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(Der eine oder andere Absatz dieses Kapitels könnte für Kinder und zartbesaitete Leser weniger geeignet sein!)


 

Xendium - Manifestation von I.S. Alaxa
Teil 1 - Geschenk des Himmels
Kapitel VI

Oh ja, es sah gegen neun Uhr abends alles sehr viel versprechend aus!
Tigris tat, als würde sie schlafen, ließ ihre Zimmertür allerdings nur angelehnt. Im Wohnzimmer hörte sie die gedämpften Stimmen ihrer Mutter und Engelberts. Sie schienen keinerlei Verdacht zu schöpfen.
Vorsichtig stand Tigris auf, schlich seeehr vorsichtig bis zu ihrer Zimmertür und spähte aus der sicheren Dunkelheit ihres Zimmer hinüber ins Wohnzimmer. Erfreut stellte sie fest, dass die beiden entweder ein höchst geheimes Thema besprachen oder sie nicht durch ihre Stimmen aufwecken wollten, jedenfalls war die Wohnzimmertür geschlossen. Durch das Glas konnte Tigris jedoch beobachten, dass ihre Mutter mit dem Rücken zu ihr am Schreibtisch saß und am Computer arbeitete, während Engelbert neben ihr auf der Schreibtischplatte saß und den Bildschirm betrachtete. Falls er den Kopf zur Tür drehte, würde er sie sehen können. Wie schnell würde er reagieren können, wenn sie die Gelegenheit nutzte, blitzschnell zur nahen Haustür spränge und aus der Wohnung rannte?
Sie hatte nur einen Versuch!
›Ich bin fertig angezogen, habe mein Handy in der Jackentasche, mein Portemonnaie... ok‹, dachte sie und atmete ein paar Mal tief durch.
Engelbert sah immer noch zum Monitor.
Blitzschnell stürzte sie aus ihrem Zimmer in den Flur, riss die Tür auf und rannte auch schon im Dunkel die Treppen hinunter.
Kaum zwei Sekunden später hörte sie die Stimme ihrer Mutter durch das Treppenhaus hallen:
»Tigris! Nein! Komm zurück! Bitte! Engelbert, halte sie auf!«
»Mist!«, fluchte Tigris, hechtete aber dennoch weiter die Treppe hinunter. Ha, die Eingangstür war in Sichtweite! Frei!
›Geschafft!‹ , jubelte sie innerlich und streckte die Hand schon aus, um so schnell wie möglich die Glastür hinaus in die Freiheit aufreißen zu können.
Doch dann musste sie abrupt abbremsen, vollkommen außer Atem und absolut enttäuscht.
Engelbert war ihr also wieder einmal zuvorgekommen: An der Eingangstür befanden sich nun mindestens zweihundert Schlösser in allen Farben und Formen. Soviel konnte Tigris durch das spärliche Licht wahrnehmen, das durch die Milchglasscheiben in den Eingangsbereich fiel.
»Du kommst hier nur über meine Leiche heraus, Herzchen!«, sagte Engelbert grimmig. Er stand mit verschränkten Armen vor ihr und grinste triumphierend.
»Danke für den Geheim-Tipp, Engelbert.« Die leise, amüsiert klingende Stimme in der Dunkelheit kam aus Richtung der Treppe zum Kellergeschoss hinter Tigris.
»Darius!«, hauchte Tigris überrascht.
»Guten Abend, meine Schöne.«
Sie fühlte eine kraftvolle warme Hand auf ihrer Schulter.
Dann hörten sie, wie jemand in der Dunkelheit die Treppen hinuntergeeilt kam.
»Meine Mutter! Wir müssen hier raus.«
»Wie wahr. Du solltest nun besser zur Seite gehen, Engelbert, mein Lieber«, sagte Darius übertrieben höflich.
»Von mir aus. Viel Spaß beim Raten: Ich hab extra einige Zahlenschlösser angebracht.« Engelbert zuckte mit den Schultern und trat zurück.
»Danke. Sehr freundlich von dir. Und sehr weise.«
»Tigris! Was- «, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus kurzer Entfernung hinter sich. »Engelbert! Pass auf! Er ist ein - «
Der Rest des Satzes ging in einem lauten Zischen unter. Ein Blitz machte für eine Sekunde alles um Tigris herum taghell. Dann klaffte ein riesiges Loch sowohl in der Eingangstür als auch in der Glasfront daneben. Darius nutzte den Überraschungsmoment, packte Tigris bei der Hand und zog sie mit sich durch das Loch ins Freie.
»Tut mir Leid, Mama. Aber ich komme in ein paar Stunden wieder! Mach dir keine Sorgen!« rief Tigris noch im Rennen ihrer Mutter zu, die mit fassungslosem, bestürztem Gesicht an der Eingangstür stand und ihr nachsah.
»Sie haben mein Wort, Madame«, fügte Darius noch hinzu, »dass ich auf Tigris wie auf meine eigene Seele aufpassen werde. Wie Sie sehen, bin ich sehr wohl dazu imstande!« Er lachte. Dann fuhr ein alter, brauner Ford an ihnen vorbei und hielt ein paar Schritte weiter an.
Ungläubig sahen Danubia und Engelbert, wie die beiden Jugendlichen in dem Auto verschwanden, das gleich darauf einen Kavalierstart hinlegte und mit lautem Brummen davon preschte.
»Ein... Wandler?«, sagte Danubia mehr zu sich selber.
»Ja, ein gottverdammter Performer«, knurrte Engelbert. »PAGAN oder die Allianz wird erfreut sein. Na, wenigstens ist Tigris ja in den besten Händen.« Engelbert zupfte sich seinen Mantel und seine Haare zurecht und wandte sich zur Eingangstür um.
»Oh nein, mein Bester! Wir fahren hinter ihnen her. Der Kerl sah mir nicht Vertrauen erweckend aus! Du vergisst wohl, dass nicht nur PAGAN, die Allianz oder Excelsior neue Xendi-Talente sucht.«
»Och nöööö!« Wütend stampfte Engelbert mit dem Fuß auf. »Wenn er einer von DENEN ist, mache ich nicht mehr mit!«
»Bring die Haustür in Ordnung, beende den Schlaf-Whisper für unser Viertel und komm dann zum Auto. Ich hole die Schlüssel. Keine Widerrede. Falls er einer von B.A.D. Company ist, ist es dasselbe, als ob jemand von der MDL mit meiner Tochter ausgeht, und du weißt das!«
»Eben drum«, rief Engelbert zornig aber resigniert, trat gegen die Haustür, die krachend in den Hausflur fiel und fügte sich dann schlechtgelaunt in sein Schicksal.

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Der alte Ford hielt nach einer Stunde Fahrt in einer Kleinstadt in der Nähe von Essen an. Es war halb elf, die schmalen Straßen geradezu menschenleer. Lediglich an der Stadtgrenze vor einer kleinen Kirche aus dunkelrotem Backstein hielten immer mehr Autos, aus denen zum größten Teil Gestalten in phantasievollen Kostümen stiegen, zumeist in dunklen Farben und geschmückt mit Kreuzen, Drudenfüßen, Engelsanhängern und anderen mystischen oder religiösen Symbolen. Jeden letzten Donnerstag im Monat fand in der umgebauten Kirche die ›Darkest Night‹ statt, die die Gothic- und Darkwave-Szene aus dem ganzen Ruhrgebiet und darüber hinaus anzog. Oft traten zu diesem Anlass auch Live-Bands auf der Bühne auf, auf der früher einmal der Altar gestanden hatte. An diesem ersten März-Donnerstag standen jedoch wie üblich Tische mit schweren Brokattüchern auf der erhöhten Fläche. Auf jedem Tisch befanden sich Kerzenständer, die von erstarrten Tränen aus rotem und weißem Wachs überzogen waren. Die Kirchenbänke waren herausgerissen worden, um einer großen Tanzfläche Platz zu schaffen, deren Boden aus einem riesigen runden Mosaik zusammengesetzt worden war, das dem legendären Bild ›Die Erschaffung Adams‹ nachempfunden war und zwei sich leicht berührende Hände darstellte. Außerdem konnte man - falls einmal nicht soviel auf der Tanzfläche los war - in dem Mosaik den Satz ›Und der Herr sprach: Tanze!‹ in verschiedenen Sprachen und Schriften erkennen.
Die schönen spitz zulaufenden Kirchenfenster aus buntem Glas waren restauriert worden, so dass verschiedene Heilige auf die Tanzwütigen hinab sahen.
»Wie lange weißt du es schon?«, fragte Tigris Darius, als seine beiden Kumpels endlich einmal vom Tisch aufstanden, um zu einer Gruppe schwarz gekleideter Mädchen zu gehen, die auf der Tanzfläche aufgetaucht waren und zu einem alten Song von Sisters of Mercy zu tanzen begannen. Nur wenige andere Leute hatten wie Tigris ›normale‹ Kleidung an. Sie trug ein rotes ärmelloses Top mit Glitzermustern, sowie eine schwarze Schlaghose und hohe Pumps. Im Auto hatte sie sich fertig geschminkt und sogar auf Wunsch von Darius ihre Augen fett mit schwarzem Kajal umrandet.
»Gothic light«, hatte er gesagt, gelacht und sie an sich gedrückt.
Und nun saßen sie wieder so nahe beieinander, Darius spielte mit ihren langen Locken und wirkte wie immer unglaublich lässig und souverän. Überdies sah er unverschämt gut in der dunkelblauen knielangen Samtjacke aus, aus deren Ärmel die weiße Spitze seines Seidenhemdes hervorschauten.
»Meine... durchschlagende Wirkung auf Gegenstände? Das kann ich seit etwa einem Jahr. Dabei ist einiges an Wald und alten stillgelegten Fabriken draufgegangen. Ich war etwa dreizehn Jahre alt, als ich entdeckt habe, dass ich ein wenig anders bin als andere. Kurz darauf haben auch die Besuche von einem Dämonenpärchen angefangen, mit denen ich allerdings ziemlichen Ärger hatte. Das war die Zeit, wo ich angefangen habe, des öfteren in der Schule zu fehlen. Keine glückliche Zeit. Aber dann blieben die Besuche der beiden aus, weil mein Mentor in mein Dasein trat. Leider darf ich keinen Namen nennen, ein Eid auf mein Leben, du verstehst...« Darius lächelte und versenkte einen tiefen Blick in Tigris Augen, während er fortfuhr. »Von ihm habe ich das Meiste gelernt. Durch ihn kam ich auch an diese Gruppe heran. Demnächst werde ich dort wohl mitmischen. Man hat mir kürzlich ein sehr gutes Angebot gemacht, das ich nicht ausschlagen werde.«
»Oh, womöglich sehen wir uns dann demnächst«, Tigris hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.
»Tatsächlich? Deswegen erweist du also deiner ›verstorbenen Tante‹ die letzte Ehre...«
»Die Schule würde als Grund für ein paar Tage Sonderurlaub wohl kaum 'Besuch einer Gruppe von Magiern' akzeptieren.«
»Leider. Mit Magier verbindet man heutzutage nur noch Zirkusgrößen und großspurige Varieté-Trickser. Wie gern hätte ich vor hunderten von Jahren gelebt. Heutzutage muss man als ›Magier‹ froh sein, wenn man nicht in der Psychiatrie landet. Deswegen ist Stillschweigen das oberste Gebot. Außer meine beiden treuen Gefährten, die praktischerweise furchtbare Angst vor mir haben, weiß niemand von meinen Kräften. Und was hast du an außergewöhnlichen Talenten an dir bemerkt?«
»Oh, na ja.« Tigris überlegte, ob sie von ihrer merkwürdigen Kette erzählen sollte, ließ es aber dann doch sein. Höchstwahrscheinlich würde Darius ziemlich enttäuscht sein, wenn sie ihm erzählte, dass sie alles diesem Amulett verdankte und wieder ein ganz gewöhnliches Mädchen sein würde, wenn man sie davon befreit hatte. »Ich bin erst seit einer Woche dabei, wenn man mal so sagen darf. Seitdem hatte ich unheimliche Begegnungen mit Daimons im Wald, war mit drei schrillen Daimons auf einer Spritztour durch Düsseldorf und bin - denke ich - gerade mal eben der Psychiatrie entgangen. Engelbert hat es wohl wieder hingebogen.«
»Engelbert. Ein ziemlich mieser Mentor, wie ich dir ehrlicherweise sagen muss. Und deine Mutter scheint ja auch nicht ganz ohne zu sein, oder irre ich mich da?«
»Sie ist übersinnlich begabt, richtig. Sie kann DiS-Spuren lesen.«
»DiS, oh ja. Ein erstaunliches Zeug. Der Zufall wollte, dass ich in den Genuss ungeheuerer Chancen und Möglichkeiten komme. Und ich werde diese Chance bis zur Grenze austesten.«
»Hast du gar keine Angst vor den Daimons? Ich meine... die spinnen doch total. Egal, was du sagst, sie missverstehen es – absichtlich oder aus Ahnungslosigkeit. Und es gibt sie wohl in verschiedenen Größen und Stärken.«
»Ich weiß«, sagte Darius gelassen und nahm einen Schluck aus seinem bronzenen, mittelalterlich wirkenden Weinpokal, der im ›Cathedral‹ als übliches Trinkgefäß ausgegeben wurde. »Mit den Mächtigen sollte man es sich nicht verscherzen. Zurzeit können sie leider noch nicht unter uns wandeln, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Die Menschheit arbeitet jedenfalls kräftig daran, ohne dass sie es ahnt.« Darius klang nicht wie gewohnt ironisch, weswegen Tigris seine Worte im ersten Moment erschreckend fand, dann aber wieder von seinen schönen schwarzen Augen abgelenkt wurde und verlegen die Haare zurückwarf.
»Ist diese Gothic-Masche deine Tarnung oder glaubst du wirklich an Satan und all das?«, wollte Tigris schließlich wissen.
»Ich glaube an nichts außer an mich und mein Leben. Leben und leben lassen, ist mein Wahlspruch. Doch wer mich und die Meinen angreift, den trifft die ganze unversöhnliche Härte meiner Rache. Luzifer ist für mich nur das Sinnbild für Selbstverantwortung und den Willen, im Leben alle Chancen zu ergreifen, die sich einem bieten. Ich bin also mein eigener Gott, der alleinige Herrscher über mein Leben.«
»Das klingt sehr selbstbewusst, wenn nicht sogar ein wenig arrogant.«
»Das bin ich. Ich kann überaus arrogant sein. Wenn es angebracht ist. Der Mensch ist ein Geschöpf voller Widersprüche, ein Teufel mit Heiligenschein, ein Engel mit Hörnern. Ich rette ein verletztes Tier und breche meinem Feind die Knochen. Ich kann von Blüten und dem weiten Himmel träumen und von Blut und Mord singen. Ich kann aufrichtig und aus tiefstem Herzen lieben...« Sein Gesicht kam Tigris so nahe, dass sein Atem ihre Lippen streifte. Sie erschauerte vor Wonne. Dann flüsterte er dicht an ihrem Ohr: »Und ich kann sehr grausam werden, wenn meine Liebe hintergangen wird.« Tigris wusste nicht, ob sie diese fast gehauchten Sätze unglaublich romantisch oder unglaublich beängstigend finden sollte. Ein wenig durcheinander sah sie an den Tanzenden vorbei zu dem großen schmiedeeisernen hohen Gitter, der das große Kirchenportal vom Tanzbereich abtrennte. Eine Frau diskutierte dort wild gestikulierend mit den Türstehern.
»Meine Mutter!«, rief Tigris schockiert und ging augenblicklich auf Tauchstation.
»Tatsächlich. Wir sollten verschwinden, bevor dein Engelbert auftaucht und uns verpetzt!«
Er glitt vom Stuhl und bedeutete Tigris, ihm ebenfalls geduckt zu folgen. Sie waren fast an der Tür zu den Toiletten angelangt, als auch schon Engelbert seinen Kopf unter einem Tisch neben ihnen hervor steckte. »Schatzerl, Jugendliche unter 18 Jahren müssen schon längst gegangen sein. Deine Mutter macht deswegen gerade die Türsteher nieder von wegen ›Jugendschutz-Gesetz‹ und dergleichen.«
»Oh nein! Das ist doch peinlich!«, schimpfte Tigris, doch da riss Darius sie hoch zu sich und rannte mit ihr in den schummerigen Gang, vorbei an einem knutschenden Pärchen, zu einer verschlossenen Tür, die in den früheren Kirchengarten führte. Ohne weiter auf Vorsichtsmaßnahmen Wert zu legen, holte Darius weit aus und schleuderte dann eine grüne Lichtkugel von sich. Die Tür flog regelrecht aus ihren Angeln und ließ das Pärchen vor Schreck zusammenzucken.
»He!«, ertönte die Stimme eines bulligen Kellners, kaum dass sie in dem halbverwilderten Garten aufgetaucht waren. Er hatte ein Fass Bier geschultert, von denen etliche aufeinander gestapelt an der Außenmauer der Kirche lagerten. Außerdem standen zahlreiche Getränkekästen an der hohen Backsteinmauer, die den Garten umgab.
»Zutritt für Gäste verboten! Poppt woanders!«, brüllte er hinter Darius und Tigris her, die die zur Straßenseite gelegene Mauer erreicht hatten.
»Ich bitte um Ruhe! Ich muss mich konzentrieren!«, fauchte Darius und schleuderte eine weitere Kugel auf den Kellner, die auf seiner Brust aufprallte und ihn dreimal um die eigene Achse drehen ließen, ehe er erst das Bierfass und dann sein eigenes Gleichgewicht verlor. Mit voller Wucht fiel er rücklings ins Fass, das krachend auseinanderbrach und in einem mächtigen Schwall Diebels auf den regungslosen Mann niederprasselnd ließ.
»Er ist doch nicht tot?«, rief Tigris besorgt, doch Darius war ausnahmslos damit beschäftigt, wie ein Dirigent die Kästen an der Mauer zu einer Treppe umzugruppieren. Drei Kästen stürzten dabei im Schwebflug ins wild wuchernde Gras, wo es von klebriger Cola und perlendem Sprudelwasser getränkt wurde.
»Fertig! Komm, das Auto kommt gleich vorgefahren.«
Darius reichte Tigris die Hand und stieg mit ihr die Stufen aus Getränkekästen zur Mauerbrüstung empor. Im Garten waren mittlerweile mehrere andere Angestellte und auch Gäste angelangt, redeten wild durcheinander und sahen zu den beiden Jugendlichen, die auf der Mauer standen und zu dem noch halb bewusstlos Kellner, der leise ächzend in einem zersprungenen Bierfass lag.
»Ich springe zuerst und fange dich dann auf«, sagte Darius kurzentschlossen und schon stand Tigris nur noch alleine oben auf der Mauer. Es ging etwa drei Meter in die Tiefe, für sportliche Naturen vielleicht ein Kinderspiel, doch für jemanden wie Tigris, die zudem auch nicht schwindelfrei war, reichte die Höhe für ein beklemmendes Gefühl in der Brust.
»Tigris!«
Erschrocken wandte sie den Kopf und sah ihre Mutter auf die Mauer zumarschieren. Schuldbewusst nagte Tigris an der Lippe und sah vor sich hinab zu Darius, der die Arme ausbreitete und sie verführerisch anlächelte.
»Tigris! Komm sofort herunter! Du hast keinen Grund, ihm zu vertrauen. Und wir können uns nicht leisten, soviel Aufmerksamkeit auf uns zu lenken! Engelbert! Tu doch endlich etwas!«
Wahrscheinlich hatte ihre Mutter Recht. Sie hatte ihren Spaß gehabt. Dieses Katz- und Mausspiel war doch eigentlich lächerlich.
Aber Tigris hatte keine Gelegenheit mehr, sich weiter ihrem Schuldbewusstsein und ihren Zweifeln hinzugeben. Etwas wie eine leuchtendgrüne Peitschenschnur schlang sich völlig unerwartet vierfach um ihre Knie. Dann riss es sie hinab auf die andere Seite der Mauer, wo Darius sie mühelos auffing.
»Was kannst du eigentlich noch?«, hauchte Tigris ängstlich und fand sich gleich darauf erneut neben Darius auf dem Rücksitz des alten Ford wieder.
»Offenbar noch nicht genug.« Darius seufzte.
»Und jetzt?« Tigris drehte ihren Oberkörper, um besser aus dem Heckfenster schauen zu können. Doch sie hatten das ›Cathedral‹ schon längst hinter sich gelassen und befanden sich auf dem Weg zur Autobahn. Niemand verfolgte sie.
»Ich muss nachdenken.« Darius schloss die Augen. Seine langen Wimpern warfen lange Schatten auf seine markanten Wangenknochen. Tigris betrachtete sein Gesicht, während Zweifel und Schuldgefühle wiederkehrten und in ihr den Wunsch verstärkten, Darius zu bitten, sie nach Hause zu fahren. Andererseits wollte sie aber noch ein wenig in seiner Nähe sein. Wer konnte schon versprechen, ob sie sich tatsächlich so schnell wiedersehen würden?
»Norby hat eine kleine Fete laufen, hab ich heute Morgen sagen hören«, begann Marco, der den Ford fuhr. Er trug seine langen roten Haare geflochten und mit Lederschnüren umwickelt als Zopf.
»Aha?« Darius sah mit einem Mal höchst amüsiert aus. Sein Grinsen vertrieb alles Düstere und Mysteriöse aus seinem Gesicht. »Er ist ganz wild auf Geisterbeschwörung, obwohl ich ihm das letzte Mal einen mächtigen Schrecken eingejagt habe. Die andere Dimension macht wirklich süchtig, sobald man einmal Kontakt mit ihr aufgenommen hat. Ja, lass uns dorthin fahren. Da bekommen wir wirklich etwas zu lachen.«
»Aber nicht allzu lange, ja? Ich will morgen keinen schlappen, schwächlichen und uncoolen Eindruck auf gewisse Leute machen.«
»Keine Sorge, Cinderella. Deine Kutsche bringt dich - sagen wir mal - punkt eins wieder nach Hause.« Er nahm Tigris' Hand und küsste sie sanft.
»Du Charmeur.« Sie lächelte ihn warmherzig an, dann fielen ihr einige Gerüchte über ihn ein. »Manche Mädchen behaupten, du kannst auch richtig gemein werden.«
»Und natürlich rennen sie gleich zu dir, um ihr Herz bei dir auszuschütten. Wieso lässt du dich nur als Gerümpelkammer für solche hirnlosen Kreaturen missbrauchen?«
»Na ja... Ich kann Menschen nicht leiden sehen. Ich bin viel zu hilfsbereit, ich weiß. Aber so bin ich eben.«
»Ein Engel auf Erden, sieh’ an.« Darius lachte leise, und wie Tigris fand, eine Spur zu spöttisch. Allerdings fühlte es sich unglaublich gut an, wenn seine Hand mit ihrem Haar spielte. »Es spricht nichts dagegen, geschätzten Mitmenschen jede Hilfe zukommen zu lassen. Doch die nutzlosen Kreaturen sollen gefälligst sehen, wo sie bleiben. Das ist meine Lebenseinstellung. Man muss sich von den Schmarotzern, Ausnutzern und Jammerlappen befreien und sich nur mit Menschen umgeben, die stark, ehrlich und treu sind. Und wenn man sich schon mit Ersteren abgibt, dann nur, wenn es nützt oder einem wenigstens die Langeweile vertreibt.«
»Ich hoffe nicht, dass du mich zu dieser Sorte zählst«, sagte Tigris leise. Was für harte Worte aus so einem schönen Mund!
»Absolut nicht. Seitdem wir zusammen den Religionskurs besuchen, fühle ich mich stark zu dir hingezogen. Etwas sagt mir, dass wir früher oder später tatsächlich wieder aufeinander treffen werden. Hoffentlich als Gefährten...«

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Norbert Ullrich hatte das Glück - oder Pech - reiche Eltern zu haben, die ständig auf Geschäftsreisen waren. Somit fand er sich als Einzelkind des öfteren alleine in dem großen villenähnlichen Haus in einer der feinsten Gegenden Düsseldorfs wieder. Jeden Tag kamen die Putzfrau und die Köchin, und der ältere Mann, den seine Eltern als Hausmeister angestellt hatten, lebte mit seiner Ehefrau in einem kleinen Anbau. So gesehen hatte Norbert das große Haus sehr oft für sich alleine, weswegen viele Leute um seine Freundschaft bemüht waren, die auf der Suche nach einem ansprechenden Ambiente für die nächste Fete waren. Der Partykeller der Ullrichs hatte gigantische Ausmaße, was Norbert die zweifelhafte Ehre bescherte, natürlich immer bei den angesagtesten Partys mit dabei zu sein, umgeben von schönen Mädchen. Weder sah Norbert besonders toll aus, noch konnte er mit außergewöhnlichen Tanzkünsten oder mit einer Mitgliedschaft in einer Live-Band brillieren. Eigentlich hockte er lieber oben in seinem Zimmer an seinem Computer und surfte im Internet.
Und seitdem Darius Alessi vor drei Wochen das Haus Ullrich mit seiner mystisch-düsteren Anwesenheit beehrt hatte, hatte sich diese Leidenschaft noch verstärkt. Allerdings hatte sie ihn mittlerweile auf Seiten von Satansergebenen, Anhänger Schwarzer Magie und anderen okkulten Gruppierungen geführt.
Als der braune Ford vor dem Zaun aus schwarzen schmiedeeisernen Stäben mit bronzenen Pfeilspitzen hielt, lag das schneeweiße, schöne Haus wie ausgestorben da. Jedenfalls brannte kein Licht in den Fenstern, die man von der Einfahrt her sehen konnte.
Die Angeln der ebenfalls schmiedeeisernen Tore waren in zwei schmalen Säulen aus Marmor eingelassen. An ihnen waren auch Kameras befestigt, die jeden im Visier hatten, der vor dem Tor stand und die große bronzefarbene Klingel betätigte.
Darius hielt Tigris' Hand, während er zur rechten Kamera hochsah und sein gewohnt arrogantes Lächeln präsentierte.
Augenblicklich summte es, und die Gruppe konnte passieren. Der Weg aus Sandsteinplatten führte sie an Terracotta-Vasen vorbei, aus denen schlanke hohe Thujabäume wuchsen, dazwischen Statuen aus weißem Marmor, griechischen Gottheiten nachempfunden.
Norbert riss die Ebenholz-Tür auf, bevor sie dort angelangt waren. Seine durch die Brille stark vergrößerten Augen wirkten aufgeregt und hektisch.
»I-Ihr kommt genau richtig! Ein paar Leute wü-wü-würden wirklich gerne bei einer Seance dabei sein. Ich habe m-m-mir extra ein sp-ezielles Ouija-Brett besorgt! Wir können es g-g-gleich ausprobieren!«
Tigris überkam ein Anflug von Mitleid. Sie kannte Norbert Ullrich nur vom Sehen. Er war ein schlaksiger, leicht pickliger Jüngling, der unglücklicherweise auch noch stotterte. Offensichtlich zählte er nicht zu der von Darius geschätzten Sorte Mensch.
»Na fein! Wer weiß, vielleicht zeigt sich erneut ein Wesen des Jenseits, das uns einige Geheimnisse enthüllt.« Norbert schien den ironischen, fast an Spott grenzenden Ton von Darius überhaupt nicht wahrzunehmen, sondern führte sie eiligst durch den weiten Flurgang mit den antik wirkenden Deckenmalereien direkt ins riesige Wohnzimmer.
»Das ist ja größer als unsere Wohnung und die unserer Nachbarn zusammen!«, flüsterte Tigris beeindruckt.
Das Ullrichsche Wohnzimmer war mit einem unglaublich weichen, champagnerfarbigen Veloursteppich ausgelegt und wirkte eher kühl und schlicht. Die Sitzlandschaft aus weißem Leder kostete sicher ein Vermögen, genau wie das riesige Bild darüber, auf dem drei riesige japanische Schriftzeichen gemalt waren. Die Fensterfront gegenüber der Zimmertür reichte vom Boden bis zur Decke, die Bambusjalousien waren herabgelassen, um trotz der weißen Möbel und der Strenge des Raumes eine unheimliche Atmosphäre zu erzeugen. Dazu trugen entscheidend die unzähligen Kerzen bei, die überall verteilt standen.
Mitten auf dem Teppich, umgeben von Weinflaschen und Kristallgläsern, hockten drei Leute und sahen die Neuankömmlinge erwartungsvoll an. Eines der beiden Mädchen, jene mit den schulterlangen dunkelblonden Haaren namens Nina, kannte Tigris ganz gut, sie gingen ins gleiche Fitnessstudio. Das Pärchen neben ihr hingegen hatte sie noch nie zuvor gesehen.
»Hi, Tig! Wusste gar nicht, dass du einen Freund hast«, sagte sie, als Tigris sich neben ihr niederließ. 
»Unsere Liebe ist noch ganz frisch und neu...« Darius legte demonstrativ den Arm um Tigris und schmiegte sich kurz an ihren Hals, was Tigris mit einem schüchternen Kuss beantwortete, der allerdings statt auf seine Wange auf seiner Stirn landete.
»Das h-h-habe ich aus einem ganz schrägen L-Laden in Aachen«, begann Norbert, holte aus einem unscheinbaren grauen Karton ein großes schwarzes Brett und legte es feierlich in die Mitte ihrer Runde. Auf dem Brett waren das Alphabet, die Zahlen 0 bis 9 sowie YES und NO aus silberfarbigem Metall kreisförmig eingelassen. Eine Art silberne Schiene führte als innerer Kreis um die Zahlen und Ziffern herum. Norbert setzte einen schwarzen Pfeil mit einem kleinen Kugellager in die Schiene und betrachtete das Brett dann ehrfürchtig.
»Wir werden uns nun bei den Händen fassen und die Augen schließen«, sagte Darius leise mit seiner volltönenden Stimme und in der ernstesten, geheimnisvollsten Tonlage, die Tigris je bei ihm erlebt hatte. »Dann werde ich mich konzentrieren, um den Kontakt zu der Welt jenseits unserer unvollkommenen Sinne herzustellen. Es soll geschehen!«
Alle schlossen die Augen, während Darius zu murmeln anfing. Es hörte sich lateinisch an, sie vernahmen jedenfalls Worte wie ›Daemonium‹, ›Spiritus‹, ›Infernalus‹, ›Signum‹ und andere, genau so geheimnisvoll Klingende.
Ein unterdrücktes Kichern mischte sich unter die Beschwörung. Da Ninas Hand ein wenig zitterte, wie Tigris deutlich spürte, konnte es nur von ihr kommen. Anscheinend nahm sie die Sache nicht sonderlich ernst. Die beiden neben ihr sahen ebenfalls ziemlich unbeeindruckt aus. Nur Norbert, und natürlich Darius’ treuergebenen Freunden standen die ängstliche Erwartung gleichermaßen im Gesicht geschrieben.
»Ich fühle die Anwesenheit eines Dämonen«, flüsterte Darius mit rauer Stimme.
»Öffnet nun die Augen, denn er wird uns seinen Namen enthüllen.«
Gespannt und ängstlich sahen Norbert und Darius' Freunde auf den regungslosen Pfeil. Nina wirkte eher amüsiert, genau wie ihre Freundin, während ihr Freund mit den braunen Rastazöpfen eher gelangweilt schaute. Sekunden vergingen, und noch tat sich immer nichts.
»Vielleicht kennt er nur Hebräische Buchstaben, oder so? «, meinte Nina gespielt ernsthaft.
»Dämonen sind sehr sensibel und schnell beleidigt, Teuerste«, wisperte Darius boshaft.
Plötzlich setzte sich der Pfeil tatsächlich in Bewegung. Bis auf Darius zuckten alle erschrocken zusammen, denn immer schneller sauste der Pfeil an den Lettern vorbei.
»Ihr habt da eine Fernsteuerung eingebaut!«, sagte der Rastaman und schaute Darius missbilligend an.
Der hob die Hände und lächelte unschuldig zurück.
Der Pfeil blieb abrupt stehen.
Ninas Blick wanderte unsicher zwischen dem Brett und Darius hin- und her.
»Fragt, was ihr schon immer zu fragen wünschtet.«
»Kann er vielleicht noch einmal seinen Namen schreiben? Das eben war ein wenig zu hektisch für Sterbliche«, grummelte der Rastaman.
Der Pfeil bewegte sich auf das A zu, hielt dann nacheinander beim Z, A, N, T, H, U und S.
»Azanthus! ER ist wieder hier!«, hauchte Norbert, während feine Schweißperlen auf seiner Stirn erschienen.
»Azanthus, der Tänzer im Sturm«, bestätigte Darius düster.
»Ich möchte etwas fragen«, meldete sich Nina zu Wort, sichtbar blasser um die Nase geworden.
Darius nickte sanft.
»Gibt es Gott und den Teufel wirklich?«
Gespannt verfolgten sie den Weg des Pfeiles.
SATAN HERR DER WELT
Nina sog hörbar den Atem ein, während Tigris unauffällig um sich sah. Steckte tatsächlich ein Daimon dahinter, der Darius' finsteren Sinn von Humor teilte? Doch anscheinend benutzte Darius lediglich seine geheimen Talente für diese Show.
»Was hat er vor? Wo ist Gott?« Ninas Stimme zitterte.
GOTT HAT EUCH BELOGEN
Tigris bemerkte, wie Ninas Freundin die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und zitterte.
Sie warf Darius einen mehr als missbilligenden Blick zu, den er aber anscheinend nicht registrierte. Spaßig fand sie das Ganze überhaupt nicht mehr.

SPREU VON WEIZEN WIRD GETRENNT
GANZE GROSSE ERDE BRENNT
KRIEG UND HASS VERSCHLINGEN LEBEN
NUR DEN TREUEN WIRD VERGEBEN

»Können wir aufhören?«, fragte Tigris leise.
»Ich finde das auch nicht mehr witzig«, murmelte Ninas Freundin zustimmend.

IH ZOIGE AICH NOC MER SCSCHREHKEN

»Darius - « Tigris sah ihn flehentlich an. Er nahm ihre Hand, doch seine Augen wanderten beunruhigt im Zimmer umher. Dann schoss sein Blick empor zur Decke über ihnen, und alle taten es ihm nach.
Doch nur Tigris war in der Lage, das zu sehen, was Darius dort sehen konnte: Grünlicher Nebel stieg als Wirbel aus einem Punkt an der Decke fast senkrecht über dem Brett auf, wo er sich zunehmend verdichtete, ohne zunächst seine Größe zu verändern.
»Darius, bring mich sofort nach Hause! «, rief Tigris entsetzt und sprang auf.
»Was ist los?«, fragten Darius Freunde im Chor und mit schreckensgeweiteten Augen. »I-ist dort ein Dämon?«
»Ich sehe nichts!«, sagte der Rastaman mit finster zusammengezogenen Brauen, ohne die Decke oder wahlweise Darius aus den Augen zu lassen.
Dieser fixierte aufmerksam den nur für ihn und Tigris sichtbaren Nebel, ohne eine Spur von Angst zu zeigen.
Der Nebel hatte sich inzwischen in eine unappetitliche schleimige Masse umgewandelt, die im Zeitlupentempo zur Erde tropfen wollte. Gleichzeitig bildeten sich schuppenähnliche Strukturen wie die einer Schlange.
»Keine Angst!« Darius stand langsam auf und nahm Tigris' Hand fest in seine. Augenblicklich drückte sie sich fest an ihn.
»Ich möchte weg«, hauchte sie, während sie mit wild klopfendem Herzen beobachtete, wie sich der große schuppige Tropfen, der von der Decke herabhing, an seinem Ende dreiteilte.
Jedes Ende bildete einen platten Kopf mit einem Schlangenmaul und kalten schwarzen Augen.
»Seht mich an und erstarrt vor Furcht, Staubgeweihte!«, zischelte der mittlere, kräftigste Schlangenkopf, an Darius und Tigris gewandt. Seine Hässlichkeit sorgte durchaus für einen Angstschauer bei Tigris und erhöhte Wachsamkeit bei Darius. Doch dann machten unglücklicherweise auch seine beiden anderen Köpfte die Mäuler auf.
»Euer flimmfter Alptraum ift hier!«, frohlockte der Linke.
»Euer Daimonator!«, fügte der rechte Kopf noch bedrohlich hinzu, dessen Augen irgendwie zu schielen schien.
»Du hältst dich raus, du versaust immer alles!«, herrschte der mittlere Kopf den Rechten an und stieß einmal kurz auf ihn hinab.
»Ihr beide scheid scho gemein«, grummelte der Rechte und wandte sich beleidigt von den beiden anderen ab.
»Alssssoooo, Staubgeweihte! Seid ihr bereit, um Gnade zu winseln?« Hochmütig reckte sich der mittlere Kopf empor, ohne Darius und Tigris aus den Augen zu lassen.
Darius verschränkte gelassen die Arme ineinander. Alle waren auf den Beinen und beobachteten ihn und Tigris. »Nein, wir werden nicht winseln. Das ist nicht unsere Art.«
»Was?!«
»Nicht mal ein bifchen?«
Der Linke und der Mittlere Kopf sahen sich ein wenig irritiert an.
»Ihr könntet wenigschtensch scho tun alsch ob!«, beeilte sich der rechte Kopf zu sagen und tauchte weg, bevor der mittlere ihn erneut eine Kopfnuss geben konnte.
»Nun, Hmmm.... na gut.« Die mittlere Schlange leckte sich mit ihrer gespaltenen Zunge übers Maul. »Wir können euch ja später erledigen. Aber sagt euren neutralen Freunden jetzt, sie sollen sich wieder ans Brett da unten setzen. Wir haben ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«
»Dann verfonen wir euch vielleicht.«
»Oh jaa! Ich mach mit! Ich mach mit! Ich liiiieeebe esch, Geschichten tschu erfinden!«
»Haltet die Klappe! Beide! Der einzige, der hier etwas zu melden hat, bin ich!« brüllte der Mittlere seine Nebenmänner nieder, die sich erschrocken zusammenkringelten.
»Sprich weiter, Dämon.« Darius musste sich stark zusammenreißen, um nicht in Gelächter auszubrechen.
Tigris hingegen empfand statt Angst zunehmend Wut. Die anderen, die den Auftritt des Daimons nicht erleben konnte, standen teils unschlüssig, teils ängstlich da und rührten sich ansonsten nicht von der Stelle.
Unvermittelt wandte sich Darius an sie. »Die Drei Zwölfmal Erhabenen Großmeister der 879. Ebene der Hölle haben euch etwas mitzuteilen.«
»Daf klingt wirklich toll! Den Namen follten wir unf merken.« Der Linke war vollkommen aus dem Häuschen vor Begeisterung.
»Hm ja, er hat was«, gab der Mittlere zu.
»Aber wenn ich nicht mitmachen darf, schpreche ich nienienie wieder mit euch beiden!«
»Du machst nicht mit, du Dummon«, säuselte der Mittlere übertrieben lieblich. »Und wir werden uns mit der ungewohnten Stille von rechts schnell anfreunden.«
»Du bi-i-ft rau-auf, du bi-i-ift rau-auf, ha ha ha!« Der Linke tänzelte schadenfreudig vor dem Rechten auf und ab.
»Darius! Nein! Sag, sie sollen verschwinden, und uns alle in Ruhe lassen!«, forderte Tigris leise und hielt Darius Jackenärmel fest.
»Gleich. Lass ihnen doch ihren Spaß. Die Typen sind zwar vollkommen schwachsinnig, aber harmlos«, wisperte Darius ihr ins Ohr und setzte sich wieder an das Brett.
»Fofo, du willft hier alfo die Fpielverderberin geben, waf?«, zischte der Linke Kopf Tigris wütend zu, die sich nicht wieder dazugesellte.
»Isch dasch nicht die Kleine, die schie überall schon schuchen?«
»Ist ja nicht wahr, was?«, hörte Tigris eine bekannte Stimme aus Richtung der Couch und schnellte freudig überrascht herum.
»Engelbert!«
»Setz deinen Hintern sofort in Bewegung, wir müssen verschwinden. Ein paar Dummonen, die bei der Übergabe im Wald mit dabei waren, haben, wie du selbst mitgekriegt hast, in der ganzen Welt herumgeplaudert. Jetzt sitzen wir wirklich in der Tinte!«
»Mach sofort den Schlaf-Whisper weg, Engelbert!«, knurrte der mittlere Kopf erbost.
Tigris sah auf die Jugendlichen, die um das Brett hockten. Sie starrten es an, ohne sich zu bewegen oder eine Miene zu verziehen: Engelbert hatte sie offenbar paralysiert. Und diesmal hatte es auch Darius erwischt.
»Tja, mit Whispern kennt er sich glücklicherweise noch nicht so gut aus, vor allem, wenn er nicht damit rechnet. Zwar könnte er ihn mit starker Willensanstrengung durchbrechen, aber selbst das gelingt den Besten auch nicht sofort.« Engelbert ging langsam um die Jugendlichen herum, wobei er Darius absichtlich einen leichten Tritt versetzte, so dass er mit seinem Oberkörper ein wenig hin- und herfederte. Dann blieb Engelbert stehen und sah die dreiköpfige Schlange spöttisch an.
»Da hat aber jemand vergessen, dass seine Erscheinungsform seine Aufenthaltsgenehmigung ziemlich gefährdet. Und wenn erst herauskommt, dass du aus dem Geschlossenen Sternhaufen ausgebrochen bist, schicken sie dich ohnehin postwendend zurück, Maruké. Geistig gestörte, schizophrene Daimons will man hier nicht haben.«
»Ich bin nicht geistig gestört!«, fauchte der mittlere Schlangenkopf.
»Höchftenf etwaf geftrefft.«
»Und vielleicht ein wenig traumatischiert, schicher, dasch ischt aber doch verschtändlich nach allem, oder?«
Der mittlere und linke Kopf sahen den dritten böse an, wandten sich dann aber wieder Engelbert zu.
»Was für ein erbärmlicher Menschenfreund doch aus dir geworden ist, Berty. Willst den Staubgeweihten dabei helfen, das Unheil abzuwenden, das sich von Tag zu Tag stärker zusammenbraut...«
»Die Xendii werden das niemals zulassen!«, warf Tigris wütend ein.
»Ooh, wie niedlich.« Der mittlere Kopf reckte sich weiter zu Tigris vor und sah sie mit seinem schwarzen Augen boshaft und auch ein wenig schadenfreudig an. »Es ist mehr als zu spät. Im Grunde genommen seid ihr schon beim ›V‹ von ›Vorbei!‹ angelangt. Und niemand kann euch helfen. Diese Welt ist der Stachel im Innersten des Seelenfressers. Kennst du den Seelenfresser, mein Herz?«
»Der allseits beliebte Seelenfresser ist Geschichte. Er wurde hingerichtet. Vor fast einer Woche.« Engelbert polierte sich mit dem Ärmel seiner schwarzen Jacke die Nägel.
»Man merkt, dass du nicht auf dem Laufenden bist, Engelbert. Er ist nämlich entkommen, bevor das Urteil vollstreckt werden konnte. Die Zerrafin stehen Kopf. Ein Umstand, den ich zur Flucht zu nutzen wusste.«
»Jeder Daimon, selbst die Angoleahs werden durch die 0-DiS-Zone ausgelöscht«, sagte Engelbert verächtlich.
»Wohl wahr. Aber der Seelenfresser ist dennoch entkommen. Natürlich dementiert Omrishah das noch heftigst. Doch sehr bald muss er allen Daimons die Wahrheit sagen. Unser aller Alptraum, der Alptraum aller Geschöpfe, ist frei. Und sein Weg wird unweigerlich hierher führen, an die Wiege seines Schmerzes. Wie ich es schon lange prophezeit habe.«
»Wer sonst auch außer dir könnte uns Intimes über ihn verraten?« Engelbert tauschte mit Tigris amüsierte Blicke.
»Oh ja, du sagst es! Wer sonst? Wer sonst noch hat einen Kannibalischen Clash mit ihm überlebt? 
Der Seelenfresser war im Begriff, mein Innerstes, mein Core auszusaugen, als eine Schar Melegonin der Zerrafin auftauchte. Er ließ ab von mir. Doch seitdem...« Die drei Köpfe senkten sich gleichzeitig. »Seitdem plagen mich Visionen von dieser Welt. Ein Teil seines klebrigen, ätzenden Hasses auf alles Lebendige blieb in meiner Seele zurück. Und so harre ich aus, denn er wird kommen. Er wird hierher kommen. Ich weiß es.
Er ist alt, er ist mächtig. Und er ist anders als alle anderen Angoleah.
Niemand wird seinen Shine wahrnehmen können, wenn er hier ist, weder Xendi noch Daimon. Unerkannt wird er sich daran machen, diese Welt auszulöschen.
Und vielleicht hat er schon eine Möglichkeit gefunden, seinen großen Traum zu verwirklichen.
Wisst ihr, was es ist, wovon der Seelenfresser träumt?«
Engelbert und Tigris schwiegen betroffen. Marukés Worte schienen sie regelrecht zu hypnotisieren.
»Er träumt davon, zu sterben. Aber er kann nicht sterben. Kein Daimon, nicht einmal mehr Omrishah, kann ihn vernichten. Der Ewigkeit kann er nicht entrinnen, ebenso wenig seinen Erinnerungen. Es gibt nur eine Macht, die ihn von Ewigkeit und Erinnerung befreien kann. Aber diese Macht schweigt schon so lange, dass viele bezweifeln, ob sie überhaupt existiert.
Es steht geschrieben, sie schweigt, seitdem sie Ma’Zatan vernichtet hat. Und nun gedenkt der Seelenfresser, Ma’Zatans Weg zu beschreiten, solange bis sie nicht mehr schweigen kann, bis sie nicht mehr tatenlos zusehen wird, wie damals, als Ma’Zatan im materiellen Universum wütete. Bis sie ihm ein Ende setzt, wie sie es bei Ma’Zatan getan haben sollen. Auch wenn der Seelenfresser an ihrer Existenz zweifelt, genau wie er im tiefsten Winkel seiner Seele auf ihr Vorhandensein hofft.«
»Er will Gott herausfordern?« Engelbert musterte Maruké immer kritischer. »Die MDL vernichtet jede Woche eine Welt in der materiellen Dimension, aber Gott scheint das ziemlich schnuppe zu sein. Was ich übrigens vollkommen nachvollziehen kann. Wer es fertig bringt, seine eigene Welt so zugrunde zu richten, dass die Shinnn nur noch das Abschiedsfeuerwerk starten müssen, der verdient es nicht anders, als ausgelöscht zu werden. Und schließlich kann besagter Daimon ja nicht das ganze Universum plus Daimonsion vernichten. Das könnte höchsten Gott selber. Falls es ihn gibt.«
»Da wäre ich mir ja nicht so sicher. Über diese Welt sind unzählige Gerüchte im Umlauf. Einige davon beschäftigen sich mit der Frage, wieso Omrishah hier ständig herumtrickst und diesen Ort dermaßen schützt. Eigentlich hätten hier schon zehn Shinnn-Parties stattfinden können, wenn Omrishah nicht jedes Mal mit immer neuen Sondergenehmigungen und Ausnahmeregelungen das Ruder herumgerissen hätte. So etwas fällt irgendwann einmal auf, findest du nicht?«
»Das ist Omrishahs Sache. Er ist der EinzigMächtigste Daimon.«
»Er WAR der EinzigMächtigste Daimon. Der Seelenfresser ist ihm mittlerweile mehr als ebenbürtig. Und dieser Feind unser aller Seelen ist wieder frei. Omrishah wird es bald zugeben müssen. Wer weiß, was er sonst noch alles über den Seelenfresser vertuscht hat? Wie konnte er entkommen? Wieso war Omrishah immer viel zu gnädig zu ihm? Wie konnte aus einem Shinn, einem Angoleah-Daimon also, überhaupt eine Art Eloyah wie es Omri ist, werden? Fragen über Fragen...«
»Ein neuer Eloyah! Sehr witzig. Nun weiß ich, dass du wirklich verrückt bist und dringend psychologische Betreuung brauchst!« Engelbert gähnte demonstrativ herzhaft, ließ jedoch blitzschnell seinen Kopf herumfahren, als ein Ächzen aus dem Kreis der hypnotisierten Jugendlichen ertönte.
»Das gibt es doch nicht! Der Bursche ist aber auch ein harter Knochen!«, grummelte Engelbert und streckte mit angestrengt zusammengekniffenen Augen die Hand aus. Doch als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten, riss es ihn plötzlich von den Füßen und schleuderte ihn gegen das riesige Bild. Dann fiel er auf die Couch und schüttelte benommen den Kopf.
»Wahnfinn! Waf für ein Talent!«, hauchte der linke Schlangenkopf fasziniert. Maruké und Tigris beobachteten, wie Darius sich langsam erhob. Sein ohnehin markantes, finsteres Gesicht sah fuchsteufelswild aus.
»Das hättest du nicht tun sollen, du elender kleiner Schmalspur-Daimon...«, murmelte er hasserfüllt.
»Darius, bitte! Er wollte mir nur helfen. Lass ihn!« Tigris hielt seinen Jackenärmel fest. Dann fiel ihr Blick auf seine Hand. Kleine blau glühende Blitze krochen auf seiner Haut umher, wie nervös hin- und herwuselnde Würmer.
»Ich hasse es, wenn man mich zuwhispert. Ich schätze diese Praktiken ganz und gar nicht«, sagte Darius kalt, ohne Tigris anzusehen.
»Ich wollte Tigris lediglich endlich nach Hause bringen, Kumpel«, meinte Engelbert sichtlich eingeschüchtert und setzte sein versöhnlichstes Grinsen auf, das fast von einem Ohr zum anderen reichte. Vorsichtig glitt er von der Couch.
»Ich bin nicht dein Kumpel. Du gehörst definitiv nicht zu dem Kreis von Daimons, mit denen ich zu tun habe. Und deswegen habe ich keinerlei Skrupel, dich zu erledigen.« Darius' schwarze Augen glitzerten boshaft.
»Du willst doch nicht im Ernst hier und jetzt ein Duell veranstalten? Dazu habe ich nun wirklich keine Zeit. Ich und Tigris müssen weg. Sorry wegen des Whisper, ich tu’s nie wieder in deiner Gegenwart.«
Statt einer Antwort sauste ein blauer Blitz haarscharf an Engelberts rechtem Ohr vorbei, der sich in die Wand hinter ihm bohrte und verschwand. Irritiert sah der Daimon ihm nach, dann wanderten seine Augen nervös im ganzen Raum umher.
»Hör sofort auf damit!«, rief Tigris und schubste Darius wütend zur Seite. Er stolperte, konnte sich jedoch im letzten Moment noch fangen und wirbelte zu Tigris herum.
»Ich habe das dumme Gefühl, dass wir doch nicht auf der gleichen Seite stehen«, sagte er düster, es klang fast traurig.
»Aaah!«, kreischte Engelbert auf. Und auch Tigris zuckte erschrocken zusammen, als unvermittelt ein Blitz aus dem Boden dicht vor Engelberts Füßen geschossen kam und augenblicklich senkrecht in die Decke über ihm entschwand.
Als nächstes sauste der Blitz aus der Decke quer in die Wand ihnen gegenüber, was Maruké überrascht aufquaken ließ.
»Wenn das mal nicht ein Nice Ray im Distracted & Detour Modus ist?«, bemerkte sein mittlerer Kopf bewundernd.
»Schoweit ich weisch, nennen die Performer schowasch ›Pinball Gypshy Jet‹.«
»Ich haffe alle Performer«, brummte der linke Kopf, fügte jedoch hastig mit Blick auf Darius hinzu. »Aufer die von B.A.D Company, natürlich.«
Alle sahen sich um, bereit zur Seite zu springen, falls der Strahl als nächstes in ihrer unmittelbaren Nähe aus dem Boden oder der Decke geschossen käme. Doch anscheinend hatte sich seine Kraft entweder verschlissen, oder er war irgendwo verloren gegangen. Stirnrunzelnd suchte Darius die Decke ab, doch sein Blitz tauchte nicht mehr auf.
»Oh-oh...«, zischelte Marukés mittlerer Kopf plötzlich erschrocken und begann sich zusammen mit den beiden anderen in seinen glitschig-schuppigen Leib zurückzuziehen. 
»Ihr scholltet euch lieber auch verdrücken. Da schind ein paar üble Typen im Anmarsch...«, war das letzte, was der Daimon sprach. Dann glitt auch sein Leib zurück in die Decke, von der er die ganze Zeit heruntergehangen hatte, zerfloss zu dem anfänglichen grünen Nebel, der eilig zusammenschrumpfte, bis der ganze Spuk so schnell verschwand, wie er gekommen war.
»Mist! Hoffentlich hat deine Mutter den Weg hierher gefunden. Wegbeschreibungen sind nicht meine Stärke. Und jetzt bloß weg hier!«, krächzte Engelbert, winkte Tigris mit der Hand zu sich und wies in Richtung Hausflur.
»Zieh erst das DiS von meinen Freunden ab, verdammtes Aas!«, schrie Darius wütend hinter Engelbert und Tigris her, die schon in den Flur gerannt waren. Noch immer verharrten die anderen Jugendlichen regungslos um das Ouija-Board und starrten es mit ausrucksloser Miene an.
»Schon gut, sorry!«
Im nächsten Moment zuckten sie alle gleichzeitig zusammen und sahen sich verwirrt um.
»D-D-Darius! Ist Azanthus noch da?«, fragte Norbert als erstes.
»Er musste dringend für kleine Dämonen. Marco! Kevin! Wir fahren!«, schnaubte Darius verächtlich.
»Wie, äh...?« Norbert war perplex.
Doch schon die nächsten Sekunden sollten sie alle, einschließlich Darius und Engelbert, vor Furcht versteinern lassen.
Als erstes gingen schlagartig die Kerzen aus.
Dunkelheit und Stille umfing die überraschten Menschen und Engelbert.
Dann sprang urplötzlich das Radio des großen silbernen Hi-Fi Turms an. Noch immer konnte niemand erkennen, wer für die Vorgänge verantwortlich war. Unmengen von UKW-Sendern wurden durchlaufen, bis ein offensichtlich passender gefunden worden war. Die ersten Klänge des AC/DC-Klassikers ›Hell's Bells‹ ertönten, während der Lautstärke-Regler langsam in Richtung Anschlag glitt.
Tigris überwand die ersten Schrecksekunden und rannte in den Hausflur, in der Hoffnung, die Eingangstür zu erreichen, bevor die nächsten Daimons ihr nervtötendes Spiel starteten.
Hektisch riss sie die Haustür auf - und fuhr schockiert zusammen.

.

Zwei orangerote Augenpaare mit Schlangenpupillen sahen ihr gelassen entgegen.
Sie gehörten zwei riesigen, spindeldürren Gestalten mit gräulich-violetter Haut, bar jeglicher Behaarung.
Tigris stolperte entsetzt zwei Schritte zurück.
Die beiden trugen graugrüne Schlangenleder-Anzüge mit hohem Stehkragen, die dürren langen Finger, die aus den Ärmeln schauten, sahen wie überdimensionale Spinnenbeine aus.
Lang und dünn waren auch ihre Nasen in ihren schmalen Gesichtern mit den eingefallenen Wangen und dem kaum sichtbaren, lippenlosen Mundschlitz.
»Guten Abend«, wisperte einer der beiden Zwillinge mit träger Stimme, als strenge es ihn unendlich an, die menschliche Sprache zu gebrauchen.
»Wir stören doch hoffentlich?« Die Mundwinkel zuckten, was bereits einem abgrundtief bösen Lächeln ähnelte.
Tigris' Knie fühlten sich butterweich an. Dennoch ging sie wortlos und vorsichtig rückwärts, zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.
Die beiden traten gleichzeitig in aufeinander abgestimmten, langsamen Schritten in den dunklen Flur, in den nur das Licht der Eingangsbeleuchtung fiel.
›Die Tür zum Garten!‹ schoss es Tigris durch den Kopf. Sie hatte gesehen, dass eine Glastür neben der Fensterfront im Wohnzimmer ins Freie führte. Wenn sie es dorthin schaffen könnte!
Urplötzlich sprang jemand aus dem Wohnzimmer auf sie und schubste sie zu Boden. Darius! Etwas Helles blendete sie. Sie fühlte Darius schnell atmen, sein Herz raste genauso wie ihr eigenes.
»Darius, unser Lämmchen... Schau an. Nicht mehr ganz so jämmerlich wie damals.«
Unbeeindruckt kamen die beiden Schritt für Schritt unaufhaltsam näher. Orangerote Funken perlten von ihren Schlangenhaut-Anzügen ab: Darius’ Attacke war vergebens gewesen.
Schleunigst rappelten sich die beiden Jugendlichen auf.
»Verschwindet! Sucht euch ebenbürtige Gegner. Oder reichen eure Kräfte nur für Kinder?«, brüllte Darius sie zornig an und schob Tigris hinter sich.
»Wenigstens weißt du dich einzuschätzen, Lämmchen«, flüsterte einer der beiden Daimons.
»Aber diesmal sind wir nicht wegen dir hier«, setzte der andere hinzu. »Nimm deine Freunde und lauf - lauf soweit du kannst. Sie jedoch wird hier bleiben.« Ein langer dünner Spinnenfinger wies auf Tigris.
Tigris sah, dass Tränen des Zorn ins Darius' Augen glitzerten, als er ihnen »Nein!« entgegenspie. Er zitterte am ganzen Leib.
»Störrisches kleines Lämmchen... hast du denn wirklich vergessen, was wir mit bösen kleinen Jungs machen, die immer gleich weinen und jammern?« Ihre Stimmen klangen furchtbar - rau, heiser, eiskalt und bedrohlich leise.
Darius schluckte, weil seine ganze Kehle wie ausgedörrt war, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
Die Daimons blieben urplötzlich stehen.
»Unartiger Junge. Unartiger Darius. Erinnerst du dich noch an diese Nächte damals? An unser Lied, das dir unsere Ankunft ankündigte?«
»Eins zwei drei, Engel, Engel komm herbei.«
»Vier, fünf, sechs und sieben wo ist mein Engel nur geblieben?«
»Acht, neun, zehn welch Grauen muss ich sehn?«
»Brennend fiel er in das Meer...«
»Und nun fürcht ich mich so sehr...«
»Die Dämonen sind schon nah…«
»Mami! Hilf mir! Sie sind da!«
Tigris spürte wegen diesen grausamen Geschöpfen die blanke Wut in sich aufbrodeln. Darius stand mit gesenktem Kopf da, seine bebenden Schultern verrieten, dass ihm der Reim nur allzu gut bekannt war. Tigris erinnerte sich, dass Darius vor einigen Jahren die unangenehme Bekanntschaft zweier Daimons gemacht hatte. Es musste dieses grauenhafte Zwillingspaar gewesen sein. Offensichtlich waren sie aber mehr als unangenehm gewesen, wenn dieser Kindervers ihn dermaßen erschütterte.
Zu allem Überfluss tauchte auch noch Nina an der Wohnzimmertür auf und sah sie ärgerlich an.
»Es reicht uns jetzt wirklich. Keine Ahnung, was für eine blödsinnige Show ihr da veranstaltet habt, aber wir haben keine Lust mehr«, schnaubte sie.
›Du Glückliche!‹ dachte Tigris verzweifelt. ›Wenn du sehen könntest, was einen Meter neben dir im Flur steht...‹
Die Schlangenpupillen wanderten langsam nach rechts zu dem Mädchen, das sie nicht wahrnahm.
»Kümmere du dich um die Staubgeweihten dort«, zischte der linke Daimon dem rechten zu.
Noch während Nina im Türrahmen stand, auf dem ihre Rechte ruhte, schlug blitzschnell die Tür zu und quetschte ihre Hand ein. Das Mädchen schrie wie von Sinnen auf, während der Junge mit den Rastas ihr zu Hilfe kommen wollte. Doch kaum hatte er fast Nina erreicht, die vor Schmerzen auf den Boden gesunken war und sich hysterisch weinend die Hand hielt, da schnellte die Tür wieder auf und traf ihn mit voller Wucht an der Schläfe. Wie gefällt stürzte er zu Boden, Blut spritzte aus einer Platzwunde auf den unglaublich weichen, cremefarbenen Veloursteppich.
»Engelbert! Tu etwas! Darius!«, schrie Tigris zornig und schoss ins Wohnzimmer zu den Verletzten.
Darius holte unvermittelt aus und schleuderte eine grün glühende Kugel auf den Daimons vor sich. Doch dieser fing sie wie einen Ball auf, wo sie zu Funken zerplatzte.
»Hast du denn wirklich vergessen, was für Spiele wir mit dir zu spielen pflegten, oh Lämmchen?«
Die Frage war nur rhetorisch gemeint, denn gleich darauf schoss ein blau glühendes Licht-Seil aus den Händen des Daimons. Darius schrie auf und hielt sich die Hände vor seinen Hals, doch es sollte ihm nichts nützen. Das Seil fand mühelos einen Weg zwischen seinen Fingern hindurch, und so sehr Darius auch daran zerrte - es schlang sich in Zeitlupe um seinen Hals.
»Nein! Bitte nicht! Hört auf!« Sein Flehen ging in ein Röcheln über.
Tigris sah nur noch, wie sich das andere Ende des Seils unerbittlich zum barocken Lüster der Flurdecke emporreckte, während Darius zu ersticken drohte. Und Engelbert hatte sie anscheinend verraten: Es war keine Spur mehr von ihm zu sehen. Stattdessen war sie umringt von den schockierten, übrig gebliebenen drei Jugendlichen, zu ihren Füßen der ohnmächtige, blutende Rasta-Junge und die wimmernde, am Boden kauernde Nina, die die Arme und sich geschlungen hatte und sich hin- und herwiegte.
Da kam auch schon einer der Daimons mit übertrieben gemessenen Schritten auf sie zu.
»Die Tür zum Garten! Rennt!«, brüllte Tigris. Noch nie im Leben hatte sie sich so wütend und empört gefühlt. Darius stand nur noch röchelnd auf seinen Zehenspitzen, während sich das Seil immer straffer spannte, Nina war nicht mehr ansprechbar, ihr Freund immer noch ohnmächtig...
»Lasst sie in Ruhe! Ihr wollt das hier, nicht wahr?« Mit zornbebenden Fingern fischte sie den verfluchten Anhänger aus ihrem Top.
»Oh ja«, krächzte der Daimon und blieb unvermittelt stehen, die Augen begehrlich auf den Anhänger fixiert.
»Ist d-das Azanthus, mit dem du sprichst?«, fragte Norbert noch mit großen, schreckgeweiteten Augen, dann tat er es Marco und René nach, die schon die Glastür erreicht hatten und hektisch den Hebel nach unten drückten.
Plötzlich flüsterte Marco: »W-was ist das?«, und hielt inne. Die ganze Scheibenfront samt der Tür daneben wackelte und zitterte. Urplötzlich rollten sich die Bambusjalousien blitzschnell nach oben, und kaum, dass sie die stockfinstere Nacht hinter den Fenstern entblößt hatten, explodierte das Glas mit einem markerschütterndem Knall und regnete als scharfe Splitter auf die drei schreienden Jungen nieder.
»Ich hasse euch!« schrie Tigris, von wildem Hass geradezu aufgestachelt und marschierte ohne Nachzudenken an dem verdutzten Daimon vorbei in den Flur, geradewegs auf den anderen Daimon zu, der ungerührt Darius’ Todeskampf ansah.
Ihre Hand prickelte, als ob tausend wild gewordene Ameisen dort umherkrochen.
»Monster! Verdammte Brut! Ich zermalme euch, ich verwüste eure Eingeweiden, ich versenge euch zu Nichts!« Mit einem wütenden Aufschrei holte sie aus und schleuderte etwas von sich. Eine tiefrote flache Scheibe, die schnell rotierte, flog dem Daimon mitten durch den hässlichen Kopf, beschrieb eine enge Kurve, durchtrennte dabei das Seil, an dem zuckend Darius hing und schoss dann ins Wohnzimmer.
Darius stürzte zu Boden, wo er regungslos liegen blieb, während der Daimon wütend und schmerzerfüllt vor ihr umhertaumelte, die Spinnenfinger vor dem Gesicht, das wie Wachs auseinander zulaufen schien.
Fassungslos hob Tigris ihre Hand und betrachtete sie ungläubig. Hatte sie das bewirkt? Das merkwürdige Gefühl, das für Sekunden von ihr Besitz ergriffen hatte, verflüchtigte sich mit jedem Herzschlag. Wie stark, wie zornig, wie unbesiegbar sie sich eben gefühlt hatte!
»Wer hätte das gedacht? Du bist ja gar keine Ruferin, sondern ein Performer, wie unser kleines Lämmchen...«
Erschrocken fuhr Tigris herum. Hinter ihr stand der zweite Daimon, auf der Spitze seines dürren Zeigefingers balancierte er die rotierende Scheibe. Tigris konnte deutlich ein feines Gespinst aus weißen glühenden Linien sehen, die seine Hand bedeckten.
»Ergreif sie!«, röchelte der Daimon aus dem Flur, dem nun das halbe Gesicht fehlte.
Es blieb nur noch ein Ausweg.
Ohne weiter zu überlegen, rannte Tigris blitzschnell in den Flur zur Treppe, die in das obere Stockwerk führte, nur wenige Schritte entfernt von dem geschwächten Daimon.
Doch schon vibrierten die Stufen bedrohlich unter ihren Füßen. Dennoch schaffte sie es, noch einige Absätze zu nehmen. Dann klappte jedoch das Holz unter ihr schräg weg, aus der Treppe wurde eine steile Rutschbahn. Und nur weil sich Tigris verzweifelt ans Holzgeländer klammerte, glitt sie nicht nach unten ab.
»Wer will da noch ernsthaft behaupten, wir hätten kein Herz für Kinder?« Zum ersten Mal hörte sie die beiden Daimons kichern, ein Laut wie altes, knochentrockenes Laub im kalten Wind.
Dann schwiegen sie, auch Tigris spitzte die Ohren.
Sirenen näherten sich dem Haus! Dem Geräusch nach mehrere Polizei- oder Krankenwagen.
›Hoffentlich beides‹, dachte Tigris und warf einen Blick hinunter. Darius lag immer noch regungslos auf dem Steinboden.
›Bitte, Gott, lass ihn nicht tot sein. Lass niemanden tot sein. Bitte nicht.‹, flehte sie innerlich. Eine der ersten Tränen rollte aus ihren Augen die Wangen hinab.
Plötzlich glitt dicht am Fuß des Geländers im ersten Stock eine Hand über den Boden, bog herum und kam auf sie zu. Der Anblick war so grotesk, dass Tigris einfach nur perplex hinstarren konnte. Wer konnte seinen Arm dermaßen verlängern, als wäre er aus dehnbarem Gummi?
›Engelbert?‹, dachte sie überrascht, denn sie glaubte dort oben einen schwarzen Hemdzipfel zu sehen.
»Na na na!«, grollten die Daimons unter ihr und schossen blau glühende Kugeln in den ersten Stock. Eine davon traf die Hand, die zusammenzuckte und fortgezogen wurde.
»Scheiße!«, stöhnte Engelberts Stimme irgendwo im ersten Stock.
Der Lärm der Sirenen kam nun aus unmittelbarer Nähe des Tores. Funkstimmen hallten durch die Nacht, blaues und rotes Licht fiel durch das Glasfenster über der Eingangstür.
»Genug der Albernheiten«, knurrte der unverletzte Daimon. Er machte eine hohle Hand, in der ein kurzer Feuerschein aufglühte. Etwas Leuchtendes flog aus den Spinnenfingern und landete anmutig auf Tigris’ Hand, die fest einer der Streben des Treppengeländes umklammerte. Es war ein Schmetterling - aus Flammen. Sein Feuer brannte bereits eine Blase auf ihren Handrücken, und sie versuchte, weder aufzuschreien, noch loszulassen, presste die Zähne aufeinander. Doch es ging nicht. Mit einem erstickten Stöhnen ließ sie das Geländer los und glitt hinunter, genau vor die Füße der Monstren.
Sich die verbrannte Hand haltend, starrte sie zu ihnen empor.
»Und nun schreiten wir zum Höhepunkt dieser Nacht«, wisperten die beiden gleichzeitig. Der Rechte beugte sich hervor und strich mit seinen grauen dürren Fingern über ihre Wange. Es fühlte sich keineswegs wie die Hand eines Menschen an. Weder Kälte noch Wärme ging von diesen Spinnenfingern aus, noch hatten sie überhaupt eine feste Beschaffenheit, als sie an Tigris' Hals entlang fuhren, vielmehr spürte sie ein Vibrieren, als ginge eine Kraftfeld von ihnen aus.
»Da ist ja das kostbare Kleinod.« Die Finger strichen langsam die silberne Kette entlang, während sich eine Vielzahl Schritte näherten. Dann hämmerte jemand gegen die Haustür und rief: »Polizei! Aufmachen!«
»Nimm ihn, wir müssen verschwinden«, drängelte der verletzte Daimon.
Entschlossen packte sein Zwilling das Pentagramm - und fing sofort an, sich zu schütteln, als jagte Starkstrom durch ihn hindurch.
»Verflucht!«, jaulte der Andere auf und riss ihn fort. Dann umarmten sie sich, erglühten mit einem Mal in strahlendem Licht voller hellblauer Blitze und waren zu einer Lichtsäule geworden, die sich rasend schnell um sich selber drehte und dabei im Fußboden verschwand.
»Tigris, verschwinde! Die Polizei darf dich hier nicht finden!«, hörte sie Engelbert rufen, während plötzlich das Holz der Tür zu splittern begann: Die Polizisten bearbeiteten die Tür mit einem Beil.
Unschlüssig stand Tigris wie angewurzelt. »Aber die anderen! Darius!« Sie warf sich auf den Boden und drehte ihn auf den Rücken. Ein kaum hörbares Stöhnen ließ ihr dennoch einen Stein vom Herzen fallen.
»Mach schon! Hau ab!«
»Und du?«
»Ich... bin unpässlich für ein paar Minuten. Los! Ich habe vorhin ein Loch in die Gartenhecke gemacht. Deine Mutter kurvt irgendwo da draußen herum und sucht dich! Benutz zur Abwechslung mal dein Handy!«
Da endlich setzte sich Tigris endlich in Bewegung und rannte ins Wohnzimmer.
Obwohl es ihr das Herz brach, die blutüberströmten Jugendlichen regungslos dort liegen zu sehen, hielt sie nicht inne und ging tapfer geradewegs zur glaslosen Tür. Unter ihren Schuhen knirschten und knackten die Scherben.
Ohne sich noch einmal umzusehen, tauchte sie in den stockfinsteren Garten ein, rannte über die Wiese und hielt sich dann dicht an der hohen Hecke, wo sie schnell die beschriebene Öffnung fand.
Bevor sie auf die einsame Straße der feinen Eigenheimsiedlung trat, steckte sie vorsichtig den Kopf ein wenig aus dem schützenden Dickicht des Geästs um sie herum. Doch niemand war zu sehen, alles war offensichtlich vor dem Haus der Ullrichs versammelt.
Blitzschnell huschte sie aus der Hecke auf die Straße, nahm eilig ihre Stöckelschuhe in die Hände und rannte barfuss davon, weg von dem schrecklichen Ort.
Nun wusste sie, weswegen ihre Mutter den Bernstein gewählt hatte. Jetzt erst wurde ihr auf schmerzhafte Weise klar, dass Ember völlig recht gehabt hatte:
›Hättest du einen Tag lang das Xendium - du würdest uns bemitleiden. Und vor allem dich selber. Es ist nichts Bewundernswertes an einer Fähigkeit, die dich so oder so eines Tages entweder umbringt, zum Krüppel werden lässt oder dir einen Lebensabend im Bett mit den Augen starr zur Decke beschert.‹
Und genau so war es.
Endlich verstand sie auch, wieso manche wie Ilvyn sich geradezu panisch an den Glauben an die Hohen Erzengel klammerten - es gab ihnen Hoffnung, machte ihnen Mut im Kampf gegen Dämonen, denen zumindest die Wandler und Rufer nicht entfliehen konnten.
Es gab kein Entkommen vor ihnen, nicht außerhalb der gesicherten Arxes. Doch auch dort konnte man sich nicht einfach vor ihnen verstecken und die Zeit verstreichen lassen, in der Hoffnung, der Kelch ginge an einem vorüber. Jede Untätigkeit, jede Unachtsamkeit wussten die Dämonen zu ihrem Vorteil zu nutzen, um ihre Bemühungen voranzutreiben, die Welt zu zerstören. Aber wieso? Gab es außer abgrundtiefer, unwandelbarer, gottgegebener Bosheit einen Grund für diesen uralten Hass?
Den Xendii blieb eigentlich gar nichts anderes übrig, als sich ihnen in Todesverachtung entgegen zu werfen, waren sie doch im Gegensatz zu den anderen Menschen in der Lage, Dämonen zu vernichten.
Opfere dich für die Welt - oder die Welt wird mit dir zusammen geopfert. Darauf lief es hinaus.
Nein, das war wahrhaftig kein Privileg.
Xendium war ein Todesurteil.
Es lieferte jeden, bei dem es ausgebrochen war, unweigerlich den Daimons aus.
Aber nicht jenen im Grunde harmlosen Kreaturen wie die drei Daimons, die sie auf eine Spritztour entführt hatten, sondern solchen wie den grausamen Zwillingen, die ohne zu zögern töten würden und selbst vor Kindern nicht Halt machen. Und selbst sie stellten noch nicht das wahre Aufgebot. Sie waren nur die Handlanger.
›Kein Wunder, dass du so geworden bist, Darius‹, dachte sie voller Mitgefühl. ›Ich will nicht wissen, was sie dir alles angetan haben.‹
Als sie sich in sicherer Entfernung glaubte, hockte Tigris sich in den schützenden Schatten eines einsamen Wartehäuschen an einer Bushaltestelle und wählte die Handynummer ihrer Mutter.
»Tigris! Wo bist du, Schatz?«, drang kurz darauf die aufgeregte Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr.
»Bei einer Haltestelle namens ›Orleansstraße‹«, hauchte Tigris mit kläglicher Stimme. »Mama, komm schnell! Bitte komm schnell, es ist Furchtbares passiert.«
»Bist du verletzt?«
»Nein... aber... ich kann nicht mehr... ich will nicht mehr. Es ist alles so grauenhaft. Sie sind grauenhaft!« Endlich brachen sich die aufgestauten Tränen ihre Bahn. Leise begann Tigris zu weinen, während ihre Mutter beruhigend auf sie einzureden versuchte.
»Du musst tapfer sein! Was ist passiert, hat man dich angegriffen?«
In kurzen stockenden Worten, die sie nur mehr flüsterte, berichtete Tigris von den Vorfällen.
»Die Polizei? Sie dürfen dich nicht erwischen, Spätzchen. Alles, nur das nicht! Wir müssen nach London, koste es was es wolle. Das ist unsere einzige Chance! Verdammt, ich brauche bestimmt mindestens eine Viertelstunde, bevor ich bei dir bin. Versteck dich irgendwo in der Nähe, hörst du? Hörst du mir zu, Liebes?«
Tigris wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jeansjacke über das tränennasse Gesicht. »Ja. Mach schnell, ich leg auf, mein Akku ist bald leer, hab vergessen, es aufzuladen.«
»Gut. Ich beeile mich!«
Tigris würgte einen Schluchzer hinunter, holte tief Luft und stand auf, um sich nach einem sicheren Versteck umzusehen. Bald würde sicher ein Streifenwagen die Gegend durchkämmen. Das Schlachtfeld in Norberts Haus sah nach Raubüberfall aus. Und niemand würde es glauben, wenn sie oder Darius von den Daimons anfangen würden.
»Wohin sonst würden die Menschen uns stecken, als in die Psychiatrie«, murmelte sie niedergeschlagen. Hoffentlich konnte man ihr bei PAGAN das verfluchte Amulett abnehmen! Sie wünschte sich nichts sehnlicher - inbrünstiger, ehrlich gemeinter wie noch nie - als wieder ein völlig normales Leben zu führen; hoffte inständiger als jemals zuvor und aus ganzer Seele, bald nichts mehr mit all dem zu tun haben.
›Aber ob man so ein selbstgewähltes Exil wirklich ertragen könnte, mit dem Wissen um die Wahrheit? Ich glaube, ich könnte es nicht. Mit einem kleinen Bernstein ist es möglich, die Aura des Xendiums für die Dämonen zu verwischen. Erinnerungen kann er jedoch nicht löschen. Bringe ich es fertig, vor dem Fernseher auf der Couch zu liegen, mit der Gewissheit, dass andere Xendii tagtäglich im Kampf gegen die Dämonen sterben?‹
»Ja, ich kann«, entschied Tigris trotzig nach dem Gedanken an Embers Worte. Sie sah hinauf in den bewölkten Himmel. »Sicher kann ich, ganz bestimmt. Doch, das glaube ich wirklich...«
Sie knetete mehr vor Unsicherheit als vor Kälte ihre Hände.
Da fiel ihr Blick beim Herumspähen auf einen Kirchturm, der hinter den Häusern an der Bushaltestelle in den bewölkten sternlosen Himmel ragte.
Vielleicht konnte sie sich dort verstecken? Aber was sollte sie dem Geistlichen erzählen, der dort wohnte? Obwohl... Sie konnte ihn zumindest in ein Gespräch über den Sinn des Lebens verwickeln, bis ihre Mutter da war.
›Ich könnte dem Priester erzählen, dass ich verzweifelt bin und am Rande des Selbstmordes stehe,‹ überlegte sie. ›Was ja auch nicht ganz gelogen ist. Und dann wird er natürlich versuchen, mich davon abzubringen. So könnte ich Zeit schinden. Einen Versuch ist es ja wert.‹
Sie schrieb eine letzte SMS an ihre Mutter ›BIN IN DER KIRCHE HINTER DEN HÄUSERN‹ und ging dann eilig die Straße entlang, um irgendwie zu dem Gebäude zu gelangen, wobei sie sich immer wieder nervös umsah, ob nicht plötzlich ein Polizeiauto aus einer Seitenstraße auf sie zugefahren kam.

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Zwölf Steinstufen führten empor zu einem kleinen überdachten Vorhof vor der Kirche aus graubraunem Gestein.
›Sankta-Anna‹ stand auf der bronzenen Tafel neben dem großen bogenförmigen Holzportal. Zu ihrer Erleichterung gab die Tür nach, als sie kurz dagegen drückte.
Vorsichtig trat sie in den weiten, von kleinen Gedenkkerzen erhellten Raum, die auf einer langen Reihe von Tischen an der rechten Seite des Seitenschiffes standen. Niemand saß auf den je zwanzig Sitzreihen, die den Mittelgang zur Linken und Rechten säumten. Dieser führte bis zu dem weiß gedeckten Altar, auf dem sich eine dicke weiße Kerze mit einem goldenen Kreuz befand, die jedoch nicht angezündet war. Hinter der Wand auf dem Altar hing ein großes, dunkles Holzkreuz mit der gemarterten Christusfigur daran, darunter ein weißes Spruchband.

Milliongewinne der Rüstungsmafia
Millionen Tote durch Kriege
Ein blutiges Bombengeschäft
Stoppt diesen Wahnsinn
FRIEDEN JETZT!

›Wie wahr‹, erkannte Tigris betroffen und drehte den Kopf zu der langen Reihe von Kerzen. Auch dort hing ein Spruchband an der Wand.

›Für jeden Krieg eine Kerze - auf dass das Leid nicht aus unserem Bewusstsein verlöscht.‹

»So viele...«. Sie erschauerte und betrachtete traurig das Meer der Flammen.
»Und es werden noch sehr viel mehr werden.«
Langsam ging Tigris’ Blick zurück zum Altar.
Zu seinen beiden Seiten standen die vernichtet geglaubten Daimon-Zwillinge und schauten ausdruckslos auf das Mädchen, das in der Mitte des Ganges versteinert worden zu sein schien.
»Ein alter chinesischer Fluch besagt: Mögest du in interessanten Zeiten leben. Dieses Glück wird deiner Generation zuteil. Äußerst interessante Zeiten sind herangebrochen.«
»Und so sehr der Uralte auch an vielen Fäden gezogen hat - mit seiner unberechtigten Protektion dieser Welt ist es endgültig vorbei. Adé Eden-Projekt. Willkommen Freier Wettbewerb für ALLE Geschöpfe Gottes.«
»Wollt ihr nicht noch einmal meinen Anhänger genauer unter die Lupe nehmen?«, sagte Tigris müde. Sie fühlte sich unendlich leer. Und jetzt war auch noch ihre Mutter unterwegs.
›Mama!‹, durchzuckte es ihren Geist. Wenn diese Monstren ihr etwas antaten! Sie konnte sich gar nicht wehren!
»Wir haben die Bedeutung dieses Kleinods offensichtlich unterschätzt. Kein Unbefugter kann es offenbar an sich nehmen, solange du lebst. Solange du LEBST.«
»Aber auch dich haben wir völlig unterschätzt.«
»Kein Wunder, wo man von dir nur als schwach begabte Ruferin spricht. Dafür gibt es nur eine Erklärung.«
»Doppel-Xendium. Das macht die Angelegenheit ein wenig kompliziert. Wie können wir dich erledigen, ohne selber Schaden zu nehmen? Das will wohlüberlegt sein.«
Tigris' Blick wanderte zur Christusfigur empor. ›Gott! Wenn es dich gibt, hilf mir! Bitte!‹
»Oh ja. Jesus Christus. Jesus von Nazareth...«
Die Daimons wandten ebenfalls ihre Köpfe zur Wand hinter sich.
»Für die einen Gottes Sohn, für einige andere ein kleiner, jüdischer Performer aus alten, besseren Zeiten.«
»Zugegebenermaßen ein erstaunlich machtvoller, charismatischer Mann. Alles andere als friedlich, zumindest was Daimons anging. UNS hielt er nie die andere Wange hin, tsss.«
»Dennoch schmerzlich anzusehen, was ihr aus ihm gemacht habt: Eine angenagelte Blondine.
Natürlich hatte er schwarze Haare und dunkle Augen, wie die meisten seines Volkes. Wie auch Moses und Abraham. Großartige Feinde waren das.«
»Früher war sowieso alles besser.«
»Wie wahr. Gotteshäuser stimmen mich auch immer melancholisch.«
Die beiden nahmen erneut Tigris ins Visier. In ihren hässlichen roten Schlangenaugen spiegelten sich die Flammen der Gedenkkerzen wider.
»Zunächst werden wir deinen Aktionsradius erheblich einschränken.«
Der rechte Zwilling hob den Arm, woraufhin das Holzportal zu ächzen und zu knirschen anfing. Metall klackte - und Tigris wusste, dass die Tür versperrt worden war.
Nicht, dass es sie noch überhaupt wirklich erschreckte. Die Leere in ihr schien jedes Gefühl verschlungen zu haben und hinterließ nichts als gleichgültige Benommenheit.
»Und nun bitten wir dich ganz höflich, deine Kette auszuziehen.«
»Was du zwar nicht tun wirst, aber wir wollen die Etikette schließlich wahren.«
»Ich kann sie nicht ausziehen, sie ist auf mich fixiert, oder wie das heißt«, antwortete Tigris niedergeschlagen und sah hinab auf das Pentagramm. »Sonst wäre ich das Ding schon längst los. Und ich bin auch kein Performer oder sonst etwas. Alles, was ich kann, macht dieses... Ding.«
»Man hat dich also übelst betrogen. Na so was. Jaja, die Lieben Gütigen Sieben Zerrafin. Doch wer wird immer als die einzig Bösen hingestellt: die Shinnn, vorallem der Siebte Shinn.«
»Mittlerweile allerdings nur noch der Vernichtete Siebte.«
»Richtig, ich vergaß... Möge deine Seele in die Ruhmeshallen unseres mächtigen, starken Gottes eingegangen sein, Bru’jaxxelon.«
Als stünde sie gleich neben einem Gong, der geschlagen wurde, explodierte der Name in Tigris' Kopf und hallte tausendfach wider. Jemand schrie markerschütternd, und sie hielt sich die Ohren zu, während sie zu Boden sank. Dann wurde ihr bewusst, dass sie es war, die wie am Spieß schrie, dass es ihre eigene Stimme war, deren Echo von Wand zu Wand durch die hohe Halle sprang.
Abrupt verstummte sie.
Der Anhänger klebte wie ein Magnet auf ihrer Brust, genau über dem Herzen, das gegen ihre Brust sprang, als wolle es hervorbrechen.
»Ein entsetzlicher Name, fürwahr. Entsetzlich und wundervoll zugleich. Wir erschauerten vor Angst in seiner Nähe und bewunderten ihn dennoch. Der Siebte Shinn.«
»Der Seelenfresser.«
»Der Gefallene Zerrafin, verstoßen und verjagt, und wieder zu hohen Ehren als Shinn aufgestiegen, von allen gefürchtet und verflucht! In allem eifriger und erbarmungsloser als die Shinnn selber. Wie es mit Konvertiten eben so ist.«
»Wir wollen ihn auf ewig ehren und uns würdig erweisen.«
Mit diesen Worten sprangen sie vom Altar auf die Sitzreihen, der eine rechterseits, der andere linkerhand. Und während sie von Reihe zu Reihe sprangen, flogen die Gedenkkerzen von den Tischen wie brennende Geschosse, fielen auf die gepolsterten Sitze und setzten sie in Brand.
Tigris erhob sich und wich rückwärts vor den Flammen zurück, die vereinzelt schon meterhoch schlugen.
Die Dämonen machten einen hohen Satz von der letzten Reihe zurück in den Mittelgang und kamen dann im Gleichschritt auf sie zu.
›Lüge! Sie lügen!‹, Raunte es in ihrem Schädel empört und nährte von neuem eine unglaubliche Wut auf die beiden Daimons. Sie streckte die Arme vor sich aus, stellte ohne nachzudenken ihre  Handflächen auf und fühlte, wie Hitze aus ihrem Herzen geradewegs dorthin strömte und als glühende zuckende Blitze aus ihnen hervor schoss, um die Daimons anzuspringen.
Doch die beiden blieben kurz stehen, hüllten sich in ein Netz aus weiß glühendem Gespinst, an dem die beiden Blitze zischelnd zu Funken zerstoben. Dann verschwand ihr Schutz, und sie feuerten ihrerseits Salven aus blauen kleinen Sphären auf Tigris ab, die sich geistesgegenwärtig hinter den Alter warf.
Das war nicht besonders klug gewesen, wie Tigris gleich darauf feststellen musste, als die dicke Kerze dicht neben ihr mit einem dumpfen Geräusch aufschlug. Kein Wunder, wenn die Altarplatte rasend schnell zu Sand zerbröselte, genau wie ihr Sockel, den auch schon die Wandlung erfasst hatte. 
Tigris tauchte blitzschnell empor, schleuderte einige tiefblaue, rotierende Scheiben von sich und hechtete dann zu der kleinen Tür, die sie im Schein des Feuers in der äußersten Ecke der Wand ausgemacht hatte, an der auch das Kirchenkreuz hing.
Ein Tritt, dem ein Aufblitzen unter ihrem Fuß Nachdruck verlieh, brach die Tür aus ihrer Angel.
Eine Wendeltreppe, die nach oben führte, lag dahinter.
Wollte sie nicht verbrennen, musste sie dort hinauf, nach oben in den Kirchturm, auch wenn die Daimons ihr angesichts der Enge unangenehm nahe kommen würden.
Sie nahm mehrere Stufen auf einmal, während von den Daimons nichts zu sehen war, wie sie durch schnelle Blicke nach unten registrierte.
Je weiter sie sich von den fauchenden Flammen entfernte, umso deutlicher trug die Luft Sirenengeheul heran.
Die Feuerwehr, natürlich!
Endlich erreichte sie den quadratischen Dachstuhl, wo sich die Kirchenglocke befand, dessen vier breiten, hohe Fensteröffnungen kein Glas hatten und ein kalter Wind energisch an ihren Kleidern und ihrem Zopf zerrten.
Sie stürzte an eines der Fenster und sah hinab. Vier Feuerwehr-Wagen standen vor der Kirche, die rot gekleideten Feuerwehrmänner waren schon eilig dabei, die Schläuche zu entrollen und die Hydranten anzuschließen. Aus allen Straßen strömten zudem unzählige Schaulustige und besorgte Bürger zu St. Anna, wo sie so nah wie möglich stehen blieben, um nichts von dem Spektakel zu verpassen.
»Mama!«, flüsterte Tigris, als sie den Fiat Panda in einiger Entfernung auf der Straße unter sich entdeckte, wo er nur im Schritt-Tempo vorankam und schließlich stehen blieb. Eine kleine, schwarzgekleidete Gestalt kam aus dem Wagen hervor und rannte die Straße zur Kirche entlang.
Tigris schossen die Tränen in die Augen.
»Welch ein Ereignis. Von nah und fern kommen die Menschen, um es sich anzusehen.«
»Bald werden ganze Städte brennen! Und von nah und fern werden die Daimons kommen, um es sich anzusehen.«
Die beiden Daimons hatten sich, wie nicht anders zu erwarten, direkt im Kirchturm materialisiert.
»Treppensteigen ist nicht eure Stärke, was?«, stieß Tigris entnervt hervor.
Die beiden standen unter der Glocke und spähten in die Finsternis hinauf. Und schon begann sie hin- und her zu schwingen, wie der große Klöppel in ihr. Als er gegen das dicke Metall schlug, ließ der Ton den Boden erzittern. Tigris Gehör machte die Überdosis Dezibel jedoch nicht mit und streikte. Stille umfing sie schlagartig. Verwirrt schlug sie sich immer wieder auf die Ohren, nicht ahnend, dass ihr gleich etwas viel Schrecklicheres widerfahren sollte.
Die Daimons sahen sich kurz an. Dann standen sie im nächsten Moment gleich zu Tigris beiden Seiten, hakten sich bei ihr unter und sprangen mit ihr auf die Brüstung.

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Schon als sie aus der Ferne den Rauch aufsteigen sah, hatte Danubia das Gefühl, gleich ohnmächtig vor schmerzhafter Angst zu werden. Das ganze Villenviertel war voller Spuren, die sie nur zu gut kannte. Reyk und Rudan hatten sie hinterlassen, zwei besonders üble Individuen aus dem Volk der Devnia, das machtvollste Aufgebot, das die niederen Dämonen zu bieten hatten. Gleich nach ihnen folgte in den Lehrbüchern auch schon die nächsthöhere Stufe von Dämonen: die Armeen der Satane. Wann immer ein Satan der Shinnn vernichtet worden war - die Shinnn wählten stets einen der Devnia aus, um durch ein sagenumwobenes geheimnisvolles Ritual aus ihm einen neuen Satan zu erschaffen, was in den Lehrbüchern der Allianz als ›Unheilige Taufe‹, bei PAGAN mit ›Empowerment‹ bezeichnet wurde. Aber für PAGAN waren die Satane auch nichts anderes als Melegonin, die für die Shinnn kämpften. Welch Blasphemie, dieses Ungeziefer mit den heiligen Heerscharen der Zerrafin in einen Topf zu werfen.
›Sie haben Tigris!‹, hämmerte es in ihrem Kopf, und fast hätte sie jemanden umgefahren, der ebenfalls auf dem Weg zur Kirche war. Die Menschenmenge wurde immer dichter, bis sie stehen bleiben musste. Sie sprang aus dem Auto und drängte sich panikerfüllt durch die Ansammlung.
»Oh mein Gott! Tigris!« Danubia schlug fassungslos und tränenblind die Hände vors Gesicht.
Flammen schlugen aus den geborstenen Fenstern der Kirche, kämpften trotzig brüllend gegen die Wasserfontänen an, die die Feuerwehrmänner gegen sie richteten.
Danubia begann zu zittern, dann hielt sie es nicht mehr aus und schrie wie von Sinnen den Namen ihrer Tochter.
»Oh Gott, jemand scheint da drin zu sein!« »Meine Güte, die arme Frau!«, raunte es um sie herum. »Der Krankenwagen!« »Man muss ihr ein Beruhigungsmittel geben!«
Obwohl Danubia sich wehrte und zur Kirche durchbrechen wollte, packten zwei Männer sie und versuchten sie mit aller Kraft zu dem Krankenwagen zu bringen, der angekommen war - eine erstaunlich mühselige Angelegenheit bei der zierlichen Person. Doch Danubia hatte die blanke Hysterie erfasst. Abwechselnd schrie sie nach Tigris und brüllte vor Seelenqual.
»Ein Arzt, diese Frau braucht dringend einen Arzt!«, riefen die Männer, als sie endlich die sich windende und außer Kontrolle geratene Frau zum Rettungswagen geschafft hatten. Ein junger Krankenpfleger redete beruhigend auf sie ein und sah sich nach seinem Kollegen mit der Beruhigungsspritze um.
»Meine Tochter ist noch in der Kirche! Die gottverdammten Dämonen werden sie töten! Tut etwas! Tut endlich was!«, stammelte Danubia. Die Wirkung der üblichen Beruhigungsmittel, mit denen man sie als junges Mädchen schon ruhig zu stellen versucht hatte, setzte bei jemandem wie Danubia erst sehr viel später ein.
»Sie ist durchgedreht!« »So etwas kann einen den Verstand kosten...«, flüsterte es um sie herum aus der Menge der Schaulustigen.
Da ertönte mit einem Mal die Kirchenglocke.
Sämtliche Köpfe warfen sich in den Nacken und starrten zum Kirchturm empor.
Entsetztes Murmeln brandete aus der Menschenmasse auf.
Danubias Stimme kam nur noch kraftlos und heiser über ihre Lippen: »Ti...?«
Ihr einziges Kind stand dort oben auf der Brüstung und drohte, von Reyk und Rudan hinabgestürzt zu werden.
Für alle anderen Menschen aber sah es so aus, als stünde das Mädchen völlig allein dort oben, während ihm jeder Fluchtweg durch das Feuer in der Kirche abgeschnitten worden war. Was für eine dramatische Situation! Oder hatte sie das Feuer gelegt und wollte nun Selbstmord begehen? Zudem machten nun auch die Vorgänge im Hause Ullrich die Runde: Hatten die Rettungskräfte nicht vor kaum mehr als einer halben Stunde sechs schwerverletzte Jugendliche aus der verwüsteten Villa geborgen? Einige aus der Menge der Schaulustigen hatten die Bahren selber gesehen, auf denen die übel zugerichteten Körper zu den Krankenwagen getragen worden waren.
»Leiter ausfahren!«, brüllte einer der Feuerwehrmänner.
»Alles wird gut!«, sprach ein anderer Sanitäter Danubia eindringlich an. Wieso hatte das Mittel überhaupt keine Wirkung auf diese Frau? »Sie werden sehen, gleich können Sie sie wieder in die Arme schließen.« Er setzte sein zuversichtlichstes Gesicht auf und sah empor zum Turm, Danubia beruhigend über den Rücken streichend. Dann verharrte seine Hand still auf ihrer Schulter, während seine Miene regelrecht in sich zusammenfiel.
Danubia riss die Augen auf und sank hart auf die Knie, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der sich jedoch nur noch wie das Krächzen eines Sterbenden aus ihrer Kehle quälte.
Tigris stürzte aus dem Kirchturm, fiel wie eine Puppe hinab zur Erde, begleitet vom einstimmigen Aufschrei der Menschenmenge.

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»Wir müssen in dem Moment unten stehen, in dem sie den Boden rammt und stirbt«, raunte ein Daimon dem anderen zu. Beide verschwanden augenblicklich vom Turmfenster.
Danubia war wie erstarrt, ihre Augen weit aufgerissen. Das Drama schien nicht durch ihren Geist durchgedrungen zu sein.
Dann ließ ein dumpfes, endgültige Geräusch sie zusammenfahren.
Tigris' Körper war auf den harten Asphalt aufgetroffen. Das Geräusch ihrer brechenden Knochen durchbohrte Danubia und schüttelte ihren eigenen Körper wie unter Stromschlägen.
Endlich erlöste eine gnadenvolle Ohnmacht sie von dem Grauen.
Die Sanitäter waren für Sekunden vor Schock gelähmt, wie die Menschen rings um sie.
Die Gelegenheit war günstig.
Aus dem Nichts schossen blitzschnell die beiden Devnia zum leblosen, auf dem Rücken liegenden und blutüberströmten Körper des Mädchens, um ihr das Amulett vom Hals zu reißen.
Schon hatte der eine es gepackt, da schüttelte es ihn erneut durch.
»WAS?!«, brüllte der andere Daimon ungläubig.
Das Mädchen war doch tot! Ihre Glieder lagen unnatürlich verrenkt auf dem Kopfsteinpflaster, unter ihrem Kopf breitete sich eine Blutlache aus, in der sich das Feuer widerspiegelte.
Und doch zerfraß orangerote Glut denjenigen, der die Hand auf die Leiche gelegt hatte, während der andere als Lichtsäule in den Boden fuhr und verschwand, als die Sanitäter endlich aus der Erstarrung erwachten und mit der Trage zu Tigris rannten.
»Meine Güte«, murmelte der jüngere der beiden erschüttert. »Nur noch wenige Meter mit der Leiter, und sie wäre in Sicherheit gewesen.«
Sie hoben die Leiche des Mädchens auf die Bahre und trugen sie zum Krankenwagen, vorbei an den erschütterten Gesichtern der Menge.
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Aber Tigris war nicht tot.
Sie hörte ihren Herzschlag wieder einsetzen und wie Blut gluckernd durch ihre Adern zu strömen begann.
Außerdem, wie ihre Knochen mit unheimlichen, fein knisternden Geräuschen in Sekundenbruchteilen wieder zusammenwuchsen, was sich anfühlte, als liefen Millionen von Ameisen durch ihren gesamten Körper.
Dann öffnete sie die blassen Lippen und sog geradezu gierig die Luft ein.
Verwirrt ließ sie ihren Blick umherwandern.
Sie lag in einem Krankenwagen, der auf dem Weg in irgendein Krankenhaus war.
Am Kopfende ihrer Liege saß ein Sanitäter, den Kopf in die Hände gestützt und in Gedanken versunken.
Langsam wandte sie den Kopf.
Ein regungsloser Körper lag auf einer Bahre neben ihr.
›Mama!‹, schrie es in ihr auf. Sie fuhr hoch und sah entsetzt auf ihre Mutter.
Jemand hinter ihr schrie panikerfüllt auf, so dass Tigris sich erschrocken ihm zuwandte. Der junge Sanitäter war vor Angst geradezu gelähmt, seine furchtgeweiteten Augen konnten sich von dem schaurigen Anblick dennoch nicht losreißen: große, helle Bernstein-Augen leuchteten in dem von getrocknetem Blut verschmierten Gesicht des Mädchens wie Sterne.
Dann setzte bei ihm ein unkontrolliertes Zittern ein. Ohne es bewusst wahrzunehmen, tastete seine rechte Hand nach der nächstbesten Waffe und erwischte ein dünnes silbernes Rohr, einem Kugelschreiber ähnlich.
Völlig von Sinnen vor Entsetzen rammte er das Ding in Tigris' Arm und drückte das andere Ende.
Verblüfft von dem unerwarteten, schmerzhaften Stich sah das Mädchen erst ihn und dann das Röhrchen an.
Prickelnde Hitze breitete schlagartig sich von der Einstichstelle in ihrem Arm aus. Rasend schnell wurden ihre Muskeln gelähmt und ihr Verstand vernebelt.
Während sie wieder zurück auf die Bahre sank, nahm sie wie in Zeitlupe den Fall des silbernen Röhrchens wahr.
Calmidoron 66.6
Dann trat sie weg.
Der Sanitäter atmete wie nach einem 1000-Meter Lauf und konnte sich kaum beruhigen.
»Das gibt es nicht. Das gibt es einfach nicht«, stammelte er ununterbrochen, die Arme fest um sich geschlungen und irre hin und herwippend.
Hoffentlich waren sie gleich in der Universitätsklinik angelangt!
Dieser Fall würde für ziemliches Aufsehen sorgen, soviel stand fest.

Einige Tage später berichteten die Lokalanzeiger Düsseldorfs tatsächlich vom Raubüberfall in einer Villa und dem verheerenden Feuer in der St. Anna-Kirche gleich in der Nähe, das der Gemeindehirte in seinem Pfarrhaus jedoch merkwürdigerweise vollkommen verschlafen hatte. Es sollte von einem jungen Mädchen gelegt worden sein, das vom Kirchturm in den Tod gesprungen war.
Von Tigris' wundersamer Auferstehung jedoch stand in keiner einzigen Zeitung etwas. Lediglich eine kurze Notiz besagte, dass ein junger Zivildienstleistender, der bei dem Brand als Sanitäter dabei gewesen war, über die Geschehnisse den Verstand verloren habe und in die Geschlossene Abteilung der Rheinischen Landeskliniken eingewiesen werden musste.
 

© I.S. Alaxa
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Und schon geht's weiter zum 7. Kapitel...

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