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DAIMAGOG online
*** daimonkratisch *** überdimensional *** unparteiisch ***
ehrlich ***
Nur bei DAIMAGOG:
Ausführliche Berichterstattung und detaillierte Hintergründe
zum Aufsehen erregenden Verschwinden des gefährlichsten Massenmörders
aller Zeiten!
Aktuell:
* Omrishah muss gehen *
Dem Eilantrag der MDL wurde stattgegeben - nun muss der Einzige
Eloyah augenblicklich von all seinen Ämtern zurücktreten und
wird unter bewachten Hausarrest gestellt. Zu den Vorwürfen der Beihilfe
zu dem Ausbruch befragt, schwieg Omrishah.
* MDL bietet Z7 volle Unterstützung an *
Präsident Luz’farion (MDL, ShinnNation) hat angesichts der
Katastrophe den Zerrafin als auch den FreeDaimons sofortige Unterstützung
und Zusammenarbeit mit seinen Melegonin-Armeen angeboten. Der Präsident
wörtlich:
›Nur durch Einheit und entschlossenes Handeln können wir Daimons
diesen fanatischen Seelenterroristen aufspüren und vernichten. Die
MDL wird nicht eher ruhen, bis Bru’jaxxelon gefasst ist. Die Daimonsion
kann sich auf uns verlassen!‹
* Mehrheit hinter MDL *
Die FD reagierte bisher unentschlossen auf das Angebot der MDL,
was jedoch die Daimonheit anscheinend empört. In einer gedanklichen
Blitz-Umfrage war eine klare Mehrheit für ein Bündnis sämtlicher
Daimon-Parteien.
Hintergrund-Reportagen:
Aus dem Nichts in das Nichts - Die rätselhafte Herkunft des
Serienkillers und seine unglaubliche Flucht
Die Spur des Kannibalen - Die Morde und Verbrechen des Psychopathen
Die Geschichten des O. - Was verschweigt der Einzige Eloyah
über Bru’jaxxelon?
Mystic Monster - Warum der Seelenfresser der prophezeite Antidaimon
des Shinnnuismus sein könnte
› Kuss aus Eis und Schmerz ‹ - Die letzten Worte der Opfer: Eine
unheimliche Begegnung der tödlichen Art
› Nichts als Hass gegen Alles ‹ - Eine Psychotherapeutin erzählt
über ihre erste und einzige Begegnung mit dem Seelenfresser in der
Hochsicherheitsgalaxis
TV-Tipp
*Kanal Contra777 *
SYS Save your soul - Horrorfilm.
Temsi (Temsi), ein junger Cherubi, wird von Bru’jaxxelon entführt.
Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Werden seine Eltern ihn jemals lebend
wiedersehen? Kommissar Sharel setzt sich auf die Fährte des Psychopathen.
Dabei bekommt er unerwartet Unterstützung von den 9 Noxxara der Melegonin
der Shinnn -Dramaturgisch dichte Fiktion, die hektische Schwingungen der
Angst erzeugt-
* PeppTV *
TalkDiS- Gast: Präs. Luz’farion (MDL, ShinnNation). Thema:
Wie sicher sind wir nach dem Ausbruch?
* DaimoVision *
Runde3 - Gäste: Mikkiyell (Z7), Belsabab (MoSh), Zi’Ketabenxx
(ShinnNation). Thema: Krise nach dem Ausbruch - Kommt jetzt die große
Angoleah-Koalition?
* SHINNNEMA*
›Er wird auslöschen alles Sein‹ - Der Shinnuismus und seine
geheimnisvollen Prophezeiungen
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›Vielen Dank auch, Raffiyell, vor allem für die täglichen
Morgenmessen, die ich ab jetzt jeden Tag durchstehen muss, und das vielleicht
mein ganzes Leben lang!‹, dachte Tigris unendlich gelangweilt und außerdem
über alle Maßen missgelaunt. Letzteres lag vor allem daran,
dass sie ihren Geburtstag komplett verschlafen, niemand außer ihrer
Mutter ihr auch nur gratuliert und eine tolle Nacht in einer Düsseldorfer
Diskothek sich erledigt hatte, und zwar gründlich.
Es war Sonntagmorgen und alle Windwibbs, einheitlich gekleidet in
ihre beigen Overalls, hatten sich in der kleinen Kapelle der Burg versammelt.
Durch die Fenster aus buntem Glas fiel die Morgensonne und versprach einen
schönen Vorfrühlingstag, strahlte den Chormitglieder auf die
Häupter, so dass es aussah, als trügen sie Heiligenscheine. Sie
knieten seitlich des Hauptschiffes in der Nähe des Altares auf einer
Erhöhung vor einem marmornen Block und rezitierten Passagen aus der
Weißen Bibel, während die anderen Windwibbs auf den harten Holzbänken
kauerten, die Gesangs- und Gebetsbücher auf den Pulten vor ihnen aufgeschlagen
und die Hände gefaltet.
Lux Livas kniete ebenfalls auf einer einzelnen Holzbank vor dem
schlichten Altar aus weißgrau gemustertem Marmor, den hellbraunen
Lockenschopf gesenkt und inbrünstig im Gebet versenkt.
»Vielleicht lässt er so viele Kanone und Rezitationen
anstimmen, weil er in Wahrheit schläft«, wisperte Tigris Ember
ins Ohr.
»Stimmt. Vielleicht hat er einen Weg gefunden, sich zur richtigen
Zeit aus einer Versenkung zu befreien?« Embers Mundwinkel zuckte.
Ein strenger Blick von Ilvyn, die eine Reihe vor ihnen saß, ließ
sie beide eiligst die Köpfe senken.
Die letzte Rezitation verklang mit einem gesungenen Amen und Lux
Livas hob den Kopf. Tigris fand, er sah immer ernst und besorgt aus, als
zerbräche er sich ständig den Kopf über das Böse auf
der Welt und hätte darüber die schönen Dinge vergessen.
Vielleicht lag das aber auch nur an den schweren Lidern über den blaugrünen
Augen, der steilen Falte zwischen seinen dunklen, dichten Brauen und den
fast farblosen, schmalen Lippen, deren Winkel nach unten zeigten.
›Ich habe ihn nur selten lachen sehen‹, dachte Tigris. Was war nur
in seinem Leben passiert, dass Lux Livas dermaßen freudlos wirkte,
in letzter Zeit mehr denn je?
Der Kanon endete, worauf hin wieder das Sippenoberhaupt das Wort
ergriff.
»In Gott und die Engel vertrauen wir, in Gott und den Engeln
finden wir Trost und Stärke. Geheiligt werde Gottes Name und gesegnet
seien die Namen seiner Heiligen Erzengel«, rief er mit seiner volltönenden,
angenehmen Stimme. »Gesegnet sei Gabriel!«
»Geheiligt sei Gottes Name und gesegnet sei der Name seines
Hohen Erzengels. Gesegnet sei Gabriel!«, raunten die Windwibbs. »Geheiligt
sei Gottes Name und gesegnet sei der Name seines Hohen Erzengels. Gesegnet
sei Michael!«
Insgesamt sieben Mal riefen die Gläubigen auf diese Weise nacheinander
die Namen der Hohen Erzengel: Gabriel, Michael, Raffael, Uriel, Barachiel,
Azariel und Adaliel.
»Lasst uns nun zur Beruhigung unserer Seelen in diesen schweren
Zeiten ›Verloren war ich‹ anstimmen«, rief Lux Livas, was Tigris
gequält aufstöhnen ließ und deswegen wieder einmal böse
Blicke einiger Xendii zufolge hatte.
Ausgerechnet diese Engelsschnulze! Wenn es ein Lied bei der Messe
gab, das sie über alle Maßen unsäglich kitschig und albern
fand, dann dieses. Leider setzte auch schon die Orgel mit den ersten Tönen
des traurigen Chorals ein und alle Windwibbs begannen leise zu singen.
Verloren war ich in der Hoffnungslosigkeit
Lautlos mein Schrei voller Furcht und Qual
Alleine gelassen und dem Tode vermacht
Aber du hattest immer meinen Weg bewacht
Dein Licht ergriff mich mit einem Mal
Vertrieb die entsetzlich eisige Dunkelheit.
Mit deinen weichen Schwingen hülltest du mich ein
Küsstest die Tränen mir vom Gesicht
Blicktest mich an voller verzeihender Güte
Und alles Schlechte, alles Seelengewüte
Fiel ab von mir wie Felsengewicht,
Durch dich, du sanfter allerliebster Engel mein
Ember, auch kein Freund naiver Engelslobpreisungen, warf Tigris einen
verschwörerisch genervten Blick zu und war vollkommen erstaunt, als
er das Gesicht seiner besten Freundin sah: Tigris starrte mit offenem Mund
zum Altar, während ihr Blick ins Leere ging.
Er konnte nicht ahnen, dass die letzten Strophen des Liedes in ihrem
Geist widerhallte, bis es war, als lausche sie einem Kanon, den nur sie
alleine hören könne:
Mit deinen weichen Schwingen hülltest du mich ein
Küsstest die Tränen mir vom Gesicht
Und wieder verlor sie sich in einem kurzen Traumbild. Es war nur
für den Bruchteil einer Sekunde aufgeflackert, kaum deutlich zu erkennen:
Ein Engel umschloss etwas oder jemanden mit strahlendweißen Flügeln,
während ringsum Feuer wütete.
Obwohl sie nicht deuten konnte, was sie sah, überfiel eine
grenzenlose Traurigkeit ihr Herz. Die Tränen quollen ohne Unterlaß
über ihr Gesicht, bis sie schluchzend das kleine Holzpult vor sich
umarmte, die Stirn darauf legte und nicht mehr aufhören konnte zu
weinen, weil ihr die kurze Vision nicht mehr aus dem Kopf ging.
Und auch der Name, der aus den Tiefen ihres Herzens emporgeflüstert
wurde:
Barujadiel.
Er verursachte ein brennendes Gefühl in ihrer Brust, eine Mischung
aus Trauer, Wut und Verzweiflung.
»Tig... was ist denn?« Ember berührte seine Freundin
sachte auf der Schulter, doch Tigris schien vollkommen in ihrer Traurigkeit
verloren zu sein. Selbst als der Choral endete und Lux Livas sie aus dem
Gottesdienst entließ, kauerte Tigris immer noch vor ihrem Pult, Schultern
und Kopf gesenkt, und in unregelmäßigen Abständen erbebend.
Die anderen Windwibbs gingen mit großen Augen an ihr vorbei nach
draußen, tuschelnd oder ihr aufmunternde Worte zuflüsternd.
»Spätzchen, bitte hör auf zu weinen. Alles wird
gut.« sagte ihre Mutter, die tröstend über Tigris' Locken
streichelte, welche wie immer niemals den Versuch aufgaben, sich aus der
beengenden Hochsteckfrisur Strähne für Strähne zu befreien.
»Genau, wir sind doch bei dir!« meinte sogar Antigua.
»Und überhaupt, Tigris, ich mußte anfangs auch
immer bei diesem Lied weinen!«, hörte sie Ilvyns Stimme.
»Weißt du, Schatzerl, es ist nicht schlimm, wegen seines
Schutzengels zu heulen, ist schon gut, vollkommen okay, ich kann sehr gut
damit umgehen.«
Tigris schniefte und schaute hinter sich. Dort stand Engelbert und
sah noch lächerlicher aus, als sie es je gedacht hätte. Sie biß
sich auf die Lippen und barg den Kopf wieder auf ihr Pult, schlang dabei
ihre Arme um sich, damit auch niemand mitbekam, dass auf den vorherigen
Weinkrampf nun eine Lachattacke folgte, die ebenfalls ihren ganzen Körper
durchschüttelte.
»Sie ist immer noch vollkommen verstört, die Ärmste«,
hauchte Ilvyn und streichelte mitfühlend Tigris' Schulter. »Aber
es hilft wirklich, wenn man das Hohe Lied der Engel in der Weißen
Bibel studiert. Wann auch immer ich hoffnungslos und ohne Mut bin, lese
ich diese Stelle, und mit einem Mal ist es, als hätte ich Energie
getankt.«
»I-ist schon okay, gebt mir zwei Minuten alleine mit Engel
- mit meinem Schutzengel«, stieß Tigris mit erstickter Stimme
hervor, woraufhin sich alle, die noch bei Tigris stehen geblieben waren,
in Richtung Ausgang begaben.
»Du sieht absolut doof aus«, bemerkte Tigris dann leise
und hob den Kopf, um sich umzuschauen. Doch sie war alleine mit Engelbert
in der Kapelle. Endlich konnte sie zumindest kichern, wenn sie ihn ansah:
Seine punkige mitternachtsblaue Mähne war einem Kranz aus goldblonden
Löckchen gewichen, statt legerer Kleidung trug er ein langes, glitzerndes
Gewand, ähnlich einem Nachthemd. Und nicht zu vergessen, die kleinen
weißen Flügel, die aus dem oberen Teil seines Rückens ragten.
In der Mitte verwirbelten sich die weißen Federn sogar mit einigen
zart rosa Daunen.
»Das ist alles nur deine Schuld. Bei PAGAN müßte
ich nicht wie eine fette kleine Putte herumlaufen!« Engelbert verschränkte
beleidigt die Arme und sah sie vorwurfsvoll an.
»Ach, würdest du lieber mit netten kleinen Hörner
herumrennen?«
»Manchmal bin ich wirklich nahe dran, dieser Versuchung nachzugeben.
Aber wegen eines bißchen Spaß getötet zu werden, kommt
in meiner Lebensplanung jedenfalls nicht vor. Apropos Spaß: Kannst
du mir mal sagen, wieso du eben so herzerweichend geflennt hast, Schatzerl?«
»Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist. Aber
ich habe öfters solche komische Visionen. Andauernd sprechen Stimmen
in meinem Kopf. Und alles nur wegen diesen verfluchten Amuletts. Kannst
du den Erzengel Raffael nicht bitten, es wieder von mir zu nehmen?«
Sie sah Engelbert mit einer Spur neuer Hoffnung in den Augen an.
»Erwähn das mit den Stimmen im Kopf bloß nicht
gegenüber diesen Spießern, sonst findet wahrscheinlich ›Hexenverbrennung
Reloaded, powered by the Allianz‹ in diesem Kaff statt.« sagte Engelbert
und kratze sich am Hintern. »Sorry, aber das mit dem Glitzer verursacht
juckende Schwingungen. Und außerdem war ich eben in Australien und
habe schon längst eine d-mail an die Zerrafin abgeschickt und überraschend
postwendend eine wütende Antwort bekommen. Darin steht unter anderem,
dass du dich nicht so anstellen sollst, andere wären froh, so eine
Chance zu bekommen und dass es kein Irrtum war, sondern auf Anweisung von
oben kam.«
»Was?« Tigris sprang empört auf. »Soll das
heißen, jemand hat über meinen Kopf hinweg entschieden und mich
auserwählt, ohne dass ich da auch nur ein Wörtchen mitreden konnte?
Vielen Dank, vielen tausend Dank!« Vor Wut kamen ihr wieder die Tränen,
die sie sich mit einer heftigen zornigen Handbewegung aus den Augen wischte.
»Mich brauchst du deswegen nicht anzumachen, meine Idee war
es ganz sicher nicht. Aber ich bin immer noch der Meinung, du solltest
dich besser auf die Socken nach London machen, um dich ausbilden zu lassen.
Ich hab mir die Seminare angesehen, die die Wandler der Allianz besuchen.
Sehr altmodisch, sehr konventionell und überaus fantasielos. Allerdings...
dieser Livas scheint mir insgeheim ein kleiner Revoluzzer zu sein. Hin
und wieder schickt er euch auf Workshops, die PAGAN veranstaltet, natürlich
nur, wenn auch andere Allianz-Sippen einige ihre Leute dort anmelden. Ich
habe heimlich seinen Terminplaner angesehen. Für Mai steht sogar eine
Unterrichtseinheit an, die das Haus Zimberdale angesetzt hat. Wenn das
die Allianz spitzkriegt, ist was los. Zur Zeit ist bei ihnen der Name Zimberdale
nicht besonders hoch angesehen.«
»Lux Livas und Revoluzzer, wie witzig. Das passt zusammen
wie Erzengel und Saufgelage.«
»Dann warte mal ab, bis die Scherzengel inkarnieren...«
»Können wir aufhören, von Erzengel zu reden? Im
Moment reagiere ich ziemlich allergisch auf sie.«
»Das wäre mir auch sehr recht. Jedenfalls solltest du
so schnell wie möglich Schießen lernen, für den Fall, dass
dir irgendwelche Daimons der MDL über den Weg laufen.«
»Ich fange gleich damit an. Wie kommt es eigentlich, dass
du dich mit dieser Gebetsmühle Ilvyn so gut verstehst? Oder liegt
es nur an deinen süßen Taubenflügeln?«
Engelbert sah sie finster an. »Nur weil jemand tiefgläubig
ist, heißt das nicht, dass er dumm ist. Ich mag die Kleine, auch
wenn ich ihre Ansichten bezüglich Engel und Teufel nicht teile. Aber
wir hatten eine sehr ergiebige Diskussion über die Zeiten vor Moses.
Sie hat nämlich ein Faible für alte, apokryphe Schriften, die
man in der Weißen Bibel nicht unbedingt findet. Und sie beklagt sich
wenigstens nicht ausdauernd über ihr Schicksal wie du.«
»Sie hatte von Anfang an Xendium, während mir dieser
Anhänger aufgezwungen wurde!«
»Das Ergebnis ist aber das Gleiche - ihr seid mit Xendium
geschlagen und habt zwei Möglichkeiten. Entweder verkriecht ihr euch
in den Himalaya und heult - oder ihr lernt damit umzugehen.«
»Tue ich doch. Wir haben gleich Unterricht bei Lux Montana.
Wie du siehst, heule ich nicht unentwegt.«
»Nein, aber du denkst immer noch unentwegt nur an deinen Arsch.
Die ganze Excelsior-Rettungs-Aktion wäre unnötig gewesen, wärst
du hübsch artig im Bett geblieben und nicht mit diesem Spinner durchgebrannt.«
Tigris schnaufte betreten auf und besah sich scheinbar interessiert
die Engelsstatuen in den Ecken der Kapelle. Nun, die Idee, mit Darius auszubüchsen,
gehörte wahrhaftig nicht zu den besten in ihrem Leben. »Aber
wenn das mit Darius nicht passiert wäre, wären ich und Mama vielleicht
schon tot, weil wir nach London gegangen wären. PAGAN ist genauso
wie die Dämonen hinter dem Anhänger her.«
»Wie ich hörte, sind sie zwar tatsächlich hinter
einem DiSfakt her, aber nicht hinter deinem. Es ist unglücklicherweise
der MDL in die Hände gefallen, weshalb schon seit Tagen Krisensitzungen
ohne Ende abgehalten werden. Sie haben sogar das schäbige Stillhalte-Angebot
der Allianz wegen der Atlantischen Node angenommen, weil sie nun wirklich
keine Xendii-Kriege gebrauchen können.«
»Das ist sehr vernünftig von ihnen, immerhin. Trotzdem
gehe ich nicht zu ihnen. Und was passiert ist, ist eben passiert. Ich versuche,
solche Aktionen in Zukunft zu vermeiden. Und seitdem ich die Bekanntschaft
mit diesen häßlichen Zwillingen gemacht habe, wird mir das ganz
sicher gelingen.«
Engelbert lachte spöttisch auf. »Na, warten wir’s ab.
Wenn das Wort Katastrophe menschliche Gestalt annehmen könnte, sähe
es dir ungeheuer ähnlich.«
»Ich muß jetzt zum Unterricht. Wie schön für
dich, dass du jemanden gefunden hast, den du totdiskutieren kannst. Oder
sie dich.«, schnaubte Tigris, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte
aus der Kapelle, um ins Hauptgebäude zum Unterricht zu eilen.
Als sie das schwere Eichenportal aufstieß und in die düstere,
spärlich beleuchtete Eingangshalle trat, wartete dort unter dem Porträt
eines längst verstorbenen Sippen-Oberhauptes Lux Livas schon auf sie.
»Ich wollte dir noch einige Dinge sagen, die du wissen und
beherzigen solltest.«
Er ging mit ihr die langen, nach altem Holz riechenden Korridore
und knirschenden Treppen der Burg hinauf zum Unterrichtsraum der Wandler,
während er ihr von ihrem Stundenplan erzählte und über die
Neuerungen sprach, die ab sofort ihr Leben betrafen.
»Einmal in der Woche findet der Unterricht der Wandler bei
anderen Sippen statt, ansonsten werden Lux Montana oder ich euch unterrichten.
Nächste Woche Samstag erfolgt der Unterricht auf Anweisung der Domén
Arx in den USA bei den Flinnbecks. Falls du dann von der Domén Arx
schon zugelassen worden sein solltest, wirst du daran teilnehmen müssen.
Um Konzentration und Zurückhaltung der eigenen Meinung wird allerdings
gebeten.«
»Von wem? Von De Navarris?« fragte Tigris und warf Lux
Livas einen neugierigen Blick zu. Aber er sah besorgt und ernst wie immer
aus, ganz und gar nicht wie ein revolutionärer Geist mit der knielangen
braunen Jacke über dem Overall.
»Von uns allen. Ich habe dich übrigens bereits in der
Domén Arx angemeldet, aber bisher noch keinen Termin mitgeteilt
bekommen, an dem dich ein Beamter von dort kurz prüfen wird.«
Tigris sah ihn missmutig an. »Wieso muss De Navarris überhaupt
von mir erfahren? Ich könnte mich doch hier versteckt halten, oder
nicht?«
»Sie machen immer wieder unangemeldete Stichproben, neuerdings
verstärkt. Es ist klüger, in dieser Beziehung mit offenen Karten
zu spielen. Die Strafen für Vergehen sind drastisch.«
»Aber werden sie nicht erst recht misstrauisch, wenn ich,
Tigris Aurora Windwibb, eigentlich ohne Xendium, plötzlich wandeln
kann?«
Ein überraschendes, feines, verschwörerisches Lächeln
zuckte um Livas’ schmale Lippen.
»Kinder von Xendii, die noch nicht einmal die Anlagen des
Xendiums in sich tragen, sind vollkommen uninteressant für die Domén
Arx, sie machen sich noch nicht einmal die Mühe, sie in irgendein
Register einzutragen. Du existiert für die Allianz also erst mit meinem
Antrag zur Zulassung. Das einzige, das du unbedingt vermeiden musst, ist
zu erwähnen, dass Danubia deine Mutter ist. Alle von uns sind eingeweiht
und werden ebenfalls darauf achten.«
»Warum tust du das eigentlich für mich und meine Mutter,
Lux Livas?« Tigris war stehengeblieben und sah den Sippenobersten
herausfordernd an. »Ich meine, es würde euch doch mehr Vorteile
bringen, wenn ich von der Allianz ausgebildet werden würde. Ich könnte
dann doch als Vorbild herumgereicht werden und die Xendii anspornen, noch
viel lieber Dämonen zu töten. Und vielleicht diese PAGAN-Leute
erledigen? Wurde ich schließlich nicht vom lieben Erzengel Raffael
auserwählt?«
Livas musterte sie - und sah Tigris’ Meinung nach geradezu belustigt
aus.
»Wenn es dein Wunsch ist, für die Allianz zu streiten
- nur zu.
Unserer ist es nicht.
Wir gehören zu denen, die sich der Weißen Bibel verpflichtet
fühlen, sowie ihren Grundsätzen. Dazu wurde die Allianz ursprünglich
gegründet, und zu nichts anderem.
Aber egal welcher Gemeinschaft man sich anschließt - es entbindet
nicht davon, stets wachsam zu sein und selber nachzudenken. Und notfalls
ungehorsam zu sein, wenn das, woran man glaubt, mit dem im Widerstreit
steht, was die Gemeinschaft verlangt. Wir Windwibbs haben uns zu allererst
und schon immer Gott und den Engeln verpflichtet. Und nichts, was diesem
Glauben entgegensteht, wird von uns jemals auch nur in Erwägung gezogen
werden.
In der Allianz sind letztendes Endes auch bloß Menschen vereint.
Und Menschen sind und waren fehlbar.«
»Ihr traut der Allianz also nicht mehr über den Weg?«
Tigris konnte gar nicht glauben, was Livas soeben zugegeben hatte.
Sie waren in einem langen, kalten Korridor im zweiten Stock angekommen,
hinter deren schlichten, dunkelbraunen Eichentüren die Unterrichtsräume
der Seher, Wandler und Rufer lagen.
Als sie den Raum erreichten, aus dem Lux Montanas raue Stimme unverkennbar
durch das dicke Holz drang, antwortete Lux Livas: »Wir - und da ist
unsere Sippe nicht die einzige - trauen einigen Xendii in der Allianz nicht
mehr. Bedauerlicherweise haben sie zuviel Macht und zuwenig Verstand. Eine
katastrophale Kombination. Deswegen müssen wir alle auf der Hut sein.
Du ganz besonders.«
Er legte ihr noch kurz die Hand auf die Schulter, um seine Worte
zu unterstreichen und ging mit gesenkten Kopf davon, ein offensichtlich
sorgenschwerer Mann, der lange Jahre einfach nur das Oberhaupt einer kleinen,
unbedeutenden Sippe gewesen war, die in irgendwelchen Planungen und Strategien
der mächtigen Bündnisse überhaupt nicht vorkam und alles
dafür gegeben hätte, dass es auch so blieb.
Doch schon lange bevor die Sache mit Tigris passiert war, hatte
Lux Livas die Zeichen der Zeit erkannt und versuchte seitdem, in aller
Heimlichkeit und so unauffällig wie möglich seine Sippe auf bevorstehende
Änderungen vorzubereiten und verbotene Kontakte zu knüpfen, die
sich vielleicht als lebensrettend herausstellen würden. Falls es nicht
schon fast zu spät war...
Alles hatte damit begonnen, als er vor wenigen Monaten die Predigt
eines bis dahin unbekannten Xendi gehört hatte, der mit flammender
Zunge ein schreckliches Wort in sein gespaltenes Publikum gebrüllt
hatte. Die einen, zu denen Lux Livas selber gehört hatte, hatten geschwiegen,
weil die Behauptungen und Forderungen Umbriels vollkommen abwegig gewesen
waren und auf einer offensichtlich falschen Interpretationen gewisser Textstellen
der Weißen Bibel beruhten. Andere jedoch hatten begeistert zugehört
und dann dieses Wort wie von Sinnen mitgeschrien - vor allem, da Lux Mimas,
das Oberhaupt der Europäischen Xendii, mit glänzenden, gierigen
Augen dem Redner applaudiert hatte.
Dieses schreckliche Wort, das nur Wahnsinnige in den Mund nehmen
würden, die nichts weniger als einen totalen Krieg aller Xendii untereinander
herbeisehnten: Katharsis.
Die große Reinigung.
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Bis zur Versammlung der fünfzig Delegierten aller Territorien
PAGANs dauerte es noch einige Minuten, weswegen sich Mira, die Kontinentalrätin
Australiens und Präsident Midfield in der Bibliothek ihres Gastgebers
einen Tee gönnten.
Procyon Zimberdale hatte zwar nicht viel für Antiquitäten
übrig, aber dieser Raum war der Lieblingsplatz seines verstorbenen
Vaters gewesen und hatte daher die Modernisierung und Renovierung des alten
Herrenhauses vor den Toren Londons ohne die geringste Änderung überstanden.
Als perfekter Kreis angelegt, maß der Saal zwanzig Meter im Durchmesser
und seine Wände reichten noch einmal die Hälfte davon zu einer
Kuppel empor, wo ein vierhundert Jahre altes Deckengemälde dem Betrachter
einen archaischen Kampf zwischen Engeln und Dämonen präsentierte.
Kostbare alte Bücher und Handschriften standen sorgsam nach Thematik
geordnet in hohen Regalen aus dunklem, polierten Holz, vor langer Zeit
eigens angefertigt für die Gegebenheiten des Raumes. Die Fenster gingen
bis fast unter die Decke, mehr verhüllt als geschmückt mit dunkelroten
Brokatvorhängen, die das Wappen der Zimberdales, ein Pentagramm aus
Schwertern, regelmäßig wiederholten. Dort stand auch eine gemütliche
Sitzgruppe aus dem gleichen dunklen Holz und orientalisch gemusterter Polsterung
in roten und orangfarbenen Tönen.
Die Mitte des Saales war jedoch einer merkwürdigen mannshohen
Skulptur vorbehalten, die auf einem Granitsockel stand. Aus jenem erwuchsen
drei grob geschliffene klare Kristallsäulen, in deren Innersten sich
goldfarbige Skalierungen befanden, die bei 0 begannen und bei 49 endeten
und von denen einige einen goldfarbenen Text in Latein neben sich stehen
hatten. Ein senkrechter feiner Strich aus einer weißglitzernden Substanz
stieg in ihnen empor und endete in allen drei Kristallen zwischen
der 6. und 7. Markierung. Am Ende aller drei Skalen aber stand das gleiche
Wort über der 49: Armaggedon.
Es handelte sich hierbei um eines der zwei einzigen übriggebliebenen
Exemplare der antiken ›Dämonenaugen‹ der Xendii. Sie zeigten an, wann
die drei Klassen der Daimons, die Cherubim, Melegonin und Angoleah bei
welchem Anteil an DiS in der Atmosphäre die Stadien der Materialisation,
Inkarnation und Perfektion durchliefen. Denn wie die Menschen Sauerstoff
zum Überleben brauchten, waren die Daimonklassen auf verschieden hohe
Anteile an DiS auf der Welt angewiesen, um überhaupt handlungs- und
bewegungsfähig zu sein, und wenn der Level stieg, nahm auch ihre Kraft
zu. Und je höher die Klasse, desto mehr an ›freiem‹ DiS benötigte
sie auf einer Welt.
6,3% war sowohl für Melegonin als auch Angoleah entschieden
zu wenig, um sich auch nur zu materialisieren. Materialisation war eine
äußerst niedrige Daseinsstufe, in der die Daimon nur für
die Xendii wahrnehmbar waren und in der sie bloß über ein Drittel
ihrer tatsächlichen Kraft verfügten. Daher waren bei 6,3% auch
nur Cherubim problemlos in der Lage, sich auf der Welt aufzuhalten, während
es für die Melegonin schon angenehmere 9% sein mussten, und für
die Angoleah mindestens 18. Zwar konnte jeder Daimon sich mithilfe einer
Sorte der seltenen DiSfakte wenigstens zeitweise auch in niedrigeren Leveln
materialisieren, aber diese waren erstens sehr rar und zweitens fielen
sie unter die Kategorie ›unerlaubte Hilfsmittel‹, deren Benutzung das Interdimensionale
Gericht verbot - etwas, das Omrishah gegen die Widerstände sowohl
der Shinnn als auch der Zerrafin durchgesetzt hatte.
Nun steckte der Einzige Eloyah jedoch selber in Schwierigkeiten,
musste sich ›bewachten Hausarrest‹ gefallen lassen und konnte PAGAN nicht
helfen. Und dabei braute sich an allen Fronten Unheil zusammen, anscheinend
von allen Seiten und gleichzeitig. Egal, woher; es kamen nur schlechte
Nachrichten.
Mira starrte nachdenklich in die Säulen des Dämonenauges,
während George Midfield seinem Gastgeber noch einmal ausführlich
die Ereignisse in Prag schilderte. Wie immer, spielte ein fast spöttisches
Lächeln um die vollen, sinnlichen Lippen Procyons, was ihm zusammen
mit seinen unkonventionellen Ansichten bei der Rosenstern-Allianz den Ruf
eingebracht hatte, ein unberechenbarer, oberflächlicher Zeitgenosse
zu sein. Zudem sagte man ihm zahllose Affären in der ganzen Welt nach
- ein Affront gegen die strengen religiösen Regeln der Allianz.
Er war eine imposante Erscheinung, fast zwei Meter groß und
muskulös, stets elegant in teure Anzüge gekleidet und mit gepflegten
kurzen, dunklen Locken und kurzem Vollbart. Hauptsächlich aber verzückte
er die Damen aller Bündnisse mit seinen großen, sanften Augen,
die die Farbe dunklen Honigs hatten - täuschend sanften Augen.
»Machst du dir eigentlich keine Sorgen um deinen Sohn?«,
fragte Mira unvermittelt, als sie aus ihren Gedanken aufgetaucht war. »Jetzt
ist er schon seit drei Wochen wie vom Erdboden verschwunden.«
»Es ist nicht das erste Mal, dass Aévon von allem die
Nase voll hat und sich für ein paar Tage eine Auszeit gönnt«,
beschwichtigte Procyon sie. »Außerdem hatten wir kurz vorher
wieder einen Streit über unser Lieblingsthema, die Daimons. Er war
ziemlich wütend auf mich - und auch auf Rosanjin, weil er meine Meinung
teilte.«
»Wenn er wütend auf Rosanjin ist, kann ich mir vorstellen,
wie zornig er sein muss. Hat er also immer noch die fixe Idee, die Welt
zu einer daimonfreien Zone zu machen?«
»In dieser Hinsicht ist er eben radikal«, warf George
ein. »Ich frage mich, ob er schon von deinen Absichten, auf das Stillhalte-Abkommen
mit der Allianz einzugehen, erfahren hat. Ich denke nicht, dass er es problemlos
akzeptieren wird. Ich hoffe nur nicht, dass er auf dumme Gedanken kommt
und seine Anhänger um sich schart, um irgendwelche Aktionen gegen
die Domén Arxes zu unternehmen.«
»Aévon mag temperamentvoll und ein wenig zu ungeduldig
sein - aber er ist kein Idiot«, entgegnete Procyon kühl. »Immerhin
war er es, der uns vor diesem Wanderprediger gewarnt hat, der letztes Jahr
zu Equinox Veris bei den De Navarris zu Gast gewesen war. Nicht einmal
ich nahm seine Warnung ernst. Und nun ratet, wen ich letzte Woche als Persönlichen
Berater an der Seite von Mimas gesehen habe?«
Mira rollte die Augen und seufzte schwer. »Was denn noch?
Und wie blöd ist das Oberhaupt der De Navarris eigentlich? Dieser
Umbriel gibt sogar noch offen zu, lange Jahre für eine der Sekten
der B.A.D. Company tätig gewesen zu sein. Und uns nennt die Allianz
›Dämonenfreunde‹ und schmeisst uns in einen Topf mit diesen Wahnsinnigen,
die die Herrschaft der Shinnn auf unserer Welt anstreben.«
Procyon schnaubte verächtlich. »Sogar du, Mira, könntest
zu den höchsten Ehren in der Allianz aufsteigen, wenn du wie Umbriel
ohne Unterlass erzähltest, der Engel Gabriel sei dir erschienen, hätte
dein Herz erleuchtet und dich dazu ausersehen, die Worte der Weißen
Bibel unter allen Xendii und später auch unter allen Menschen zu predigen.
Dazu geißle dich hin und wieder selber, lebe spartanisch, gebe dich
bescheiden und weine im Stundentakt über die Verderbtheit der Menschen
und Xendii, springe nachts auf und laufe schreiend umher, du hättest
eine Vision gehabt, dass die Herabkunft der Erzengel unmittelbar bevorstehe
und das Ende der Welt - und du wirst Persönlicher Berater des Oberhauptes
des Hauses De Navarris, darfst deine Hasspredigten auf allen Versammlungen
und auf Reisen in allen Sippen verbreiten und scharst auch noch begeisterte,
neu ›erwachte‹ Anhänger um dich. Wer Umbriel spätestens jetzt
nicht ernstnimmt, dem ist nicht mehr zu helfen. Ich werde diese Tatsache
gleich auf der Versammlung ansprechen.«
»Dann sitzen wir eine ganze Woche hier, um zu beraten«,
sagte George ironisch. »Die verpatzte Übergabe in Prag, Omrishahs
Hausarrest, dann dieses ominöse Eden-Projekt, über das wir immer
noch nichts genaueres wissen... die katastrophale Lage auf diesem Planeten...
Excelsiors Aktivitäten... und jetzt auch noch dieser Umbriel.«
»Egal. Es muss sein«, knurrte Procyon, warf einen Blick
auf seine Rolex und erhob sich. »Wir sollten uns irgendetwas ausdenken,
um diesen Umbriel umschädlich zu machen. Ich kann einen Krieg mit
der Allianz verhindern, indem ich auf diese lächerliche Vereinbarung
mit ihnen eingehe - aber dieser hasserfüllte Fanatiker wird es noch
soweit bringen, dass es trotzdem zu offenen Feindseligkeiten kommt. Wenn
sich erst einmal die Xendii in Massen mit DiS beschießen, sind wir
noch schneller bei 9% als erwartet. Oder bei noch höheren Leveln.«
Sie gingen langsam und schweigend zur Türe.
»Ich habe übrigens letzte Woche Danubia besucht.«,
sagte Mira leise zu Procyon, als George zu der großen Gruppe von
Deligierten vorausgeeilt war, die in dem großzügigen, hellen
Foyer des Herrenhauses versammelt standen.
Der Oberste der Domén Arx Zimberdale sah sie schockiert an.
»Sie hat wieder Kontakt zu uns aufgenommen?«
»Nicht wirklich. Sie bat mich um ... einen kleinen Gefallen,
deswegen.«
Procyon senkte den Kopf und fragte, ohne seine Bundesgenossin anzusehen.
»Geht es ihr gut? Und... das Mädchen?«
»Livas hat ihrem endgültigen Auszug aus der Sippe zugestimmt.
Nach Equinox Veris dürfen sie für immer in Düsseldorf bleiben.«
»Düsseldorf? Wir haben Sympathisanten dort. Wieso hast
du mir das nicht schon früher gesagt?«
»Ich habe selber erst von ihrem zweiten Wohnsitz erfahren,
als mich Danubia dorthin eingeladen hat. Was vielleicht auch klüger
von ihr war. Es geht ihnen also beiden sehr gut. Tigris ist ein hübsches
Mädchen, fast erwachsen... und sehr aufgeweckt. Unglaublich, wie ähnlich
sie ihrem Vater sieht.«
Procyon quittierte die letzte Bemerkung Miras mit einer kühlen
Entgegnung . »Um so besser, dass sie bald endgültig aus dem
Dunstkreis der Allianz verschwinden kann. Das ist das Beste für die
beiden.«
»Nicht nur für die beiden...« Mira warf ihm einen
undeutbaren Blick zu, doch Procyon zog nur noch die kräftigen, geschwungen
Brauen zusammen und ging dann mit gewohnt kraftvollen, weit ausholenden
Schritten davon, während Mira noch stehenblieb und sich das Gesicht
von Tigris in Erinnerung rief. ›All deine Vorsichtmaßnahmen haben
sich ausgezahlt, Danubia. Wenigstens das ist eine erfreuliche Wendung.
Was damals auch in diesem Zimmer passiert ist... es hat nicht nur dich
vor den Scharfrichtern der Allianz gerettet.‹
.
Vier Tage hatte Tigris schon überstanden.
›Vier Tage vom Rest meines Lebens. Verdammt.‹, dachte sie, als sie
in der Nacht zum Mittwoch schlaflos dalag und über das nachdachte,
was sie bis dahin gehört oder gelernt hatte. Wie nicht anders zu erwarten,
wurde viel Wert darauf gelegt, sorgsam alle überirdischen Wesenheiten
nach Engel und Teufeln zu unterscheiden. Neu war jedoch für sie gewesen,
dass zum Beispiel die höchsten Teufel, die Sieben Höllenfürsten,
nur von der Hölle hinaufsteigen würden, wenn der Anteil an Aethron
einen Prozentsatz von 18% erreichte. Zur Zeit herrschte daher eigentlich
keine Veranlassung, sich alarmiert zu fühlen, da die Marke bei etwas
mehr als 6% stand. Tigris fragte sich, wie man Aethron messen konnte und
woher man wusste, wann welcher Teufel welche Daseinsform annahm - aber
darauf wusste Lux Montana nichts anderes zu sagen, als dass dieses Wissen
seit Jahrtausenden schon gültig und von den Engeln auf die Xendii
herabgesandt worden war. Andererseits hatte ja auch Engelbert erwähnt,
dass er eine Karriere im Musikbusiness anstrebte, sollten ›eines Tages
hier die Inkarnationen losgehen‹. Mehr als hinnehmen konnte man solche
Sachen wohl nicht, wenn man nicht ständig genervte Blicke und ungeduldige
Kommentare seitens der anderen Wandler Windwibbenburgs bekommen wollte.
Wenigstens verlief der praktische Unterricht etwas erfreulicher.
Sie übten bei trockenem Wetter auf einer Lichtung inmitten
der riesigen Wälder ringsum - oder in einer alten, bruchfälligen
Fabrikshalle, die rund dreißig Kilometer entfernt von der Siedlung
lag und die von den Xendii nicht nur vollkommen ausgeräumt worden,
sondern auch noch speziell präpariert war, damit zufällig vorbeifahrende
Autos keinen Verdacht schöpften und die Polizei alarmierten. Denn
es ging heiß her bei den Schießübungen. Mit Aethron ließen
sich nicht nur Kugeln, sondern auch Strahlen oder ein Nebel erzeugen, je
nach Verwendungszweck. Lux Montana hatte sie darüber aufgeklärt,
dass man Aethron aus der Luft in drei Arten wandeln konnte - in grünes,
blaues und rotes. Letzteres gelang wohl nur außerordentlich erfahrenen,
talentierten Wandlern - was vielleicht auch besser zu sein schien: Es war
in seiner Wirkung äußerst verheerend und zerstörerisch.
Blaues Aethron richtete nicht ganz so schwere Schäden an, reichte
jedoch schon für beeindruckende Wirkungen, kleinere Explosionen und
schwere Verletzungen bei Menschen und Dämonen. Doch alle Anfänger
waren ohnehin nicht in der Lage, die ersten Monate oder gar Jahre etwas
anderes als grünes Aethron erzeugen.
Die ersten Stunden hatten sie und Arktur jedoch damit zugebracht,
Konzentrationsübungen und Visualisierung, aber auch Levitation von
Dingen zu praktizieren - ohne die ersten beiden Techniken war ohnehin kein
Wandeln möglich. Erst wenn man in Sekundenbruchteilen die Umgebung
ausblenden konnte und das, was bei einer Übung herauskommen sollte,
sich vollkommen plastisch vorzustellen vermochte, klappte es - teilweise
zumindest.
Nun, immerhin war sie nach den paar Tagen in der Lage, eine Glaskugel
über ihrer Hand schweben zu lassen und in irgendetwas Flauschiges
wie Federn umzuformen. Das Levitieren war wichtig: Für die Wandlung
musste man Aethron-Nebel erzeugen und vermeiden, selber damit in Kontakt
zu kommen, da sonst Verletzungen oder Ausschlag drohten. Daher war das
erste, was man mit Konzentration und Visualisierung zu üben hatte,
die Levitation des zu wandelnden Gegenstandes.
Wenn man erst einmal den Dreh raus hatte, ging es fast wie von selbst;
ähnlich Fahradfahren.
Nur dass alle außer Tigris nach jeder anstrengenden Übung
eiligst Kräuterpillen einnahmen, um nicht vor Übelkeit umzukommen.
Und dennoch ereilten den einen oder anderen die bekannten Nebenwirkungen.
Gerade Arktur hatte schwer damit zu kämpfen, weil er meist über
das Ziel hinausschoß und gerne ein wenig mehr Aethron um sich warf,
als ihm guttat.
Lux Montana zeigte sich dennoch zufrieden mit ihren beiden Neulingen
und war überzeugt, dass sie nach einem Monat mit den Schießübungen
und Körperschildern anfangen können würden. Sie hatte ihnen
demonstriert, wie Letzteres aussah: Zum Schutz des ganzen Körpers
legte sie die Hand etwa auf die Mitte des Oberkörpers - und augenblicklich
sprangen grünliche Blitze aus ihrer Hand und glitten kreuz und quer
über den ganzen Körper. Als Bat Furan zum Beweis eine grüne
Kugel auf Lux Montana abschoss, zerschellte diese kaum hörbar zischend
an dem Aethron-Gespinst und wurde regelrecht aufgesogen.
Augenblicklich schoß in ihr die Erinnerung an die Dämonenzwillinge
in Norbert Ullrichs Wohnung hoch - an den Moment, als sie ohne jede Kenntnis
irgendwelcher Schusstechniken diese tiefrote Scheibe auf einen der beiden
Bestien abgeschossen hatte. Und an das Gefühl von Selbstverständlichkeit,
von Stärke und Selbstvertrauen, diese Wesen stoppen zu können.
Auch in der Kirche hatte sie mit Aethron umgehen können, als
sei dies ganz normal und alltäglich für sie. Wieso war diese
Fähigkeit nicht mehr da?
Entschlossen, diese schrecklichen Bilder zu ignorieren, hatte sie
die Erinnerung die ganzen Tage wütend aus ihrem Geist gewischt, vor
allem, als ihr eine passende, aber schreckliche, unheimliche Beschreibung
eingefallen war: Wie fremdgesteuert.
Nein, das war sicher Unsinn. Es lag nur an diesem verfluchten Amulett.
Wütend darüber, dass der Wecker auf dem Nachttisch bereits
04:35 anzeigte und sie immer noch nicht einschlafen konnte, obwohl in zwei
Stunden alle aufstehen mussten, seufzte sie lautstark auf.
Anscheinend etwas zu laut, da es im Bett nebenan raschelte: Antigua
war aufgewacht und saß für ein paar Sekunden aufrecht, aber
regunglos im Bett. Das war schon öfters vorgekommen. Anscheinend hatte
sie wieder einen Alptraum gehabt. Tigris beobachtete mucksmäuschenstill,
wie sie schließlich aufstand und zur Tür gehen wollte.
Und da passierte es schon wieder: Antigua blieb stehen und erstarrte,
während ein merkwürdiges feines, leises Summen und Zischeln in
der Dunkelheit lag.
»Das war ja klar«, murmelte Antigua reichlich resigniert,
als auch schon der erste Blitz aus einer der Steckdosen im Zimmer hervorsprang
und in Antiguas Körper einschlug. Als wäre dies ein Startsignal
zum Angriff gewesen, stürzten sich Stromäste aus allen restlichen
Steckdosen auf das Mädchen; sogar die Energie aus der Leitung für
die Deckenlampe konnte Antiguas Anziehungskraft nicht widerstehen und fuhr
in ihren Kopf, wobei einmal kurz die Glühbirne schlagartig aufleuchtete
und dann zersprang - und nicht nur sie. Auch in den angrenzenden Zimmern
konnte man die Glühbirnen platzen hören, und die darauf folgenden
Flüche ihrer Bewohner.
So schnell die Stromattacke über Antigua gekommen war, so blitzartig
ging sie auch vorüber und hinterließ sowohl einen Stromausfall
im ganzen Haus als auch eine im wahrsten Sinne des Wortes ›geladene‹ Antigua.
»Wenn du auch nur ein Wort sagst, entlade ich mich an dir«,
zischte sie, als Tigris aus dem Bett sprang und vorsichtig näherkam.
Schemenhaft konnte Tigris das bekannte Resultat des Zwischenfalls im Zwielicht
wahrnehmen: Antiguas Haare standen senkrecht zu Berge, als wären sie
aus langen, blonden Drähten. Dann marschierte sie wütend hinaus,
Tigris konnte sie noch die Treppe hinuntereilen und die Haustür zuknallen
hören.
Tigris verkniff sich ein Grinsen. Im Lauf der Zeit hatte sie bereits
etwa acht dieser unbeabsichtigten Demonstrationen von Rufer-Xendium miterlebt.
Währenddessen gingen einige Xendii von Rosenhag 3 mit Kerzen
umher, um die Sicherungen wieder einzuschalten oder auszutauschen - und
ihrem Ärger über die morgendliche Störung Luft zu verschaffen.
»Was ist denn passiert?«, fragte Ras Algheti, der das
Ereignis wohl verschlafen hatte, und die teils wütende, teils ironische
Antwort lautete im Chor »Antigua«.
»Sie sollte wirklich jeden Abend K.O.-Tropfen nehmen, wenn
sie diese Alpträume hat. Andauernd passiert dieser Mist!«, regte
sich ein rothaariges Mädchen namens Sienna auf, die zu den Wandlern
gehörte.
»Vielleicht solltet ihr die Tropfen besser nehmen, wenn es
euch so stört. Sie kann nichts dafür. Alpträume können
einen wirklich mitnehmen, vor allem wenn man sie ständig hat«,
sagte Tigris kühl und wollte zu ihrer Mutter gehen, die auf dem Weg
nach unten war. Doch diese streichelte nur kurz ihre Wangen, sagte zu Tigris:
»Es ist alles in Ordnung, Spätzchen, geh wieder ins Bett. Ich
werde nach Antigua sehen«, rief den anderen Jugendlichen noch
streng »Ins Bett, Herrschaften, bitte!« zu und lief auch schon
die Treppe hinunter.
»Tja, diesen Budenzauber wirst du wohl ab jetzt so etwa jede
dritte Nacht erleben, Tigris«, meinte Bat Furan und zuckte grinsend
mit den Schultern.
»Kriegen wir eigentlich Rabatt für Glühbirnen unten
im Dorf?«, fragte Tigris kopfschüttelnd.
Bat Furan lachte und kratzte sich am stoppeligen Kinn. »Gute
Frage. Wir sollten Lux Livas darauf ansprechen. Vielleicht sollte die Allianz
auch eine Versicherung gegen von Xendii verursachte Schäden einführen.«
»Das fällt bei denen wohl eher unter Naturkatastrophen
und höhere Gewalt«, meinte Tigris, eigentlich an eine
große deutsche Versicherungsgesellschaft gleichen Namens denkend.
»Übrigens hat Lux Livas mich zum Schüler deines
Vertrauens ernannt«, erklärte Bat Furan, ohne sie anzusehen.
»Was?! Da ist mir ein Dämmerzustand unter Calmidoron
schon fast lieber.« Tigris schnaubte spöttisch.
»Beim nächste Mal dann. Noch einmal halte ich meinen
Arsch für dich bestimmt nicht hin.«, grollte Bat Furan daraufhin
und stampfte die Treppe hoch, ohne sich noch einmal umzusehen.
Tigris' anfänglich gute Laune war augenblicklich verpufft.
Was hatte sie sich auch eingebildet? Dass man sie mit offenen Armen aufnehmen
würde, nachdem sie den Xendii soviel Verachtung entgegengebracht hatte?
Doch daraufhin erwachte ihr alter kämpferischer Trotz. Sie hatten
wohl vergessen, dass sie, Tigris, nicht mehr wehrlos ihre dummen Streiche
über sich ergehen lassen mußte. Sie ging zurück in ihr
Zimmer, setzte sich auf das Bett, fischte das Amulett aus ihrem Pyjama
und betrachtete es in der Düsternis des heranbrechendes Morgens.
Der Hohe Erzengel hatte ihr ein überaus machtvolles Geschenk
gemacht - wenn auch offensichtlich aus Versehen. Nein, er hatte von 'urspünglich
vier' geredet, auch wenn jetzt das Gegenteil behauptet wurde, daran hielt
Tigris eisern fest. Für wen war es nur ursprünglich bestimmt
gewesen? Und wann würden die Zerrafin diesen Irrtum endlich zugeben
und es sich von ihr wiederholen? Sie hätten es ihr doch schon längst
wieder fortnehmen können, wieso kamen sie nicht? Ein solch unheimliches,
unglaubliches Schmuckstück! Welche Kräfte schlummerten noch in
ihm? Und sie hatte es im wahrsten Sinne des Wortes am Hals, war ein gefundenes
Fressen für die Dämonen. Und doch konnten sie es ihr nicht abnehmen.
Niemand konnte das. Vielleicht waren nicht einmal mehr die Engel in der
Lage, sie davon zu erlösen.
›Und deswegen behaupten sie, ich sollte es tatsächlich bekommen.
Schöne Erzengel!‹
Sie betrachtete den kleinen Schmetterling und die zwölfblättrige
Blüte in dem Bernstein. Die kleinen Blätter glühten im Zwielicht
in einem phosphorisierendem Grün. Tigris hielt den Anhänger gegen
das Fenster, um ihn genauer zu studieren, vielleicht sogar weitere Einzelheiten
in dem Bernstein zu entdecken. Aber außer dem Glühen der kleinen
Blume, die sich in der untersten Ecke des fünfeckigen Steins befand,
war nichts ungewöhnliches mehr zu sehen. Der Schmetterling schwebte
hingegen fast am oberem Rand in dem versteinerten Harz. Auch an den silbernen
Blüten konnte Tigris nichts Besonderes finden, ließ die Kette
wieder in ihren Pyjama gleiten und legte sich hin.
»Happy Xendium to me, und viel Glück und viel Segen.
Vor allem in Norwegen«, sang sie leise und dachte dann an Chanel,
Flanel und Caramel. Die drei waren katastrophal - aber eigentlich nicht
direkt bösartig, genauso Engelbert. Aber diese schrecklichen Zwillinge!
Oder dieser irrsinnige, schizophrene Maruké. Und was bedeuteten
die Alpträume, in denen dieser abgrundtief böse Dämon vorkam,
der die Welt vernichten wollte? Sie vermied es, an den Namen zu denken,
den die Zwillinge in der Kirche erwähnt hatten.
Wieso kamen ihr ständig diese merkwürdigen Gedankenblitze,
mit denen sie nichts anfangen konnte? Gingen sie womöglich von dem
Amulett aus?
Mit einem Mal ging die Tür auf und Antigua kam leise ins Zimmer.
»Bist du okay?«, fragte Tigris leise, froh darüber,
wieder Gesellschaft zu haben, die sie ablenkte, und sei es nur durch einen
Streit.
»Sicher doch. Nach einer Entladung fühlt man sich wie
neugeboren. Aus Versehen habe ich die Begonien dabei eingeäschert.«
»Im Grunde bist du die Lösung der Energieprobleme dieser
Welt, Antigua, vergiss das nicht.«
»Wie könnte ich«, murmelte Antigua und setzte sich
auf ihr Bett. »Wenn es diese verdammten Dämonen und Excelsior
nicht gäbe, könnte ich schon längst steinreich sein.«
»Du könntest ein Star sein!«
»Genau. Wir alle könnten reich und berühmt sein,
unsere eigene Fernsehserie haben und unsere Memoiren schreiben, die alle
Bestseller werden.«
»Mist!«
Antigua kramte lachend in ihrem Nachtkästchen nach Zigaretten
und steckte sich eine an.
»Hoffentlich sterbe ich bald durch Nikotin, dann ende ich
wenigstens nicht als Lagerfeuer«, grummelte sie und fuhr sich erschöpft
durch die wirren, blonden Haare. Dann sah sie zu Tigris hinüber und
fragte: »Und du bist jetzt genau da, wo du niemals sein wolltest.
Das muss wirklich hart sein.«
»Im Moment kann ich wohl nichts dagegen machen. Doch wenigstens
kann ich jetzt auch die Senftube explodieren lassen, wenn Bat Furan sie
in der Hand hat. Und wenn nicht, werde ich nicht eher ruhen, bis ich es
gelernt habe.«
Antigua kicherte bei der Vorstellung dieser Szene. »Ich sehe
schon jede Menge Ketchup-Duelle und Brötchengeschosse auf uns zukommen.
Freust du dich eigentlich schon auf Amerika? Einen Vorteil hat die ganze
Sache ja: Man kommt viel herum.«
»Stimmt. Und wann sind die Wandler mal auf Hawaii?«
Tigris sah sich schon an einem traumhaft schönen Südsee-Strand
liegen, während die Wellen des tiefblauen Wassers um sie herum rauschend
heraneilten.
»Nie. Die Domén Arx von Pazifica gehört doch zu
den Abtrünnigen, auch wenn ein paar Sippen dort mit uns sympathisieren.«
»Das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.
Welche Domänen haben sich die Abtrünnigen eigentlich schon unter
den Nagel gerissen?«
Antigua nahm ihre langen, dünnen Finger zu Hilfe, als sie Tigris
die Namen aufzählte. »Sie haben Pazifica, Altai-Siberia, dann
die südliche Hälfte von Afrika, sowie ganz Asia und Australia.
Im Grunde genommen fast die gesamte Dritte Welt plus jede Menge Wasser.
Nahezu alle Weltmeere und die Inseln darin. Und anscheinend gehört
bald auch Atlantika zu ihnen, also fast alle Inselsippen des Atlantischen
Ozeans plus Großbritannien und Irland. Bis es vielleicht soweit ist,
werden auf beiden Seiten jede Menge Xendii dabei draufgehen.«
»Und die Dämonen lachen sich tot über unsere Blödheit.«
»Das würde ich auch tun, wenn ich ein Dämon wäre.
Wie ich gehört habe, versuchen die Wächtersippe von Circumpolaris,
dem nördlichen Polarkreis, und von Azteca, also Südamerika, die
anderen Domén Arxes für ein Stillhalte-Abkommen zwischen der
Alllianz und den Abtrünnigen zu gewinnen. Und das wäre wirklich
das Beste. Denn damit rechnen die Dämonenfreunde natürlich überhaupt
nicht, das ist das Letzte, was sie erreichen möchten, auch wenn sie
immer so auf Friede, Freude, Eierkuchen tun. Wir dürfen unsere Leute
nicht in einem gegenseitigen Ausrottungskrieg opfern.« Antigua ballte
die Hand zur Faust.
»Genau so sehe ich das auch«, stimmte Tigris mit finster
zusammengezogenen Brauen zu. »Was für ein Irrsinn. Wie immer,
wenn Macht im Spiel ist.«
»Tja, wir können nichts machen als abzuwarten. Auch De
Navarris ist ziemlich zerstritten in dieser Frage, wie ich gehört
habe. Einige von denen wollen am liebsten sofort alle Sippen mobil machen
und Zimberdale angreifen. Andere ranghohe Mitglieder unserer Domén
Arx sind der gleichen Meinung wie die meisten europäischen Sippen.
Anscheinend sind die Wenigsten begeistert davon, sich wegen diesem bescheuerten
Procyon Zimberdale in einen Krieg ziehen zu lassen.«
Procyon Zimberdale. Tigris schwieg, als sein Name fiel. Konnte dieser
Mann, der sie von einer schweren Krankheit geheilt haben sollte, gleichzeitig
dermaßen kriegslüstern und niederträchtig sein? War PAGAN
wirklich eine Ansammlung von unmenschlichen, herzlosen Xendii, die mit
den Dämonen paktierten?
»Hoffentlich siegen die vernünftigen Stimmen auf beiden
Seiten.«, sagte Tigris schließlich diplomatisch.
»Auf der anderen Seite sind nichts als Spinner, Tigris. Nichts
als Dämonenfreunde, die die ganze Welt beherrschen wollen. Eigentlich
wäre es nicht schlecht, wenn man sie erledigt. Aber wir können
nicht an zwei Fronten kämpfen. Und die Abtrünnigen kennen keine
Skrupel. Deswegen werden sie uns immer voraus sein. Sie haben dadurch die
besseren Leute, jede Menge von Irrsinnigen mit Verstärktem Xendium.
Und Elite-Kämpfer mit Doppel-Xendium. Sogar der Sohn von Procyon Zimberdale
wurde nur zu dem Zweck gezeugt, uns eines Tages auszulöschen. Er ist
Seher-Wandler. Doch wenn wir Glück haben, explodiert er bald. Immerhin
ist er schon einundzwanzig und bedenklich nah an seine Haltbarkeitsgrenze
gelangt.«
»Hast du ihn oder diesen Procyon denn schon einmal gesehen?«,
wollte Tigris ehrlich neugierig wissen.
»Procyon Zimberdale nicht, aber seinen Bastard von Sohn, Aévon,
jedenfalls von weitem und hinten. Gottseidank! Er soll unglaublich arrogant,
frauenfeindlich und schwul sein. Er war mit seinem japanischen Liebhaber
mal auf einem Seminar. Sein Bettwärmer ist nämlich Verstärkter
Rufer. Sie fanden es wohl ungemein komisch, sich vor unseren Augen gegenseitig
die Zunge in den Rachen zu schieben.«
Tigris schwieg zu Antiguas Schimpftirade und sah demonstrativ zum
Fenster.
»Es ist mir eigentlich ehrlich egal, wer mit wem ins Bett
steigt«, fuhr Antigua leise fort. »Aber ich hasse die Abtrünnigen
dafür, daß sie uns ständig in den Rücken fallen und
ungehindert Dämonen auf unsere Welt lassen. Wenn wir Xendii alle zusammen
arbeiten würden, könnten wir vielleicht schon längst dafür
gesorgt haben, daß sich keine Dämonen mehr auf unserem Planeten
herumtreiben und endlich wieder wie alle anderen Menschen in Frieden leben.«
»Der Rest der Welt ist nicht friedlicher. Ich denke nicht,
daß die Probleme aufhören würden, wenn es keine Dämonen
mehr gäbe.«
»Doch! Denn dann könnten wir uns um unsere Welt kümmern
und vielleicht für Ordnung sorgen.«
»Wenn das mal nicht wieder flächendeckende Freudenfeuer
mit uns als Briketts gibt«, meinte Tigris, auf die Hexenverbrennungen
vergangener Zeiten anspielend, die als eine der größten Katastrophen
in den Annalen der Xendii festgehalten war.
»Das passiert uns nicht noch einmal. Und sie haben damals
nicht uns getötet, sondern größtenteils völlig unschuldige,
arme Menschen.«
»Das ist auch heute noch völlig üblich, Antigua,
an vielen Orten dieser Welt, wieder und wieder. Unser Problem sind nicht
- oder nicht nur - Dämonen, sondern wir selber. Und wenn wir das nicht
lösen können, machen wir diese Welt selber platt, bevor die Dämonen
auch nur das Konfetti für ihre Vernichtungsparty zu streuen anfangen
können.«
»Ja, das will ich doch die ganze Zeit sagen! Ohne Dämonen
könnten wir vielleicht endlich Frieden auf Erden schaffen!«
Antigua sah Tigris eindringlich an.
»Wie De Navarris und andere Domén Arxes Frieden zu
schaffen pflegen?« Tigris schlug sich augenblicklich die Hand vor
den Mund und schloß betroffen die Augen. Warum nur konnte sie nicht
einfach den Mund halten? Bestimmt war Antigua wieder verletzt, gerade jetzt,
wo sie endlich ein langes Gespräch geführt hatten, ohne sich
nach den ersten Sätzen gleich zu streiten und gegenseitig zu beleidigen.
»Verdammt. Es ist mir mal wieder rausgerutscht, Antigua. Es
tut mir leid, wirklich.« Tigris wagte es nicht, Antigua anzusehen.
»Schon gut«, antwortete die Ruferin, sehr müde
und leise klingend. »Du verstehst das einfach nicht, dabei ist es
eigentlich sonnenklar: Sie wollen nicht, daß wir so werden wie die
Abtrünnigen und unseren Kindern eine so grausame Bürde wie das
Verstärkte Xendium auferlegen. Oder noch viel schlimmer: Doppel-Xendium.
Und was nützen Gesetze, wenn alle sie ungehindert brechen dürfen?
Aber wahrscheinlich wirst du das niemals begreifen können, du hast
ja größtenteils unter Menschen ohne Xendium gelebt.«
»Da könntest du Recht haben. Da fällt mir ein, was
ich schon die ganze Zeit sagen wollte!« Tigris hob den Kopf und holte
tief Luft. »Danke übrigens, daß ihr mich aus den Klauen
von Excelsior befreit habt. Meine Mutter hat es mir gestern gesagt. Wir
beide sind wirklich froh darüber, Windwibbs zu sein. Das habe ich
zumindest endlich verstanden.«
Antigua lächelte scheu und spielte ein wenig verlegen mit einer
Strähne ihrer schönen langen Blondhaare. »Dann weißt
du ja, was du zu tun hast, wenn sie mich erwischen sollten.«
»Mach dir keine Sorgen: Niemand kriegt uns. Weder Dämonen,
noch Excelsior noch die Abtrünnigen.«
»Mit Gott und den Engeln - vorwärts Windwibbenburg!«
Antigua hob lachend die Faust.
»Mit Schlafen ist wohl nichts mehr. Und jetzt habe ich auch
noch Hunger bekommen.«, stellte Tigris fest.
»Lass uns den Kühlschrank plündern und deinem Schutzengel
die Schuld geben!« Antigua sprang augenblicklich lachend auf. Gemeinsam
gingen sie leise hinunter in die Küche mit den alten, fast antiken
Eichenschränken. Dort standen auch drei alte Kühlschränke
aus den Fünfzigern, die allerdings noch tadellos ihren Dienst verrichteten
- wenn auch laut brummend.
Sie nahmen sich Nutella und Brot und setzten sich dann an den kleinen
Campingtisch, an dem zwei wackelige Stühle aus Stahlrohr standen.
»Sind die Alpträume so schlimm?«, wagte Tigris
zu fragen, da Antigua immer noch gutgelaunt schien.
»Ich kann mich meistens nicht an sie erinnern. Nur an eines
- Ich sehe ein Gesicht und dann wache ich immer schlagartig auf. Aber es
ist so verschwommen, so undeutlich«, erklärte die junge Ruferin
ernst.
»Und ich habe wegen diesem Amulett auch komische Visionen.
Es macht mir Angst, weil ich nicht weiß, was sie zu bedeuten haben.«,
gab Tigris entgegen Engelberts Warnungen zu.
»Denkst du immer noch, dass es ein Versehen war?«
»Ja. An mir ist doch nichts besonderes außer einer großen
Klappe.«
»Jetzt schon. Würde es dir nicht leid tun, wenn du nicht
mehr wandeln könntest?«
»Naja... irgendwie ist es schon cool. Wenn nur die Dämonen
nicht wären. Und diese Visionen und Stimmen.«
Antigua bestrich sich das mittlerweile vierte Brot dick mit Nutella,
während sie antwortete: »An deiner Stelle würde ich damit
anfangen, all diese Bilder und Worte, die du siehst, aufzuschreiben. Vielleicht
ergibt sich ein Sinn, wenn man alles miteinander vergleicht oder so.«
»Das ist eigentlich eine sehr gute Idee«, meinte Tigris
nachdenklich. In der Tat! Wieso war ihr das nicht schon selber längst
eingefallen. Vielleicht gab es tatsächlich einen Sinn hinter all dem.
»Dann hattest du heute in der Kirche also auch so eine Vision.«
»Ja. Ich habe einen Engel gesehen, der etwas oder jemanden
mit seinen Flügeln beschützend umfangen hat. Und dann schoß
mir dieser Name durch den Kopf: Barujadiel.«
Antigua dachte angestrengt nach, während sie kaute. Dann meinte
sie achselzuckend. »Ich kenne keinen Engel namens Barujadiel. Aber
frag doch Ilvyn. Die hat Kopien dieser alten Bücher, die kein Mensch
mehr liest - außer jemand, der ein absoluter Engelsfan ist. Wären
die Erzengel eine Boygroup, würde Ilvyn ihnen in der ganzen Welt hinterherreisen
und bei ihren Konzerten am lautesten kreischen.«
Sie sahen sich kurz an - und brachen dann prustend in Gelächter
aus.
Dann brachen sie schlagartig ab, weil jemand die Haustür aufschloss
und sich bemühte leise zu sein. Dieser Jemand schniefte leise.
Tigris stand auf, um nachzusehen, wer in der Einganghalle stand.
»Mama? Ich dachte, du würdest schon längst wieder
schlafen - was ist denn? Wieso weinst du?«
Tigris stürmte mit wild klopfendem Herzen auf ihre Mutter zu,
die verloren auf den Kirschholz-Parkett im halbdunklen Foyer dastand und
das Gesicht in den Händen barg.
Auch Antigua kam mit besorgtem Gesicht näher. »Lux Danubia?«
»I-ich dachte, du wärst schon längst wieder im Bett,
Spätzchen.«, sagte die Seherin endlich und wischte sich erfolglos
die Tränen aus den Augen.
»Irgendwie konnten Antigua und ich nicht schlafen... was ist
denn los? Sag doch endlich!« Tigris hielt die angstvolle Ungewissheit
nicht mehr aus.
»Als ich mit Antigua vorhin draußen war, habe ich Livas
gesehen. Er pflegt immer spazieren zu gehen, wenn er nachdenken muss oder
nicht mehr weiter weiß, und sei es mitten in der Nacht. Natürlich
bin ich zu ihm gegangen.«
»Und?« drängelten Tigris und Antigua wie aus einem
Munde.
»Er hat vor wenigen Stunden per e-mail eine Antwort der Domén
Arx wegen deiner Begutachtung bekommen.« Danubias Stimme zitterte,
weswegen sie tief Luft holte, um weitersprechen zu können.
»De Navarris hat dich nach Barcelona bestellt.«
Antigua hatte offensichtlich etwas Weltbewegenderes erwartet. »Das
ist vielleicht ärgerlich, aber na ja... ob hier oder dort? Sie muss
doch nicht alleine dorthin, oder?«
Tigris war nicht ganz so erleichtert. Die Aussicht, in die Höhle
des Löwen gehen zu müssen, machten sie ängstlich und wütend
zugleich. »Und mit welcher Begründung? Muss man dahin? Wieso
kommt nicht wie üblich einer von ihnen?«
»Das weiß nur Gott. Livas ist besorgt. Und ich bin vollkommen
verzweifelt.« Danubia kamen wieder die Tränen. Dann zog sie
Tigris plötzlich geradezu besessen vor Furcht an sich und umarmte
sie ganz fest, legte ihren Kopf auf die Schulter ihrer Tochter und weinte
leise.
»Es wird schon gut gehen, Mama! Ich schaffe das schon.«
Doch ihre Mutter schien anderer Meinung zu sein. »All die
Jahre... zunichte«, flüsterte sie selbstvergessen, kaum hörbar.
»Warum? Warum nur gerade jetzt? Wir waren schon fast in Sicherheit.
Sie werden es bemerken. Alle werden es bemerken, die ihn kennen. Und dann
Gnade uns Gott.«
© I.S.
Alaxa
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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