Xendium - Manifestation von I.S. Alaxa
Teil 1 - Geschenk des Himmels
Kapitel IV

Das Café Bohemia unten am Altstädter Ring in Prag zog hauptsächlich Liebhaber der Jugendstil-Epoche an; auch jene, die gerne philharmonische Konzerte hörten, denn diese Musik strömte unaufdringlich und doch allgegenwärtig durch den hohen und weiten Raum des Lokals. Die Linien seiner farbenprächtigen Wandmalereien wogten wie die Klänge der klassischen Melodien, flochten sich weich ineinander, liefen in Wellen auseinander und fanden verschnörkelt wieder zueinander. 
Mira Szelwyczinski liebte das Café Bohemia, das im Besitz von PAGAN und daher ein Treffpunkt seiner Mitglieder war. Auch der neueste Auftrag sollte hier besprochen werden, weshalb sie vor wenigen Minuten schweren Herzens Danubia und ihre verstörte Tochter hatte verlassen müssen, um eiligst das Tor in der Düsseldorfer Altstadt aufzusuchen und durch einige Umwege über verschiedene Noden und Tore fast zu spät im Café angekommen war.
Der Anlass für das Treffen war sehr ernst und besorgniserregend, weshalb die Sorge um Tigris schnell in den Hintergrund trat, während sie auf die anderen wartete.
›Eden-Projekt beendet! Wir wussten noch nicht einmal, dass es je eins gab oder was es damit auf sich hat...‹, dachte sie und schnaubte empört, während sie sich ein wenig ungeduldig umsah. Mehrheitlich Touristen hatten sich an diesem Mittwochabend in dem stilvollen Lokal eingefunden. Stimmgewirr, gewoben aus fast allen erdenklichen Sprachen der Welt, hallte im Cafe wider. Geschirr klapperte, die Kellner eilten hektisch von Tisch zu Tisch, dann in die Küche und mit Tabletts beladen wieder zurück in den riesigen Saal. Eine Mahagoni-Standuhr in einer Ecke des Cafes zeigte mittlerweile fünf Minuten vor acht Uhr. Das Treffen war für acht Uhr abends anberaumt, aber noch war keiner der drei anderen Teilnehmer zu sehen - doch halt! Mira hatte den zierlichen, etwa fünfzigjährigen Herrn in schwarzen Anzug und Hut samt Spazierstock fast übersehen, der sich an hin- und hertänzelnden Kellnern und ein- oder ausgehenden Gästen vorbei seinen Weg zu dem Tisch im hintersten Winkel bahnte.
»Meine liebe Mira! Es ist mir immer wieder ein Vergnügen ... und diese kurzen, weinroten Haare stehen dir ausgezeichnet. Du siehst Jahre jünger aus!« Er ergriff die dargebotene schlanke Hand und hauchte einen Kuss darauf.
Mira errötete sichtlich geschmeichelt und drapierte den mintgrünen Seidenschal verlegen zurecht, den sie kunstvoll um ihre schulterfreie, weiße Bluse herum arrangiert hatte. »Immer noch ganz Gentleman, obwohl du bekanntlich auch anders kannst, mein lieber George.«
Behutsam nahm er Platz und seufzte, die Hände auf seinen Spazierstock gestützt. »Ah, das Ende macht sich bei mir leider immer stärker bemerkbar. Manche Performances bekomme ich nur noch unter Mühe hin. Und dann diese Bewusstseinstörungen ...Und gerade jetzt ... Seine Mitteilung kommt zu einem wirklich ungünstigen Zeitpunkt.«
»Hat Er dich angerufen?« Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen an.
»Nein, ich bekam gestern Abend eine d-Mail. Die MDL hat also gewonnen. Ich habe es vorausgesehen. Der Welt-DiS-Level liegt bei durchschnittlich 6,3 %. Ein Wunder, dass Er die MDL solange hinhalten konnte! Wie Er schrieb, wäre eigentlich schon bei 5,5 % das Projekt sofort zu Ende gewesen.«
»Und es wird immer schlimmer. Einige Wahnsinnige wollen bei einem möglichen Krieg in Asien Atomwaffen einsetzen, ganz winzige kleine, die nicht mehr ›Schäden‹ anrichten als einigen hunderttausend Unschuldigen das Leben zu kosten. Unglaublich. Das wird den Level mindestens um zwei Prozentpunkte hochreißen.«
»Die politische Führung der drei mächtigsten Nationen ist unterwandert, das ist so gut wie sicher. Die MultiDaimoniale Liga muss besonders starke Cherubim geschickt haben. Ich frage mich, wie sie unbemerkt an unseren Nodenwächtern vorbei einreisen konnten.«
»Sie tarnen sich ja als politische Flüchtlinge, George. Wenn sie die Verfolgung durch die MDL glaubhaft darlegen können, müssen wir ihnen Asyl gewähren. So sind die Verträge.«
»Aber die Befragungen sind doch sehr ausführlich, unter Aufsicht unserer Freunde von den FreeDaimons. Sie müssten doch ihresgleichen leicht entlarven können.«
»Ich fürchte, auch die FD ist unterwandert von Agenten der MDL.«
»Das denke ich auch schon seit längerem, Mira, wage es aber nicht offen auszusprechen. Man wird gleich als Allianz-Sympathisant oder - noch schlimmer - als Materialist hingestellt, der alle Daimons über einen Kamm schert.«
»Leider, leider. Was hältst du von der heutigen Sache?«
»Was könnte ich davon halten? Er rückte wieder einmal keine näheren Informationen heraus.«
»Oh ja, wie immer. ›Ich weiß, was ich tue, vertraut mir.‹. Genau das ist sein Standardspruch. Nicht, dass ich ihm nicht vertraue. Aber er ist ein Geheimniskrämer, wirklich. Der Cherub, der gleich eintreffen wird, wird uns sicherlich nur die Zeit und den Ort der Übergabe hier in Prag nennen.«
»Wenn dieses Ding so gefährlich ist, frage ich mich, wieso gerade wir darauf aufpassen sollen, wo wir selber derartige Scherereien mit der MDL haben.«
Die beiden wandten die Köpfe, als sie herannahendes Absatzgeklapper hörten. Dann stand auch schon Celestine Saint-Thalisse vor ihnen, eine hochgewachsene knochige Frau mit hochgesteckten nachtschwarzen Haaren und leuchtendblauen Augen. Eine strahlendhelle Farbe besaßen viele Wandler, doch Celestines glühte regelrecht, was sie als besonderes Talent auswies. Sie war stark geschminkt, betonte ihren breiten Mund immer mit einem grellen Rot und trug mit Vorliebe schwarze Sachen, diesmal einen engen knielangen Rock und eine durchsichtige Bluse.
»Alo, mes cheres!«, gurrte sie mit tiefer rauer Stimme und einem starken, aber charmanten französischem Akzent in ihrem Englisch, der Verkehrssprache PAGANS. Sie beugte sich vor, um den beiden die Wangen zu küssen.
»Cely, dein Parfüm fällt nasenscheinlich unter Narkotika«, wisperte Mira und versuchte, nicht durch die Nase einzuatmen.
»Rischtisch! Es ist eine Narkosemittel, meine Liebe. Isch abe es bei d-bay erstanden. Es soll einige Daimon-Arten für Sekunden paralysieren.«
»Nicht nur sie...«, schmunzelte George.
Elegant ließ sich Celestine auf den freien Stuhl sinken und wandte sich mit gewohnt stolzer Miene nach dem Kellner um. Prompt kam gleich ein junger Kerl herangeeilt.
»Mental Access an Neutralen ist verboten«, zischte Mira ihr erschrocken zu.
»Naturellement, ma Chère. Das abe isch do gar nischt nötig«, Celestine schlug süffisant lächelnd die langen Beine übereinander. Dabei offenbarte sich ein nackter, goldbrauner Oberschenkel den Gästen ringsum, die neugierig die auffällige, schöne Französin musterten.
Nachdem sie dem Kellner die Bestellung aufgegeben hatten (die sie zweimal wiederholen mussten, da sich die Aufmerksamkeit des jungen Burschen immer wieder Celestines Bein zuwandte), sagte sie: »Wisst ihr etwas nä’eres über diese Sache eute? Warum muss dieses gefährlische Ding ausgereschnet auf unsere Welt gebra`t werden?«
»Das haben wir uns eben auch schon gefragt.« Mira wedelte den Rauch beiseite, der zu ihr hinüberwogte, als Celestine sich eine Zigarette anzündete »Aber wenn Er sagt, dass es wichtig sei, sind wir wohl kaum in der Position, dies zu hinterfragen. Er wird uns noch früh genug über alles aufklären.«
»Sollten nisch vier von uns ier er kommen?« Celestine hob ihre schwarze, schmale Braue fragend.
George sah geistesabwesend auf einen Punkt irgendwo im Raum. »Adego Banumu fehlt noch, dann sind wir komplett.«
»Adego? Nichts gegen den guten Adego, aber bei so einer heiklen Angelegenheit hätte ich eigentlich erwartet, dass Aévon Zimberdale mit von der Partie ist.« Mira blies den Rauch energisch beiseite.
»Er war leider unerreichbar, das Handy aus... Nicht einmal Rosanjin konnte mir sagen, wo er seit zwei Wochen steckt«, knurrte George. »Und ich konnte auch keinen Daimon dazu überreden, ihn ausfindig zu machen und ihm meine Nachricht zu übermitteln.«
»Nun ja, das kann man den Daimons auch nicht verübeln. Aévon ist nicht gerade bekannt für ein tolerantes, verständnisvolles Auftreten ihnen gegenüber«, meinte Mira. »Dennoch wäre mir wohler, wenn ich ihn in unserer Nähe wüsste.«
»Ich kann sehr gut auf ihn verzichten. Nein, Adego ist auch ein sehr guter Kämpfer.«
»?ast du immer noch nischt deine Antipathie für Aévon überwünden? Er ist aber nun einmal eindeutisch der beste Wandler auf der Welt«, sagte Celestine lachend.
»Sein Talent entschuldigt nicht seine Arroganz. Er meint, er könne sich über jahrhunderte alte Regelungen und Abmachungen hinwegsetzen und eine Art Show aus unserer Arbeit machen. Sein letzter Verweis von PAGAN liegt kaum drei Monate zurück. Er bringt es noch dahin, dass Neutrale - oder gottbewahre! Excelsior - auf unseren Bund aufmerksam werden, dass geschnüffelt wird und unangenehme Fragen gestellt werden. Gerade in diesen düsteren Zeiten können wir das nicht gebrauchen.«
»Es liegt an seinem Alter. Er ist doch gerade einmal einundzwanzig«, beschwichtigte Mira ihn und legte die Hand auf seinen Arm. »Wir fühlten uns doch auf unsere Art auch als Rebellen, als wir noch in diesem Alter waren. Wenn ich an deine Erzählungen von Beat-Parties denke, George, und an unsere selbstkreierten DiS-Cocktails, Cely«, Die Erinnerung daran ließ sie und Celestine verschwörerisch grinsen.
»Und wir waren garantiert nischt die Ersten oder Letzten, die mit neuartigen Drogen experimentiert  aben. Doch um zurück zu Aévon zu kommen: Isch alte ihn für genial und ungewöhnlisch begabt. Wer von uns war in seinem Alter bereits XOC A’ter Grad? Isch jedenfalls war nur froh, XOC- Erster Grad geschafft zu aben, mit Müh und Not übrigens, weil misch die graue Theorie noch nie sehr interessiert at, und isch in diesem Bereisch schlescht abgeschnitten abe.«
»Aber was nützt die Praxis, wenn sie nicht von der Theorie gestützt wird? Dann landen wir bei unkontrollierten Schüssen, bei Überreaktionen, bei falschen Einschätzungen von Situationen und Personen, und vor allem von Daimons!«, sagte George ärgerlich und sah im Saal umher. Mit einem Mal entspannte sich seine Miene, und die beiden Frauen wussten, dass Adego Banumu eingetroffen war.

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»Très sportif...«, Celestine musterte lächelnd den mit federnden Schritten heran eilenden Farbigen, der einen leichten, weißen Trainingsanzug und Sportschuhe anhatte. Er sah wie immer äußerst gesund, durchtrainiert und gutgelaunt aus, die dunklen Augen sprühten vor Energie.
»Hallo, liebe Freunde! Diese sturen Allianzleute haben mich drei Stunden an der Node von Europa festgehalten!«, rief er zur Erklärung, drückte kraftvoll die ihm entgegen gestreckten Hände und setzte sich dann auf den verbliebenen Stuhl neben Celestine, die ihn sogleich kokett von oben bis unten musterte. »Allo, mon Chèr, wir aben uns lange nisch mehr gesehen...«
»Deine Gegenwart ist höchst erfreulich, außer für meine Lunge, Cely. Wie kann ich dich nur überzeugen, dass Rauchen sich absolut zerstörerisch auf deine Gesundheit auswirkt? Ganz zu schweigen von deiner körperlichen Ausdauer.«
»Wie kann isch disch dazu überreden, mon Chèr, mit mir in das nä’ste Fast-Food-Restaurant zu gehen?«
»Mit dir zu diskutieren, ist sehr charmant, aber vollkommen nutzlos«, seufzte Adego und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Rischtisch. Reden wir lieber von unserem neuen, sischer ö’st riskanten Auftrag, den der SüperDaimon für seine SüperMutanten at.«
»Cely, ein wenig mehr Respekt gegenüber Omrishah wäre angebracht!« tadelte Mira stirnrunzelnd.
»Wieso? Weil wir auf etwas aufpassen sollen, das er anscheinend selber nischt kontrollieren kann und das in falschen Änden eine Katastrophe verursa’en könnte?« Celestine sah die anderen der Reihe nach spöttisch an.
»Also wirklich, Celestine!« Miras Laune war auf dem Tiefpunkt angekommen. Wie konnte es sich die Wandlerin erlauben, so über den Einzigmächtigsten Eloyah-Daimon zu reden?
»Isch frage misch wirklisch, wieso er oder seine Sieben Zerrafin nicht selber darauf aufpassen, wenn es derart gefährlisch ist? Gerade jetzt, wo der Level auf unserer Welt von Monat zu Monat steigt? Und wieso ma’t Omrishah so ein Ge’eimnis aus diesem Ding? Das sind do’ wohl zugegebenermaßen drängende Fragen...«
»Wir sind wohl kaum in der Position, Seine Aufträge zu hinterfragen«, verteidigte auch George den höchsten Daimons. » Sie haben stets ihren Sinn, auch wenn wir ihn nicht gleich verstehen.«
»Warum dürfen wir nischts interfragen? Sind wir schon auf dem Niveau der Allianz angekommen? Oder nur weil er der mäschtigste Daimon von allen ist? Er mag tatsäschlisch nur gute Absischten aben. Aber das bedeutet nischt, dass unsere Auffassung von Wohltaten die gleischen sind. Non, isch bin überzeugt, dass da etwas im Busch ist. Das klingt für misch nach einem ö’st riskanten 
Abenteuer.«
»Und ich sage dir noch einmal: Er weiß, was er tut. Wie ich schon sagte, erschließt sich der Sinn seiner Aktionen oft erst später«, erklärte Mira eindringlich. »Im Übrigen glaubst du doch selber nicht, dass Er uns schaden will. Er könnte keiner Menschenseele etwas zuleide tun. Er ist unser stärkster Verbündeter, gerade in diesen Zeiten. Ich nehme an, du weißt es bereits?«
»Dass die MDL unsere Welt aus diesem komischen Eden-Projekt rauskicken konnte, über das keiner von uns auch nur annä’ernd etwas weiß? Aévon hat mir vor ein paar Wochen davon erzählt. Er at sogar den Beschluss aus dem DimensioNet erunter geladen; wie er sagte, ist er glücklischerweise nur 37.859.355 Seiten lang. Und er meinte, dass die Beendigung dieses Eden-Projekts garantiert eine mittlere Katastrophe für uns darstellt.« Celestine versenkte den durchdringenden Blick aus ihren strahlendhellen Augen in Miras, bis die andere Wandlerin mit gerunzelter Stirn schweigend den Kopf senkte.
»Ehrlich gesagt«, warf Adego ernst ein, »habe ich da auch kein gutes Gefühl. Wir sollten verlangen, dass er uns ganz genau darüber aufklärt.«
»Er wird uns bestimmt noch früh genug -« George brach seine Worte ab, als sich urplötzlich neben ihm der Cherub materialisierte.
Er hatte offensichtlich eine Vorliebe für Marilyn Monroe, also konnte es sich nur um Nikaelu handeln, einer von Omrishahs Lieblingsangestellten. Allerdings waren die blonden toupierten Haare ziemlich zerzaust und das weiße weit schwingende Kleid hatte sie auch noch verkehrt herum angezogen.
»Wie gut, dass außer uns niemand diese Witzfigür se’en kann«, stöhnte Celestine leise und verdrehte entnervt die Augen.
»Ich habe absolut keine Zeit, über meine Erscheinungsform zu diskutieren«, entgegnete ihr Nikaelu pikiert. »Drüben ist die Hölle los, ich bin in Eile. So, hier ist euer Auftrag ... äh ...«
Sie besah sich verwirrt mehrere Karten in seiner Hand. »Also, das verstehe ich nicht ... den hat doch Raffi schon längst ... komisch ... ach, dann kann es nur das sein, da steht zwar nicht PAGAN drauf, aber najaaaa! Omri ist im Stress, da kann so etwas schon einmal vorkommen.«
Sie knallte eine Karte auf den Tisch, und war plopp! wieder fort.
»Was soll das heißen, ›drüben ist die Hölle los‹?«, fragte Adego mit großen Augen.
»Wahrscheinlich wieder mal ein Fall von Kannibalischem Clash«, entgegnete Mira achselzuckend.
Adego spielte mit finsterem Gesichtsausdruck mit Celestines silbernem Feuerzeug. »Ach? Ich dachte, dass dieser Serien-Daimonkiller in Omris ausbruchssicherer Hochsicherheits- Galaxie einsitzt und auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartet?« 
»Er ist Gott sei Dank bereits Geschischte«, sagte die Französin und blies mit verträumtem Blick Rauch zur Decke. »Sein Todesurteil wurde kürzlisch vollstreckt. Dieses Monstrum von Shinn war eine Gefahr für alle Dimensionen und Welten. Non, isch denke, die MDL at deswegen sischer drüben wieder irgendeine Protestaktion gestartet, vielleischt eine Groß-DaimonStration?«
»Ein MDL-Daimon, der andere Daimons, sogar die der MDL, aus purer Freude am Töten vernichtete ...«, sagte George leise. »Dieses Geschöpf muss ein vollkommener Psychopath gewesen sein. Wir sollten froh sein, dass wir Gott sei Dank niemals seine Bekanntschaft machen müssen.«
»Ja, Gott sei Dank«, murmelte Mira. »Er soll sogar einst einer der führenden Köpfe der MDL gewesen sein, dieses Sammelbecken von vollkommen fanatischen, abgrundtief verrotteten 
Geschöpfen.«
»Wer weiß, vielleischt at die MDL selber vor ihm Angst bekommen. Eißt es nischt, jemand at ihn verraten? Kannibalischer Clash ist das schwerwiegendste Verbreschen unter den Daimons, sogar von den Sieben Shinnn vera’tet, und die Strafe für dieses Verbreschen unabwendbar«, warf Cely nachdenklich ein.
»Jedenfalls«, fuhr Mira fort, »hat niemand so viele weltenvernichtende Shinnn-Parties organisiert, wie dieses Monstrum. Wir sollten froh sein, dass die FreeDaimons sein Todesurteil durchsetzen konnten.«
»Ach, lassen wir das. Wir haben unsere eigenen Probleme hier auf Erden«, winkte George schließlich ab. Er nahm sich das Blatt als erster, las die wenigen Worte in stark verschnörkelter Schrift kurz durch und reichte sie dann an Mira und Celestine weiter.
Celestine hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, als sie den Auftrag las.
»Goldene Gasse, vor dem Antiquitätengeschäft Stankovac um 00:03. Warum zur Ölle mitten in der Öffentlischkeit?«
»Die Wege des Einzigmächtigsten Daimons sind in der Tat unergründlich«, sagte Adego spöttisch.
Nachdem alle vier anhand der Karte nun wussten, wann und wo genau die Übergabe stattfinden sollte, faltete George das Papier solange zusammen, bis es in den Aschenbecher passte.
»Elga, Paravent!«, wies Celestine ihre Bundesgenossin an, dann pustete sie über die Karte, die plötzlich in Flammen aufging und von dem Feuer mehr als verzehrt wurde: Sie verschwand völlig, nicht der kleinste Aschefitzel blieb übrig.
Von der ganzen Aktion hatte niemand an den Nachbartischen etwas mitbekommen. Wessen Blick zufällig in jenem Moment den Aschenbecher gestreift haben mochte, hatte nichts Ungewöhnliches gesehen. Diejenigen, die darüber hinaus auch noch Englisch verstanden, wunderten sich höchstens, wie man so ausdauernd über ein derart langweiliges Thema wie Entenzucht reden konnte. Das war jedenfalls das, was sie von der Unterhaltung aufschnappten, wenn einer der Beteiligten etwas lauter wurde. Ansonsten ahnten sie weder etwas von der wahren Natur der beiden Männer und Frauen, noch etwas über ihre wahren Absichten. Und seit Jahrhunderten schon hatten die Xendii wirkungsvolle Methoden, ihre Fähigkeiten und Aktivitäten vor den anderen Menschen zu verbergen.

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Als Tigris erwachte, sah sie ihre Zimmerdecke über sich, beleuchtet von der Nachttischlampe.
Der Radiowecker zeigte 23:51, ein monotoner Techno-Beat tönte nervtötend aus ihm hervor. Sie streckte die Hand aus, suchte einen anderen Sender, und hielt lustlos bei einem inne, der gerade irgendeinen deutschen Schlager spielte.
»Ach komm, du stehst doch nicht wirklich auf Roy Black.«
Mit angehaltenem Atem schnellte sie aus dem Kissen hoch und sah mit schreckgeweiteten Augen zum Schreibtisch. Obwohl ihr Herz vor Angst raste, konnte sie noch nicht einmal mehr schreien.
Der bleiche Junge fläzte sich auf dem Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch und starrte sie mit seinen unheimlichen violetten Augen an. Er sah ziemlich jung aus, wie höchstens zwölf. Sein Gesicht war rundlich, auf seiner Stupsnase hatte er Sommersprossen, und um seine dünnen Lippen spielte ständig ein freches Grinsen. Auf seinem schwarzen T-Shirt stand in giftgrünen Buchstaben FUCK MDL - Take DiS and party!!!
»Wahnvorstellung!«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Er ist nicht real. Ich mache die Augen zu. Und wenn ich bei drei die Augen wieder öffne, ist er weg.«
Eins. Zwei. Drei.
Blitzschnell riss sie die Augen wieder auf - und tatsächlich! Der Stuhl war leer.
Erleichtert seufzte sie.
»Ist doch nicht wahr, oder? Schon wieder kriege ich so einen Frischling ab, der keinen Plan von nichts hat.«
Seine Stimme doch wieder zu hören, brachte Tigris vollkommen aus der Fassung. Schluchzend rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und weinte hemmungslos. Die Wahnvorstellungen gingen nicht mehr weg. Sie war krank, so gut wie verrückt - oder noch schlimmer: Das Xendium war bei ihr ausgebrochen. Alles war aus.
»Na gut, Entschuldigung. Jeder Neuanfänger beginnt mal bei Null, nicht wahr? Aus dir wird garantiert eine wunderbare, hochtalentierte Ruferin, ganz sicher. Jetzt hör auf zu heulen. Mach dir lieber Gedanken, wie du nach London kommst. Das hat oberste Priorität. Nehmen wir die Bahn oder den Fleugzug? Ich wäre ja für die Bahn, das ist sicherer für Anfänger. Aber meinetwegen nimm, was du willst. Von mir aus das Fahrrad, oder dein Skateboard. Ist mir vooollkommen schnuppe. Hauptsache, du bewegst dich schnellstens von D nach GB.«
Angesichts der Tatsache, dass die Wahnvorstellung nichts tat außer wie ein Wasserfall Unsinn von sich zu geben, beruhigte sich Tigris wieder ein wenig, setzte sich erneut auf und wandte dann den Kopf in Richtung der Stimme, zum Fenster.
Dort saß der Junge auf dem Marmorbrett und schien die Straße zu beobachten.
»Gut ...«, begann Tigris schließlich nach einem tiefen Atemzug. »Mal angenommen, ich habe keine Wahnvorstellung. Wer bist du?«
»Ich bin Engelbert, dein BodyDaimon. Leider, übrigens.«
»ENGELbert? Oh! Du bist mein Schutzengel, wie Er es mir versprochen hat.« Sie strahlte Engelbert erleichtert an.
»Was denn für’n Engel?« grummelte dieser befremdet. Dann weiteten sich seine Augen, als ob der sprichwörtliche Groschen bei ihm fiele und er sagte: »Ach, so, ›Engel‹ wie ›Teufel‹. Sag bloß, du bist so eine Allianz-Tussi. Na toll, ist ja nicht wahr, oder?« Er schnaubte verächtlich auf. »Für die bin ich wohl eher Letzteres. Allerdings möchte ich ausdrücklich betonen,« Engelbert hob den Zeigefinger, 
»dass ich Freiberufler bin und außerdem ein politisch eher den Menschenfreunden zugeneigter, praktizierender Agnostiker. Und nein, ich bin nicht gekommen, um die Welt zu vernichten und deine Seele in den Höllenschlund zu reißen. Ist doch viel zu stressig, und außerdem nur eine der vielen Wunderbaren Legenden von euch.«
»Was?« Tigris runzelte die Stirn. Einen Schutzengel hatte sie sich ohnehin ganz anders vorgestellt, vor allem ätherischer, hübscher und mit Lichtflügeln zumindest. »Oder habe ich doch eine Wahnvorstellung? Vielleicht ... bist du mein unterbewusstes, böses Ich. Die Manifestierung all der Wünsche und Vorstellungen, die ich niemals auszuleben wage?«
»Ich bin ein manifestierter Daimon, das hast du sehr richtig erkannt, was denn sonst, bei 6,3% DiS weltweit? Oder wie man bei euch zu sagen pflegt: bei ganz, ganz viel Aethron in der Luft. Aber jetzt müssen wir nach England, okay? Danach kannst du dich bis zum Erbrechen ausleben, selbst finden, deine Chakren mobilisieren ... was auch immer.«
»Aber wieso gerade England? Oder ist das ein Synonym für Amerika, mein Traumland, weil man dort ENGLisch spricht?«
»Nein, es ist ein Synonym für England, wo es Leute gibt, die dir wirklich helfen können. Das hat dir Raffiyell doch schon dringend an dein kleines, verunsichertes Herz gelegt, oder nicht?«
»Es heißt ›Heiliger Erzengel Raffael‹!«, zischte Tigris aufgebracht über diese Majestätsbeleidigung.
»Ah, hat er das gesagt? Na ja, ich hätte der Versuchung auch nicht widerstehen können. Wenn manche Leute es nicht anders haben wollen.« Er grinste breit.
Tigris versuchte, die merkwürdigen Worte ihrer ›Wahnvorstellung‹ weiter zu deuten:
»Der Heilige Erzengel Raffael ist ein gutes Geschöpf. Ich suche also einen Halt in meinem Leben. Jemand, der mich beschützt, der mir hilft.«
»Raffiyell ist ein Daimon wie ich. Okay, ein wenig mächtiger und älter, aber egal. Und ja, genau, in England gibt es Leute, die dir Halt geben können, die dich beschützen und dir helfen, und deswegen müssen wir nach dorthin. Wann?«
»Oh Gott!« Tigris griff sich verwirrt an den Kopf. »Ich durchlebe gerade eine psychische Krise und -«
»Nein, ICH durchlebe gerade ein psychische Krise, weil mich eine völlig ahnungslose, labile Person zutextet und nicht kapieren will, in welcher Gefahr sie schwebt. Hör zu!«
Mit einem riesigen Satz hüpfte Engelbert auf Tigris’ Bett und hockte sich im Schneidersitz vor sie. Obwohl er auf ihren Schienbeinen saß, schien er gar nichts zu wiegen. Aber ein merkwürdiges Vibrieren ging von ihm aus, das Tigris durch die Bettdecke hindurch fühlen konnte.
»Lass diesen Psycho-Freud-Scheiß bitte, Herzchen. Die Lage ist ernst. Du bist nicht verrückt, sondern besitzt gewisse außerordentliche Fähigkeiten, weswegen du in der Lage bist, Daimons zu sehen. In meinem Fall ist das natürlich erfreulich, aber es gibt auch Gestalten, die nicht sehr nett und geduldig mit dir umspringen werden. Und weil du noch eine untrainierte Ruferin bist, kann das bös ins Auge gehen. Du musst also nach England, wo man dich trainiert und beschützt. Ist doch nicht so schwer zu verstehen, du Mensch!«
»Dann bist du also ein Teufel. Weiche von mir im Namen des Herrn!«
Engelbert verdrehte missmutig die Augen. »Nichts lieber als das! Welcher anständige Daimon würde nicht gerne von so einer durchgedrehten tickenden Zeitbombe wie dir weichen? Aber ich habe nun mal diesen doofen Wächterjob am Arsch.« Er seufzte aus tiefster Seele und verschränkte seine Arme. 
»Also, noch mal langsam für kleine, blöde Mädchen: es gibt keine Engel oder Teufel. Keine. Weder Engel. Noch Teufel. Es gibt nur Daimons. Die guten Daimons zerfleischen dich nicht, oder jedenfalls nicht sofort, auch wenn du ihnen noch so auf den Nerv trittst, wie du es bei mir tust. Die Bösen sind schlauer und machen kurzen Prozess mit so einer Jammerjule wie dir.«
Jammerjule! Von dieser lächerlichen Gestalt so beleidigt zu werden!
»Ich bin keine Jammerjule! Ich versuche nur, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Was willst du mir jetzt eigentlich sagen?« Nachdenklich musterte sie Engelbert, und er erwiderte gelassen ihren Blick aus ernsten, violetten Augen, unter denen dunkle Ringe lagen.
»Du gehen England, sonst du tot.«
»Ich geb’s auf«, seufzte Tigris und ließ sich ins Kissen fallen.
Engelberts gelangweilte Miene erhellte sich schlagartig. »Wir brechen also endlich auf?«
»Tsss. Ich habe das Xendium, welches auch immer. Vielleicht alle? Super.« Sie kicherte aus purer Verzweiflung. »Gerade jetzt, wo wir es fast geschafft hätten, die Sippen loszuwerden. Nein!« Sie schnellte wieder aus den Kissen empor und funkelte Engelbert zornig an. »Ich lass mir mein Leben deswegen nicht vermiesen. Und ich gehe nirgendwo mehr hin, wo sich irgendwelche Xendii herumtreiben. Ich habe andere Pläne mit meinem Leben. Darin kommen Engel, oder Dämonen, oder was auch immer, nicht vor!«
»Du musst sie leider ändern, denn ab jetzt kommen haufenweise Daimons in deinem Leben vor, und zwar in allen Größen, Formen, Farben und Geschmacksrichtungen. Und wenn du trotz dieser kleinen Unannehmlichkeit weiterleben möchtest, solltest du dein Xendium schön trainieren. Es gibt da eine Sorte von Daimons, die nichts lieber tun, als eine Xendi in Grund und Boden zu stampfen, auf ihr herum zu springen, sie zu zerfleischen und aus dem Rest ein Abschiedsfeuerwerk zu starten.«
»Also Teufel.«
»Also hirnlose Fanatiker der MDL. Wenn das mal kein Grund ist, schleunigst nach London zu gehen, dann weiß ich auch nicht. Dort bist du auch vor all den Illegalen Daimons und den Touristen sicher, die sich das Handbuch mit den Verhaltensregeln noch nicht richtig durchgelesen haben. Und natürlich vor denen, die sich unbedingt mit einem Xendi anfreunden wollen, um an ihrer pro-materialistischen, fortschrittlichen Gesinnung keinen Zweifel aufkommen zu lassen.«
»Und zu welcher Sorte gehörst du?«
»Ich warte darauf, dass PAGAN meinen Asylantrag annimmt.«
Da musste Tigris laut losprusten. Asylantrag!
Engelbert blieb jedoch vollkommen ungerührt über diesen Heiterkeitsausbruch.
»All das hier, selbst mein Job als dein BodyDaimon, ist weitaus witziger als in die Fänge der MDL zu geraten. Tja, ich hätte damals das Kleingedruckte lesen sollen, als ich begeistert in diesen Verein eingetreten bin. Wie konnte ich also ahnen, was ›Die Mitgliedschaft ist jederzeit kündbar oder endet automatisch mit dem Tod‹ wirklich bedeutet? Verfluchte MDL ... apropos MDL ... ähm ... du magst doch sicher diese Musik, die alle jugendlichen Menschen heutzutage hören? Wie findest du mein selbstkomponiertes Stück? Aber sag deine ehrliche Meinung!«
Engelbert sprang mit einer zwölffachen Rückwärtsrolle vom Bett in die Mitte des Zimmers.
Er räusperte sich, steckte dann die Hände in die Taschen seiner weiten, schlabberigen Hose und begann zu ... rappen.

Alle Shinnn-Bonzen sollen elend verrecken
In ihren tollen Sternenverstecken.
Ich will nur meine Freiheit leben
Und nicht meine Seele für Scheiße vergeben.
Die Liga geht mir so auf den Sack,
Dieses bekackte bekiffte Fanaten-Pack,
mit ihrer Gier nach noch mehr Stoff,
Meine Antwort an sie ist ziemlich schroff:
Fickt euch alle ins Knie
Mich kriegt ihr nienienie
Und wenn ich auch hier
Vor Langeweile krepier
Sterbe ich wenigstens frei
Von innerer Zweiflerei
Niemand ist nur gut oder böse
Aber alle machen darum so’n Getöse.
Ich halt mich raus aus allen Lügen
Mich kann niemand mehr betrügen

Die Augen schüchtern niedergeschlagen und nervös mit dem rechten Fuß wippend, fragte Engelbert: »Und? Ist doch okay für den Anfang, oder? Falls hier bald die Inkarnationen losgehen sollten, würde ich gerne etwas in der Musikbranche machen.«
»Hm, ja, gar nicht übel. Vielleicht ein wenig kurz, doch wie gesagt: wirklich nicht schlecht für den Anfang. Nenn dich dann doch MC Engelbert oder Engel The Bert, oder so.«
»Danke. Können wir jetzt endlich losgehen nach England?«
»Du mit deinem England. Ich kann nicht einfach von zu Hause abhauen und nach England verschwinden.«
»Andere können das doch auch, wo ist das Problem?«
»Das würde ich meiner Mutter niemals antun!«
»Aber deinen Tod würdest du ihr antun, was? Oder, wenn du Glück hast, wöchentliche Besuche bei dir in der Geschlossenen Abteilung einer Nervenheilanstalt.«
»Vielleicht ist das wirklich eine gute Alternative zu einem Xendi-Leben. Ich kenne diese Freaks nur zu gut. Und ich wollte niemals so sein wie sie. Noch zwei Wochen bis Equinox Veris...« Tigris schniefte traurig bei dem Gedanken, wie sie vor kurzem noch einer glücklichen Zukunft entgegen gefiebert, auf ein normales Leben gehofft hatte. Sollte mit all dem tatsächlich Schluss sein?
»Dann mach dich eben schleunigst auf die Socken zur Allianz und lass dich ausbilden, meinetwegen. Ich bin zwar der Meinung, dass du bei PAGAN viel bessere Karten hast, aber okay. Hauptsache, du siehst ein, dass du Hilfe brauchst, und zwar dringend.«
»Nein. Weder noch. Ich kann das Xendium gar nicht haben. Höchstwahrscheinlich hat es mit diesem Ding zu tun. Weißt du, weshalb der Heilige Erzengel mir dieses Amulett gegeben hat? Ich hatte das Gefühl, er hat mich mit jemandem verwechselt.« Tigris sah stirnrunzelnd auf die Kette.
Engelbert betrachtete gelangweilte den Anhänger, zuckte dann mit den Schultern und antwortete: 
»Keine Ahnung, weshalb dir Raffi diese lumpige Nachbildung eines Nodenschlüssels angedreht hat. An ihm ist nichts Besonderes. Vielleicht als Erkennungszeichen, falls du bei PAGAN auftauchst?«
»Meinst du? Aber ich habe kein Xendium, wirklich. Keine Ahnung, wieso ich Wesen wie dich oder Engel sehen kann. Vielleicht passiert das hin und wieder, wenn man ein paar Tage hintereinander kaum schlafen kann und wenn überhaupt, dann auch noch blöde Alpträume hat. Da wird man vielleicht langsam, aber sicher verrückt.«
»ICH werde langsam aber sicher verrückt. Weißt du was? Ich muss dringend frische Luft in Grönland schnappen, du nervst. Ein Tipp für die nächsten Stunden: Rühr dich nicht von der Stelle, bleib schön artig in deinem Bettchen und denk noch einmal richtig über meinen Ratschlag nach.«
Und schon war er verschwunden.
Überrascht von dieser plötzlichen Wendung sah Tigris sich überall in ihrem Zimmer um. Doch von Engelbert war nichts mehr zu sehen.
»Gut.« Unendlich erleichtert atmete sie tief ein und wieder aus. »Wenn man sich also immer wieder sagt, dass es nicht real ist, verschwinden sie schließlich. Immer cool bleiben, nicht aufregen ... alles wird gut. Es gibt Medikamente. Alles ist kein Problem heutzutage...«
Sie hielt den Anhänger vor sich in die Höhe.
»Vielleicht habe ich das Ding tatsächlich irgendwann samstags gekauft und es nur irgendwie vergessen.«
Plötzlich horchte Tigris auf: Es klingelte an der Haustür!

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»Wahnvorstellung. Und wenn nicht, soll doch Mama die Tür aufmachen!« dachte Tigris grimmig und verschränkte die Hände vor der Brust.
Inzwischen läutete es Sturm.
Wieso öffnete ihre Mutter nicht die Tür? Sie hatte einen sehr leichten Schlaf und wäre normalerweise direkt aufgewacht.
»Also doch Wahnvorstellung!« Tigris hielt sich die Ohren zu, obwohl es nicht sehr viel nützte.
»Huhuuu! Hallooooo!«, tönten klar und deutlich weibliche Stimmen von der Haustür zu ihr ins Zimmer, obwohl ihre Zimmertür und die Tür zum Wohnungsflur geschlossen waren.
Vorsichtig schwang Tigris sich aus dem Bett, ging mit klopfendem Herzen vorsichtig zur Haustür und lugte durch den Spion ins Treppenhaus.
Dort standen drei äußerst merkwürdige Gestalten, der Aufmachung nach Frauen.
»Chanel, bist du sicher, dass das erlaubt ist?«, hörte Tigris eine von ihnen zu der anderen flüstern.
»Oh ja, absolut. Wenn man höflich anklingelt, ist es in Ordnung. Man darf nur nicht mit der Tür ins Haus fallen, wie DU letztens, Caramel. Vor allem, wenn sich dann herausstellt, dass jemand darunter liegt.«
»Ich habe da nur höflich angeklopft ...«
»Man darf nicht klopfen, wenn eine Klingel vorhanden ist. Das ist doch logisch.«
»Vielleicht ist die Klingel kaputt. Hier geht doch alles schnell kaputt, überall und andauernd. Ich möchte nur wissen, wieso Gott seine Zweite Schöpfung nicht haltbarer gemacht hat.«
»Ach, man muss nur vorsichtig sein und sich ein wenig zurücknehmen, dann klappt alles wunderbar.«
»Vielleicht kann man ganz kurz doch anklopfen. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich davon gelesen habe.«
Die drei Gestalten wollten anscheinend nicht so schnell aufgeben. Und Tigris’ Mutter wollte anscheinend nicht aufwachen.
»Okay. Ich stelle mich meinen Wahnvorstellungen. Ich werde ihnen sagen, dass sie nicht real sind, und sie werden verschwinden.«
Entschlossen riss Tigris die Haustür auf.
Eine Hand schnellte in dem Moment auf sie zu und pochte an ihrer Stirn. Es war ein Gefühl, als drückte sich dreimal ein vibrierendes Elektrogerät gegen ihre Stirn.
»Ooops!« Erschrocken sah die Frau mit den langen blonden Haaren und der weißen, glitzernden Abendrobe mit pinker Federboa sie an. »Wir wollten gerade höflich anklopfen ...«
»Na, das hast du ja hiermit getan, Chanel«, knurrte ihre Freundin neben ihr, die kurze schwarze Haare hatte und in einen Seidenoverall mit militärischem Tarnmuster gekleidet war. Die dritte im Bunde, eine dickliche Erscheinung mit silbergrauem Pagenschnitt, einer schreiend geblümten Bluse mit überdimensionalen Schulterpolstern sowie roten Samtleggings, strahlte Tigris an und erklärte in einem freudigen, aufgeregten Tonfall: »Hallo, wir waren gerade zu Besuch in der Gegend, als man uns sagte, dass hier eine neue Xendi aufgetaucht ist. Da wollten wir spontan vorbeispringen und dich herzlich willkommen heißen! Willkommen!«
»Genau, und Herzlichen Glückwunsch zum Xendium!«, rief die Schwarzhaarige.
»Und viel Glück und viel Segen, ganz besonders in Norwegen!«, fügte die Blonde noch mit erhobenem Zeigefinger hinzu.
»Oh ... danke. Sehr nett von euch. Ich nehme an, ihr seid Dämonen?«, hauchte Tigris ein wenig verunsichert.
Die drei schüttelten sich vor Lachen. »Wie schnell du uns durchschaut hast. Haha, sehr guter Witz!« »Du bist wirklich sehr amüsant!«
»Dacht ich’s mir doch gleich. Niemand sonst würde um zwei Uhr morgens Sturm klingeln«, murmelte Tigris resigniert.
»Ha, siehst du, Chanel!« Die Schwarzhaarige sah die Blonde triumphierend an. »Also doch klopfen, wenn die Sonne untergegangen ist - ob Klingel oder nicht!«
»Das muss ich in dem Handbuch glatt überlesen haben«, murmelte das Blondchen entschuldigend. »Najaaa ... wir sind noch nicht so lange hier, weißt du. Ich bin übrigens Chanel, und das hier ...« Sie wies auf die Schwarzschopfige und die Silberhaarige. »Das sind Flanel und Caramel. Das sind natürlich nur unsere Künstlernamen, für materielle Welten wie diese. Und apropos: Wir wollen ganz entschieden betonen, dass wir pro-materialistisch eingestellt sind! Wir waren die ersten, die bei den FreeDaimons eingetreten sind, als dieser Verein gegründet worden ist! Wir lieeeben B-inx, vor allem Menschen! Am liebsten würden wir dich alle drei herzen und knuddeln, aber das geht leider nicht. Aber wir würden!« »Wenn wir könnten, sofort!« »Ohne zu zögern und ohne uns zu ekeln!«
»Das ist lieb, wirklich. Ich betrachte mich hiermit einfach als geherzt und geknuddelt, okay?« sagte Tigris wider willen amüsiert. Falls es doch keine Wahnvorstellungen waren, sondern tatsächlich Dämonen, gehörten sie wohl wie Engelbert zu der harmlosen Sorte.
»Wundervoll! Was für eine gute Seele! Wir sind also hier, um dich einzuladen!« sagte Caramel begeistert.
»Genau! Wir machen zusammen einen drunter und drüber, wie man hier so sagt«, fügte Flanel hinzu.
»Oh, das ist wirklich sehr nett von euch. Aber meine Mutter erlaubt nicht, dass ich mit Dämonen Kontakt habe. Eigentlich auch nicht mit Engeln, wenn ich es recht bedenke.«
Fragend sahen die beiden anderen die Blonde an. Doch diese lächelte milde und weise.
»Anscheinend ist sie bei diesen zurückgebliebenen, altmodischen Leuten dieser komischen Allianz aufgewachsen, das arme Ding. Aber weißt du: Wenn wir erst etwas Wundervolles und unvergessliches zusammen unternommen haben, wird dir klar, dass es in Wahrheit toll ist, ein Xendi zu sein und mit Daimons aufregende Dinge zu erleben! Mit den richtigen Daimons, natürlich. ICH habe das Handbuch ganz durchgelesen!«
»Und vieles von dem vergessen, was drin steht«, erwiderte Flanel und rollte ihre hellen Augen. Alle drei besaßen diese strahlenden Augen, die selbst in der Dunkelheit leuchteten, wie Tigris bemerkte, als das Licht im Treppenhaus ausging. Flanel drückte daraufhin entzückt auf den Lichtschalter - allerdings etwas zu begeistert, denn er sah danach nicht aus, als könnte man ihn so ohne weiteres aus der Wand herausbekommen, in die der Daimon ihn geschoben hatte. Die drei machten mit ihren schrillen Stimmen überdies einen Höllenlärm, wie Tigris fand. Und dennoch rührte sich ihre Mutter immer noch nicht, und kein einziger Nachbar kam aus seiner Wohnung geschossen, um sich über die nächtliche Störung zu beschweren.
»Und ich habe im DimensioNet alles über diese Welt gelesen!« prahlte Caramel.
»Du sei mal ganz still«, meinte Flanel hochmütig. »Surft aus Versehen stundenlang auf diesen Seiten, die die MDL verlinkt hat. Deswegen das mit der Tür ins Haus fallen ...«
»Ähm ... ich kann trotzdem nicht mit, ich bin nicht passend angezogen.« Tigris wies an sich herunter.
»Nicht passend angezogen?«, hauchte Chanel und musterte Tigris’ Nachthemd, als ob es ihr erst jetzt aufgefallen wäre. »Mein Gott ... aber es ist doch ganz entzückend! Es sieht aus wie jene Roben, um die alle Welt so ein Aufheben macht. Dior, oder? Vielleicht sogar Gnocchi?«
»Nein, Woolworth, soweit ich mich erinnere«, Tigris verkniff sich ein Grinsen.
»Woolworth!«, flüsterten die drei ehrfürchtig. »Einer der bekanntesten Namen auf diesem ganzen Planeten! Überall, in jeder Stadt fast, sieht man diesen Schriftzug: WOOLWORTH!«
»Tja, aber ... es ist eben nur ein Nachthemd.«
»Eben nur ein Nachthemd! Wie allerliebst, typisch Mensch, immer so bescheiden. Sie haben für alle möglichen Anlässen die passenden Roben, sogar extra für die Nacht!« Chanel war hin und weg.
»Und wieso tragen wir dann nicht auch diese Nachtroben?«, fragte Caramel begierig. »Das stand garantiert in dem Handbuch, und du hast es nur wieder vergessen, Chanel.«
»Das könnte sein. Ich erinnere mich tatsächlich langsam daran, etwas von Nachthemden gelesen zu haben.«
»Dann lasst uns alle Nachthemden anziehen!«, entschied Flanel, nicht ohne ihre Freundinnen noch zu belehren: »Die oberste Verhaltensregel besagt schließlich: Es ist darauf zu achten, sich in einer sozial verträglichen Form zu materialisieren, d.h. die Gestalt eines Lebewesens anzunehmen, das auf der Welt zum Zeitpunkt Ihres Eintreffens tatsächlich existiert. Vorzugsweise sollten Sie eine menschengleiche Erscheinung wählen, die nicht von den Beispielen, die Sie in Büchern und Journalen vorfinden, abweicht.«
Ehe sich Tigris versah, standen die drei wie beschlossen in Nachthemden vor ihr: Flanel trug eines mit militärischen Tarnfarben, das von Caramel sah fast aus wie ihre Bluse, die sie vorher getragen hatte, nur reichte sie nun bis zum Boden und hatte eine riesige neongrüne Schleife auf der Brust. Und jenes von Chanel wirkte mit dem Geglitzer und der pinken Federboa überaus elegant.
»Darf man dieses komische Dings nachts überhaupt tragen?« kritisierte Flanel ihre Freundin mit einem kurzen Seitenblick auf Tigris.
»Vielleicht ist es ja eine Nachtboa«, warf Tigris ein und ärgerte sich dann über sich selbst. Wieso gab sie sich überhaupt mit diesen Kreaturen - oder Wahnvorstellungen - ab und ging stattdessen nicht wieder einfach in ihr Bett?
»Ja, genau, es ist eine Nachtboa. Und die Kleine weiß es wohl am besten«, verkündete die Blonde, anscheinend entschlossen, sich nie wieder von der Boa zu trennen.
»Können wir dann?« Caramel schaute in die Runde, worauf hin ihre Freundinnen eifrig nickten.
»Ja, aber...«, protestierte Tigris, was offensichtlich schon wieder ein Fehler war. Denn mit einem Mal fühlte sie die Tür in ihrem Rücken, die sie unaufhaltsam nach draußen schob, während sie sich schließen wollte. So sehr Tigris auch dagegen drückte, sie konnte sie nicht zum Stillstand bringen.
»Immer die Tür ordentlich zumachen, wenn man eine Wohnung verlässt«, erklärte Chanel wieder einmal mit erhobenem Zeigefinger. »Das steht im Handbuch, ich habe es nicht vergessen!«
Mit offenem Mund starrte Tigris die Haustür an, die ins Schloss gefallen war. Und sie stand nur mit einem Nachthemd bekleidet davor, auch noch barfuss!
»Können wir diesmal nicht eins von diesen Autos nehmen?«, fragte Flanel sehnsüchtig und betrachtete durch die Fenster des Treppenhauses die geparkten Wagen an den Straßenrändern draußen.
»Wir dürfen so etwas nicht benutzen, wenn kein Mensch darin ist«, widersprach Chanel entschieden.
»Aber wir haben doch jetzt einen Menschen!«, entgegnete Caramel lachend.
»Ich habe keinen Führerschein!«, zischte Tigris erschrocken.
»Hm«, machte Flanel und blätterte in einem Buch, das sie wie aus dem Nichts hervorgezaubert hatte. Die beiden anderen steckten ihre Nasen ebenfalls hinein.
Tigris schluckte und überlegte inzwischen, ob sie klingeln sollte, oder vielleicht gar die Tür eintreten.
»Hier steht gar nichts von Führerschein! Es reicht also, wenn wir einen Menschen dabeihaben!«, entschied Flanel schließlich.
»Na, dann los!«
Ehe sich Tigris versah, schwebte sie einige Zentimeter über dem Boden und gleich darauf die Treppen hinunter. »Nein, ich will nicht!«, rief sie verzweifelt, während sie sich mit aller Kraft am Treppengeländer festklammerte.
»Typisch B-inx. Tun immer so auf schüchtern, aber wenn sie erst einmal bei der Sache sind, kriegen sie gar nicht genug!«, lachte Chanel und stupste Tigris leicht an, was zur Folge hatte, dass sie fast gegen die Wand gegenüber dem Treppengeländer geschleudert wurde. Im letzten Augenblick fing Caramel ihren Flug ab und dirigierte sie vor sich her, bis sie im Erdgeschoß angelangt waren. Die Eingangstür stand bereits sperrangelweit offen. Flanel musste Tigris nur noch einen weiteren kleinen Stupser geben, dann stand diese bibbernd im Nieselregen vor der vierstöckigen Häuserzeile auf dem Gehweg.
Indessen trat Chanel an einen schwarzen Mercedes SLK, dem neuen Wagen der Schmidtkes vom Parterre. Es machte Klack! und schon standen alle vier Türen weit offen. Nicht einmal die Alarmanlage war angegangen. Begeistert nahmen die drei Daimons Platz auf dem Rücksitz.
»Nun komm doch schon! Wir sind ja alle schon sooo aufgeregt!«, hörte Tigris sie rufen. Wenn dies immer noch eine Wahnvorstellung sein sollte, so bekam sie doch allmählich Angst. Und wenn es keine war ...? Wenn sie es von nun an tatsächlich mit Dämonen zu tun hatte?
»Ich kann gar nicht fahren, ich habe es noch nicht gelernt. Und außerdem habe ich kalte Füße«, murmelte sie kläglich.
»Wir machen das schon. Chanel hat schon einmal einen Reisebus gefahren! Stimmt’s, Chanel?« rief Flanel. Offensichtlich konnten die drei auch noch sehr gut hören.
»Ja, sogar unter Wasser!«
»Und wenn deine Füße kalt sind, dann mach dir doch ein paar Pantoffel«, erklärte Caramel sichtlich ungeduldig.
»Sie ist kein Performerin, sondern eine Attraktorin.«
»Oh, stimmt, das haben die beiden Ayludin in Canberra ja erwähnt. Welche Farbe?« Caramel steckte den Kopf wieder zur Tür hinaus und sah Tigris fragend an.
»Welche Farbe?« wiederholte Tigris entgeistert und schaute auf ihre nackten Füße.
»Lass mich das machen, ich weiß, wie sie ihre Pantoffel mögen! Das war mein Lieblingskapitel in dem Handbuch«, meldete sich Chanel zu Wort und stieg aus, um sich im kleinen Vorgarten nach etwas Bestimmten umzusehen. Schließlich blieb sie mit in die Hüften gestemmten Händen vor der kleinen Gruppe Gartenzwerge stehen, die die Schmidtkes aus dem Erdgeschoß dorthin gestellt hatten, und die Tigris und ihre Mutter abgrundtief verabscheuten - sowohl die Zwerge als auch die pingeligen Schmidtkes.
»Perfekt!«, rief Chanel und strich mit ihrer Hand über zwei der kleinen Tonfiguren, wobei ihr ein grün glitzernden Nebel entströmte. Sie zerschmolzen wie Wachs und änderten dabei ihre Farbe ins Pinke, nahmen dann plötzlich eine verdächtig flauschige Konsistenz an und schließlich...
»Deine neuen Pantoffeln, passend zu MEINER Nachtboa! Gefallen sie dir? Oh, du bist sprachlos vor Freude, jedenfalls siehst du so aus, wie es in meinem Handbuch unter ›gelungene Überraschung‹ beschrieben ist. Und nun lass uns endlich irgendwohin fahren. Neu-Delhi ist doch direkt in der Nähe, meine ich mich zu erinnern, oder nicht? Da feiern sie nämlich ein kleines Pro-Materie-Fest, sogar einige Xendii sollen angeblich dabei sein.«
Immer noch erschüttert durch Chanels Demonstration der erfolgreichen Umwandlung von Gartenzwergen in ein Paar Plüschpantoffeln, überlegte Tigris krampfhaft, wie sie sich nun verhalten sollte. Die drei konnten doch keine Wahnvorstellung sein, denn die Wagentüren des Nachbar-Autos standen sperrangelweit offen, und vor ihr standen höchst real aussehende Hausschuhe. Und wenn es sich tatsächlich um Daimons handeln sollte ... wozu waren sie noch in der Lage? Vielleicht war es besser, erst einmal mit ihnen mitzugehen und bei günstiger Gelegenheit zu verschwinden? Zurück ins Haus konnte sie nicht, ohne die ganze Nachbarschaft aufzuwecken, und das alleine war schon ein höchst unangenehmer Gedanke. Man würde sie für geistesgestört halten - wenn sie es nicht schon längst war. Langsam ging sie schließlich in den Plüschpantoffeln zum Auto und setzte sich vor das Steuer.
»Wir haben keinen Schlüssel. Vielleicht sollten wir unseren Ausflug verschieben?« fragte sie mit einer Spur von Hoffnung, die jedoch in dem Augenblick verlosch, als der Motor wie von Geisterhand gestartet wurde.
»Hab ich aus dem DimensioNet. Na ja, die Seite war vielleicht nicht ganz koscher, aber ... wir haben ja niemandem Schaden zugefügt. Du wirst uns doch nicht bei PAGAN verpetzen, nicht wahr?« Caramel grinste verschwörerisch.
»Und jetzt? Ich habe wirklich keine Ahnuuuuuu-« Tigris kreischte erschrocken auf: Der Wagen fuhr von selber an!
»Wir haben doch gesagt, wir machen das schon«, sagte Flanel kichernd. »Hauptsache, dass du am Steuer sitzt, so wie es in dem Handbuch steht. Und es sieht ganz so aus, als säßest du am Steuer, oder?«
»Huuch! Das ist ja witzig!«, rief Chanel und johlte vor Vergnügen, als der Mercedes einige niedrige Gartenzäune auf der linken Seite mitnahm und die dahinter liegenden gepflegtem Blumenbeete ordentlich plättete.
»Sollte man nicht AUF der Straße bleiben?« erkundigte sich Flanel mit erhobener Braue.
»Ach was!«, meinte Chanel und winkte ab. »Erinnert ihr euch nicht mehr an diese Aufzeichnungen über ihre Lebensgewohnheiten, an diesen Film, den wir letztens in Canberra gesehen haben? Da fuhren die Autos doch auch sehr oft überall, nur nicht auf der Straße. Die Menschen mögen diese kleinen Abweichung vom Gewohnten sehr gerne - ooooooh!«
Laut scheppernd fielen dank Chanels Steuerkünsten etliche Abfalltonnen um, die die Anwohner für die Müllabfuhr am Straßenrand bereitgestellt hatten. Erschrocken warf Tigris einen verzweifelten Blick in den Rückspiegel, ob wohl Lichter in den sonst dunklen Fenstern angingen. Doch nichts tat sich. Wieso nur?
»In welche Richtung geht es nach Neu-Delhi?«, erkundigte sich Chanel, während der Wagen immer schneller wurde und schon die Siedlung hinter sich gelassen hatte, um auf den Zubringer zur Autobahn zuzuhalten. Ein Auto kam ihnen entgegen und konnte dem Schlingerkurs des Mercedes gerade eben noch ausweichen. Tigris stieß einen kleinen spitzen Schrei aus und schloss vor Angst schwitzend die Augen. Wütendes Hupen klang hinter ihnen her.
»Ach ja, das ist die Begrüßung von Autofahrern untereinander, glaube ich«, meinte Chanel fröhlich, woraufhin die Hupe des Mercedes lautstark ertönte und einen torkelnden Nachtschwärmer auf dem Gehweg nebenan vor Schreck stolpern ließ.
»Nachts macht man das nicht unbedingt.«, stieß Tigris leise zwischen den Zähnen hervor.
»Oh, tatsächlich? Ach ja, stimmt! So geht die Begrüßung der Autofahrer untereinander, ich Dummchen ich!« Chanel tippte sich erst dreimal mit dem Zeigefinger gegen die Stirn, schüttelte dreimal den Kopf und machte dann einen Stinkerfinger. Daraufhin probierten die anderen diese Gesten auch ein paar Mal aus, wobei Caramel es selbst nach vier Durchgängen immer noch nicht ganz schaffte und ständig Zeigefinger und Stinkefinger miteinander verwechselte.
Inzwischen befanden sie sich auf der Autobahn und rasten durch die Nacht, ließen ohne weiteres einen Porsche hinter sich, der jedoch nicht gewillt war, sich abhängen zu lassen und gleich darauf wieder an ihnen vorbeizog.
›Ich träume ...‹, dachte Tigris mit wild pochendem Herzen. ›Das kann nur ein Traum sein... das muss ein Traum sein!‹
»Oh, wie süß! Er will mit uns spielen!«, lachte Flanel. Der Mercedes legte noch an Geschwindigkeit zu und fuhr dann auf gleicher Höhe neben dem Porsche. Tigris warf einen schnellen Seitenblick auf den Fahrer, einem blonden Kerl mit Schnauzbart, der sie wütend ansah.
»Die Polizei!«, rief sie plötzlich erschrocken, als im Rückspiegel ein Wagen der Ordnungshüter in einiger Entfernung hinter ihnen auftauchte.
»Polizei? Man muss vermeiden, mit der Polizei in Kontakt zu kommen!«
»Man kriegt als Xendi schnell Ärger mit der Polizei, und als ehrbarer Daimon darf man unter keinen Umständen zulassen, dass die Polizei einen Xendi behelligt! Schade, es war ein lustiges Spiel.« Chanel zuckte mit den Schultern.
»Aber schneller geht nicht, wir fahren den Wagen schon bis zur Grenze aus!« sagte Tigris verzweifelt.
»Dann müssen wir eben ein wenig DiS anwenden«, seufzte Flanel.
»Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist?« Chanel warf einen Blick aus dem Rückfenster.
»Natürlich! Konfrontationen mit der Polizei sind auf jeden Fall dringend zu vermeiden, stand doch eben im Handbuch«, entschied Flanel.
Daraufhin durchlief ein Zittern den Wagen, dann wurde Tigris gegen ihren Sitz gedrückt und sah die Autobahnbeleuchtung nur noch als waagrechte Striche an sich vorbeiziehen.
»Oh-mein- Gott!«
»Ist Neu-Delhi noch weit?« hörte sie Caramels Stimme, die sich in das Rauschen in ihren Ohren mischte.
»Bei der Geschwindigkeit sicher nicht...«
»Dahinten sind gar keine Autos. Vielleicht fahren wir besser auf jener Straße dort drüben entlang. Man soll ja jegliches Aufsehen vermeiden. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass wir Aufsehen erregen, solange diese Polizei hinter uns herfährt!«, sagte Flanel.
»Die Polizei haben wir längst abgehängt«, keuchte Tigris. »Aber - DAS IST EINE BAUSTELLE!«
Doch zu spät! Der Mercedes rauschte mitten durch eine Absperrung, fuhr alle Warnlichter und Beschilderung um, schrammte an einem Bagger vorbei, trudelte in großzügigen S-Kurven durch den Sand und landete letztendlich auf der Gegenfahrbahn, wo wild hupend einige Autos heran schossen.
»Tut doch was! Wir verursachen einen Riesenunfall!«, schrie Tigris entsetzt und hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Doch dazu kam es nicht - das Auto machte einen Satz und flog über die entgegenkommenden Wagen. Unsanft landete es wieder auf dem Asphalt der Gegenfahrbahn, wobei Tigris sich den Kopf schmerzhaft an der Wagendecke stieß.
Alsdann brausten sie erneut mit einem schier unmöglichen Tempo davon.

.

Danubia erwachte wegen des durchdringenden Schmerzens in der Herzgegend. Sie kannte das Gefühl, dass dort eine lange unsichtbare Schnur befestigt wäre, an deren anderem Ende jemand nun heftig zog. Und ihr allererster Gedanke hallte noch lange im Dunkeln nach.
›Tigris!‹
Dann dachte sie erstaunt:
›Was soll das?‹
Sie konnte die Augen nicht öffnen!
Und auch dieses Gefühl kannte sie nur allzu gut, wenngleich es lange zurücklag, dass sie es zuletzt wahrgenommen hatte. Sie konnte sich überhaupt nicht rühren, gleichzeitig schien es, als wäre die Welt in dicke Watte verpackt. Nicht ein Laut war zu hören.
›Das... kann nicht sein!‹ fuhr es ihr durch den Kopf.
Doch es gab keinen Zweifel. Statt des entfernten Rauschens auf der Autobahn, des schwachen Summens des altersschwachen Radioweckers, des gelegentlichen Knackens der Holzmöbel oder der sonst immer schwach zu ihr durchdringenden Musik aus Tigris’ Zimmer (ohne Musik konnte sie nicht einschlafen) war nichts zu hören. Nichts, wirklich nichts. Noch nicht einmal...
›Das absolut sicherste Anzeichen für einen Hypnose-Whisper ist, dass du dich selber nicht mehr atmen hören kannst‹, schoss es ihr durch den Kopf.
Jemand beeinflusste ihr Bewusstsein.
Und doch war es nach den Ereignissen der letzten Tage die einzig mögliche Erklärung: Dämonen!
›Um einen Whisper jeglicher Art zu durchbrechen, muss man sich vollkommen konzentrieren und seinen ganzen Willen daran setzen, die Beeinflussung zu beenden.‹
Sie rief sich in Erinnerung, wie sie früher erfolgreich die aufgezwungene mentale Blockade durchbrochen hatte: Sie stellte sich vor, durch die völlig dunkle stille Stadt zu rennen. Alles war erloschen, die Fenster dunkel, die Straßenlaternen ragten schwarz in den verhangenen Himmel. Die Nacht schien sogar das dumpfe Geräusch ihrer Füße zu verschlucken, wenn sie auf dem Asphalt auftrafen.
Atmen, stell dir das Geräusch deines Atems vor. Ein und aus, ein und aus. Das ist die Grundmelodie. Einatmen, ausatmen. Die Luft füllt deine Lungen, sie ist kalt. Und sie verlässt in Wölkchen wieder deinen Mund. Der zweite Rhythmus ist dein Schritt. Tapp- tapp - tapp ... Wie das Schlagzeug in einem Lied. Wind kommt auf und irrt durch die Gebüsche. Er seufzt in den Wipfeln der Bäume, rauscht leise um die Ecken, heult kurz auf und begleitet schließlich dein Lied als leises Säuseln. 
Und jetzt sing den Refrain deines Lieblingslied, schrei es in die Welt. Aber sing ein fröhliches Lied, oder ein freches, solange es dir nur Mut macht oder dich ein wenig aufstachelt.
Born! Born to be alive!
Sie grölte es geradezu beim Laufen und lachte dabei. Im ersten Fenster ging das Licht an und jemand spähte durch die Vorhänge. Und immer mehr Lichter gingen an. Gemurmel drang durch die Nacht. Schließlich sprangen sogar die Straßenlaternen an, damit auch jeder sehen konnte, wer mitten in der Nacht Born to be Alive brüllte. Schließlich erreichte sie ihre Straße und lief zu der Eingangstür ihres Hauses, nicht ohne den Gartenzwergen einen Tritt verpasst zu haben. Frau Schmidtke steckte ihr zorniges Gesicht aus der Haustür und zeterte mit wutbebender schriller Stimme, aber sie lachte sie nur aus und joggte in den dritten Stock, trat die Tür ein, die laut krachend in den Flur fiel, lief ins Schlafzimmer und schrie dort wie am Spieß, bis die Fenster zersprangen und das Spiegelglas des Kleiderschrankes Risse bekam.
Mit einem Ruck schnellte Danubia schreiend aus den Kissen hoch.
Die Autobahn rauschte wieder, der Wecker summte, in Tigris’ Zimmer dudelte leise Musik.
Das ziehende Gefühl war jedoch immer noch da.
Sie sprang aus dem Bett und ging in das Zimmer ihrer Tochter.
Das Licht war an, das Radio lief.
Das Bett jedoch war leer.
Danubia fühlte sich versteinern und starrte die zurückgeschlagene Bettdecke an. Blut rauschte in ihren Ohren, dann löste sich die Erstarrung, ihr Körper fing an zu zittern.
Wie im Traum ging sie von Zimmer zu Zimmer.
Aber Tigris war nicht zu Hause.
Das war einfach unmöglich!
Tigris konnte SIE nicht wahrnehmen, würde niemals mit ihnen zu tun haben, das hatte ER damals doch versichert und versprochen!
Und doch hatte Tigris diese Kette um den Hals gehabt, deren Anhänger verblüffend einem Nodenschlüssel glich. Natürlich hatte sie ihn heimlich geprüft. Er besaß nicht die geringste Aura, hatte absolut keinen Shine, wie man bei PAGAN sagen würde. Aus irgendeinem Grund schien ein Ding in Mode gekommen zu sein, das aus der Xendii-Welt stammte.
Eine Welt, die sie ohne zu zögern für Tigris verlassen wollte.
Aber diese Welt war offensichtlich wild entschlossen, sich nicht einfach aus ihrem Leben drängen zu lassen.
Tränen schossen ihr in die Augen. Vielleicht gab es Gott doch, und er bestrafte sie. Bestrafte sie ausgerechnet jetzt, wo sie sich fast sicher gewähnt hatte, für ihre Sünden, nein: Er rächte sich gleich mit an Tigris.
›Was hast du damals getan, Procyon? Ich hätte es nie zulassen dürfen‹, dachte sie und sank auf Tigris' Bett, schwach vor Schuldbewusstsein.
Aber es ging doch um Leben oder Tod, damals.
Verzweifelt griff sie sich an den Bernsteinanhänger. Er konnte alles von ihr fernhalten. Auch jetzt versagte er nicht. Sie sah die Welt, wie die meisten sie sahen, nahm den kleinen Ausschnitt wahr, der für die meisten Menschen die ganze Realität darstellte.
Und doch waren die Spuren hier, dessen war sie sich vollkommen sicher.
Tigris war verschwunden - aber sie konnte ihre Tochter finden, wenn sie auf die Spuren achtete.
Unschlüssig spielte sie mit dem warmen Bernstein.
›Sie werden sich auf mich stürzen wie die Geier auf Aas, wenn ich ihn ausziehe ... Ich bin ihnen dann schutzlos ausgeliefert‹, dachte sie mutlos.
Egal!
Sie sprang auf und stürzte zurück in ihr Schlafzimmer.
›Ich muss Tigris finden. Alles ist meine Schuld.‹
Hastig schlüpfte sie in ihre Jeans und einen dicken Pullover, schnappte sich Jacke und Autoschlüssel und ging zur Wohnungstür, um an ihr zu horchen.
Im Treppenhaus war es still.
Sie schloss die Augen, zog an ihrem Anhänger, bis die Kette nachgab und auseinander fiel, als hätte man sie durchgeschnitten. Danubia steckte ihn in die Jackentasche und öffnete ohne weiter zu überlegen die Tür.

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»00:00«, raunte Celestine Mira zu.
Sie standen alle vier in der dunklen engen Sackgasse, die wie ausgestorben da lag. Tagsüber kamen viele Touristen hierher, um sich das Geburtshaus von Kafka anzusehen und zu fotografieren. Doch nun schliefen die Bewohner der schmalen alten Häuser, die sich dicht aneinander drängten, wahrscheinlich schon längst - und falls noch nicht, würde George Midfield ihnen gleich zu einer tiefen, erholsamen Nachtruhe verhelfen.
Er streckte die Rechte aus und schloss konzentriert die Augen. Grünlich leuchtender Dunst stieg von seiner Handfläche empor, sich dabei stetig ausdehnend. Nach kaum einer Minute stand der Nebel bis zu den Dächern der Häuser, wogte durch die ganze schmale Goldene Gasse und drang durch die Gemäuer, wo er jedes Lebewesen augenblicklich in einen Tiefschlaf fallen ließ.
Dann war Mira an der Reihe, für eine ungestörte Atmosphäre zu sorgen. Sie ließ eine saphirblaue Energie-Kugel in ihrer Hand wachsen und schleuderte sie dann mehrere Meter zum Anfang der Gasse. Dort zerbarst sie und entließ zuckende Blitze in die Nacht, die auseinander stoben, bis sie auf Mauern trafen. Daran  krallten sie sich fest und woben sich mit ihren freien Enden ineinander, bis sie einem blauglühenden riesigen Spinnennetz ähnelten. Damit waren sie vor den neugierigen Blicken zufällig vorbeigehender Passanten geschützt, die nichts als die leere, dunkle Gasse sehen würden. Und damit niemand auf die Idee kam, aus irgendwelchen Gründen das enge Stückchen Straße zu betreten, bereitete Adego eine Intonation vor. Er hielt seine dunkelblau schimmernde Sphäre in beiden Händen, beugte sich dicht darüber und begann zu flüstern: »Dreh dich um und sprinte los. Sport ist wirklich ganz famos. Die Nacht ist jung, dein Anblick öde. Geh lieber laufen, sei nicht blöde.« Dann ließ er die Kugel in den Himmel steigen und dirigierte sie mit dem Zeigefinger zu einer Stelle über Miras Paravent. Gerade noch rechtzeitig, als ein schnurrbärtiger dicklicher Mann gerade um die Ecke gebogen kam. Er blieb wie angewurzelt stehen, besah sich schuldbewusst seinen stattlichen Bauch, machte dann auf dem Absatz kehrt und joggte schließlich mit wild entschlossenem Gesichtsausdruck davon.
»Selbst bei deinen Intonationen achtest auf die Gesundheit, Adego «, sagte George grinsend.
»Gleisch ist es soweit. Nur noch wenige Sekünden.«
Celestine richtete sich gespannt auf und sah in der Finsternis um sich.
Auf die Sekunde genau um 00:03 erklangen leise Harfentöne.
Süße Kinderstimmen begannen zu summen, während sich ein babyblaues Licht in Augenhöhe zwei Meter vor ihnen entfaltete. Das Licht begann dann zwischen lachsrosa, aprikot, himmelblau, und weiß zu changieren und zu pulsieren, gleichzeitig dehnte es sich dabei in kitschig-verschnörkelten Wirbel aus.
Die Vier sahen sich befremdet an.
»Was soll das denn?« entfuhr es Mira, die sich auf diese merkwürdigen Vorgänge überhaupt keinen Reim machen konnte. So etwas beeindruckte vielleicht die Kämpfer der Allianz, aber doch nicht Mitglieder von PAGAN! Und die meisten Daimons wussten das auch mittlerweile. 
Die changierenden Lichtwirbel wuchsen und wuchsen, untermalt von dem mittlerweile jubilierendem Kinderchor, bis sie fast das ganze Sichtfeld der vier Performer einnahmen. Tauben flatterten mit einem Mal unaufhörlich aus ihnen hervor, die sofort zu zartrosa Blütenblätter zerfielen, kaum dass sie das Lichtfeld verlassen hatten.
In der Mitte des ganzen Farbreigens aber materialisierte sich eine hochgewachsene Engelserscheinung mit gewaltigen lachrosa Flügel und einer Mähne aus goldblonden Locken, die bis über seine Brust wallten. Sein langes Gewand changierte in pastelligen Tönen.
Die großen, langbewimperten  kristallklaren blauen Augen schauten verklärt zum Himmel empor. Langsam, dabei immer noch unendlich gütig blickend, wandte die Erscheinung ihren Kopf zu den völlig verwirrten Performern.
Ein jäher Harfen-Missklang beendete den Jubelchor.
»Oh.« Er klang nicht erfreut. »IHR?«
»Natürlich wir«, antwortete Celestine spöttisch. »Wie verabredet. Gib uns das Artefakt endlisch, bevor ier noch MDL-Agenten auftau’en und disch ausla’en.« Sieh besah sich Gabiriyells Manifestation mit kaum verborgenem Amüsement.
Leicht verlegen strich sich der Zerrafin eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Dann bemühte er sich um etwas mehr Fassung und sagte übertrieben würdevoll: »Ich weiß nicht, weshalb IHR hier seid und ich übergebe euch das Behältnis ganz bestimmt nicht. Ich werde es, wie Omri es wünscht, einer armen, hilfsbedürftigen Seele überreichen.«
»Da muss ein Irrtum vorliegen«, warf Mira ein und tauschte mit George besorgte Blicke aus. »Omrishah hat uns für diese Uhrzeit an diesen Ort bestellt, damit sein Bote uns ein gefährliches Artefakt überbringen kann.«
»Aber das kann gar nicht sein. Hört doch selber, was Omrishah mir auf den Gedankenbeantworter gesprochen hat.« Gabiriyell schnippte mit den Fingern. Aus dem Nichts ertönte die ihnen allen bekannte leicht kratzige, melodische, volltönende Stimme, die bei jedem Menschen - sofern er sie auch hören konnte - aus unerfindlichen Gründen das Bild eines gütigen alten Mannes mit weißem Wallebart vor den geistigen Augen heraufbeschwor, der sich in diesem Falle aber anscheinend ziemlich gestresst fühlte, weil dauernd das Telefon klingelte.
»Gabi, alter Junge, du musst da was für mich - herrje, Sekretariat! Wimmelt doch endlich die MDL ab! Sagt Luz’, ich liege mit DiS-Prickeln auf einem Intensiv-Sternnebel herum - was? Nein, ich will erst recht nicht mit Pepp Ressi reden. No comment! No com-ment! Wo war ich stehen geblieben, Gabi ...ähm, moment - ach ja, B-Worlds, Quadrant 3456 A. Oder eher 3130 A? Nein, 3456 A, das weiß ich. Planet Erde, MEZ 12:03, äh ... ist das eine 3 oder eine 7, die Wellen sehen aus wie - du meine Güte, kann man nicht einmal in Ruhe - ja? ...lässt dieser miese Reporter denn nie locker? Sagt ihm, alles ist in bester Ord- oh hallo, Pepp, mein Lieber! ...Was heißt Lügen? Bru’Jaxxelon weilt nicht mehr unter uns in der Daimonsion, jeder kann gerne die Hochsicherheitsgalaxie besichtigen, in der er - Was? Was gibt es daran herumzuinterpretieren? Ich habe zu tun, Adios! Verflixt noch einmal, da hatte ich den falschen Knopf ...also, Gabi, ...wo ist meine Notizkugel, das darf doch wirklich nicht - was denn jetzt??? Nein, ich bin nicht an einem Auftritt in Ressis ›TalkDiS‹ interessiert, verquastnochmal! Eine DaimonStration vor meinem Palast? Na und, bei mir herrscht Daimonkratie und Meinungsfreiheit - meinen Rücktritt? Von welchem meiner drei Millionen Jobs soll ich denn zurücktreten? Von allen? Moment, ich hab da noch jemanden in der anderen Leitung ...Gabi, ah, das muss es sein: Hmmm ... 7. Es ist eindeutig eine 7. Glaube ich jedenfalls ....Also 3456A, 7.3. um 12:03, ähm ...wieso TM? Quatsch, CX, es ist CX. Und Gabi: geh bitte gaaanz behutsam vor, es soll nicht wehtun, oder so. Bereite alles schonend vor, ein wenig geheimnisvoll und dergleichen. Und manifestier dich in etwas Nettes und Schönes, ja? Am besten im Retro-Look. Das ist sehr wichtig für mich. Das Behältnis liegt in einem Krater des Planetenmondes, du weißt schon ...ich zähle auf dich. Und noch einmal: Ganz vorsichtig. Ich hänge sehr an dieser Seele. So, und jetzt-«
Die aufgeregte Stimme endete abrupt.
»Isch abe geahnt, dass es Probleme geben wird«, stöhnte Celestine und wandte sich entnervt ab.
»Aber sicher nicht, was für enorme solche«, rief eine schrille, durchdringende Stimme vom Anfang der Gasse her.
»Ein MDL-Agent!«, zischte Mira entsetzt. »Gib uns endlich das DiSfakt!« Sie streckte dem Zerrafin fordernd ihre Hand entgegen.
»Oooh nein!« Gabiriyell sandte ihr stattdessen finstere, trotzige Blicke zu. »Ich führe den Auftrag wie befohlen aus.«
Nervös schauten die Performer auf die sich langsam nähernde Gestalt eines Mannes in dunklem langem Stoffmantel, schwarzem Cowboy-Hut und Sonnenbrille.
»Uuuuh, wenn ich das der MDL berichte, Gabi: unerlaubtes Ultra-DiS-Feld, um sich trotz des pervers niedrigen DiS-Levels hier materialisieren zu können.«
»Als ob ich darüber mit einem Eresh-Bengel diskutieren müsste, pfff!« Gabiriyell verscheuchte hastig die letzten Tauben und änderte im Bruchteil einer Sekunde seine Wallelocken mitsamt dem Engelsgewand in kurze schwarze Haare sowie Leder-Outfit um.
»Tsss. Okay, es ist mir auch ziemlich egal. Ich will dieses ... Ding. Und ich habe ein DiSfakt dabei, das ein Limitiertes Tor aufbaut. Meine ganzen Freunde sitzen schon in den Startlöchern...«
»Du bluffst nur«, keuchte George, der schon einmal die Bekanntschaft eines Eresh gemacht hatte. Sie gehörten zu der Cherubim-Privatarmee der Shinnn und galten als großmäulig und feige.
»Heute nicht.« Der Daimon sah sie mit erhobenem Kinn hochmütig an, wobei er langsam etwas Kleines und Goldenes aus seiner Jackentasche zog. »Süßer die Glocken nie klingen!« Sein hässliches Kichern wurde von zartem Bimmeln untermalt.
Gleich darauf tauchte eine blaugrüne Stichflamme hinter ihm sein Gesicht in tiefe Schatten.
Kaum, dass die ersten, wie Ninjas vermummten Gestalten aus den Flammen in die Gasse gesprungen waren, feuerten die vier Performer und Gabiriyell auch schon los. Sie trafen zwei auf Anhieb, doch dafür sprangen zwei neue Ninja-Hero-Daimons aus dem blaugrünen Feuer.
»Was glaubt ihr, wieso es ›Limitiertes Portal heißt‹?«, höhnte der Eresh. »Weil sich immer sieben Daimons in der Welt dahinter aufhalten können, wenn sie das Limitierte Portal durchschreiten! Stirbt einer hier, geht der Nächste drüben hindurch, hehehe.« Mühelos fing er Miras Strahl mit der Handfläche auf und sandte einen giftgrünen Schuss durch ihn hindurch zurück, den Adego geistesgegenwärtig zerstörte, bevor er seine Kollegin erreichte.
»Das sind zwar nur niederklassige Daimons«, bemerkte Gabiriyell mit zusammengebissenen Zähnen, unermüdlich jeden von denen, die aus den Flammen des Limitierten Portals sprangen, zu roten Funken zerschießend. »Aber anscheinend gibt es von ihnen Millionen, die nachrücken können.«
Der Eresh hingegen pfiff eine fröhliche Melodie, während er sich mit den vier Wandlern gleichzeitig duellierte. Sie schossen im stärksten Modus blaue Kugeln und Strahlen auf ihn, doch sie konnten ihm einfach nichts anhaben. »Tja, schon dumm, wenn ein paar lächerliche B-inx auf einen materialisierten Eresh treffen. Für die einen hört der Spaß eben dort auf, wo er für andere beginnt.«
Besonders Celestine hatte Mühe, ihre Wut zu unterdrücken und dadurch Black DiS pur auszuspeien. Damit würde sie den Daimons nur einen Gefallen tun, denn Black DiS war wie eine Droge für sie.
Währenddessen fühlte sich Gabiriyell allmählich unendlich gelangweilt - ein Gefühl, das wiederum kein Daimon besonders schätzte. Er vernichtete jeden Nachrücker, kaum dass sein Fuß durch die Flammen stieß. Doch die wahre Gefahr stellte der Eresh dar, er war ihnen allen haushoch überlegen. Gabiriyell hätte sich lieber um ihn gekümmert, allerdings hätten sich die Performer dann mit den unermüdlich nachrückenden Cherubim abrackern müssen, was bei ständigem frischem Nachschub eine genauso aussichtslose Sache war.
»Was soll’s, von den Dingern gibt es noch genug«, murmelte Gabiriyell, hielt plötzlich eine silberne Kette mit einem weißen eiförmigen Diamanten daran in der Hand, rief: »Aufgepasst! Übernahme!« und schleuderte sie geradewegs zu Adego, dem sportlichsten der Vier.
Er, Mira, George und Celestine sprangen gleichzeitig hoch, um die Kette zu erreichen. Allerdings schnappte sie ihnen eine schwarz behandschuhte Hand förmlich vor der Nase weg.
»Neiiinnnnn!«, heulten die Performer gleichzeitig auf und sahen entsetzt zu dem zufrieden wirkenden Eresh.
»Gib ihnen die Kette!«, rief Gabiriyell wütend, ohne mit seinem Dauerfeuer aufzuhören.
»Ach was. In fairem Spiel erkämpft habe ich das Ding. Jetzt gehört es mir. Wahnsinn!« Der Eresh betrachtete den Stein in seiner Hand fast ehrfürchtig.
»Es ist gefährlich! Und zieh es niemals an!« Gabiriyell sah äußerst entsetzt aus.
»Deine Fürsorge ist rührend. Aber ich durchschaue dich. Höchstwahrscheinlich werde ich mächtiger als je zuvor!« Der Eresh schaute verträumt in sein Spiegelbild im Kristall, während er mit einer Hand die Schüsse der Performer ohne aufzusehen parierte. »Eigentlich sollte ich es ja unverzüglich ins Hauptquartier bringen. Andererseits ... ich war mein Leben lang immer der Loser, der Laufbursche, der Prügelknabe für die hohen Shinnn-Herrschaften. Einmal in meinem Leben könnte es doch besser für mich laufen...« 
»Gabiriyell! Tu endlich etwas!«, zischte Celestine verzweifelt.
»Ich kann nicht, nicht bei dem Level!«
Der Eresh lächelte verzückt, nahm die Kette zwischen seine Finger und streifte sie dann langsam über. Noch ein wenig ungläubig sah er an sich herunter. Der Kristall lag weiß und schön auf seiner Brust. 
Im nächsten Moment sprang er auf tiefrot um. 
Die Miene des Daimons geriet augenblicklich zu einer Fratze aus Schmerz und Verzweiflung, seine Schreie gellten schrill und schaurig durch die Nacht, nur gehört von Daimons und Performern. Sogar die anderen Cherubim, die durch das Limitierte Portal gekommen waren, starrten entsetzt auf den Eresh, der auf die Knie gesunken war und sich an seine Brust griff, um verzweifelt zu versuchen, den Kristall von dort fortzureißen, wo er sich eingefräst hatte und immer tiefer eindrang. Als der Anhänger nicht mehr zu sehen war, sondern nur noch die Kette aus der Brust des Daimons ragte, hörte der Eresh auf zu schreien, erschauerte nur noch einmal, fiel auf alle viere nach vorne - und wurde von einem strahlendweißen Licht eingehüllt, das ihn langsam verzehrte.
Gabiriyell hatte alles mit angewiderter Miene angesehen.
»CX ist keine angenehme Sache«, murmelte er. »Wenn es sogar einen Daimon dermaßen schmerzt ... manchmal verstehe ich Omri nicht.«
Dann schritt er entschlossen zu dem Anhänger hinüber, der noch tiefrot pulsierend wie Feuersglut neben dem Glöckchen auf dem Kopfstein-Pflaster lag. Sie waren alles, was von dem Daimon übrig geblieben war. Die Performer sahen nicht weniger fassungslos auf das Endergebnis.
»Attention, Gabiriyell!«, rief Celestine plötzlich.
Doch es war zu spät. Ehe der Zerraf reagieren konnte, war einer der Cherubim vorgeprescht, packte die Kette und das Glöckchen und verschwand wild läutend in den blaugrünen Flammen, die hinter ihm zu Nichts erstarben.
Zwei verdutzte Daimons hatten es nicht mehr geschafft und bekamen den ganzen Frust der vier Performer ab, die wütend ihre stärksten Schüsse auf sie abfeuerten. Auch von ihnen blieb nichts mehr übrig.
»Das ist ja dumm gelaufen, was, Gabiriyell?«, knurrte Adego den Zerrafin zornig an, der sich gelassen seine perfekt manikürten Fingernägel besah.
»Ach was, das ist ein geringfügiges Problem. Wie gerne wäre ich dabei, wenn die Kerle das Amulett stolz den Shinnn übergeben.« Er grinste schadenfreudig in sich hinein, die fassungslosen Gesichter der Menschen gar nicht beachtend. »Bleibt nur noch die unangenehme Aufgabe, Omrishah über diesen Zwischenfall zu berichten. Man sieht sich, Adios!«
»Du kannst doch jetzt nicht einfach-« George machte einen hastigen Schritt auf Gabiriyell zu, doch schon war jener zu einem pastellfarbigen Lichtfleck zusammengeschmolzen, der innerhalb von Sekundenbruchteilen mit einem leisen Harfenakkord verlosch.
Müde strich sich Mira durch ihre roten Haare. »Was für eine Katastrophe ... das gefährliche Artefakt in den Händen der MDL!«
»Wir sollten augenblicklich den Notstand ausrufen und eine vorübergehende absolute Einreisesperre für alle Daimons verhängen«, sagte Adego düster.
»Unmöglich. Du kennst die Verträge mit der FD«, antwortete George tonlos.
»Wir sollten zuerst zurück ins Auptquartier«, Celestine seufzte müde.
»Das sollten wir«, stimmte George zu. »Und dann sofort Omrishah um eine persönliche Unterredung bitten.«
»Hoffentlich nimmt er diese Sache ernster als Gabiriyell. Wie amüsiert er zuletzt aussah...«, sagte Mira.
»Wohl kaum.« Celestine starrte mutlos auf den Boden. »Letztendlisch sind alle Daimons gleisch. Alle.«
»Es gibt solche und solche, Cely«, Adego berührte den Arm der Performerin tröstend. »Fang bitte nicht an, bedenkenlos diese radikalen, materialistischen Thesen von Aévon zu übernehmen.«
»Oh, isch denke, er at rescht!« rief sie, mit einem Mal leidenschaftlich aufbrausend. »Es gibt nur Daimons, die uns vernischten wollen und Daimons, die uns unbedingt elfen möschten. Beides ist gleischermaßen katastrophal.«
 

© I.S. Alaxa
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