Xendium - Manifestation von I.S. Alaxa
Teil 2 - Die letzten Tage von Windwibbenburg
Kapitel II

Es gab nur ein Verbot bei PAGAN, was die Welt der Neutralen, der Menschen ohne Xendium, anbetraf. Dieses lautete: Vermeide um jeden Preis jegliches Aufsehen.
Doch ein überaus berühmt-berüchtigtes Mitglied war gerade dabei, es ungefähr alle zwei Sekunden zu brechen.
Nicht, dass es das erste Mal war.
Oder dass es irgendeinen Xendii bei PAGAN überrascht hätte, wer sich mal wieder einen Dreck um Regeln und Vorsichtsmaßnahmen scherte.
Also lag es nicht etwa an einem Amokläufer oder an einem Film-Set zu einem actiongeladenen Hollywood-Abenteuer, dass Scharen von entsetzten Kunden an einem 20. März gegen drei Uhr nachmittags kopflos vor Panik aus allen Eingängen des Wal-Marts in Marystone / Oklahoma flüchteten. Genauer gesagt: vor tieffliegenden Tiefkühlpizzas, sich gleichzeitig in hohem Bogen erbrechenden Batterien von Tuben, vor Überschall-Gemüsen und Bananen-Kampfgeschossen, aber auch vor Klopapier und Kleenex, allesamt von der Rolle, vor scheinbar grundlos einstürzenden Dosentürmen und Getränkekisten, sowie Knabbergebäck und Trockenfrüchte jeder Art, die mit lautem Knall aus ihren Tüten schossen und dramatisch in die Gänge niederprasselten. Nicht zu vergessen auch die zahlreichen herrenlosen Einkaufswagen, die mal da, mal dort wie von Geisterhand zwischen den Regalen entlang flitzten.
Nach einer nur dreiminütigen, aber irren Verfolgungsjagd durch die Regalreihen hatte es Aévon Zimberdale endlich geschafft, den Cherub in Menschengestalt unter Dosengerichten aller Marken zu begraben, was ihm selber endlich die nötige Zeit brachte, auf die Reihe mit den Babywindeln zu levitieren und von Regal zu Regal zu springen, um zum Ausgang zu gelangen.
Zwar hatten die Wachleute draußen sämtliche Türen gesperrt und warteten zitternd mit gezückten Waffen nur darauf, dass der unrasierte Irre mit den wirren dunklen Locken auszubrechen versuchte, doch das beeindruckte Aévon nicht im geringsten. Er sprang von einem der vordersten Regale ab und landete genau vor der inneren Haupteingangstür. Noch während er die Sicherheitsleute amüsiert angrinste, erzitterten bereits die Scheiben, um dann jedoch enttäuschenderweise im nächsten Moment nur als feines Mehl zu zwei großen Haufen zu zerrieseln. Die kurze Verwirrung der Wachleute, die sich auf eine Bombenexplosion eingestellt hatten, nutzte Aévon, um ihnen mit einem Slave, einer einholbaren grünen Peitsche aus DiS, die Waffen aus den Händen zu reißen und in die Mülltonnen neben sich zu befördern. Natürlich konnten sie das DiS nicht sehen und schrieen ungläubig auf, aber nur kurz - solange, bis sie nacheinander ein weiterer grüner Strahl mit einer schlaffördernden Intonation auf die Stirn traf und sie wie gefällt zu Boden gingen.
»Wenn doch jeder Arzt seinen Patienten mit Schlafstörungen einfach einen easy karaoke pipe verpassen könnte...«, seufzte Aévon leise.
Dann holte er aus seiner uralten, aber heißgeliebten Konföderierten-Jacke eine antik wirkende kleine runde Silberdose, die geschmackvoll mit einem Fragezeichen aus winzigen Saphiren verziert war und warf sie mit voller Kraft in die Luft. Nur fünfzehn Sekunden, nachdem er noch schnell einige intonierte grüne Sphären vor dem Haupteingang platziert und sich umgedreht hatte, um wieder hineinzugehen, konnten sämtliche Xendii und Daimons im Umkreis von drei Kilometer den Himmel über dem gepflegten kleinen  Städtchen tiefrot aufleuchten sehen.
Da sich jedoch außer im Wal-Mart weit und breit keine überirdischen Geschöpfe oder außergewöhnlich begabten Leute aufhielten, konnte auch niemand erklären, wieso sich die eben noch panikerfüllten Zeugen der unglaublichen Geschehnisse urplötzlich nicht mehr an den Grund ihrer kopflosen Flucht erinnerten und schlagartig zu rennen aufhörten, wobei sie sich gegenseitig verwirrt ansahen. Sie kramten in ihrem Gedächtnis, was denn eigentlich eben noch so aufregendes passiert war, kamen nicht drauf, zuckten mit den Schultern oder schüttelten ärgerlich die Köpfe und marschierten dann in alle Himmelsrichtungen davon. Sie wussten nur eins: Es war Zeit, nach Hause zu gehen und Liebe zu machen. Auch die drei Streifenwagen, die mit heulenden Sirenen die Hauptstraße entlang schossen, sowie die Fahrzeuge der lokalen Presse machten aus demselben Grund an der nächsten Kreuzung kehrt.
Und so konnte sich Aévon endlich wieder ungestört und voller Hingabe seiner Beute, dem MDL-Spitzel widmen, den er seit Tagen verfolgt und observiert hatte. Der Bursche trug ein DiSfakt, das es ihm zeitweise ermöglichte, zu inkarnieren. Deswegen hatte niemand im Bürokomplex des benachbarten Stanbridge Verdacht geschöpft, wenn der Herr Generaldirektor zu später Stunde noch einmal seine großzügig geschnittenen Räume besuchte. Omicron Systems kümmerte sich als eine von zahlreichen Firmen um die Versorgunglogistik der US-Army im Nahen Osten - und bot für einen sachkundigen Daimon ein ideales Einfallstor zum Server des Militärs.
Die Menschwerdung zwang dem Cherub jedoch natürlich die irdischen Gesetzmäßigkeiten auf. Eine davon lautete zurzeit: Wenn auf dir ein großes Gewicht lastet, bist du ziemlich platt.
Aévon stellte sich vor den Dosenberg, aus dem schwaches Ächzen und kaum verständliche daimonische Flüche drangen. Während er sich einige Mehlflecken von seiner Jacke klopfte, zischte er kalt: »So, du Miststück. Nach der kleinen Showeinlage von eben kommen wir nun endlich zum Wesentlichen. Ich will auf eure nette kleine Homepage. Leider sind mir die Benutzernamen und Passwörter irgendwie entfallen. Ich bin sicher, du hilfst mir gerne.«
»Ds...wst...nn...bnnn«
»Ich? Bereuen? Ich habe meinen Lebtag noch nie etwas bereut. Wenn hier jemand sicher etwas bereut, dann derjenige, der im Moment ein illegales DiSfakt namens CHARMI anhat und so überaus bescheuert war, in der ganzen Stadt großzügig DiS prints zu hinterlassen. Ich weiß, ich weiß: Es gibt hier weit und breit keine anderen Daimons oder Xendii, außer meiner Wenigkeit. Leider bin ich nicht nur ein gottbegnadeter Performer, sondern kann auch noch über alle Maßen gut sehen. Tja, was soll man machen... Doppel-Xendium eben.«
Aévon hob die Rechte und ließ aus ihr grünen Nebel entströmen, der rasch über den Dosenberg kroch und ihn auf 200° erhitzte. »Vor dem Verzehr erwärmen, weiß die gute Hausfrau. Und das bin ich doch hin und wieder.«
Aus dem Ächzen wurde schmerzerfülltes Stöhnen, das zu qualvollen erstickten dünnen Schreien anstieg.
Dann streckte Aévon beide Hände vor sich aus und feuerte unablässig kleine grüne Kugeln gegen die Dosen, die bei jedem Treffer aufflogen und in hohem Bogen wieder hinunter auf die Steinfliesen polterten, bis der Cherub freigelegt war. Seine menschliche Gestalt war klein, dick und unspektakulär; er war krebsrot im Gesicht und an den Händen, robbte benommen auf dem Boden herum und nuschelte etwas, das Aévon nicht verstehen konnte. Doch dieser verschwendete keine Zeit mehr, zückte Handschellen und sprang dem Daimon auf den Rücken. »Die will ich aber zurück. Ich brauche sie noch für einige anregende Spiele mit meinem Freund heute Nacht.«
Das darauf folgende Klicken wäre jedem wirklichen Menschen triumphierend und endgültig vorgekommen, aber Aévon wusste natürlich, dass die selbst hinter dem Rücken gefesselte Hände eines Daimons noch sehr gut in der Lage waren, einen ätzenden Nebel oder einen schnellen Schuss abzugeben.
»Und damit du deine Fingerchen auch hübsch still hältst, darfst du diese nette Kugel hier halten. Mach dir keine Sorgen, es ist nur ein kleiner nice pitbull.« Aévon ließ eine tiefblaue, unruhig wabernde Sphäre von seiner Handfläche zwischen die Hände des Daimons gleiten. »Pardon, ich habe mich so sehr an den DiSMaster Codex gewöhnt, dass ich immer vergesse, wie andere Xendii oder Dummons so etwas nennen. Es handelt sich also um eine bestimmte DiS-Arten absorbierende Sphäre mittlerer Stärke. Nach einer Minute Aufwärmzeit stürzt sie sich auf diese Sorten DiS in nächster Nähe und verabschiedet sich nach so einem leckeren Happen mit einer höllischen Stichflamme.«
»Ich... verklage dich... beim Interdimensionalen Gericht!«, zürnte der Daimon, der allmählich wieder zu Kräften kam, aber immer noch platt bäuchlings auf den Steinfliesen lag.
»Das ist dein gutes Recht. Im Jahr 4056 könnt ihr dann kommen, mein Grab öffnen und meine Urne verhaften. Die Mühlen der daimonischen Justiz mahlen bekanntlich noch langsamer als die 
irdischen.«
Aévon sprang auf, zerrte seinen Gefangenen unsanft auf die Beine und zog ihn aus dem großflächig verwüsteten Supermarkt hinaus auf den Parkplatz, wo ein gestohlener dunkelblauer Ford Escort schon bereit stand.
»Wir fahren jetzt zu Omicron Systems und werden ausgiebig auf dww.mdl.org/earthsection surfen.«
»Ich werde dir niemals die 77 Passwörter sagen, die man für das Einloggen braucht.«, grollte der Daimon, und seine kleinen braunen Augen in dem teigigen Menschengesicht funkelten Aévon hasserfüllt an.
»Sag niemals nie. Vor allem nicht als Mensch, der Schmerzen fühlen kann. Ich wollte schon immer einmal wissen, wieviel Folter inkarnierte Cherubim ertragen. Ich beglückwünsche dich hiermit zu deiner Teilnahme an einem hochwissenschaftlichen Experiment, das auch dir bestimmt ganz neue Erfahrungen verschaffen wird.« Aévon lachte höhnisch auf, weil der Cherub sich mit seiner ganzen Kraft dagegen wehrte, auf den Beifahrersitz verfrachtet zu werden. Ein Karatetritt in den Rücken ließ ihn vor Schmerz aufheulen und ins Wageninnere fallen.
»Im Gegensatz zu dir bin ich auch ohne DiS gefährlich genug.«
Die unerwartete Attacke hatte den Daimon anscheinend fürs erste überzeugt. Er leistete keinen Widerstand mehr, als Aévon ihn noch mit einem Strick fesselte und mit dem Sicherheitsgurt anschnallte.
Der Performer justierte den Rückspiegel, der seinen zufriedenen, siegessicheren Blick aus durchdringend hellen, honigbraunen Augen zurückwarf. Während er den Motor startete, dachte er triumphierend: »Gleich weiß ich mehr über die Beendigung dieses verdammten Eden-Projekts. Und ich kann mir gut vorstellen, dass es diesmal für eine Einreisesperre und die sofortige Schließung der Daimontore in unseren Noden reicht.«

.

In den letzten Tagen vor Equinox Veris war zunächst nichts von einer festlichen Stimmung in Windwibbenburg zu spüren gewesen. Unermüdlich waren alle Xendii von morgens bis abends damit beschäftigt gewesen, die Burg und die Wohnhäuser unten in der Siedlung auf Hochglanz zu bringen, mit frischen Blumen- und Zweiggestecken die Innenräume zu dekorieren und Unmengen an Kuchen, herzhaftem Gebäck und Keksen zu backen. Diese wurden in der Festhalle der Burg aufgetischt und bescherten Tigris das erste Mal in ihrem Leben einen Blick in den großen Raum, der allerdings überhaupt nichts Prunkvolles oder wenigstens Mittelalterliches an sich hatte. Da die kleineren Sippen Europas von ihrer Domén Arx nicht gerade großzügig finanziell unterstützt wurden, ging der meiste Teil des Geldes für Nahrungsmittel und Bekleidung drauf und Extravaganzen wie neue Tapeten oder Möbel konnten nur durch eisernes, manchmal jahrelanges Sparen angeschafft werden. Dementsprechend wirkte der Festsaal der Windwibbs wie ein Relikt aus den späten 70’ern. Seit dieser Zeit waren die Tapeten mit den großen Kreismustern in Kreischend Orange und Bärig Braun nicht mehr erneuert worden, ebenso wenig der grünbraune Schlingenflorteppich von 1985. Die Möbel hatte noch das vorige Oberhaupt in den 60’ern anschaffen lassen, einfache, zweckmäßige Schränke aus dunklem Holz, ohne jegliche Verzierungen oder Schnitzarbeiten. Und nur weil der Festsaal lediglich vier Mal im Jahr für einen Tag betreten werden durfte, sah das veraltete Interieur wenigstens noch sauber und heil aus.
Doch der kollektive Festtags-Wahnsinn brach zumindest bei den jüngeren Windwibbs endlich am Vorabend von Equinox Veris aus und bestätigte Tigris in ihrer Meinung, dass Xendii allesamt eine Schraube locker hatten. Es ging natürlich um Klamotten, Frisuren und Accessoires.
Bat Furan und Ras Algheti hatten offenbar die Altkleider-Container der umliegenden Ortschaften geplündert und schütteten ihre Beute auf drei riesige Haufen mitten in der Eingangshalle aus, um bald mit fast allen anderen Jugendlichen der Siedlung darin aus Herzenslust zu wühlen.
Nur Tigris, die überhaupt keine Lust hatte, sich für De Navarris auch noch besonders in Schale zu werfen, verzog sich schnell mit Antigua und Ember in den Alten Turm. Antigua hatte vor einem Jahr von eine befreundeten Sippe in Tschechien, deren beiden Rufer sie einmal in der Woche ausbildeten, ein schönes langes, mintfarbenes Seidenkleid bekommen und gedachte es ›schon wieder??‹ anzuziehen. Obwohl sie wirklich ein sehr hübsches Mädchen war, wie sich Tigris immer noch mit einem leichten Anflug von Neid eingestehen musste, machte sie sich anscheinend überhaupt nichts aus den Dingen, die die anderen jungen Xendi-Mädchen ihres Alters brennend interessierten. Und das waren neben Kleidern und Allianz-Getratsch nun einmal Jungs. Aber Antigua ging anscheinend völlig in ihrer Ausbildung auf und zeigte allen die kalte Schulter, hielt sogar zu den Mädchen eine unübersehbare Distanz. Merkwürdigerweise jedoch waren Ember und Tigris davon ausgenommen. Diese war sich immer noch nicht ganz klar darüber, was sie von der ungewohnten Herzlichkeit der sonst so kühl auftretenden Ruferin halten sollte. Ember hingegen fand die neue Freundschaft zwischen den beiden jedoch prima, da er sich mit Antigua am besten von allen Windwibbs verstand und wohl vor Tigris gerne als Kummerkasten und Ratgeber hergehalten hatte.
Der Alte Turm, in den sie sich vor dem Styling- und Modewahn der anderen Jugendlichen Windwibbenburgs geflüchtet hatten, trug seinen Namen völlig zu Recht. Es war immer wieder aufs Neue eine fast lebensgefährliche Angelegenheit, die morsche, knarzende und knurrende Wendeltreppe hinauf aufs Dachgeschoss zu steigen. Einst hatte es auch einmal ein Mittelgeschoss gegeben, doch davon waren nur noch einzelne, wurmzerfressene Holzbohlen übrig, die so aussahen, als würden auch sie sich vor Alterschwäche in die Tiefe stürzen, wenn man sie zulange mitleidig anschaute.
Der Speicher hingegen war seinerzeit viel stabiler konstruiert worden, im Gegensatz zu dem Schindeldach, das große Löcher aufwies. Ember und Tigris hatten vor einiger Zeit klammheimlich einen der Sonnenschirme in der Siedlung mitgehen lassen und als Regenschutz in den Alten Turm geschleppt. Etliche Kissen und Decken waren ebenfalls auf diese Weise grausam ihren kuscheligen Lagern auf den Sofas der Windwibbs entrissen worden.
Und nun, da die anderen unentwegt unten in der Siedlung neue Frisuren, Make-ups und Klamottenarrangements ausprobierten, machten es sich die drei bei Taschenlampenschein, Chips und Cola so gemütlich, wie es bei nieseligen 5° eben ging.
»Was wohl Lux Montana sagen würde, wenn sie gleich die Tür aufmacht und augenblicklich von einem Berg alter Hosen und Hemden verschüttet wird?« Tigris musste bei dieser Vorstellung grinsen.
»Ach, die kommen doch alle nicht vor elf oder zwölf aus ihrer Versammlung.«
Das stimmte wohl. Seit Tagen verschwanden die älteren Windwibbs immer abends in einem der  Unterrichtsräume und berieten sich bis spät in die Nacht, manchmal sogar bis ein oder zwei Uhr. Keiner von ihnen verriet den Jugendlichen, worum es eigentlich dabei ging, doch Tigris ahnte, dass es mit Lux Livas’ Misstrauen in einige Xendii der Domén Arx und um ihre eigene Begutachtung durch eine Seherin von De Navarris ging. Denn ihre Mutter machte aus der nach einhelliger Meinung ziemlich harmlosen Angelegenheit seit Tagen ein Drama. In ihrer ständig steigenden Nervosität und Angst hatte sie sogar allen Ernstes den glorreichen Einfall gehabt, dass Tigris sich die Haare abschneiden und blond färben sowie braune Kontaktlinsen anziehen sollte. Diese höchst kindische Idee konnte Lux Livas ihr sofort ausreden, indem er daran erinnerte, dass selbst die mittelmäßigsten Seher solche Tarnungsversuche sofort durchschauen und erst recht misstrauisch werden würden. Antigua hatte daraufhin angeboten, Tigris die Haare zu glätten und zu frisieren und Sienna, die rothaarige 17jährige Wandlerin von Haus Rosenhag 1 würde Tigris ein dezentes, nettes Make-up verpassen. Und mehr war nicht drin für Tigris, die die Ängste ihrer Mutter überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Hatte Lux Livas nicht selber gesagt, niemand würde sie in Barcelona erkennen, weil sie erst mit ihrer Anmeldung als Wandlerin für De Navarris existierte?
»Ember, was ziehst du eigentlich an, um die Herzen der Frauen im Sturm zu erobern?« Tigris stubbste ihren besten Freund an, der mal wieder verträumt lächelnd neben sich sah. In letzter Zeit wirkte er immer leicht verpeilt, fast wie... verliebt. Aber wenn das der Fall sein sollte, rückte er mit der Sprache einfach nicht heraus.
»Ach, schwarze Hose, weißes Hemd, Hosenträger. Mittelscheitel. Pomade. Die ›Schönsten Lieder der Weißen Bibel‹ in den Händen... was sonst?« Ember grinste und lehnte sich zurück, um durch ein besonders großes Loch im Dach in den bewölkten Himmel zu spähen.
»Ich sage doch: Xendii haben einen an der Waffel«, seufzte Tigris.
»Und endlich auch du, Teuerste.« entgegnete Antigua ungerührt. »In Wahrheit wolltest du schon immer zu uns gehörten. Gib es endlich zu.«
»Never.«
»Wie war es eigentlich heute Nachmittag unten im Dorf? Konntest du deine Freundin anrufen?«, fragte Ember interessiert, was Tigris erneut aufseufzen ließ. Da das einzige Telefon mit Amtsleitungen in Lux Livas Büro stand, hatte Tigris sich sofort als Freiwillige gemeldet, als noch einige Kleinigkeiten unten im Dorf gekauft werden mussten. Bei der Gelegenheit endlich konnte sie von einer Telefonzelle aus Berry erreichen. Das Gespräch war mangels genügend Kleingeld ziemlich kurz, aber um so tränenreicher. Und dass Tigris ihre beste Freundin auch noch belügen musste, machte die Sache umso schlimmer.
»Ich habe ihr erzählt, dass bei mir irgendetwas am Herzen festgestellt wurde und ich erstmal ein paar Monate in einer Klinik in England bleiben muss. Eigentlich wollte ich zuerst gar nicht anrufen... wegen der Sache mit der Kirche. Aber davon hat sie kein Wort erwähnt, anscheinend ist davon nichts in den Zeitungen aufgetaucht, oder zumindest nicht mein Name. Nur eines macht mit Sorgen.« Sie schaute die beiden Xendii der Reihe nach an, dann nagte sie an ihrer Unterlippe und meinte leise: »Ich habe euch doch von diesem Jungen erzählt, mit dem ich äh ... ausgegangen bin. Er ist auch ein Xendi. Und er ist seit zwei Wochen spurlos verschwunden.«
Antigua und Ember sahen sie schockiert an und stießen wie aus einem Munde hervor: »Excelsior!«
Tigris atmete tief durch, bevor sie sagte: »Möglich. Allerdings kann es auch sein, dass er zu dieser Organisation gegangen ist, von der er so geschwärmt hat.«
»PAGAN!«, rief Antigua, diesmal solo.
Tigris runzelte die Stirn. »Gibt es eine Gruppe, die noch schlimmer ist als PAGAN? Ich meine... richtige Satans-Anhänger?«
»Bei PAGAN sind nur richtige Dämonenanhänger«, entgegnete die Ruferin kühl, was Ember augenrollend zur Seite sehen ließ. Er teilte diese Meinung natürlich nicht, hatte aber offensichtlich keine Lust, sich auf eine Diskussion über das Reizthema einzulassen. Stattdessen fragte er: »Was ist mit B.A.D. Company?«
»Das ist doch nur der Oberbegriff für alle Spinner und Satansanbeter. PAGAN fällt also genauso darunter wie Mère d’Enfer, Satanfaction und wie sie alle heißen.« Antigua schnaubte und schüttelte sich dann vor Ekel. »Wobei ich ihm eher PAGAN wünsche als Mère d’Enfer. Denn diese Kreaturen, die sich bei Mère d’Enfer sammeln, sind wirklich vollkommen jenseits aller Worte und Menschlichkeit.«
Ember räusperte sich. »Hat nicht Procyon Zimberdale diese schreckliche Sekte vor Jahren ausgelöscht?«
»Da war er ja auch noch einer von uns und noch nicht von PAGAN gehirnverseucht«, brauste Antigua auf, was Ember überrascht zusammenzucken ließ. »Aber er war wohl nicht gründlich genug. Es gibt sie immer noch irgendwo, wie ich gehört habe. Jedenfalls findet die Polizei auf der ganzen Welt von Zeit zu Zeit Kinderleichen, die völlig ausgeblutet in einem Dämonkreis gelegen hatten. Sie hatten alle diesen Dornigen Rosenkranz um ihre winzigen Hände gewickelt und-«
»Na toll!« Ember, ohnehin sehr feinfühlig, lachte bitter auf. »Es ist stockdunkel draußen, wir müssen gleich durch den Wald und mein Magen hat sich immer noch nicht von der Vorstellung von... ach, ist ja auch egal.« Ärgerlich schnippte er Chipskrümel von seinem Bein.
»Ich bin gespannt, ob dieses Sippen-Surfen wirklich soviel Spaß macht, wie Bat Furan behauptet«, warf Tigris eilig ein, um die beiden auf ein erfreulicheres Thema zu bringen und einem Streit vorzubeugen.
»Bat Furan, unser Erdkunde-Genie, hat vollkommen recht.« Antigua bebte vor Lachen, während sie weiterzählte: »Vorletztes Jahr an Equinox Mebani, das ist die Tag- und Nachtgleiche im Herbst am 21. September, da mussten wir nach den Sippen-Surfern in Finnland suchen. Tja...«
»Oder als wir uns letzten Mitsommer in Island inmitten von Geysiren statt wie geplant in Rimini wiedergefunden haben.« Ember schüttelte lachend den Kopf.
»Na, das scheint dann eine ziemliche gefährliche Angelegenheit zu sein, wenn Bat Furan die Finger im Spiel hat«, sagte Tigris und dachte an dessen Erklärung des Sippen-Surfens zurück: ›Wir klappen den Atlas auf, einer tippt mit geschlossenen Augen auf das Zielgebiet und dann hängen wir uns von Barcelona aus an alle möglichen Sippen, die uns an unser Ziel möglichst nahe heranbringen. Denn der Sinn von Equinox Veris ist ja, dass man sich gegenseitig besucht, einen Keks isst und zur nächsten Sippe weiterzieht. Jedenfalls so ähnlich. Es ist so etwas wie Per Anhalter fahren, nur ohne Auto und ohne, dass wir ein Visum brauchen. Dafür haben wir ja die Tore. Da kommt man ganz schön rum, lernt jede Menge neuer Leute kennen und trifft alte Bekannte. Es wird dir garantiert gefallen, Tigris. Vertrau mir.‹
»Trotzdem kratzt das überhaupt nicht an seinem Selbstbewusstsein. Er hält sich für den Größten, egal ob er von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt.« Tigris rollte die Augen.
»Und er steht auf dich.« Antigua grinste und ignorierte Embers Stups in die Seite.
»Was für eine Ehre.« Tigris stöhnte genervt auf.
»Vielleicht ist er ein wenig großspurig und unüberlegt«, sagte Ember daraufhin ernst. »Aber er würde sich für jeden von uns ohne mit der Wimper zu zucken in den Kampf stürzen. Oder hast du vergessen, dass er auch bei deiner Rettung dabei war? Er hat sich gleich als erster gemeldet, als Lux Montana uns von deinem Verschwinden erzählt hat.«
»Ach, er sammelt doch nur Punkte für De Navarris«, winkte Antigua kühl ab. »Er will diesen Sommer schließlich diese Aufnahmeprüfung für deren Spezialtruppen machen. Da macht es sich natürlich gut, wenn man so viele Leute wie möglich vor Excelsior oder PAGAN rettet.«
»Ich glaube, da tut ihr ihm wirklich unrecht. Ja, er möchte sein Talent in den Dienst der Allianz stellen. Aber wir gehen für ihn vor. Egal, was passieren würde - er würde keine Sekunde zögern, um uns zu beschützen. So ist er. Ein typischer Fall von Großmaul mit Herz.«
Plötzlich schwiegen sie alle und lauschten in den Wald: Jemand rief ihre Namen.
»Nicht nur Großmaul, sondern auch Lautmaul. Wenn man vom Teufel spricht...« Antigua erhob sich vorsichtig und ging noch bedächtiger zu dem Loch in der Turmwand, in dem vor langer Zeit vielleicht ein Fenster gewesen sein mochte.
Zweige krachten, Laub raschelte. Dann tönte auch schon Bat Furans kräftige Stimme zu ihnen hoch.
»Es ist gleich zehn Uhr, ihr Eulen! Die Älteren sind schon da und wollen noch eine kleine Predigt wegen morgen loswerden. Und Tigris kriegt sogar eine Extra-Gebrauchsanweisung. Also kommt endlich da runter. Ich und Ras warten hier.«
»Wie süß von dir...«, säuselte Antigua lieblich-boshaft zu ihm herunter. »Hast du Angst, dass Tigris wieder entführt werden könnte?«
»Nein, ich habe nur Angst, dass das Sippen-Surfen gestrichen wird, wenn wir nicht ganz nett und folgsam sind, allerliebste Antigua.«
Genau so vorsichtig, wie sie hinaufgestiegen waren, machten sie sie sich Absatz für Absatz wieder die bruchfällige Wendeltreppe hinunter.
»Und?«, sagte Tigris zu dem hochgewachsenen Wandler vor dem Turm schnippisch. »Wohin geht es diesmal und wo landen wir stattdessen?«
»Die Sahara wäre genau das Richtige für dich, Tigris. Vielleicht verliere ich dich ja dort auf dem Weg nach Guayaqil«, knurrte Bat Furan und ging mit Ras Algheti voran, der ihnen verständnislose Blicke zuwarf.
»Gu- was? Wo liegt das?«, fragte Ember und schloss zu den beiden Wandlern auf.
»In Ecuador.«, erklärte Ras Algheti und überließ wieder Bat Furan das Wort, der sogleich anfing, seinen ›Sprungplan‹ zu erläutern. »Das ist diesmal sowas von todsicher. Als erstes natürlich die Node von Azteca. Da wären wir dann schon einmal in Mexiko. Von da aus finden wir spielend eine ecuadorsche Sippe. Und im Null komma Null sind wir in Guayaqil.«
»So, wie du das sagst, sehe ich mich schon irgendwo in Bombay herumirren und nach Essen flehen«, rief Antigua dazwischen, was Bat Furan jedoch vollkommen ignorierte. Die beiden Mädchen fingen dennoch an zu kichern.
Gerade als Tigris sich noch eine gemeinere Stichelei überlegt hatte, passierte es schon wieder.
›Ich habe dir das Wahre Bild gezeigt! Erinnerst du dich denn wirklich nicht?‹, dröhnte eine weibliche Stimme durch ihren Geist, und Tigris blieb schlagartig stehen.
»Schon wieder... eine Vision?«, fragte Antigua leise und hielt an, ohne darauf zu achten, dass die Jungs mit großen Schritten den matschigen, von feuchtem Laub bedeckten Waldpfad weiter entlang schritten. Tigris nickte schwach und spähte mit schnellen ängstlichen Blicken in die dunklen Wälle aus Baumstämmen zu beiden Seiten, obwohl sie sich gleich darauf über sich selber ärgerte. Es war nie jemand Unbekanntes da, wenn die Stimmen in ihrem Kopf redeten. Sie atmete tief durch und machte einen entschlossen Schritt nach vorne.
›Wie konntest du alles vergessen? Du musst dich erinnern! Nur du kannst uns noch retten!‹ Die Stimme klang fast flehentlich.
»Tigris, komm endlich! Die Jungs sind weit vor uns!« Antigua hakte sich bei ihr unter und zerrte sie mit sich. Wie leicht benebelt stolperte Tigris mit ihr weiter. Aber anscheinend war die Vision vorbei. Sie beeilten sich und erreichten die drei Jungs, die ein gutes Stück weiter schon auf sie warteten.
»Anscheinend kann man euch auch schon ganz leicht in Windwibbenburg verlieren«, begrüßte Bat Furan die Mädchen spöttisch und bot ihnen seine Arme zum Unterhaken an.
»Wir haben nur deine Reaktionen getestet, mein Lieber. Wenigstens werden wir nicht alleine sein, wenn wir uns durch den Dschungel schlagen müssen«, entgegnete Antigua ungerührt, woraufhin Ras Algheti meinte: »Andere bezahlen für so einen Urlaub Tausende. Ihr habt keinen Sinn für Abenteuer und Aufregung. Typisch Weiber. Am liebsten würdet ihr auf einer Modenschau von Dior verloren gehen, stimmt’s?« Dann bemerkte er, dass Tigris ungewohnt schweigsam war und mit gerunzelter Stirn zu Boden schaute, anscheinend wild entschlossen, sich jede Einzelheit ihrer Wildleder-Boots einzuprägen.
»Ihr geht es nicht so besonders«, sagte Ember daraufhin schnell. »Wegen morgen, ihr wisst ja. Die Prüfung in Barcelona.«
»Ach, das ist doch nur eine Sache von zehn Sekunden«, meinte Bat Furan lachend und hielt sich für den Rest des Weges an Tigris' Seite. »Die Seherin kommt ins Zimmer gerauscht, du machst aus dem Teil, das sie dir gibt, irgendetwas anderes, zum Beispiel diese flauschigen Bälle. Das kannst du doch am besten. Währenddessen wirft sie einen müden Blick auf deine Aura, oder auch nicht. Und dann kritzelt sie deinen Namen in das Register für Windwibbenburg und rauscht wieder davon. Sie prüfen noch nicht einmal, ob etwas Sinnvolles bei deiner Wandlung herausgekommen ist. Sie wollen nur sichergehen, ob du irgendetwas aus irgendetwas machen kannst. Das ist alles. Und je blöder du dich anstellst, um so lieber lassen sie dich bei uns.«
Bat Furans Stimme, die wie immer grenzenlos optimistisch klang, lenkte Tigris zumindest bis kurz vor der Siedlung von dem merkwürdigen Zwang ab, hinter sich in die finsteren Wälder zu blicken. Wieso hatte sie bei dieser Vision nur das Gefühl, dass diesmal Jemand oder Etwas in der Nähe war? Und welches Wahre Bild sollte sie angeblich gesehen haben?
›Was kann ich noch tun, damit du dich erinnerst? Man hat mir gesagt, dass es schwierig wird, ich weiß. Aber wir haben nur noch wenig Zeit...‹, begann die Stimme wieder traurig zu sprechen.
Tigris schaute von der Haustüre aus noch einmal in den Wald.
»Ich schnappe noch ein wenig frische Luft vor der Tür«, stieß Tigris plötzlich hervor, als sie an ihrem Haus angelangt waren. »Geht schon einmal hinein und sagt meiner Mutter und den anderen Bescheid. Nur eine Minute!« Sie lächelte zur Bekräftigung, dass es ihr tatsächlich gut ging. Nach einigem Zögern und besorgten Blicken traten Antigua und die anderen schließlich alleine durch die Haustür von Rosenhag 3.
Tigris holte noch einige Male tief Luft - und drehte sich um. Vor ihr lag feuchtglänzend der Schotterweg hinauf zur Burg. In einigen Metern Entfernung verbarg sich irgendwo zwischen der dunklen Waldwand links der schmale Pfad, der zum Turm führte.
»Okay. Wer bist du und was willst du? Ich weiß genau, dass du irgendwo hier rumhängst«, sagte Tigris leise und atemlos.
Sie spähte durch die Dunkelheit, bereit, irgendetwas Furchterregendes zwischen den Bäumen zu erblicken. Aber dort waren nichts als Dunkelheiten und Schatten, aus denen Angst ohnehin alles formen konnte, was man fürchtete.
›Ich gehöre zu denen, die schon lange als vermisst oder sogar tot gelten. Nichts als ein Mythos der Daimons bin ich inzwischen. Ich büße für ein großes Unrecht, und meine Strafe ist, dass ich seit Jahrtausenden die letzten Fragmente einer bestimmten Wahrheit beschütze, die sich noch an verschiedenen Orten dieser Welt befinden. Aber ich habe meine Buße selber gewählt und tue bereitwillig meinen Dienst. Meine Reue ist immer noch groß. Und jetzt, wo ich dich so vorgefunden habe, wie Omrishah es mir vorausgesagt hat...‹ Die Stimme wurde brüchig und zitternd. ›Oh, ich muss behutsam sein mit dir. Ich hätte nicht gedacht, dass dein Zustand so schlimm ist.‹
»Ich habe nichts mit all dem zu tun. Es ist alles nur ein schrecklicher Irrtum!«, stammelte Tigris und schüttelte unentwegt den Kopf. Die Frauenstimme sprach in Rätseln, die ihr eigentlich gleichgültig sein sollten und sie doch beunruhigten und verunsicherten. Irgendetwas stimmte nicht mehr an ihrem Leben, von Tag zu Tag lösten sich seine Selbstverständlichkeiten und Wahrheiten auf und vergrößerten das schwarze Loch in ihrer Seele, in dem irgendetwas lauerte. Etwas Bedeutsames, Schreckliches...?
›Fühlst du denn gar nichts bei seinem Namen? Kriecht nicht die winzigste Ahnung in dir hoch, was du auf diesem Bild siehst? Wie konntest du ihn nur vergessen? Er denkt unentwegt an dich. Erinnerst du dich denn gar nicht an Barujadiel?‹
Tigris stockte der Atem, als die Stimme diesen Namen nannte. Darum ging es ihr also: Um die Engelsvision, die wie ein Blitz ihre Gedanken erleuchtet und sich anscheinend für immer darin eingebrannt hatte.
»Ich... nein. Ich kann mich nicht erinnern, weil ich nichts damit zu tun habe. Es ist alles nur die Schuld von Raffael. Er hat mir dieses verdammte Amulett gegeben! Ich wollte es nicht, ich sollte es gar nicht bekommen.«, flüsterte Tigris und setzte sich auf die kalte Treppe, barg den Kopf in die Hände und schloss müde die Augen.
›Ja, es war anders geplant. Jemand hat fahrlässig oder absichtlich etwas vertauscht. Das macht alles so schwierig. Ich könnte dir jetzt auf der Stelle die ganze Wahrheit über dich und alles andere sagen. Aber vielleicht könntest du einen Schock erleiden und alles würde noch schlimmer, als es schon ist. Oder vielleicht ist dein Vergessen so groß, dass selbst die Wahrheit nicht mehr helfen kann. Ich muss langsam vorgehen, und vorsichtig.‹
Tigris hob den Kopf und sah sich um.
»Bist du nur wieder so eine Stimme in meinen Kopf, oder bist du in der Nähe? Ich habe das Gefühl, das jemand hier ist.«
›Schau nach oben...‹
Tigris' Blick schnellte nach oben, hinauf in die sich im Wind wiegenden Baumwipfel, weiterhin ratlos, da nichts Besonderes zu erkennen war.
Doch schließlich verharrte ihr erstaunter Blick auf einer Eiche in nächster Nähe. Zwischen den Zweigen nahe der Krone wehte etwas Silbrigweißes. Zunächst hielt Tigris es für einen Schal, der einem  Windwibb einmal davongeflogen sein mochte.
Doch die silbrige fließende Form erwies sich bei genauerem Hinsehen  als etwas größer. Sie ähnelte einer vielleicht kindgroßen Gestalt, die auf einer Astgabel saß und sanft auf und ab wippte. Dabei schwebte ihr merkwürdig zerfetzt wirkender silbriger Kapuzenumhang beständig mit in die Höhe, doch erstaunlicherweise viel langsamer als es sein sollte. Alles an der Erscheinung wirkte so federleicht und ätherisch, als ob sie mit der nächsten stärkeren Böe davongetragen würde.
›Es ist gut, dass du angefangen hast, alles nieder zu schreiben, was an Worten und Bildern in deinem Geist auftaucht. Nur schade, dass dir das Wahre Bild gar nichts mehr bedeutet.‹
›Du meinst den Engel, der jemanden umarmt? Ist das Barujadiel? Wen umarmt er?‹ Tigris bemerkte gar nicht mehr, dass sie nicht mehr laut sprach, sondern nur noch dachte.
›Meine Güte, wenn du das alles nicht mehr weißt... ich hatte große Hoffnungen, als ich hierher kam. Doch ich verlasse diesen Ort vollkommen verzweifelt. Trotzdem darf ich nicht aufgeben.‹
›Ich bin ja traurig, wenn ich diesen Namen höre oder mich an den Engel erinnere. Aber ich konnte das Bild nur ganz kurz wahrnehmen. Wenn ich es doch länger sehen könnte... vielleicht fällt mir dann ein, was daran bedeutsam ist.‹
›Du wirst es bald in Ruhe betrachten können. Es ist auf dieser Welt. Ich bewache es mit meinem Leben. Und ich muss wieder dorthin. Ich lasse es nicht gerne alleine. Ich werde dir ab und zu ein Zeichen geben und dich besuchen. Wenn du Barujadiel bald begegnest, erinnerst du dich vielleicht ein wenig. Ich hoffe es. Bis dahin Leb wohl.‹
Tigris stellte erschrocken fest, dass die silbrige Gestalt in den nächsten Baum schwebte und anscheinend im Begriff war, zu verschwinden.
›Warte!‹ Sie sprang auf die Beine und rannte ein paar Schritte auf den Wald zu. ›Barujadiel ist 
hier?‹
›Hat Omrishah dir nicht einen machtvollen Beschützer versprochen? Was auch passiert: Vertraue in deinen machtvollen Engel, wie damals.‹
›Ich dachte, es gibt keine Teufel oder Engel?‹
›Natürlich nicht. Ich meinte es sinnbildlich. Es gibt nur gute oder schlechte Gedanken, Absichten und Taten. Und niemand sollte für sich selber die Hand ins Feuer legen. Die eigene Gutartigkeit ist so leicht zu erschüttern. Hölle oder Paradies sind in uns selber, manchmal zur gleichen Zeit. Leb wohl.‹
»Tigris?«
Sie wandte den Kopf und sah ihre Mutter in der Haustür stehen, immer noch ohne das kleinste Lächeln, nichts als Besorgnis und Angst im Gesicht tragend. »Komm bitte herein, wir müssen noch einmal genau durchgehen, was du morgen tun musst.«
Tigris warf einen Blick in die dunklen Baumwipfel, dann stampfte sie ärgerlich und verwirrt zugleich zurück zum Haus.
»Geht es dir wieder besser, Spätzchen?« Ihre Mutter drückte sie ganz fest an sich. »Es wird alles gut. Wir werden auch deine Examination schon durchstehen.«
»Genau. Und zwar ohne blondgefärbte Haare und Kontaktlinsen«, grummelte Tigris noch und ließ sich dann im Arm ihrer Mutter ins Esszimmer führen, wo schon Antigua und die anderen Hausbewohner saßen und den nächsten Tag besprachen.

.

Unter allen fünf Noden, die PAGAN bewachte, gehörte die Asiatische eindeutig zu denjenigen Orten, die die meisten Superlativen für sich beanspruchen konnte. Sie verfügte über die meisten Passagen in alle Welt, war die Größte, Bestbewachteste, Höchstgelegene, Abgeschiedenste - und Kälteste: Sie lag inmitten des Himalayas, genauer gesagt im Herzen der Tanggula-Shann-Kette und erstreckte sich mittlerweile bis zu vier Kilometer vertikal und drei Kilometer horizontal unter dem Gesteinsmassiv. Dies lag daran, dass PAGAN Tanggula Shann zu ihrem Hauptquartier gemacht hatte und seit dem Frontenwechsel der asiatischen Domén Arx vor zwanzig Jahren ständig weitergebaut und modernisiert wurde. Es gab in dieser unterirdischen Schaltzentrale dank der unermüdlichen Hilfe tausender Daimons Stätten und Dinge, die sich weder die ahnungslose Menschheit noch die altmodische Rosenstern-Allianz in ihren wildesten Träumen ausmalen konnte, so wirklichkeitsgetreu und doch über alle Maßen phantastisch war ihr Anblick. Schon alleine das ›Reisezentrum‹ ließ sämtliche anderen Noden erbärmlich wirken, obwohl der Stil der gleiche war: Ein mehr oder weniger runder Saal mit mehr oder weniger hoher, spitzzulaufender Kuppel. Und Tanggula Shann besaß eben von allem Mehr. Sie erstreckte sich vom Boden bis zum Scheitelpunkt achthundert Meter in die Höhe und hatte einen Radius von über sechshundert. Wie bei allen anderen Noden auch lief ein serpentinengleicher Weg vom Grund bis fast unter den Scheitelpunkt, von dem in regelmäßigen Abständen Korridore abgingen, in denen sich die  Passagen zur restlichen Welt befanden. Auch hier hatte die Asiatische Node mehr zu bieten: Neben der Standardausstattung von elf Passagen zu den anderen Noden beherbergte Tanggula Shann auch noch sämtliche Tore und Portale im ganzen Einflussbereich des Asiatischen Territoriums, die die ersten sechsundzwanzig von hundertdrei Serpentinenwindungen belegten sowie die bei der RSA verpönten Direktverbindungen zu allen wichtigen oder aus sonstigen Gründen bedeutsamen Orten der Welt. Vier Windungen im oberen Drittel der ›Kathedrale‹ beherbergten sogar Durchgänge zu mit PAGAN sympathisierenden Sippen der RSA - und es kamen ständig neue dazu. In kluger Voraussicht und angetrieben von der Vision eines brüderlichen Zusammenschlusses aller Xendii hatte PAGAN darüber hinaus dreißig weitere Windungen samt - noch zumeist leerer - Korridore direkt unterhalb des Scheitelpunktes von den Daimons ins Gestein treiben lassen. Lediglich achtzehn Tore davon waren bereits aktiviert und führten allesamt zu ausgewählten atlantischen Sippen - eine davon direkt ins Herrenhaus der Zimberdales.
Diese Dimensionen konnte man nur durch die fünfzig Fahrstühle und ein Transportband auf den Serpentinen bewältigen - weswegen ästethisch feinfühlige Xendii die Asiatische Node dezent, aber treffend ironisch auch als ›Einkaufszentrum‹ oder ›PAGAN Plaza‹ betitelten. Inzwischen nämlich blitzte die Node vor Marmor, Chrom und Plexiglas und bot die gleiche Betriebsamkeit eines echten Bahnhofs - was jede Node nüchtern betrachtet eigentlich auch war.
Viele der tagtäglich eintreffenden Xendii aus aller Herren Länder waren zumeist nur auf der Durchreise: Sie kamen etwa aus der Achten Windung, bestiegen einen Fahrstuhl oder das Transportband und verschwanden gleich wieder weiter oben im Australischen Sektor. Es gab zwar immer noch größtenteils die nostalgischen alten Holztüren, hinter denen die beklemmende undurchdringliche Finsternis herrschte, aber auch schon die modernere Version von Passagen und Durchgängen: Torbögen, zwischen denen die Luft wie verrückt zu flirren schien und alles dahinter befindliche verschwommen vage andeutete.
Wie auch in den Allianz-Noden befanden sich zwar Patrouillen in jedem Gang, doch strenge Kontrollen samt Ausweisen gab es nicht. Dennoch konnten im Fall eines Zwischenfalls eine ständige Einsatztruppe von fünfhundert Mann innerhalb weniger Sekunden zusammengezogen werden - in jedem Korridor gab es ein Fixiertes Portal, das nur Mitglieder dieses Bataillons betreten konnten und das direkt zu ihren Unterkünften in Shangri-La führte.
Natürlich handelte es sich hierbei nicht um das mythische Wunderland Asiens, das von heiligen unsterblichen Menschen bewohnt sein sollte, doch angesichts der überwältigenden, täuschend echten Gestaltung einer sonst nur auf der Erdoberfläche zu findenden Landschaft im Herzen der Tanggula-Shann-Kette passte dieser sagenhafte Name sehr gut. In der riesigen Höhle gab es sogar Tag und Nacht, ein Verdienst raffinierter Techniker und Wissenschaftler, die regulierbare, monströse Beleuchtungsschienen mithilfe von Daimons an das Felsdach hatten anbringen lassen, die durch einen künstlichen Himmel verborgen wurden.
In Shangri-La fand der Besucher Parks, Waldhaine, hügelige Wiesen, zwei Pferdekoppeln, einen kleinen See mit Bootshafen und etliche phantastisch aussehende Gebäude, die vor über hundert Jahren Antonio Gaudí, der berühmte spanische Architekt, höchstpersönlich für eine zukünftige Xendi-Hauptstadt entworfen hatte - auch er selber war seherisch begabt und eines der Gründungmitglieder PAGANs gewesen: einer der zahlreichen Prominenten, von deren Doppelleben die wenigsten Menschen etwas wussten.
Daher stand kein Gebäude in Shangri-La, das dem anderen glich und jedes einzelne von ihnen schien einem Fantasy-Märchen entsprungen zu sein. Einige sahen aus, als hätte man Dinosaurierknochen und -schädel kunstvoll bearbeitet und zu einem Haus zusammengefügt, andere erinnerten an prachtvolle Jugendstilhäuser, manche wirkten wie sagenhafte Dämonenpaläste mit ihren schmiedeeisernen Toren, Treppengeländern und Kerzenhaltern in Form von Drachenklauen, Schlangen und zahllosen Variationen von Pentagrammen. An manchen befanden sich an der gesamten Außenfassade Mosaikarbeiten, andere waren aus Sandstein mit kleinen Zinnen, die wie in Zuckerguss getaucht schienen, oder aus poliertem Marmor mit schmiedeeisernen Einlegearbeiten. Selbst jene, die hier ständig wohnten, entdeckten noch nach Jahren neue Details in den Ornamenten, Säulen, Fenstern, Kuppeln und Türrahmen. Die märchenhafte Pracht setzte sich auch in den Häusern fort und wurde nur durch die Anwesenheit von Fernsehern, Telefonen, Computern und anderen Annehmlichkeiten des technischen Fortschritts ein wenig gestört, wo man diese nicht hinter kunstvollen Holztüren verschwinden lassen konnten.
Zum bevorstehenden Equinox Veris, der Tag- und Nachtgleiche im Frühling und ein Feiertag, den die Xendii aller Bündnisse und Sekten auf der nördlichen Hemisphäre begingen, wurde auch in Shangri-La das Innere der Häuser traditionell mit frischen Blumen und Zweigen geschmückt.
Die Vorbereitungen liefen deswegen auch an diesem phantastischen Ort auf Hochtouren.
Als Aévon Zimberdale die Treppen  des zentral in Shangri-La gelegenen ›Aquariums‹ hochkam, zu dem eine direkte Passage von der tiefer im Gebirgsmassiv gelegenen Node führte, sah er ungewohnt verdreckt und sehr mitgenommen aus. Dies gab einen markanten, erfrischenden Kontrast zu all den Blumengestecken und Girlanden ab, mit denen die dienstbaren Geister das Gästehaus mit der blauen Mosaikfassade vom Tiefgeschoss bis zum Speicher geschmückt hatten. Und ›dienstbare Geister‹ beschrieb die tatsächliche Natur der Angestellten recht gut: Es handelte sich fast ausnahmslos um Daimons, die schon seit längerer Zeit Asyl unter PAGAN genossen und die Prüfungen für eine dauerhafte Niederlassung bei den Xendii mit guten Beurteilungen abgeschlossen hatten. Diese an sich erfreuliche Eigenschaft konnte Procyons Sohn jedoch nicht im mindesten beeindrucken, weswegen er jedem von ihnen finstere, durchdringende Blicke aus seinen strahlend honigbraunen Augen zuwarf - wenn sie nicht gleich panikerfüllt die Flucht vor ihm ergriffen.
»Wo ist mein gottverdammter Vater?«, herrschte er Bloomsworth an, der in der langgezogenen Bibliothekshalle mit den schraubenförmigen Säulen aus hellem Marmor die Bücher abstaubte und mit seinem schwarzen Frack geradezu ein Klischee von einem daimonischen Butler abgab. Procyon schätzte ihn sehr und nahm ihn auf allen seinen Reisen mit, die ihn sehr oft nach Shangri-La führten.
»Er wird sich höchstwahrscheinlich oben im Konferenzsaal wieder mit den Kontinentalräten von PAGAN beraten, wie fast jeden Tag«, entgegnete Bloomsworth ungerührt und glitt würdevoll und hochnäsig zum nächsten Regal.
»Ist Rosanjin auch hier?« Aévon bemühte sich, betont gleichgültig zu klingen, konnte allerdings den alten Daimon, der mit wenigen Unterbrechungen schon seit Jahrhunderten auf der Erde lebte, natürlich nicht täuschen. Und so antwortete Bloomsworth unüberhörbar ironisch: »Nein, Mr. Yamashita ist vor zwei Tagen nach England zurückgekehrt. Aber vielleicht sollten Sie sich trotzdem vorher ein wenig frisch machen, Sir. Auch wenn Sie höchstwahrscheinlich nur diese unwichtige Zusammenkunft der Kontinentalräte stören wollen: Sie sehen aus wie ein Kaktus, der mit voller Absicht in einen Schweinepfuhl gefallen ist, Mr. Zimberdale junior.«
»Und das war Nummer 79. Beim hundertsten ›Junior‹ erledige ich dich, Bloomy. Vergiss das nie«, raunte Aévon unheilsschwanger.
»Oh, ich habe noch einundzwanzig Versuche? Ich dachte, es wären bereits 82 Verstöße gewesen, wenn man jene Male auf der Treppe vor rund zwei Monaten dazurechnet. Oder gelten diese wegen zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit aus Wut nicht?«
»Ah ja. Okay, ich zähle sie nicht mit. Aber nur, damit du und die anderen Dummons in diesem Haus nicht denken, ich wäre ein Materialist, der euch alle hasst.« Aévon grinste spöttisch.
»Kein Daimon glaubt, dass Sie ein aggressiver, egoistischer Ignorant sind, Sir.« Bloomsworth, mittlerweile oberhalb eines Regals schwebend, schaute Aévon gespielt entsetzt an. Und als dieser sich einen passenden Kommentar schenkte und davonstürmte, murmelte der alte Daimon: »Denn wir wissen es genau.«
Währenddessen rannte Aévon die weiße Freitreppe hinauf, einem versehentlich eingelassenen Landstreicher mehr ähnlich als dem Sohn und Erben des gepflegten Mister Procyon Zimberdale.
Der Offizier, postiert vor der meergrünen zweiflügeligen Tür des Sitzungssaales, schob schon seit Stunden Wache und kämpfte bereits gegen seine Langweile und das Sekunden währende Eindösen an, da stand auch schon Aévon plötzlich vor ihm und verschaffte sich mit einer Druckwelle sowohl Einlass als auch die augenblickliche, ungeteilte Aufmerksamkeit aller Beteiligten.
»Gott zum Gruße, meine lieben seelenmutierten Brüder und Schwestern. Liegen irgendwelche Vorschläge an, über die ihr abstimmen müsst, aber nicht wisst, wie und warum? Vielleicht kann ich dabei behilflich sein.«
Er sah scheinbar gutgelaunt in die Gesichter der über hundert Männer und Frauen, die ihn vollkommen sprachlos aus den drei treppenartig ansteigenden, halbkreisförmigen weißen Tribünen anstarrten.
Vor ihnen stand ein ebenso weißes Marmorpult mit drei Plätzen, auf denen der bereits fassungslose George Midfield saß, sowie seine Stellvertreterin, Mira Szelwyczinski und als Protokollant ein junger Chinese aus der Sippe Han Shui, ehemals die Domén Arx Asiens und immer noch sehr einflussreich und traditionsbewusst. Aévon hatte ihn noch nie zuvor gesehen und warf ihm im Vorbeigehen absichtlich einen viel zu langen, viel zu zweideutigen Blick zu, der den jungen Mann verwirrte und anscheinend in tiefste Verlegenheit brachte - er senkte rasch den Kopf.
Als Procyons Sohn dann auch noch seelenruhig zu den Sitztribünen schlenderte, wo sich am äußersten Rande noch ein freier Platz genau neben seinem Vater befand, platzte George Midfield erwartungsgemäß der Kragen. Er tupfte sich sein schweißnasses Gesicht rasch mit einem Taschentuch ab und rief dann kaum beherrscht: »Dies ist eine nicht-öffentliche Sitzung der Kontinentalräte. Ich muss dich bitten, das Ende abzuwarten, wenn du uns etwas mitzuteilen hast.«
Doch Aévon ließ sich seelenruhig neben seinem adretten, gepflegten Vater nieder, der mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn anscheinend schon über die passenden Worte brütete, mit dem das rüpelhafte Verhalten seines Sohnes am besten zu entschuldigen wäre.
»Bitte mich, bis du umfällst, George, mein Bester. Also sind wir schon auf dem Allianz-Niveau angekommen? Die großen Führer entscheiden über die Zukunft des Fußvolks, ohne dass sie auch nur einmal aufmucken dürfen? Ich habe ein dringendes Anliegen, es ist mein Recht, es hier vorzubringen. Und es geht um die Zukunft aller Menschen auf dieser Welt.«
»Aévon, bitte! Nicht schon wieder...«, stöhnte Procyon auf und verzog gequält das Gesicht.
»Doch, doch. Immer wieder. Bis ihr es endlich kapiert! Das Eden-Projekt ist gestrichen. Hat jemand zufällig irgendeinen Schimmer, was das für uns bedeutet? Wenn wir doch schon die ganze Zeit noch nicht einmal gewusst haben, dass wir Teil dieses Projekts sind, sollte uns vielleicht schon ein wenig interessieren, was sich ändert, nachdem unsere Welt hochkant aus Omris Zoo geflogen ist.«
Nun erhob sich ein empörtes Rauen im ganzen Saal. Viele waren ja schon die respektlose Ausdrucks- und Verhaltensweise des jungen Zimberdales gewohnt. Aber Omrishah genoss höchstes Ansehen bei PAGAN - manche verehrten ihn geradezu.
»Ah, ich weiß, die Zeiten sind hart«, fuhr Aévon ungeachtet der bösen Blicke fort. »Ein gefährliches DiSfakt ist der MDL in die Hände gefallen - nun ja, Schicksal. Ein ziemliches redebegabtes Bürschchen ist gerade dabei, die Xendii der Allianz gegen uns aufzuhetzen - aber was! Das fällt wohl unter Meinungsfreiheit. Die Welt wird von unfassbar gierigen, skrupellosen Politikern, Militärs und Finanzgeiern gerade genüsslich gefleddert - pah, was haben wir damit zu tun, auf unseren Inseln der Glückseligen? Ständig legen gewiefte MDL-Agenten unsere mitfühlenden Daimontherapeuten herein und kriegen ungehindert Asyl - Risiko, nicht wahr? Da erscheint es mir bei genauer Betrachtung auch nicht weiter tragisch, was ich über das Ende dieses glorreichen Eden-Projekts herausgefunden habe. Es klingt auch noch so verdammt nett und sympathisch: Freie Entfaltung und Freier Wettbewerb für alle Geschöpfe Gottes. Ah, wenn ich nicht so ein verdammt misstrauisches Biest wäre, könnte es mir glatt gefallen.«
Mira ergriff daraufhin mit schneidender Stimme das Wort. »Omrishah wird uns helfen, wie er es bisher immer getan hat. Zufälligerweise erwarten wir heute seinen Boten, der uns vielleicht endlich über einiges aufklären kann.«
»Na, das trifft sich ja wirklich großartig. Ich habe da einiges auf der Homepage der MDL gelesen, das  Anlass zur Besorgnis gibt. Wusstet ihr zum Beispiel, dass innerhalb von drei Monaten nach Ende des Projekts keinem Daimon mehr auch nur Fragen nach seinem Wohlbefinden gestellt werden dürfen, wenn er durch die Daimontore hereinschneit? Sämtliche direkten Passagen von der Daimonsion in die Noden dürfen nicht mehr kontrolliert geschweige denn gesperrt werden. Zuwiderhandlungen werden von den Melegonin umgehend geahndet.«
Schadenfreudig registrierte Aévon daraufhin die lautstark ausbrechenden Diskussionen und die immer wieder zu ihm herumschnellenden Köpfe der Xendii.
»Woher weißt du das alles?«, fragte Procyon seinen Sohn leise.
»Ich habe einen MDL-Spitzel gefoltert, um an die Passwörter zu kommen«, antwortete Aévon, nicht im mindestens bemüht, seine Stimme gedämpft zu halten. Das rief sogleich eine empörte Afrikanerin auf den Plan, die eine Reihe über ihm saß. »Geständnisse unter Folter sind nichts wert. Wir bei PAGAN verabscheuen diese Praktiken. Unter Folter würdest sogar du gestehen, ein Daimon zu sein und mit der MDL zusammen zu arbeiten.«
»Tja, das hat er auch ohne Folter gestanden. Die Passworte waren trotzdem richtig.«
Mira rief durch das Mikrofon die Anwesenden zur Ruhe, deren aufgeregten Stimme allmählich verebbten und schließlich verstummten, als sie schließlich fortfuhr: »Wenn dem so sein sollte, können wir jederzeit die Dimensionspassagen sperren. Aber bevor wir keine richtigen Beweise haben, können wir nicht einfach die Verträge mit den FreeDaimons einseitig kündigen, da sind wir alle einstimmiger Meinung. Wir verdanken unseren Daimons viel. Nicht zuletzt Shangri-La.«
Zustimmendes Gemurmel ließ Mira zufrieden zurück in ihren Sitz lehnen. Dennoch behielt sie Aévon genauestens im Auge. Über sechs Wochen war er verschwunden gewesen - hatte sogar seinen Geliebten in völliger Ungewissheit und Sorge zurückgelassen - und nun tauchte er mirnichts dirnichts einfach wieder auf und hatte offensichtlich beunruhigende Erkenntnisse über das Ende des Eden-Projekts gewonnen. Er saß überaus gelassen und selbstsicher wie gewohnt da, ähnelte zwar zurzeit mehr einem verwahrlosten Bettler, dennoch wirkte er genau wie jemand, der noch viele Asse im Ärmel hatte und sie Blatt für Blatt auszuspielen gedachte. Wo blieb nur Nikaelu, Omrishahs Bote? Seitdem der mächtige Daimon unter Hausarrest gestellt worden war, waren keine Nachrichten mehr von ihm gekommen. Hoffentlich brachte Nikaelu wenigstens auch gute Neuigkeiten mit. Mira hatte das Gefühl, auf der Stelle zusammenzubrechen, wenn sich jetzt noch mehr Schwierigkeiten vor ihr auftürmten.
»Wer protzige Miniaturwelten in Gebirgen braucht, benötigt sicher Daimons«, rief Aévon scheinheilig lächelnd. »Seit König Salomon gibt es immer wieder Xendii, die mit Prunkbauten aus der Masse herausragen möchten. Aber wofür? Was ist mit unseren Idealen, eines Tages unsere Talente und die Noden  mit den anderen Menschen zu teilen? Verschoben bis zum Jüngsten Gericht, nehme ich mal an. Glücklicherweise haben wir ja ständig mit den Daimons zu tun, da muss alles andere warten.«
»Du bist im Begriff, uns alle zu beleidigen!«, mischte sich George mit bebender Stimme ein. Er sah überhaupt nicht gesund aus und kämpfte gegen die seit zwei Wochen immer häufiger auftretenden Schüttelanfälle an. Aévon spürte sogar einen Anflug von Mitleid mit ihm. Dieses Schicksal eines langsamen Ausbrennens und heranschleichender geistiger Umnachtung würde ihm selber erspart bleiben. Er würde einfach in Flammen aufgehen und in Sekunden sterben. Mit 21 Jahren hatte seine Sanduhr schon zu rieseln angefangen. Und das letzte Körnchen konnte jeden Tag, vielleicht sogar in der nächsten Minute hinabschweben.
»Es war nicht meine Absicht, jemandem etwas zu unterstellen«, sagte Aévon in milderem Tonfall. 
»Aber ich frage mich ernsthaft, wer Vorrang für PAGAN hat: Die Menschheit - oder Daimons? Diese Welt, dieses Universum ist nicht ihre Heimat. Aber trotzdem bestimmen sie seit Urzeiten selbstherrlich darüber. Jetzt, wo das Eden-Projekt zu Ende ist, ist unsere Welt angeblich wieder Teil der Freien Welten, des Freien Universums. Wisst ihr, was das Merkmal der Freien Welten ist, meine lieben Brüder und Schwestern?« Aévon erhob sich, um die Tragweite seiner nächsten Worte noch zu unterstreichen. »Der DiS-Level muss mindestens 18% betragen. Damit auch wirklich jeder Daimon sich dort wohlfühlen kann. Und dagegen könnt ihr gar nichts machen, denn das ist die erste von vielen Neuerungen, die hier durchgesetzt werden - notfalls gewaltsam. Wer Daimonkratie und Freien Wettbewerb behindert, ist eben ein materialistischer Reaktionär, der zu seinem Glück gezwungen werden muss.«
»Hast du Beweise für diese ungeheuerlichen Behauptungen?«, riefen mehrere Räte gleichzeitig über die sich wieder laut erhebenden Stimmen hinweg.
»Wir können uns jederzeit in den nicht-öffentlichen Mitglieder-Bereich der MDL einloggen, ich habe die Passwörter erfahren. Wer nicht wie wir über die wahren Beweggründe der Shinnn informiert ist, wird sogleich mit Freuden in die MDL eintreten: Uneingeschränkte Bewegungsfreiheit für alle Geschöpfe Gottes! Spaß im ganzen Universum für alle! Religionsfreiheit für alle! Und das heißt nach Abzug aller Blümchen und Doppelzüngigkeit: Der DiS-Level wird erhöht, bis auch ein Angoleah-Daimon sich zumindest wieder materialisieren kann. Das geht natürlich nur, wenn ungehindert große Mengen DiS aus der Daimonsion durch die Daimontore hierher verfrachtet werden. Menschliche Anhänger wahnsinniger Kulte dürfen nicht mehr daran gehindert werden, ihren Göttern Blutopfer darzubringen.« Zum ersten Mal begann Aévons Stimme zu zittern, doch er fing sich rasch und wehrte  harsch die tröstende Hand seines Vaters ab. »Die Menschen werden sich in einer völlig veränderten Welt wiederfinden. Jeder Daimon darf natürlich in der Gestalt erscheinen, die ihm zusagt. Und wenn er gerne ein meterhoher Drache sein möchte, dann müssen wir ihm eben seinen Spaß lassen, alles andere ist diskriminierend und materialistisch. Alles ist diskriminierend und ungerecht, wenn wir bei dem Spiel nicht mitmachen. Wir behindern die Freie Entfaltung und den Freien Wettbewerb.«
Mira schloss getroffen die Augen. Wenn das alles tatsächlich stimmte... dann blieb PAGAN wohl keine andere Wahl, als alle Zugängen zu sperren - ungeachtet all der wirklich verzweifelten Daimons, die politisch oder religiös verfolgt wurden. Seit dem Verschwinden des gefährlichen ›Seelenfressers‹ hatte die MDL an Beliebtheit unter den Daimons stark zugenommen. Sie versprachen Sicherheit und gleichzeitig grenzenlose Freiheit. Dabei wusste jedes halbwegs intelligentes Geschöpf, dass es niemals absolute Sicherheit ohne Überwachung, Kontrollen und strenge Gesetze geben konnte. Und an dieser Stelle  hörte Freiheit auf. Den gebildeten, nachdenklichen Daimons war schon seit langem klar, dass hinter allen Versprechungen der MDL nichts als Machtgelüste standen, der Wunsch, alles und jeden zu beherrschen, nach Gutdünken schalten und zu walten. Da kam ein entflohener, psychopathischer Massenmörder gerade recht. Freie, selbstbestimmte Individuen ohne Angst, noch dazu in Massen, waren der natürliche Feind von egozentrischen, machtgierigen Einzelnen. Völker in Furcht hingegen...
Mira schreckte auf, als ein Windstoß mit einem Mal sämtliche Blätter auf dem Marmorpult durcheinander wirbelte.
Nikaelu, endlich!
Eine wie vor abertausenden Juwelen glitzernde Säule schoss von der hohen Decke des Saals bis in den Boden, in ihr rotierten außerordentlich schöne florale Blumenornamente in filigranen Streifen umeinander. Der Anblick ließ etliche, zumeist weibliche Räte entzückt aufseufzen, während die anderen ein wenig ungeduldig darauf warteten, dass der Daimon sich endlich endgültig materialisierte. Aévon verzog das Gesicht und rollte die Augen. Er erkannte den Shine sofort wieder. 
»Omri scheint Blondinen zu bevorzugen.«, knurrte er verächtlich und verschränkte fest die Arme vor sich.
»So ein Kleid möchte man auch einmal gerne tragen, ohne verspottet zu werden«, sagte eine hagere, australische Kontinentalrätin sehnsüchtig.
»Einen wunderschönen Abend wünsche ich!«, gurrte Nikaelu und hob lächelnd den Kopf. Sie trug diesmal eine bodenlange, perlenbestickte Robe aus goldenem Brokat und mit weiten Ärmeln, deren Ränder ebenso wie der Saum des ganzen Kleides in einem breiten Streifen von dunkelrotem Samt eingefasst waren. Das Gewand brachte ihre schmale Taille und das üppige Dekolleté vollendet zur Geltung. Passend zu ihm trug sie einen dunkelroten Kosakenhut, einen Samtmuff der gleichen Farbe und goldene, perlenverzierte Barock-Stiefelchen. Natürlich fehlte passendes Goldgeschmeide in Form von tropfenförmigen Rubinanhängern an Ohrringen und Kette nicht. Dieses Mal hatte sie ihre platinblonden Haare ordentlich hochgesteckt und auf zuviel Make-up verzichtet.
»Omrishah lässt euch alle ganz herzlich grüßen und knuddeln. Wie ihr sicher wisst, hat er zurzeit einige Probleme in der Daimonsion, hofft aber, sie recht bald lösen zu können.«
»Er ist der mächtigste Daimon von allen«, rief Aévon mitten in die andächtige Stille kurz nach Nikaelus Ansprache. »Dass er sich Hausarrest von Daimons gefallen lässt, die er mit einem Wimpernschlag in Luft auflösen könnte, hat schon etwas unfreiwillig Komisches.«
»Aévon, bitte!«, grollte Mira, deren Zornesausbruch sogleich strenge Blicke der versammelten Räte in die Richtung des unverschämten Zimberdales folgten. Aber Aévon genoss seine Provokationen viel zu sehr, um sich schuldig oder gar angesprochen zu fühlen.
Nikaelu warf ihm nur einen amüsierten Blick zu. »Ja, das könnte er. Aber er ist nun einmal so idealistisch und will nicht noch mehr Unfrieden in der Daimonsion stiften. Wir sind alle sehr besorgt über den Ausbruch dieses Monstrums.«
»Das wäre ich an eurer Stelle auch, wo doch vor allem Daimons auf seinem Speiseplan stehen.«
»Jedenfalls hat mich Omrishah beauftragt, euch einige Neuigkeiten zu überbringen. Erst die Guten oder die Schlechten Nachrichten?«, fuhr Nikaelu im heitersten Plauderton weiter und ließ die erwartungsvollen Mienen um sich herum schlagartig zusammenfallen.
»Bitte erst die Guten!«, flehte Mira laut, bevor jemand anderer den Mund öffnen konnte. »Vielleicht ertragen wir dann weitere Schlechte besser.«
»Nun gut.« Nikaelu zwinkerte ihr zuversichtlich zu und begann in kleinen, anmutigen Schritten an den Tribünen entlang zu gehen. »Ihr braucht euch keine Sorgen wegen des DiSfaktes zu machen, das Omrishah euch ursprünglich zukommen lassen wollte.« Sie strahlte, als sich die Gesichter der Xendii in ungläubigem Erstaunen erhellten. »Durch ein unglückliches Versehen war Raffiyell, der die Übergabe durchführen sollte, zur richtigen Zeit am falschen Ort. Das, was die MDL in ihre Hände bekommen hat, war nichts Besonders, nur eines dieser illegalen CX, CoreExtractors. Wieder eins mehr für ihre Vitrinen...«
»Und wer hat nun dieses mächtige, geheime DiSfakt?« schaltete sich Procyon ein, der den Vorfall in Prag aus Georges Erzählungen bis ins Detail kannte und augenblicklich seinen ersten Verdacht bestätigt fühlte, dass eine Verwechslung des Zeitpunktes oder der Koordinaten der Grund für Gabiriyells merkwürdiges Verhalten war.
»Nun ja, Raffiyell, der wirklich ganz zerknirscht über die ganze Angelegenheit ist, hat sie offensichtlich einer Neutralen übergeben. Leider ist das Mädchen wie vom Erdboden verschwunden.«
Diese Neuigkeit brachte George Midfield beinahe an den Rand eines Nervenzusammenbruches. Er atmete schwer und unregelmäßig, als er fragte: »Soll ...das heißen... ein... ahnungsloser Mensch läuft mit einem derart... gefährlichen Gegenstand ohne jeglichen Schutz durch die Welt?«
»Ich denke schon, mein lieber George.«, juchzte Nikaelu. »Soll ich jetzt mit den schlechten Nachrichten weitermachen?«
»Warum nicht?«, zischte Aévon. »Wir sind jetzt in der richtigen Stimmung dafür.«
Nikaelu ging in die Mitte des Saales und stellte sich würdevoll genau zwischen dem Präsidentenpult und den Tribünen auf. »Leider sind auf dieser Welt die Bedingungen nicht mehr gegeben, weiter in dem Eden-Projekt von Omrishah zu verbleiben. Er ist wirklich völlig aufgelöst deswegen, geradezu verzweifelt. Das Eden-Projekt ist dazu gedacht, Planeten des materiellen Universums Zeit und Gelegenheit zu geben, sich möglichst ohne Einflüsse von außen zu entwickeln; Strategien und Techniken zu finden, um konstant einen DiS-Level von höchstens 5,5 % beizubehalten. Dies gelingt nur Völkern, die eine möglichst friedliche Form des Zusammenlebens entwickeln können. Nun ja, im Moment sieht es auf dieser Welt nicht besonders gut in dieser Hinsicht aus. Omrishah muss seine Protektion der Erde aufgeben und kann nichts dagegen tun, dass sie wieder den Freien Welten 
zufällt.«
Schuldbewusst sahen viele der Ratsmitglieder verstohlen zu Aévon, dessen durchdringend helle Augen jedoch nur finster blickend an Nikaelu hingen.
»Sämtliche Passagen von der Daimonsion zu eurer Welt müssen augenblicklich freigegeben werden. Ihr dürft keinen Daimon mehr am Besuch dieser Welt hindern. Der DiS-Level muss derart erhöht werden, dass jeder Daimon die Möglichkeit hat, sich hier frei zu bewegen.« Nikaelus Stimme hallte heiter und beschwingt durch den Saal. Niemand sagte zunächst auch nur ein Wort, als sie geendet hatte.
Es war Mira, die vollkommen ruhig, aber bestimmt zu reden begann. »Omrishah muss klar sein, dass wir das niemals akzeptieren können.«
»Ja, er war auch sehr traurig, als er mir das erzählt hat.«, plauderte Nikaelu fröhlich weiter. » ›Nik‹, meinte er vorhin leise zu mir. ›Weißt du... wenn ich George wäre, würde ich die Schotten dicht machen. Ich habe zurzeit wirklich keine Möglichkeit, einzugreifen. Ich hab sogar den Schlüssel für das Oberste Portal verquast noch mal irgendwie verlegt. Selbst wenn die MDL mir die Bude einrennt und verlangt, ich soll gefälligst den Schalter drücken, mit dem alle Noden automatisch auf- oder zugehen, ohne dass die zwölf Nodenschlüssel noch eine Wirkung hätten... ich könnte das noch nicht einmal mehr. Ich bin halt so ein alter Schussel.‹ «
Mira und George sahen sich mit großen Augen an, und auch einigen anderen Xendii ging die Bedeutung der so harmlos daher geflöteten Worte Nikaelus allmählich auf.
Selbst Aévon sah vollkommen erschüttert aus. Omri riet ihnen also ganz offen, die Noden für die Daimons sofort zu schließen.
Sein sehnlichster Wunsch war urplötzlich in Erfüllung gegangen.
Aber was, verdammt noch einmal, war dieses Oberste Portal, mit dem alle Noden automatisch geöffnet oder geschlossen werden konnten?
Niemand der Räte, niemand bei PAGAN, und wahrscheinlich kein einziger Xendii auf der ganzen Welt hatte von einer derartigen Vorrichtung gehört.
Und doch existierte es.
Lediglich der Schlüssel war verloren gegangen.

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Engelbert tauchte kurz nach Mitternacht auf, nachdem er tagelang wie vom Erdboden verschluckt gewesen war und störte Tigris bei ihrer Grübelei über die Begegnung mit der seltsamen Gestalt wenige Stunden vorher.
»Schatzerl, wie ich sehe, geht es dir beschissen. Schon wieder.«, sagte er, nachdem er sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch materialisiert hatte, auf dem der Computer stand. Er war das einzige Erinnerungsstück an ihre Zeit in Düsseldorf. Nichts war mehr von ihrem alten Leben übrig, stattdessen wurde alles nach von Tag zu Tag chaotischer und verwirrender.
»Du weckst Antigua und den Rest von Windwibbenburg gleich noch auf«, zischte Tigris und spähte in der Dunkelheit hinüber zu dem anderen Bett, in dem silberblondes Haar schimmerte.
»Ich hab ein wenig vor der Haustür gesungen, wenn du verstehst, was ich meine. Alle träumen jetzt von einer wunderschönen Weide und tollen mit den anderen Schafen umher. Aber ich kann die Intonation natürlich beenden, wenn du nicht willst, dass ich dir mein kleines Geschenk zeige.«
»Danke! Ich habe bereits ein tolles Geschenk bekommen. Von ganz oben. Meine Freude ist grenzenlos!«, giftete Tigris und schnaubte entnervt auf, krampfhaft bemüht, nicht schon wieder in Tränen auszubrechen.
»Verdammt, hätte ich damals an der Takran doch den Kurs ›Psychische Unterstützung und Seelsorge an materiellen Geschöpfen‹ belegt. Was ist denn passiert, dass du wieder so ausrastest, Schatzerl? Die ganzen Tage kamst du mir ziemlich gutgelaunt vor. Du hattest doch auch viel Spaß beim Training, oder nicht?«
Tigris wischte sich mit verbittert zusammengepressten Lippen über die Augen. »Irgendetwas Merkwürdiges passiert gerade mit meinem Leben. Meine Mutter spielt total verrückt«, schluchzte sie schließlich ohne aufzusehen. »Dann hat mich ein merkwürdiger Daimon zugetextet. Und in ein paar Stunden stehe ich irgendsoeiner blöden Seherin der Domén gegenüber. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke. Meine Mutter wollte sogar, dass ich mir die Haare blond färbe und Kontaktlinsen anziehe, nur damit mich niemand erkennt. Obwohl ich laut Lux Livas erst mit meiner Anmeldung als Wandlerin für De Navarris existiere. Ich werde noch verrückt!«
»Kontaktlinsen! Was für eine blöde Idee, wenn man einem erfahrenen Seher unter die Augen tritt.«
»Lux Livas hat behauptet, dass De Navarris oder andere Sippen vielleicht schon von mir und dem Amulett wissen. Stimmt das, Engelbert? Weiß die ganze Welt schon über mich Bescheid?« Sie wischte sich eine Träne aus den Augen und knipste die Nachttischlampe an, gerade in dem Moment, in dem in Engelberts sommersprossigem Gesicht wieder das breiteste Grinsen auftauchet, das tatsächlich von einem Ohr zum anderen reichte. »Wir Daimons lieben Gerüchte, aber noch mehr, sie ein wenig... äh, liebevoll auszuschmücken, bevor man sie weitererzählt. Ich selber habe daran tatkräftig mitgewirkt. Zurzeit ist die Rede von einem bekannten Action-Star aus Hollywood, dem Raffael seine eigenen Kräfte übertragen hat. Er ist etwa 2,80 groß geworden, trägt Schuhgröße 60 und kann mit einem müden Blick erkennen, ob jemand ein Sünder ist oder ein gottesfürchtiger, rechtschaffener Mensch. Er wird spätestens an Equinox Mebani mit einem riesigen Helikopter über dem Petersdom, der Kaaba und der Al-Aksa-Moschee gleichzeitig erscheinen und das drohende Ende der Welt verkünden. Natürlich in Dolby-Surround und digitally remastered.«
Und damit entlockte er Tigris wieder ein kleines Lächeln. »Wirklich? Sie wissen also nicht, wie derjenige in Wahrheit aussieht, der dieses verfluchte Ding mit sich schleppt?«
»Wenn überhaupt, dann glauben sie eher die Version mit dem starken Muskelpaket. Einige sollen zwar etwas von einem jungen, seelisch labilen Mädchen gehört haben, aber diese Variante gilt als absurd. Von einem Auserwählten erwartet man ja schließlich einiges, nicht wahr? Nur nicht, dass er alle drei Minuten einen Heulkrampf kriegt.«
Tigris erhob sich langsam und fuhr sich ein wenig verlegen und beleidigt zugleich über ihre zerzausten Locken. »Trotzdem ist das alles zum Kotzen. Und was ist dein Geschenk an mich? Wieder etwas, das ich nicht mehr loswerde, wenn ich es auch nur ansehe? Vielleicht riesige Creolen? Oder ein fetter Bernstein-Ring?«
»Pfff, so etwas doch nicht. Meine Geschenke sind sinnvoll. Jedenfalls in letzter Zeit. Ich habe dir eine 300-Jahre-Probeversion von DOL mitgebracht. Mit Pop-up-Blocker und jeder Menge toller Links.«
»Ach so. Und was soll ich damit? Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?«
»Mich ein wenig umhören, und vor allem Maruké suchen. Dieser verdammte schizophrene Spinner hatte doch tatsächlich recht: Der ›Seelenfresser‹ ist aus der Hochsicherheitsgalaxie getürmt. Drüben soll die Hölle los sein. Die Sicherheitsstufe wurde auf ›Verkriecht euch und überlasst alles weitere den Angoleah‹ erhöht. Und ich bekomme langsam Angst. Was ist, wenn sich dieses Monster tatsächlich schon hier auf dieser Welt herumtreibt? Langsam habe ich das Gefühl, hier steigt eine große Familienfeier. Raffi huscht durch die Gegend, Gabi auch. Demnächst tauchen wohl auch noch die Sieben Shinnn auf und zünden das Feuerwerk. Gibt es keinen einsamen Planeten voller Schlamm, in den ich versinken und das Ende von dem Chaos abwarten kann?« Engelbert trat missmutig gegen den Computertower, der daraufhin ansprang.
»Und was soll ich bitteschön mit DOL mitten in der Nacht anfangen?«, fragte Tigris. »Mit den Shinnn chatten und sie bitten, vielleicht ein paar tausend Jahre später vorbeizukommen?«
»Mit denen kannst du sowieso nicht chatten, wenn du kein Daimonskript beherrschst.«
»Daimonskript wie Javaskript?«
»Daimonskript wie Daimonschrift. Ist eine ziemliche verwinkelte Angelegenheit und kein Mensch könnte die ganzen Ecken und sich kreuzenden Striche in der Schnelligkeit lesen, in der ein Daimon damit zu schreiben pflegt. Das ist eine höchst daimonische Kunst.
Aber wie wäre es zum Beispiel nach Informationen über dein lästiges Schmuckstück zu suchen? Um vielleicht herauszukriegen, wie man es wieder loswird, ohne dabei draufzugehen?«
»Einfach so?« Tigris schüttelte befremdet den Kopf. »Wie ist es eigentlich bei euch in der Daimonsion? Wie sieht es da aus? Wie seht ihr Daimons dort aus?«
Engelbert seufzte lächelnd. »Schatzerl, um dir das auch nur ansatzweise zu erklären, bräuchte ich Wochen. Und selbst dann könntest du dir darunter immer noch nichts vorstellen. Also denk dir einfach, es ist ungefähr wie hier auf der Erde, nur größer und phantastischer. Und Daimons sind wie Menschen, nur dass ihre Gefühle irgendwie stärker sind und länger anhalten. Aus Liebe oder Hass könnte ein Daimon einen ganzen Planeten verwüsten oder tausende von Jahren beleidigt sein. Wir sind ziemlich Ich-bezogen. Außer Omrishah, natürlich. Er fühlt sich immer für alles verantwortlich und will, dass alle sich ganz doll lieb haben. Kein Wunder, dass man ihn auf vielen Welten für Gott hält. Was er allerdings nicht ist. Er ist nur der Einzigmächtigste Daimon, der aus irgendeinem Grunde stark harmoniebedürftig ist und jedem helfen möchte.«
»Omrishah.« Tigris sah mit zusammengezogenen Brauen zum Boden. »Immer wenn ich seinen Namen höre, habe ich nicht so ein gutes Gefühl... oder eher gemischte Gefühle. Einerseits Wut, andererseits Mitleid.«
»Mitleid? Der Typ könnte im Prinzip innerhalb von Sekunden jeden Zerrafin oder Shinnn erledigen. Und er ist der einzige Daimon, der sich nicht zersetzt, wenn er in eine 0-DiS-Zone gerät.«
»0-DiS-Zone? Was ist das denn schon wieder? So eine Art Säuresee?«
»In etwa, ja. Es sind mal kleine, mal riesige Bereiche, wo es überhaupt kein DiS gibt, nichts, nada, nothing. Zum Tode verurteilte Daimons werden dort hineingeworfen. Deswegen musste ich ja auch so lachen, als Maruké behauptet hat, dass der ›Seelenfresser‹ aus der Hochsicherheitsgalaxis entkommen konnte: Der ganze Bau ist rundherum von einer riesigen 0-DiS-Hülle umgeben. Kein Daimon kommt da lebend durch, wenn es sich nicht um Omrishah handelt. Dafür braucht man nämlich Ultra-DiS. Und der einzige, der Ultra-DiS sozusagen in sich hat, ist eben Omrishah. Alle DiSfakte, die mit Ultra-DiS zu tun haben, können nur von ihm hergestellt worden sein. Und es sind durch die Bank weg sehr wichtige Gegenstände. Ergo hat Omri diesem durchgeknallten Killer entweder tatsächlich geholfen - was keinen Sinn ergibt - oder der Schutz war doch nicht so lückenlos wie gedacht. Das ist die Version, die ich glaube.«
»Ist er wirklich so gefährlich, dieser... wie hieß er doch gleich « Sie sah den Cherubi mit hochgezogener Braue an.
»Bru’jaxxelon.«
Schockiert zuckte Tigris zusammen. Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass die Zwillinge diesen Namen ebenfalls erwähnt hatten - und dass sie sich erbost darüber gefühlt hatte, wie sie über ihn geredet hatten. Und wie so oft, wenn sie sich mit diesen Dingen beschäftigte, tauchten aus den Tiefen ihres Geistes zusammenhanglose Sätze gleich Erinnerungen auf, die aber nichts mit ihrem Leben zu tun haben konnten: ›Ich hasse diese Schöpfung, ich hasse dich, Einziger Eloyah. Und mehr als alles andere hasse ich mich. Statt mich mit dem Tod zu erlösen, hast du mich mit dem Weiterleben bestraft. So sieht deine Liebe zu mir aus? Aber auch du wirst lernen, mich zu hassen. Ich werde dich zwingen, mir meinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Das schwöre ich dir.‹ Für einen winzigen Moment war es sogar so, als verkrampfte sich alles in ihr vor Schmerz, unendlicher Trauer und wahnsinnigem Zorn. Es fühlte sich so echt an, dass Tigris entsetzt aufstöhnte und sich verwirrt umsah.
»Schatzerl? Sag nicht, du hast wieder eine von deinen Halluzinationen! Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn man Gedanken empfängt, die zu keinem gehören. In der Daimonsion landet man mit so etwas gleich im Geschlossenen Sternhaufen.«
»Hier ebenfalls«, erklärte Tigris matt und setzte sich aufs Bett. Antigua schlief anscheinend wirklich tief und fest, so regelmäßig wie ihr Atem ging und so regungslos, wie sie unter ihrer Decke lag. Währenddessen zog Engelbert etwas Silbriges aus seiner Trainingsjacke. Es sah einer handelsüblichen CD ziemlich ähnlich, wenn man von dem bunten Glitzer einmal absah.
»Und das tust du jetzt einfach so ins Laufwerk und kannst dann in diesem DimensioNet surfen, oder wie?«
»Sagen wir so: Damit baut man eine spezielle Art von Leitung zur nächstgelegenen Node. Keine Angst, durch diese Art von Tor passt kein Daimon. Wenn es dir weiterhilft: Es ist wie eine Art Daten-Übertragungskabel, doch es lässt nur eine bestimmte Sorte von DiS durch. Daimons bestehen jedoch aus anderen, hunderten von Arten DiS. Pardon: Aethron.« Ohne den Computer zu berühren, ließ Engelbert den CD-Player ausfahren und legte dann seine DiS-CD ein.
Nun doch sehr neugierig geworden, trat Tigris hinzu und beobachtete gespannt den Bildschirm, auf dem schlagartig ein grellgelbes, großes Logo ›DOL - Dimensions online‹ auftauchte.
Nachdem Engelbert es ohne Maus anklickte, explodierte sofort der Bildschirm in einem Farbgewitter, untermalt von einem leisen, schmissigen Swing-Sound. ›NEWS! CHATS! GAMES! Für alle D-mons und alle B-inx‹ blinkte reißerisch in großen, fetten Buchstaben auf. Dann beruhigte sich der Bildschirm und zeigte schließlich das Weltall mit kleinen, glitzernden Pünktchen. Darin verstreut waren etliche Icons. ›DiSplorer‹ stand unter einem kleinen blauen Kometensymbol. ›Spiellusion‹ wiederum gehörte zu zwei gekreuzten Schwertern. ›Daimagog online. News&Tipps&Stories‹ erschien in angeberischer Copperplate Gothic Bold-Schrift, während ›DateADaimon‹ in verschnörkelter, lieblich-rosa Buchstaben schüchtern in der untersten Ecke zu finden war. Und dann gab es noch das verrucht-rote ›XXXmons‹, geschmückt von einer kleinen Peitsche in einem Pentagramm.
»Das ist jetzt doch nicht ernst gemeint, oder?« Tigris bebte schon vor Kichern. »Daimons und Menschen? Das geht doch gar nicht.«
»Und wie das geht«, entgegnete Engelbert und lachte dann leise, aber umso dreckiger in sich hinein.
»Im Ernst jetzt? Aber... ihr seid doch nicht wie Menschen gebaut, ich meine... häh?«
»Tja, da staunst du, was? Für uns Daimons handelt es sich dabei weniger um eure billige Art von Sex, sondern um etwas wesentlich Aufwühlenderes. Nennen wir es trotzdem mal in eurem Jargon ›Seelenfick‹«
Tigris hüstelte verlegen. »Das wird mir doch jetzt etwas zu schräg. Ich glaube, wir nehmen den DiSplorer, wenn es das ist, was ich meine.«
Tatsächlich hatte das darauf folgende Bild eine große Ähnlichkeit mit einem Browser. Engelbert tippte im Suchfeld ›Disfakt Ultra-DiS‹ ein und schon legte das Programm los und lieferte nach zwei Sekunden bereits die Ergebnisse. Engelbert blätterte sich schneller durch die angegebenen Links als Tigris gucken konnte.
Endlich schien ihm eine Seite zuzusagen: Auf dww.earthdisfacts.edu waren die auf der Erde gebräuchlichsten DiSfakte übersichtlich aufgelistet.

* DiSFakte für die Erde *
Offizielle und legale DiSfakte:
OpenDiS oder Nodenschlüssel, zur Öffnung oder Schließung von Noden
SecurDiS oder Aura-Erkenner, zur Erkennung des Shines bei Daimons und Xendii
MemorEx oder Erinnerungslöscher, zur Löschung des Kurzzeitgedächtnisses bei Neutralen im Umkreis von 5 km. (bis zu 15Min nach Zündung des MemorEx)
Dimmer oder Aura-Schwächer, zur vorübergehenden Löschung der Aura eines Xendi mit XOP-Bliss (Seher-Begabung)

»Meine Mutter hat bestimmt diesen Dimmer, jedenfalls hat sie mir erklärt, dass sie damit nicht mehr von Daimons als Xendi wahrgenommen wird.« sagte Tigris, nachdem sie sich die merkwürdigen Bezeichnungen durchgelesen hatte.
»Richtig. Aber bei deinem DiSfakt tippe ich eher auf die nächste Sparte«, murmelte Engelbert und klickte entschlossen ›Illegale DiSfakte‹ an.
»Schau an, schau an: RAM- Rabiate Access Maker. Zur unauthorisierten Schaffung von temporären, limitierten oder fixierten Portalen an jedem Ort der betreffenden Welt.«
»Oder: CHARMI - Creator of Harmonic Ambiente Requested for Manifestation and Incarnation? Verdammt, wieso benutzen Daimons soviel Englisch?«
»Weil die meisten Daimons auf dieser Welt nur mit PAGAN zu tun haben. Und die Hauptsprache bei PAGAN ist nun einmal Englisch.« Engelbert seufzte, anscheinend in erfreulichen Gedanken schwelgend. »Ich habe früher oft RAMs benutzt. Damals nannte man sie noch angeberisch Höllentor oder so. Und wie ich gehört habe, gibt es noch etliche bei PAGAN. Ob die Allianz auch noch einige hat, weiß ich allerdings nicht. Aber wahrscheinlich haben sie ohnehin keine Ahnung, was man damit tun kann.«
»Und was kann man damit tun? Und wofür ist ein CHARMI?«
»Wie der Name schon sagt, kann man mit einem RAM ohne jemanden um Erlaubnis zu bitten, irgendwo auf der Welt ganz heimlich und rabiat ein Portal erschaffen. Man  kann auch zwei RAMs koppeln, also etwa einen auf Borneo aktivieren, den anderen in Reykjavik - und dann kann derjenige in Reykjavik nach Borneo kommen und umgekehrt, ohne die Noden benutzen zu müssen. Oder ein Daimon ist in der Lage, von der Daimonsion auf einen beliebigen Punkt auf der Welt zu reisen, ohne dass man Gefahr läuft, gleich von der Allianz abgeknallt oder von PAGAN in eine Benimm-Schule gesteckt zu werden. Die Noden sind nun einmal sehr gut bewacht. Da kann niemand ungehindert ein- und ausgehen. Früher war das alles ganz anders. Aber na ja...« Der Cherub rutschte wehmütig lächelnd tiefer in den Sitz.
»Und CHARMI?«
»Ach, das. Das ist eine Art Schutzanzug, mit dem ein Cherub trotz niedrigem Level zeitweise inkarnieren kann. Aber auch höherklassige Daimons wie die Melegonin und Angoleah benutzen es immer noch gern. Zurzeit würden sie auf dieser Welt ins Koma fallen, weil wir nur bei 6,5 % DiS in der Atmosphäre sind. Aber mit einem CHARMI baut sich um den Träger eine dünne Schicht mit bis zu 18% DiS auf. Logischerweise hat Raffiyell einen CHARMI dabei gehabt, als er dir das Amulett angehängt hat.«
»Dann hat er also etwas Illegales benutzt? Ich glaube, ich verklage ihn wirklich!« Tigris verschränkte wütend die Arme, als sie sich an das Manöver im Wald erinnerte. Und alles nur wegen Miras verdammten Hunds! ›Wenn ich ihn doch nur nicht mitgenommen hätte!‹, dachte sie traurig. Aber dann überlegte sie weiter. ›Wahrscheinlich hätte Raffael - oder Raffiyell - es weiter versucht. Diese alte Frau vor dem Juweliersgeschäft, der Kaugummi-Automat... der Fernsehmoderator... Das alles war Raffael gewesen. Vielleicht wusste Mira gar nichts von seinem Vorhaben. Vielleicht... sollte PAGAN das Amulett tatsächlich bekommen. Raffiyell erwähnte doch, dass er eigentlich vier Leute von ihnen erwartet hat.‹
»Ah, das ist ja auch etwas feines«, sagte Engelbert sarkastisch und lenkte Tigris’ Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm.
»CX - CoreExtractor oder Seelenfänger. Behältnis zur Aufbewahrung und Transport von Daimonseelen? Also gibt es tatsächlich so etwas wie eine Seele?«, fragte Tigris mit großen Augen.
»Wer weiß. CX zieht irgendetwas aus dem Innersten eines Daimons, ohne dass er entweder stirbt oder regungslos vor sich hindämmert. Ich habe mal einige ältere Daimons gesehen, die CX hinter sich haben. Ihr Zustand gleicht jenen Patienten, die bei euch künstlich am Leben gehalten werden. Mit dem Unterschied, dass sie nie wieder aufwachen. Sie sind eigentlich tot.«
»Kann man die Seele - oder was auch immer es ist - nicht wieder in sie hineinpflanzen? Wenn man genau den Behälter erwischt, in dem sich ihre Seele befindet?«
»Das Problem mit CX ist, dass dieser Kern - bei PAGAN sagt man treffenderweise Core - ohne einen Körper nicht sehr lange überleben kann. Jedenfalls wurde in früheren Zeiten oft ein Seelenfänger eingesetzt, um beispielsweise einen perfekten Spitzel zu erschaffen. Wenn man das Core eines Cherub etwa in einen einflussreichen menschlichen Politiker verpflanzen kann, dann würde niemand, nicht einmal ein Xendi merken, dass es sich in Wahrheit um einen Daimon handelt - nur mit einer menschlichen Hülle. Denn selbstverständlich wird dieser Mensch erst einmal getötet, um seine menschliche Seele zu entfernen und Platz für das Daimon-Core zu schaffen.«
»Mein Gott, wie schrecklich! Aber diese Dinger sind doch verboten, oder nicht?«
»Oh ja. Omrishah hat den Gebrauch vieler DiSfakte mit hohen Strafen belegt, besonders die, die früher auf der Erde kursierten. Solange diese Welt zu seinem Eden-Projekt gehört hat, konnte Omri die Regeln so gestalten, wie er wollte. Eine Zeit lang haben die Gesetze und Aufenthaltsbestimmungen für Daimons dreitausend irdische Bände gefüllt, gedruckt in Times New Roman 3. Omri hat eine Schwäche für materielle Welten, ganz besonders für diese. Dass euer Planet  jetzt aus seinem Projekt geflogen ist, hat ihn bestimmt ziemlich mitgenommen.«
Diese Erklärung schockierte Tigris. Noch ein wenig ungläubig fragte sie leise: »Wir sind also dieser MDL schutzlos ausgeliefert?«
»Nun ja. Sagen wir mal so: Wenn jetzt theoretisch gesehen jeder Daimon die Erde besuchen darf, dann natürlich auch die Zerrafin und ihre Melegonin-Armee. Besonders tröstend ist dies allerdings nicht. Niemand zankt sich so ausdauernd wie Melegonin beider Sorten. Sie sind eine Horde wildgewordener Elefanten, immer auf der Suche nach dem nächsten Porzellanladen.«
»Weiß die Allianz das mit dem Eden-Projekt?«
Engelbert lachte bitter auf. »Die Allianz will doch noch nicht einmal wahrhaben, dass es keine Engel oder Teufel gibt oder so etwas wie das DimensioNet. Wenn die Dinge auf dieser Welt aus dem Ruder laufen, sind natürlich nur böse Mächte am Werk. Oder Gottes Wille. Menschen, aber auch Daimons lieben keine komplizierten Sachverhalte und klammern sich dann an die Erklärung, die am plausibelsten erscheint.« Engelbert klickte sich noch durch weitere Beschreibungen von DiSfakten und sagte dann nachdenklich: »Keines von diesen Dingern auf der Seite hat Ultra-DiS in sich.«
»Vielleicht sollten wir uns mal etwas über Ultra-DiS allgemein durchlesen«, schlug Tigris vor. 
»Möglicherweise finden wir auf diese Art einen Anhaltspunkt.«
»Meinetwegen... Für diesen Zweck ist das Lexikon auf dww.letmeknow.org am besten.«
Tigris beobachtete, wie gleich darauf ein Artikel über den gesuchten auf dem Monitor erschien. Sie las leise vor. »Besondere Form von DiS, die nur bei einem Eloyah-Daimon zu finden ist. Ultra-DiS gibt als einzige Spielart von DiS keinen Shine ab und kann nur von dem Eloyah-Daimon als solches wahrgenommen werden. Seine Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig, auch wenn es in freier Form nicht vorkommt, sondern von dem Eloyah abgesondert werden muss. Ultra-DiS ermöglicht das gefahrlose Passieren von 0-DiS-Zonen und heilt sogar schwerste Verletzungen bei Daimons und Menschen. Mit Ultra-DiS können die Fähigkeiten eines Daimons oder eines Menschen erheblich erweitert und gesteigert werden. Allen Verwendungsmöglichkeiten haben den Nachteil, nicht mehr rückgängig gemacht werden zu können. Bei den seltenen Ultra-DiSfakten, die von dem Eloyah hergestellt wurden, handelt es sich daher ausnahmslos um Dinge, die einen unwiderrufbaren Effekt verursachen oder Effekte, die nur mit einer erneuten Gabe von Ultra-DiS beendet oder begonnen werden können.«
»Im Klartext: Nur Omrishah kann dich von diesem Ding befreien«, schloss Engelbert leise.
»Verdammt! Ich habe es schon geahnt.« Tigris barg ratlos und traurig ihren Kopf in die Hand.
»Moment... lass uns einmal weiter überlegen. Angenommen, nicht du solltest dieses Amulett bekommen, sondern tatsächlich jemand von PAGAN. Aber wofür? Damit kann man nur einem Menschen besondere Kräfte verleihen, aber nicht einer ganzen Armee... Und PAGAN ist den Truppen der Allianz ohnehin haushoch überlegen. Sie haben völlig neue Kampf-Techniken entwickelt, neue Arten von Schüssen... Warum also sollte PAGAN dieses Ding bekommen? Was können sie damit tun, außer es einen von ihnen umhängen und die Allianz vielleicht schneller plattmachen? Und dadurch nebenbei den DiS-Level auf über 9% zu pushen, was eigentlich nicht in ihrem Sinne ist.«
Tigris sah wie elektrisiert auf. »Du meinst, wenn es wirklich zu einem Krieg zwischen der Allianz und PAGAN kommt, schneiden sich die Xendii ins eigene Fleisch?«
»Yep. Es ist so, Schatzerl: DiS entsteht auch ganz ohne Daimons. Zum Beispiel aggressives Verhalten, Mord, Kriege - nicht zu vergessen Atom-Explosionen. All das fördert die Umwandlung von Materie in DiS. Nun ja, natürlich auch jahrelange Sex-Orgien und jedes Gelächter, das länger als zehn Stunden dauert.
Normalerweise wird aber überschüssiges DiS von Pflanzen wieder in Materie umgewandelt. Aber da ihr zurzeit wie verrückt eure Wälder abholzt, entsteht mehr DiS als wieder umgewandelt werden kann. Und wenn jetzt auch noch Xendii massenweise mit hochkonzentrierten DiS-Sorten um sich schmeißen - dann hat das den gleichen Effekt wie hundert Atombomben, die gleichzeitig explodieren. Wie du siehst, sind eure Karten nicht besonders gut. Deswegen nehme ich stark an, dass dein Amulett auf irgendeine Weise dafür sorgen soll, dass es entweder nicht zu den 9% oder mehr kommt - oder dass der Level wieder auf unter 5% fällt. Denn dann erfüllt man wieder die Voraussetzungen, mit seiner Welt ins Eden-Projekt und also unter Omrishahs liebende Fürsorge zu kommen.«
»Das klingt eigentlich ziemlich logisch. Dann wäre es vielleicht sogar besser, ich würde so schnell wie möglich zu PAGAN gehen...« Tigris hatte das Amulett aus ihrem Overall gefischt und betrachtete es gedankenverloren.
»Das sag ich doch schon die ganze Zeit!«
»Sag mal, Engelbert... Hast du schon einmal jemals etwas von einem Engel - oder was auch immer - namens Barujadiel gehört?«
»Nö. Wer soll das sein?«
»Das frage ich mich auch, seitdem mir sein Name durch den Kopf geht und irgendein komischer Daimon mich heute angefleht hat, mich an ihn zu erinnern. Und an das Wahre Bild.«
»Schatzerl, ich habe dir doch eben erst erklärt, dass Daimons gerne Geschichte erfinden. Lass dich bloß nicht von irgendwelchen gelangweilten Gestalten verrückt machen.«
»Aber...« Tigris nagte an ihrer Unterlippe, während sie nachdachte. »Ach, schon gut. Wahrscheinlich hast du Recht. Es ist gleich ein Uhr morgens. Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich noch eine Mütze voll Schlaf. Mir wird immer schlechter, je näher der Morgen rückt.«
»Meinetwegen. Soll ich dich in den Schlaf singen?« Engelbert hüpfte auf das Fußende ihres Bettes und blieb im Schneidersitz dort hocken. »Ich kenne da eine hübsche Traum-Intonation, wo wahlweise viele nette junge Männer oder Frauen vorkommen. Aber ich kann es auch so variieren, dass beide Sorten durch die Landschaft hüpfen und sich die Kleider von den Leibern reißen.«
»Oh, bitte nicht«, grummelte Tigris. Dann fuhr sie mit einem Mal wie von der Tarantel gestochen hoch. »Aber könntest du nicht irgendwie meine Übelkeit und meine Angst beseitigen? So eine Art Baldrian-Gedankenzufuhr, oder so ähnlich?«
»Beruhigungswellen? Hm... das konnte ich mal, ja. Ich gebe mein Bestes. Aber die wirken nur zwölf Stunden, wenn überhaupt. Dann geht das Ganze ziemlich schlagartig vorüber.«
»Egal. Hauptsache, mir klappern gleich nicht die Zähne, wenn ich vor der De Navarris-Seherin stehe.«
»Aha, der lässige Stil. Die coole Leck-mich-Haltung. Die Nach-Mir-Die-Sintflut-Einstellung. Das Scheiß-drauf-Gefühl. Die Augen-zu-und-durch-Methode. Das Ey-was-wollt-ihr-überhaupt-von-mir-Verhalten. Die Wo-geht’s-hier-denn-zum-Buffet-Gedanken. Der Kein-Anschluss-unter-dieser-Nummer-Blick. Der Mal-schaun-was-so-los-ist-Gang. Der Reg-dich-ab-Mensch-Tonfall. Das Zeitweilig-Gelangweilte-Lachen.«
Noch bevor ihr BodyDaimon den letzten Satz ausgesprochen hatte, war Tigris bereits lächelnd eingeschlafen. Engelbert betrachtete nachdenklich das junge Mädchen. »Du bist eine ziemliche Nervensäge und ein Katastrophenmagnet, Schatzerl. Aber irgendwie mag ich dich. Viel Glück.«
 

© I.S. Alaxa
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Und schon geht's weiter zum 10. Kapitel (bzw. zum 3. Kapitel des 2. Teils)...

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