« Antiguas Stimme klang lustlos und seltsam belegt.
»Es würde höchstens Livas glücklich machen, also würde ich es schon deswegen nicht tun.«
Tigris hörte, wie Antigua geräuschvoll den Rauch zur Decke pustete und dann leise auflachte.
»Du bist froh, wenn du nichts mehr mit all dem hier zu tun hast, nicht wahr?«
»Ich würde lügen, wenn ich ›nein‹ sagte.«
»Das kann man dir nicht verübeln. Wir dagegen sind alle verdammt und warten nur auf den Tod.«
Tigris Hand glitt von der Türklinke, unschlüssig, ob sie achselzuckend einfach hinausgehen oder besser etwas Tröstliches zu Antigua sagen sollte.
»Schon gut, Tigris. Hau endlich ab, ich will alleine sein. Das eben war kein Selbstmitleid, sondern einfach nur eine Feststellung.«
»Wieso haust du nicht einfach ab? Ich meine... aus Windwibbenburg? Vielleicht gibt es ja Orte, wo man nicht tagtäglich mit irgendwelchen Vorstellungen von Erbsünde und Ewigem Kampf gegen Dämonen vollgestopft wird. Wo man das eine Leben, das man hat, zur Abwechslung auch mal genießen darf?«
Antigua atmete tief ein. »Schade, dass du die Engel nicht sehen kannst, Tigris. Dann bekämest du Furcht – und Hoffnung zugleich. Sie sind voller Schönheit und Reinheit. Wenn sie dich ansehen, musst du vor Glück und Beschämung weinen. Sie sind das einzige, was mein Schicksal erträglich macht. Vielleicht geht es mir manchmal auf die Nerven. Vielleicht bin ich manchmal wütend auf die Sippen, besonders auf die Domén Arx De Navarris. Doch wenn ich mich an die wenigen Male erinnere, an denen ich einen Engel Gottes gesehen habe, beruhigt sich mein Herz wieder und ich weiß, dass alles, was geschah, zu Recht geschah. Ich darf nicht zweifeln. Ich werde nicht zweifeln.«
Tigris lehnte sich vorsichtig gegen die Tür und verschränkte die Arme. Nachdenklich nagte sie an ihrer Unterlippe, während Embers Worte über Antigua ihr wieder einfielen.
»Hat es... damit zu tun, wieso du hierher nach Windwibbenburg gebracht wurdest, anstatt in deiner dänischen Sippe aufzuwachsen?«, fragte sie vorsichtig, sich insgeheim auf eine schnippische bis bösartige Antwort gefasst machend.
Doch Antigua seufzte stattdessen tief auf und tat noch einen tieferen Zug an der Zigarette. »Meine Eltern haben eine der größten Sünden begangen, die zwei Xendii begehen können: Sie haben mich gezeugt. Ein Wunder, dass ich trotzdem ziemlich gesund bin. Solange das Xendium bei mir nicht ausgebrochen ist, konnten die Seher meiner Sippe es nicht an meiner Aura ablesen. Als es da war, haben alle in meiner Sippe zusammengehalten und mich vor anderen Sippen versteckt, denn sie wussten, dass meine Eltern diese Sünde nur aus Liebe verbrochen haben. Und doch ist und bleibt es Sünde. Zwei Xendii dürfen kein Kind in die Welt setzen, so lautet das Verbot.«
»Aber wieso?«, fragte Tigris verwirrt und daher umso neugieriger.
Antigua antwortete: »Denk doch einmal richtig nach, Tig. Deine Mutter ist eine Xendi, dein Vater hingegen war nur ein Träger des Wandler-Xendiums, weshalb du überhaupt kein Xendium hast. Gibt es irgendeinen Xendi in dieser Sippe, dessen beide Elternteile das Xendium haben?«
»Nein, du hast Recht!«, rief Tigris überrascht über diese späte Erkenntnis. »Sowohl ihre Väter als auch ihre Mütter sind Träger des Xendiums. Die kleine Ceruleni drüben aus Haus Fliederweg hat ja Lux Montana zur Mutter, aber ihr Vater ist ein Mensch ohne Xendium, weswegen sie Trägerin ist... Aber was soll daran schrecklich sein, wenn man zwei Xendi als Eltern hat? Du erscheinst mir nicht anders als die anderen hier.«
»Wegen der Sünde meiner Eltern wurden fast alle aus meiner Sippe von den Kriegern De Navarris getötet, meine Mutter ist im Gefängnis der Domén Arx. Wegen der Sünde meiner Eltern habe ich das Verstärkte Xendium.«
»Du bist also talentierter als andere Rufer? Das ist doch eigentlich gut, oder nicht? Braucht die Allianz nicht herausragende Kämpfer?«
»Ja. Und ich werde so gut wie sicher meinen zwanzigsten Geburtstag nicht mehr erleben. Verstärktes Xendium hat bisher bei den allermeisten, die es in sich haben, zu einem sehr schmerzhaften Tod geführt. Sie fingen plötzlich und ohne Vorwarnung von innen her Feuer und verbrannten zu Asche, innerhalb weniger Minuten, ohne dass man die Flammen löschen oder wandeln konnte. Deswegen ist es eine Sünde. Eine Sünde gegen das eigene Kind, eine Sünde, die man einem Unschuldigen aufbürdet. Meine Eltern waren beide Rufer, daher begingen sie wenigstens nur eine Sünde, die Gott ihnen vielleicht verzeiht. Er verzeiht hingegen nicht, wenn zwei mit verschiedenartigem Xendium ein Kind zeugen. Er verzeiht es nicht, wenn man Nachkommen mit Doppel-Xendium in die Welt setzt.«
»Was? Gibt es so etwas tatsächlich? Ich dachte, das wäre eine Legende der Xendii.«
»Solche Kinder und ihre Eltern werden augenblicklich getötet, wenn die Domén Arx es entdeckt. Wenn solche Kinder überhaupt überleben. In allen Sippen der Allianz gibt es niemanden mit Doppel-Xendium. Bei den Dämonenfreunden hingegen schon. Sie sollen sie sogar absichtlich züchten, um noch mehr Macht und Einfluss über die Welt zu gewinnen. Deshalb sind die Abtrünnigen keine Alternative für mich, absolut nicht.«
»Ich wusste das mit deiner Familie nicht. Und das heute morgen... ich habe es ehrlich nicht so gemeint, Antigua. Es tut mir leid. Ach, übrigens...«, sagte Tigris, froh darüber, endlich den passenden Moment erwischt zu haben. »Komm doch zusammen mit Ember und Bat Furan zu meinem Geburtstag. Ich feiere ihn nächste Woche Samstag drüben in Düsseldorf.«
Antigua pustete wieder laut den Rauch aus. »Bat Furan hat mir schon erzählt, dass du Leibwächter für deinen geliebten Ember brauchst. Meinetwegen. Vielleicht wird es witzig.«
»Aber haltet euch mit euren Fähigkeiten zurück, bitte!« Tigris legte wieder ihre Hand auf die Klinke, da ein Grummeln in ihrem Magen sie an das Abendessen erinnerte, das unten im vollen Gange war.
»Solange kein Dämon uns angreift, werden wir uns hüten. Aber soweit ich weiß, treiben sich eh’ wenige Dämonen in Düsseldorf herum. Oder was glaubst du, weshalb deine Mutter sich gerade diesen Ort ausgesucht hat? Köln ist da schon ein anderes Kaliber. Oder Berlin!«
»Dann könnte es ja tatsächlich witzig werden. Soll ich dir etwas zu Essen hochbringen?«
»Nein, ich will nur schlafen«, entgegnete Antigua, wieder kurz angebunden wie sonst auch und drehte ihr den Rücken zu.
Achselzuckend ging Tigris aus dem Zimmer.

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Es war genau in der Nacht zum Sonntag, nach der merkwürdigen Halluzination, nach dem ungewöhnlichen Gespräch mit Antigua, als Tigris diesen schrecklichen Alptraum hatte, der zugleich den Anfang vom Ende all ihrer Zukunftspläne und Träume einläutete. Später einmal würde ihr auffallen, dass schon die schlaflosen Nächte zuvor und die seltsamen Erinnerungsblitze, in denen diese tiefe, raue, eiskalte Stimme erklungen war, auf die Veränderung hingewiesen hatte.
Doch erst in dem Alptraum jener Nacht fiel ein Name, der sie regelrecht aufschreckte - und anscheinend zugleich etwas in ihr weckte.
Zunächst schien sie in ihrem Traum zu schweben. Unter ihr zogen weiße Wolkenfelder dahin, an manchen Stellen ein glitzerndes, tiefes Blau enthüllend, oder grüne und bräunliche Flecken unter sich entblößend.
»Wie lange ist es her, seitdem ich diese Welt betreten habe?«, ertönte mit einem Mal die raue Stimme wieder, die sie das erste Mal am Samstagvormittag vor dem Tor nach Düsseldorf vernommen hatte. 
»Oh ja, jeder Schritt soll mir schmerzvolle Andacht sein, jeder Atemzug soll mich mit giftigen, wundervollen Erinnerungen anfüllen. Letztendlich bin ich zurückgekehrt – an die Wiege meiner Qual.«
Kaum hatte die Stimme geendet, sah Tigris die Wolken, das funkelnde Blau und einen großen, hellen Fleck auf sich zu rasen - bis sie merkte, dass sie es war, die aus großer Höhe der Erde entgegenstürzte.
Der helle Flecke breitete sich zu einer riesigen Wüstenfläche aus, deren rechte Hälfte in Dunkelheit getaucht war. Auf die Nachtseite hielt sie zu, sich nun etwas langsamer dem Boden nähernd, bis sie sich schließlich senkrecht herabsinken sah, hohe Fontänen aus Sand aufwirbelnd, die in den sternenübersäten Nachthimmel schossen, um danach wie in Zeitlupe in sich zusammen zu fallen.
»Sieh an: Die Winde beklagen bereits die Verderbtheit der Menschen, beschweren sich über ihre Gräuel, die sie sich gegenseitig und dieser Welt antun. All deine Bemühungen waren offensichtlich vergebens, Einziger Eloyah. Im Grunde genommen muss ich nur noch den Gnadenstoß ausführen«, sagte die raue Stimme und kicherte boshaft. »Obwohl... Ein wenig Spaß muss sein! Das Ende kommt immer viel zu schnell. Der Weg ist das Ziel, und ich werde ihn genießen. Werde Bündnisse sprengen, die Schäfchen aller Arten in Tollwut versetzen und natürlich meine Rache auskosten. Ist es nicht vielleicht Rache, die mich entgegen allen Gesetzen am Leben gehalten hat?«
Tigris fragte sich, wo derjenige war, der diese rätselhaften, erschreckenden Worte sprach, doch nichts war zu sehen - halt!
In der Ferne glühte ein Feuerschein. Kaum hatte sie ihn entdeckt, raste sie auch schon mit irrwitziger Geschwindigkeit darauf zu.
Als sie abrupt stehen blieb, wehten erneut Sandschleier auf und erstickten das Lagerfeuer, um das fünf Beduinen in weißen Gewändern saßen, während hinter ihnen ihre Kamele im Sand kauerten und unruhig grunzten.
Schlagartig sprangen die Männer auf und stellten sich Rücken an Rücken, leise Suren aus dem Koran rezitierend.
»Bismillah, im Namen Gottes! Hinfort mit dir, verfluchter Schaitan! Verlasse diese Stätte! Bismillah!«, rief einer von ihnen mit vor Angst zitternder Stimme.
»Gott! Gott hat diese Welt schon lange aufgeben, hat seine missratene Schöpfung sich selbst überlassen, um irgendwo anders noch einmal ganz neu anzufangen. Gesetzt dem Fall, es gibt ihn wirklich«, knurrte die eisige Stimme höhnisch. Sie begleitete Tigris, während sie sich langsam um die Männer herumgehen sah.
»Wie kannst du es wagen, solche ungeheuerlichen Worte auszusprechen! Du bist Brennstoff der Hölle, wie alle deiner Art, und all jene, die Allah leugnen und beleidigen. Bismillah! Weiche von uns!«
»Vielleicht später, wo ich doch erst gerade wieder zurückgekehrt bin. Aber wenn ich gehe, hinterlasse ich nichts als Staub, der um die Sonne zieht, ganz wie es einem abgrundtief bösen Teufel geziemt.
Ich habe schon viele Welten gesehen, die so ein Ende fanden. Diese Erde ist nicht die Erste, von der nichts mehr übrig bleibt. Doch vielleicht ist sie die Letzte. Denn wenn mein Plan aufgeht, läutet er das Ende allen Seins ein. Alles wird zugrunde gehen: dieses Universum - und mein Universum. Vielleicht geruht Gott dann endlich, mir eine Antwort zu geben, vielleicht lässt er sich dann endlich dazu herab, sich mir entgegen zu stellen und seine Schöpfung zu beschützen. Doch höchstwahrscheinlich wird sich herausstellen, dass da kein Gott existiert - niemals existiert hat und niemals sein wird.«
»Verfluchter Dämon, wie kannst du es wagen, an Gott zu zweifeln, wo du es doch besser wissen müsstest? Selbst Iblis, der Verfluchte, kennt Ihn«, rief jener, der anscheinend mutiger – oder lebensmüder als die anderen Beduinen war, denn sie stießen ihn in die Seite, aus Angst, dass er den Dämonen noch mehr verärgern könnte.
Doch dieser schien zunächst mehr amüsiert über die Fünf, die eisern an Gottes Existenz festhielten.
»So lauten die Legenden. In Wahrheit hat niemand von meiner Art Gott jemals selbst gesehen oder gesprochen. Weder in diesem Universum - noch in meinem Universum. Alle glauben alles und wissen nichts. Alle sprechen nur von Ihm, sprechen für Ihn, sprechen angeblich durch Ihn. Ja, ich weiß es besser, in der Tat, wo doch Meinesgleichen viele Religionen in diesem Universum selber aus der Taufe gehoben haben!« Er lachte lauthals.
»Gott erkennt die Wahrhaftigen«, raunte es aus der Mitte der Beduinen.
»Tut er das? Ich kannte jemanden, den alle rein und gut nannten. Ein wahrer Engel - zumindest sprach man so über ihn. Er half den ›Guten‹ und bekämpfte das ›Böse‹, so wie man es ihn gelehrt hatte. Nie dachte er über Gut und Böse nach, nein! Ohne jemals zu überlegen, tat er das, was Gott ihm befohlen haben sollte - so glaubte er lange Zeit. Bis eines Tages etwas passierte, was ihn zweifeln ließ. War das Gute tatsächlich nur gut? Waren die Bösen tatsächlich nur böse? Er tat das Unverzeihliche: er half einem Bösen in der Not - und wurde deshalb selber zu einem Bösen in den Augen der Guten.«
Eine Sandfontäne wurde wütend vor den Beduinen aufgepeitscht und überschüttete sie mit Sand. Furchtsam sanken sie alle auf die Knie und fingen wieder an zu beten.
»Ihr versteht mich nicht, ich sehe schon«, grollte der Dämon mit unverhohlenem Zorn. »Überall ist es dasselbe mit euresgleichen. Einmal überzeugt von der Wahrheit, einer der vielen  Einzig Wahren Wahrheiten, wachsen ihnen Scheuklappen, die hoch bis in den Himmel reichen. Ihr Herz wird ganz eng, darin ist nur noch ein wenig Platz für jene, die ihre Überzeugung teilen, während der Rest der Welt ihr Feind geworden ist; ihr Verstand wird ganz weich von frommen Sprüchen, Formeln und Legenden, so dass sie selbst Gott verlachen würden, stünde er vor ihnen und teilte ihnen ihren Irrtum mit. Und ihre Welt wird ganz klein und übersichtlich, so dass der wenige Verstand, der ihnen geblieben ist, mit ihr auch zu Recht kommt. Für alles und nichts haben sie eine Erklärung bereit, und was sie nicht erklären können, möchten sie eiligst vernichten, damit es ihre Seele nicht mehr aufstöre aus ihrer Verneblung. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird verstoßen.« Die Stimme des Dämonen war immer lauter geworden, darin schwangen kältester Hass und tiefste Verbitterung. »Wird fortgejagt, gehetzt und getötet.«
Ein fauchender Feuerstrahl schoss haarscharf an den Beduinen vorbei, die schreiend auseinander stoben, genau wie die Kamele, die blökend in die Wüstennacht entflohen. Tigris fühlte sich erschrecken: Die Flammen schienen aus ihr selbst hervor geschossen zu sein!
»Wohin ihr auch rennt, ich bin schon längst vor euch da!«, brüllte der Dämon. Tigris sah sich den Beduinen nachfliegen. Da wurde ihr bewusst, dass sie offenbar durch seine Augen sah, als ob sie in ihm steckte. Diese Erkenntnis erschütterte sie zutiefst und sie wollte schreien, wollte dem Dämonen Einhalt gebieten.
Stattdessen hörte sie sich einen Reim flüstern.

Trocknet unsere Tränen, wenn wir einsam gehen
Berauscht unsere Sinne, wenn wir uns wiedersehen
Zerstäubt unsere Angst, wenn Sie uns bedrängen

Da blieb der Dämon abrupt stehen und schaute gehetzt um sich.
»Wer wagt diese Ungeheuerlichkeit? Wer maßt sich an, mit meinem Schmerz zu spielen? Zeig dich! Wo bist du?«, brüllte er außer sich vor Zorn und ließ aus dem Nichts einen wütenden Sandsturm losbrechen, der mit seinen dunklen Schleiern die Sterne verdüsterte.
»Zeig dich, und ich verwüste deine Eingeweide, zerfleische dich, verbrenne dich zu Nichts!«
Wieder schaute er sich um, schoss durch den Sandsturm wie ein Irrwicht, während sein Zorn in Sekundenschnelle die Dünen der Wüste abtrug.
»Oder war es nur eine Erinnerung aus den Weiten dieser Welt?«, hörte Tigris den Dämon gequält murmeln. »Ich ahnte doch, dass meine Rückkehr schmerzvoll sein würde. Aber dass die Qual mich dermaßen überrascht hat... überrascht mich.«
So schlagartig der Sandsturm losgebrochen war, so plötzlich endete er. Die Sandschleier prasselten zu Boden und gaben die klare Sternennacht wieder frei.
»Verflucht ist meine Seele, verflucht von mir selber wegen dem, was ich getan habe...«, flüsterte der Dämonen heiser. Wie eine Meereswelle wogte ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit und Verzweiflung durch Tigris hindurch, dass sie glaubte, Tränen in ihren Augen brennen zu fühlen.
»Aber genauso verfluche ich dich, Einziger Eloyah. Es geschah alles nur deinetwegen, Omrishah.«
OMRISHAH
Der Name hallte wie der Klang einer Glocke durch Tigris hindurch und ließ sie erschauern. Etwas rumpelte in ihrem Herzen, etwas knackte und fing zu schmerzen an, als hätte sich in ihrem Herzen ein Feuer entzündet.
Schockiert wollte sie fliehen - und sah sich langsam vom Wüstenboden aufsteigen.
Und dann, zum ersten Mal, sah sie den Dämonen, genau unter sich, als hätte sie sich die ganze Zeit tatsächlich in ihm befunden und verließe nun seinen Körper.
Sie sah einen Mann unter sich im Sand auf dem Bauch liegen, so dass sein Gesicht vor ihr verborgen blieb. Nur seinen muskulösen, dunklen Körper konnte sie zunächst im Sternenlicht erkennen. Dann drehte er sich mit einer plötzlichen Bewegung auf den Rücken, seine Hände wie zum Schutz auf sein Gesicht gelegt. Deutlich jedoch war die Narbe auf seiner linken Brust zu sehen, genau dort, wo sich bei Menschen das Herz befand, eine weiße, handtellergroße Narbe, die aussah, als hätte sich dort einmal ein Feuer eingebrannt.

›Omrishah, hört auf!‹

War das eine seiner Erinnerungen, die kurz aufgeblitzt war und die sie aus unerfindlichen Gründen ebenfalls wahrnehmen konnte?
Jetzt stieg sie rasch hinauf, floh regelrecht, als hätte sie geahnt, was gleich darauf passieren sollte: Aus dem menschlichen Körper des Dämons wurde plötzlich eine Flamme, die sich wahnwitzig immer schneller um sich selber drehte. Dabei setzte sie den Sand in Brand - oder verwandelte ihn in Flammen, die sich rasend schnell ausbreiteten. Sie erreichten innerhalb weniger Sekunden die immer noch kopflos fliehenden Beduinen, die es zuvor geschafft hatten, ihre Kamele einzufangen und mit ihnen dem Dämonen zu entkommen - doch das Feuer verschlang sie alle.
Entsetzt schrie Tigris auf und kniff die Augen zu.
Dann sah sie von einem Moment auf den anderen nur eine dunkle Fläche, gleich einer Wand vor sich.
Träumte sie immer noch?
Ein merkwürdiges Gefühl prickelte in ihrem Rücken – ein Gefühl von Kälte, ein Gefühl von... Schwerelosigkeit.
Langsam wandte sie den Kopf nach rechts und spähte hinab in die Dunkelheit.
Unter ihr stand etwas dunkles, längliches rechteckiges, darin befand sich etwas helleres, das sich in regelmäßigen Abständen auf- und ab bewegte, als atmete es.
Antigua!
Das... musste immer noch ein Traum sein!
Sie wagte kaum zu atmen, als sie den Kopf zur anderen Seite drehte und nach unten sah. Ihr eigenes Bett!
Und sie selber schwebte darüber, wie ein Luftballon dicht unter der Zimmerdecke.
Schweißperlen ronnen ihr die Schläfe hinunter und tropften hinunter.
›Das ist ein Traum. Das geschieht nicht wirklich!‹, hämmerte es immer wieder in ihrem Kopf.
Jemand seufzte. Sie wandte blitzartig den Kopf hinunter zu Antigua, die sich unruhig in ihrem Bett hin- und herwälzte.
›Nein. Ich kann es nicht haben! Mein Vater war nur ein Träger. Ich habe es nicht. Ich träume es nur!‹, versuchte sie sich lautlos zu beruhigen.
Wie erschreckend real dieser Traum war. Aber waren ihr die Geschehnisse in der Wüste zuvor nicht ebenso verstörend echt vorgekommen?
Ihr war, als hätte sie einen bayerischen Semmelknödel vom vorherigen Abendessen in einem verschluckt, so angeschwollen und beengt fühlte sich ihr Hals an. Sie bekam kaum noch Luft und fühlte Panik in sich aufsteigen.
›Wach auf!‹, dachte sie zunächst nur, dann krächzte sie entschlossen: »Wach auf! Es ist ein Traum! Wach auf!«
Wieder raschelte es unter ihr. Antigua murmelte etwas - dann setzte sie sich mit einem Mal in ihrem Bett auf. Tigris konnte ihre Haare in den Schatten als helleren Fleck in den nächtlichen Schatten ausmachen
Da machte die Angst Tigris völlig kopflos - sie kreischte aus Leibeskräften auf. Dann schrie sie noch panikerfüllter, als sie sich fallen fühlte. Mit voller Wucht prallte sie auf ihre Matratze auf - und federte schließlich darauf zur Krönung ab, um letztendlich auf den harten Dielen zwischen ihrem und Antiguas Bett zu landen, und zwar auch noch bäuchlings.
Alles um sie herum drehte sich, gleichzeitig fühlte sie Magensäure in ihrer Speiseröhre aufsteigen, als ob sich ihr Innerstes verknotete und die ätzende Flüssigkeit in ihr herauspresste.
Wie aus weiter Ferne hörte sie Antigua kichern und sagen: »Keine Sorge, Tig. Du bist aus dem Bett gefallen, okay? Ist alles Ordnung mit dir?«
Doch Tigris war nicht in der Lage zu sprechen. Ihr war hundeelend zumute, speiübel dazu, als ob unsichtbare Hände an dem Knoten in ihrem Magen abwechselnd zogen und in ihn hineindrückten.
Kopfschmerzen, die sich anfühlten, als versuche ihr Gehirn die Schädeldecke zu sprengen, indem es scheinbar auf- und wieder abschwoll, raubten ihr den wenigen Atem, den sie noch hatte.
»Tigris? Tigris!«, hörte sie Antiguas ängstliche Rufe, dann spürte sie Hände auf ihrem Rücken, die ihr halfen, aufzustehen.
Mehrere Male sackten Tigris die Knie ein, während sie, gestützt von Antigua, aus dem Zimmer hinüber ins Badezimmer torkelte.
Wenige Meter jedoch, bevor sie die Tür mit dem altmodisch verschnörkeltem 'BAD / WC DAMEN' erreichten, versteifte sich Tigris mit einem Mal - und erbrach sich dann wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sobald der Brechkrampf nachließ und sie glaubte, nun wäre es endlich vorbei, überfiel sie wieder ein unkontrolliertes Zittern - und noch einmal übergab sie sich lautstark.
Mehrere Türen wurden aufgerissen, Füße trampelten hastig die Treppe von den oberen Stockwerken hinunter, Stimmen redeten durcheinander. Zwischen einer winzigen Kotzpause hörte Tigris ihre Mutter neben sich verzweifelt auf sich einreden: »Spätzchen! Oh mein Gott, holt Lux Montana, schnell! Kannst du aufstehen - ach du meine Güte!« Der Rest ging in Tigris’ Würgen und Röhren unter.
»Was ist passiert, Antigua? Habt ihr damit etwas zu tun? «
»Nein, sie hat schlecht geträumt und ... ist aus dem Bett gefallen. Sie lag jedenfalls plötzlich auf dem Boden. Das kommt durch den Sturz, Lux Danubia, ganz sicher.«
Endlich gab es nichts mehr, das Tigris’ Magen nach draußen auf die gewachsten Holzdielen befördern konnte. So begnügte er sich damit, sich in Sekundenabständen schmerzhaft zusammenziehen, sich zu verkrampfen, bis Tigris wimmerte und ihr die Tränen nur so übers Gesicht liefen.
»Tigris! Kannst du mich hören? Tigris!«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter mal mehr, mal weniger deutlich aus dem Stimmgewirr um sie herum hervortönen. Wie beiläufig nahm sie wahr, dass anscheinend sämtliche Bewohner des Hauses Rosenhag sich in der Nähe des Badezimmers auf der Balustrade versammelten hatten und miteinander tuschelten.
»Wahrscheinlich Schein-Xendium. Es sind Fälle von Eltern dokumentiert, die ähnliche Symptome aufwiesen, als es bei ihren Kindern ausgebrochen ist.« »Sie hat viel zu viele Knödel gegessen, das ist alles. Sie ist sowieso viel zu fett, das hat ihr mal gut getan.«
Fett! Fett? Nur weil viele Xendii dünn wie Bohnenstangen waren?
»Ich bin nicht fett, ihr magersüchtigen, am laufenden Band kotzenden Freaks!«, schrie sie wütend auf und wurde prompt mit einem erneuten Bauchkrampf belohnt.
»Im Moment bist du hier der kotzende Freak«, zischte Antigua unfreundlich, die zusammen mit ihrer Mutter neben ihr stand. Angewidert von sich selber, betrachtete Tigris die große, übel riechende Lache vor dem Bad. Auch das noch! Dass sie sie in dieser entwürdigenden Verfassung sahen, war weitaus schlimmer als alle Bauchkrämpfe zusammen.
»Danubia, was ist denn passiert?«
Die raue Stimme gehörte natürlich unverkennbar zu Lux Montana. In übelster Laune ließ sich Tigris von ihr und ihrer Mutter auf die Beine helfen, wobei sie jedoch trotzig den Blick auf ihre Zehen geheftet ließ.
»Es ist nur ein banaler Fall von Übelkeit«, sagte ihre Mutter kühl zu den anderen Xendii und zu Lux Montana. »Hast du etwas dagegen in deinem Arztkoffer?«
»Natürlich. Schaffen wir sie erst einmal wieder in ihr Bett, sie braucht Ruhe«, entgegnete diese. »Und ihr alle könnt ebenfalls wieder beruhigt schlafen gehen. Es ist halb vier Uhr morgens. Lux Livas wird morgen früh sicher eure ganze ausgeschlafene Frische brauchen. Und du, Antigua, könntest du Tigris ein Glas Wasser bringen?«
Antigua nickte nur kurz und lief in ihr Zimmer.
Daraufhin gingen auch alle anderen Xendii langsam wieder zurück ins Bett, wie Tigris erleichtert feststellte.
»Ich mache das gleich weg«, sagte Danubia mit einem knappen Blick auf die üble Bescherung.
»Aber ich bitte dich, meine Liebe. Da kämen wir vor lauter Wischen gar nicht mehr zu den wichtigen Dingen«, antwortete Lux Montana ironisch und streckte den rechten Arm aus.
Mit großen Augen beobachtete Tigris, wie aus der grünbraunen ekligen Brühe langsam, aber sicher nichts als Wasser wurde. Und die Lache zog sich in Windeseile zusammen, bis sie ganz verschwunden war.
»Meine Güte«, murmelte Tigris und fühlte einen Schauer über ihren Rücken kriechen, allerdings nicht wegen der Wandlung selber, sondern etwas, das sie das erste Mal bei so einem Anlass bemerkt hatte. Damit die Xendii um sie herum jedoch nicht misstrauisch wurden, sagte sie schnell: »So ähnlich war das wohl damals mit dem Wasser, das eine bestimmte Person zu Wein verwandelt hat.«
»Natürlich hatte Jesus Xendium. Wie so viele herausragende Persönlichkeiten der Weltgeschichte«, entgegnete Antigua schnippisch, reichte Tigris das Glas Wasser, drehte sich um und verschwand.
»Danke, Montana«, sagte Danubia, als die knochige Wandlerin ihr ein kleines, braunes Fläschen mit hellen Pillen darin in die Hand drückte.
»Keine Ursache. Soll ich dich stützen, Tigris, oder kannst du wieder alleine gehen?«
»Ich bin wieder okay«, fauchte Tigris Stimme unter den wirren Locken ihres gesenkten Kopfes hervor.
»Charmant wie immer. Das hat mich überzeugt. Gute Nacht, Danubia. Und gute Besserung, Tigris.«
Sie ging mit großen Schritten zur Treppe und eilte hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.
Danubia umarmte ihre Tochter und wollte sie langsam zurück in ihr Zimmer bringen.
»Ich will nicht hier sein, Mama«, flüsterte Tigris kläglich. »Ich will nach Hause. Ich will nach Düsseldorf.«
Danubia seufzte, gab sich jedoch ohne jede Widerrede geschlagen. »Na gut. Ich habe morgen nur ein kurzes Seminar oben in der Burg. Ich denke, bis dahin geht es dir wieder gut. Lux Montanas Kräuterpillen lindern bei den Xendii die Magenschmerzen. Bei dir sollten sie erst recht wirken.«
»War mein Vater wirklich nur ein Träger des Xendiums?«, fragte Tigris unvermittelt. Erschrocken blieb Danubia stehen und sah Tigris erschüttert an. »Spätzchen, wie kommst du jetzt ausgerechnet darauf? Ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass-«
»Dass er ein Abtrünnigen war und seit fünf Jahren tot ist? Ich weiß. Anscheinend war er wirklich ein böser Mensch.«
»Tigris, So pauschal kann man Andersdenkende nicht verurteilen.«
Tigris sah ihre Mutter nicht an, als sie mit zusammengezogenen Brauen sagte: »Mich wundert nur, dass er niemals versucht hat, mich zu sehen. Ein richtiger Vater hätte es zumindest versucht. Er hätte herausgefunden, dass wir wochentags in Düsseldorf wohnen. Oder lag es an dir?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen!«, zischte Danubia mühsam beherrscht. » Nicht jetzt. Und schon gar nicht hier. Wir gehen jetzt hinüber in unsere Wohnung, wo du dich sofort hinlegst und schläfst.«
»Wie du meinst«, sagte Tigris mürrisch. Sie kamen zu der Buchentür neben dem Kleiderschrank.
Antigua schlief wieder – oder tat zumindest so.

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Als sie gleich darauf im Flur ihrer Düsseldorfer Wohnung standen, fügte Tigris noch beißend hinzu:
»Gut, sprechen wir nie wieder von ihm. Wenn es dich beruhigt. Wenn du damit leben kannst.« Sie wollte sich aus der Umarmung ihrer Mutter entwinden, doch diese sie hielt sie mit sanfter Gewalt zurück.
»Das kann ich, Tigris. Um deinetwillen muss ich es sogar.« Sie drückte Tigris kurz, aber heftig an sich und löste sich unvermittelt von ihrer Tochter. »Geh jetzt ins Bett, Spätzchen. Bald haben wir es geschafft.« Dann eilte sie in ihr Schlafzimmer, wobei sie sich im Gehen mit der Hand über die Augen wischte.
Etwas verwirrt blieb Tigris stehen und sah ihr nach.
»Das war der beschissenste Tag und die grauenhafteste Nacht in meinem ganzen Leben. Und ich bete zu Gott, dass die paar Tage bis Equinox Veris schnell vorbei gehen«, murmelte sie müde und klappte sachte den Spiegel zu.
Doch tief in ihrem Inneren verstärkte sich der Verdacht, dass sich etwas verändert hatte.
Dass sie sich verändert hatte.
Denn zum ersten Mal in all den Jahren in Windwibbenburg hatte sie einen grünen Strahl aus Lux Montanas Hand schießen sehen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Doch er sah genau so aus wie Ember es ihr einmal beschrieben hatte, als er von Bat Furans Wandlungskunststückchen erzählt hatte. Nur Xendii konnten schließlich das Aethron und seine verschiedenen Arten wahrnehmen, genau wie nur sie Dämonen oder Engel sehen konnten, die aus verschiedenen Arten von Aethron bestanden.
Bisher hatte sie alles, was sie bewegte, immer Ember erzählt.
Aber das... Das durfte sie selbst ihm nicht sagen.
Es waren schließlich nur noch siebzehn Tage bis Equinox Veris.
Siebzehn Tage, bis sie nichts mehr mit Windwibbenburg zu tun haben brauchten.
Ihre Aura!
Jemand wie ihre Mutter, wie Ember, wie viele andere in Windwibbenburg, würde es sofort bemerken, wenn Es bei ihr ausgebrochen war.
»Quatsch«, dachte sie dann erleichtert. »Alle haben mich gesehen. Und niemand hat gerufen: ›Leute, bei Tigris ist Xendium ausgebrochen!‹ Vielleicht hat Lux Montana es auch absichtlich so gemacht, dass ich es sehen kann. Um anzugeben, oder so. Das sähe ihnen allen ähnlich.«
Geradezu erleichtert über diese wirklich gute Erklärung, ging Tigris in ihr Zimmer und ließ sich ins Bett fallen, schloss lächelnd die Augen - und fuhr dann wie von der Tarantel gestochen wieder hoch. Eilig suchte sie in der Dunkelheit nach dem Schalter ihrer Nachtischlampe und knipste sie an.
»Verdammt«, überlegte sie weiter. »Und wenn ich wieder diesen ätzenden Traum habe?«
Nein, darauf hatte sie wirklich keine Lust. Alleine schon die Erinnerung daran beschleunigte ihren Herzschlag vor Angst. Sie griff sich stattdessen irgendein Buch, das davon handelte, dass Hexen in lustigen Kostümen auf Besen ritten und Chaos in ihrer Umgebung veranstalteten. Doch nach wenigen Augenblicken schon warf sie es in einem Anflug von Wut von sich.
»Ich will nichts mehr von Hexen und Zauberern hören, verdammt«, fluchte sie leise auf und sprang aus dem Bett. An Schlaf war zurzeit nicht zu denken, daher schlurfte sie missgelaunt ins Wohnzimmer, ließ sich dort auf die graue Velourcouch plumpsen, um noch etwas Viva oder dergleichen zu gucken.
»Hello! And willkommen zu unsere großen Gewinnspiel The Price is going to get you! Shubiduuuu!«, rief eine grellgeschminkte Moderatorin, kaum dass der Fernseher anging. Sie hatte unglaubliche Ähnlichkeit mit Pamela Anderson, allerdings hätte ihre schrille Stimme selbst den geiferndsten Busenfetischisten sofort panikerfüllt zur Fernsteuerung greifen lassen. Ärgerlich schaltete Tigris auf MTV um, wo gerade ein äußerst ölig wirkender Italo-Verschnitt mit extrem zurückgegelten Haaren ein anderes Gewinnspiel moderierte.
»So! Und gleische werrden wirr erfahren, wer derr oder die glüüücklische Gewinnerr iste... oh mama mia! Es iste... Tigris Aurora Melisande Windwibb!« Mit gebleckten Zähnen hielt sich der Typ ein Handy ans Ohr, und das Knacken, das den Verbindungsaufbau ankündigte, schien im ganzen Wohnzimmer wiederzuhallen.
Tigris erstarrte auf der Stelle.
Flach atmend, ließ sie langsam ihre Augen nach rechts zum Beistelltischen wandern, wo sich die Telefonstation befand.
Schnell riss sie das Mobilteil von der Station, kaum dass das erste leise Klingeln ertönte.
»Ja bitte?«, hauchte sie mit zitternder Stimme ins Telefon, ohne das Fernsehbild aus den Augen zu lassen.
»Die Übergabe findet morgen früh statt«, sagte dieselbe männliche Stimme, die sie während der Halluzination mit der alten Frau zu hören geglaubt hatte, und die eigentlich dem öligen Moderator im Fernsehen gehören musste. Doch er bewegte seine Lippen überhaupt nicht. Stattdessen schien es Tigris, als starre er sie durchdringend an, als könne er sie sehen.
Tigris wagte sich nicht zu rühren, noch konnte sie den Blick vom Fernseher wenden.
Dann wurde aufgelegt, und das Fernsehbild kurz gestört. Im nächsten Moment lief der neueste Clip von Usher.
Tigris rutschte schweißgebadet tiefer in die Couch.
Das war doch nicht wirklich passiert, oder?
»Spätzchen? Wieso schläfst du denn nicht?«
Erschrocken sah Tigris ihre Mutter an, die im Nachthemd in der Wohnzimmertür stand und sie besorgt betrachtete.
»Ich... ich kann irgendwie nicht schlafen. Der ganze Tag war richtig daneben. Ist schon okay, Mama.«
»Mir geht es auch nicht besser. Ich geh uns einen Kakao machen. Hat eben das Telefon geläutet, oder hab ich das geträumt?«, brummte Danubia und verschwand in der Küche, ohne Tigris’ Antwort abzuwarten.
Diese nahm einen langen Atemzug. Das war zuviel! Die Tränen schossen ihr in die Augen. Traurig zog sie die Beine an ihren Körper, umschlang sie und legte den Kopf auf ihre Knie. Was war nur los mit ihr? Was ging vor? Etwas war nicht Ordnung, irgendetwas Merkwürdiges passierte, aber sie kam einfach nicht dahinter.
»Mir ist noch immer nicht so gut«, sagte Tigris mit belegter Stimme, als sie es sich hinter sich rascheln hörte.
»Das merke ich. Du bist vollkommen neben der Spur. Was ist los? Was ist passiert?«
Tigris fühlte die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter und ihren warmen Atem, als sie einen Kuss aufs Haar gehaucht bekam.
»Ach... ich weiß auch nicht. Ich bin wohl irgendwie völlig überspannt, sehe Dinge, die gar nicht da sind und so... und dann kommen mir merkwürdige Namen in den Sinn, mit denen ich eigentlich gar nichts anfangen kann, von denen ich aber das Gefühl habe, dass sie etwas bedeuten. Völlig daneben, ich weiß. Vielleicht sollte ich Lux Danubia bitten, mir Baldrian zu geben. Ich kann seit Tagen nicht richtig schlafen.«
»Was denn für Namen?«, fragte ihre Mutter betroffen.
»Ach... ›Omrishah‹ zum Beispiel.«
Die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter zuckte.
»Kannst du damit etwas anfangen?« Tigris schniefte und wandte sich zu ihrer Mutter um.
»Wo hast du diesen Namen bloß aufgeschnappt?« Mit großen Augen musterte ihre Mutter sie unentwegt.
»Er kam mir irgendwie in den Sinn. Wahrscheinlich aus irgendeinem Film.«
»Wir haben keinen Kakao mehr«, bemerkte ihre Mutter tonlos und erhob sich.
»Mama?« Tigris hob den Kopf und sah kläglich zu ihrer Mutter hinauf.
»Was?«
»Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?«
»Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen. Wir sind beide durch den Wind. Vielleicht sollten wir Urlaub machen.«
»Vielleicht«, Tigris grinste. »Okay, wir nehmen aber dein Bett.«
Sie gingen zusammen in Danubias Schlafzimmer, wo Tigris auf den breiten Futon kletterte und sich unter der Decke einkuschelte, während ihre Mutter das Licht löschte und sie im Bett dann eng an sich zog, als ob sie fürchtete, jemand könnte ihr ihre Tochter wegnehmen.
»Gute Nacht, Spätzchen. Schlaf jetzt. Und zerbrich dir nicht den Kopf über das Xendium. Du hast es ganz sicher nicht, glaube mir.«
»Schlaf gut, Mama«, Tigris drückte ihre Mutter an sich und schloss die Augen. Vielleicht kam der ersehnte Schlaf bald.
Und hoffentlich auch für ihre Mutter.
Tigris hörte, wie sie unentwegt an ihrem Anhänger herumspielte. Komisches Ding, das... Sie öffnete die Augen und sah schemenhaft die groben Konturen des Steins, der von Silberdraht umwickelt war. Tief im Inneren reflektierten Metalleinschlüsse glitzernd das Licht der Straßenlaterne, die vor dem Haus etwas abseits stand.
Sollte sie ihrer Mutter von dem Traum und von dem Vorfall danach erzählen? Vielleicht wusste sie eine Antwort darauf. Doch sie besann sich eines Besseren (oder Schlechteren), schloss wieder die Augen und biss sich auf die Lippen.
›Vielleicht rede ich mit ihr nach Equinox Veris darüber. Und vielleicht habe ich wirklich nur geträumt, dass ich an der Decke geschwebt habe. Kein Wunder eigentlich, wo ich seit mindestens drei oder vier Nächten kaum geschlafen habe...‹, beschwor sie sich selber.

›Das ist nicht dein Ernst, 'Diêl. Unmöglich!! Das ist noch nie vorgekommen. Nein, das lassen wir niemals zu. Das darf nicht sein! Gott wird dich verfluchen!‹

Eine Erinnerung, wahrscheinlich aus dem Alptraum, die eben in ihrem Gehirn aufgeflackert war. Hoffentlich träumte sie nicht schon wieder von diesem Dämon, von seiner Stimme, die ihr so vertraut vorkam.
Langsam glitt sie in den Schlaf hinüber, begleitet von merkwürdigen Sätzen, die ihr einfach so in den Sinn kamen, und die sie am nächsten Tag fürs erste vergessen haben würde.

›Gott wird dich verfluchen.
Gott bestraft diejenigen, die Seine Gebote übertreten.
Und du kennst Sein Oberstes Gebot, 'Diêl: Die Reinen sollen sich von den Ewigverdammten fernhalten!‹
 

© I.S. Alaxa
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Und schon geht's weiter zum 3. Kapitel...

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