Es gab nur ein Verbot bei PAGAN, was die Welt der Neutralen, der
Menschen ohne Xendium, anbetraf. Dieses lautete: Vermeide um jeden Preis
jegliches Aufsehen.
Doch ein überaus berühmt-berüchtigtes Mitglied war
gerade dabei, es ungefähr alle zwei Sekunden zu brechen.
Nicht, dass es das erste Mal war.
Oder dass es irgendeinen Xendii bei PAGAN überrascht hätte,
wer sich mal wieder einen Dreck um Regeln und Vorsichtsmaßnahmen
scherte.
Also lag es nicht etwa an einem Amokläufer oder an einem Film-Set
zu einem actiongeladenen Hollywood-Abenteuer, dass Scharen von entsetzten
Kunden an einem 20. März gegen drei Uhr nachmittags kopflos vor Panik
aus allen Eingängen des Wal-Marts in Marystone / Oklahoma flüchteten.
Genauer gesagt: vor tieffliegenden Tiefkühlpizzas, sich gleichzeitig
in hohem Bogen erbrechenden Batterien von Tuben, vor Überschall-Gemüsen
und Bananen-Kampfgeschossen, aber auch vor Klopapier und Kleenex, allesamt
von der Rolle, vor scheinbar grundlos einstürzenden Dosentürmen
und Getränkekisten, sowie Knabbergebäck und Trockenfrüchte
jeder Art, die mit lautem Knall aus ihren Tüten schossen und dramatisch
in die Gänge niederprasselten. Nicht zu vergessen auch die zahlreichen
herrenlosen Einkaufswagen, die mal da, mal dort wie von Geisterhand zwischen
den Regalen entlang flitzten.
Nach einer nur dreiminütigen, aber irren Verfolgungsjagd durch
die Regalreihen hatte es Aévon Zimberdale endlich geschafft, den
Cherub in Menschengestalt unter Dosengerichten aller Marken zu begraben,
was ihm selber endlich die nötige Zeit brachte, auf die Reihe mit
den Babywindeln zu levitieren und von Regal zu Regal zu springen, um zum
Ausgang zu gelangen.
Zwar hatten die Wachleute draußen sämtliche Türen
gesperrt und warteten zitternd mit gezückten Waffen nur darauf, dass
der unrasierte Irre mit den wirren dunklen Locken auszubrechen versuchte,
doch das beeindruckte Aévon nicht im geringsten. Er sprang von einem
der vordersten Regale ab und landete genau vor der inneren Haupteingangstür.
Noch während er die Sicherheitsleute amüsiert angrinste, erzitterten
bereits die Scheiben, um dann jedoch enttäuschenderweise im nächsten
Moment nur als feines Mehl zu zwei großen Haufen zu zerrieseln. Die
kurze Verwirrung der Wachleute, die sich auf eine Bombenexplosion eingestellt
hatten, nutzte Aévon, um ihnen mit einem Slave, einer einholbaren
grünen Peitsche aus DiS, die Waffen aus den Händen zu reißen
und in die Mülltonnen neben sich zu befördern. Natürlich
konnten sie das DiS nicht sehen und schrieen ungläubig auf, aber nur
kurz - solange, bis sie nacheinander ein weiterer grüner Strahl mit
einer schlaffördernden Intonation auf die Stirn traf und sie wie gefällt
zu Boden gingen.
»Wenn doch jeder Arzt seinen Patienten mit Schlafstörungen
einfach einen easy karaoke pipe verpassen könnte...«, seufzte
Aévon leise.
Dann holte er aus seiner uralten, aber heißgeliebten Konföderierten-Jacke
eine antik wirkende kleine runde Silberdose, die geschmackvoll mit einem
Fragezeichen aus winzigen Saphiren verziert war und warf sie mit voller
Kraft in die Luft. Nur fünfzehn Sekunden, nachdem er noch schnell
einige intonierte grüne Sphären vor dem Haupteingang platziert
und sich umgedreht hatte, um wieder hineinzugehen, konnten sämtliche
Xendii und Daimons im Umkreis von drei Kilometer den Himmel über dem
gepflegten kleinen Städtchen tiefrot aufleuchten sehen.
Da sich jedoch außer im Wal-Mart weit und breit keine überirdischen
Geschöpfe oder außergewöhnlich begabten Leute aufhielten,
konnte auch niemand erklären, wieso sich die eben noch panikerfüllten
Zeugen der unglaublichen Geschehnisse urplötzlich nicht mehr an den
Grund ihrer kopflosen Flucht erinnerten und schlagartig zu rennen aufhörten,
wobei sie sich gegenseitig verwirrt ansahen. Sie kramten in ihrem Gedächtnis,
was denn eigentlich eben noch so aufregendes passiert war, kamen nicht
drauf, zuckten mit den Schultern oder schüttelten ärgerlich die
Köpfe und marschierten dann in alle Himmelsrichtungen davon. Sie wussten
nur eins: Es war Zeit, nach Hause zu gehen und Liebe zu machen. Auch die
drei Streifenwagen, die mit heulenden Sirenen die Hauptstraße entlang
schossen, sowie die Fahrzeuge der lokalen Presse machten aus demselben
Grund an der nächsten Kreuzung kehrt.
Und so konnte sich Aévon endlich wieder ungestört und
voller Hingabe seiner Beute, dem MDL-Spitzel widmen, den er seit Tagen
verfolgt und observiert hatte. Der Bursche trug ein DiSfakt, das es ihm
zeitweise ermöglichte, zu inkarnieren. Deswegen hatte niemand im Bürokomplex
des benachbarten Stanbridge Verdacht geschöpft, wenn der Herr Generaldirektor
zu später Stunde noch einmal seine großzügig geschnittenen
Räume besuchte. Omicron Systems kümmerte sich als eine von zahlreichen
Firmen um die Versorgunglogistik der US-Army im Nahen Osten - und bot für
einen sachkundigen Daimon ein ideales Einfallstor zum Server des Militärs.
Die Menschwerdung zwang dem Cherub jedoch natürlich die irdischen
Gesetzmäßigkeiten auf. Eine davon lautete zurzeit: Wenn auf
dir ein großes Gewicht lastet, bist du ziemlich platt.
Aévon stellte sich vor den Dosenberg, aus dem schwaches Ächzen
und kaum verständliche daimonische Flüche drangen. Während
er sich einige Mehlflecken von seiner Jacke klopfte, zischte er kalt: »So,
du Miststück. Nach der kleinen Showeinlage von eben kommen wir nun
endlich zum Wesentlichen. Ich will auf eure nette kleine Homepage. Leider
sind mir die Benutzernamen und Passwörter irgendwie entfallen. Ich
bin sicher, du hilfst mir gerne.«
»Ds...wst...nn...bnnn«
»Ich? Bereuen? Ich habe meinen Lebtag noch nie etwas bereut.
Wenn hier jemand sicher etwas bereut, dann derjenige, der im Moment ein
illegales DiSfakt namens CHARMI anhat und so überaus bescheuert war,
in der ganzen Stadt großzügig DiS prints zu hinterlassen. Ich
weiß, ich weiß: Es gibt hier weit und breit keine anderen Daimons
oder Xendii, außer meiner Wenigkeit. Leider bin ich nicht nur ein
gottbegnadeter Performer, sondern kann auch noch über alle Maßen
gut sehen. Tja, was soll man machen... Doppel-Xendium eben.«
Aévon hob die Rechte und ließ aus ihr grünen Nebel
entströmen, der rasch über den Dosenberg kroch und ihn auf 200°
erhitzte. »Vor dem Verzehr erwärmen, weiß die gute Hausfrau.
Und das bin ich doch hin und wieder.«
Aus dem Ächzen wurde schmerzerfülltes Stöhnen, das
zu qualvollen erstickten dünnen Schreien anstieg.
Dann streckte Aévon beide Hände vor sich aus und feuerte
unablässig kleine grüne Kugeln gegen die Dosen, die bei jedem
Treffer aufflogen und in hohem Bogen wieder hinunter auf die Steinfliesen
polterten, bis der Cherub freigelegt war. Seine menschliche Gestalt war
klein, dick und unspektakulär; er war krebsrot im Gesicht und an den
Händen, robbte benommen auf dem Boden herum und nuschelte etwas, das
Aévon nicht verstehen konnte. Doch dieser verschwendete keine Zeit
mehr, zückte Handschellen und sprang dem Daimon auf den Rücken.
»Die will ich aber zurück. Ich brauche sie noch für einige
anregende Spiele mit meinem Freund heute Nacht.«
Das darauf folgende Klicken wäre jedem wirklichen Menschen
triumphierend und endgültig vorgekommen, aber Aévon wusste
natürlich, dass die selbst hinter dem Rücken gefesselte Hände
eines Daimons noch sehr gut in der Lage waren, einen ätzenden Nebel
oder einen schnellen Schuss abzugeben.
»Und damit du deine Fingerchen auch hübsch still hältst,
darfst du diese nette Kugel hier halten. Mach dir keine Sorgen, es ist
nur ein kleiner nice pitbull.« Aévon ließ eine tiefblaue,
unruhig wabernde Sphäre von seiner Handfläche zwischen die Hände
des Daimons gleiten. »Pardon, ich habe mich so sehr an den DiSMaster
Codex gewöhnt, dass ich immer vergesse, wie andere Xendii oder Dummons
so etwas nennen. Es handelt sich also um eine bestimmte DiS-Arten absorbierende
Sphäre mittlerer Stärke. Nach einer Minute Aufwärmzeit stürzt
sie sich auf diese Sorten DiS in nächster Nähe und verabschiedet
sich nach so einem leckeren Happen mit einer höllischen Stichflamme.«
»Ich... verklage dich... beim Interdimensionalen Gericht!«,
zürnte der Daimon, der allmählich wieder zu Kräften kam,
aber immer noch platt bäuchlings auf den Steinfliesen lag.
»Das ist dein gutes Recht. Im Jahr 4056 könnt ihr dann
kommen, mein Grab öffnen und meine Urne verhaften. Die Mühlen
der daimonischen Justiz mahlen bekanntlich noch langsamer als die
irdischen.«
Aévon sprang auf, zerrte seinen Gefangenen unsanft auf die
Beine und zog ihn aus dem großflächig verwüsteten Supermarkt
hinaus auf den Parkplatz, wo ein gestohlener dunkelblauer Ford Escort schon
bereit stand.
»Wir fahren jetzt zu Omicron Systems und werden ausgiebig
auf dww.mdl.org/earthsection surfen.«
»Ich werde dir niemals die 77 Passwörter sagen, die man
für das Einloggen braucht.«, grollte der Daimon, und seine kleinen
braunen Augen in dem teigigen Menschengesicht funkelten Aévon hasserfüllt
an.
»Sag niemals nie. Vor allem nicht als Mensch, der Schmerzen
fühlen kann. Ich wollte schon immer einmal wissen, wieviel Folter
inkarnierte Cherubim ertragen. Ich beglückwünsche dich hiermit
zu deiner Teilnahme an einem hochwissenschaftlichen Experiment, das auch
dir bestimmt ganz neue Erfahrungen verschaffen wird.« Aévon
lachte höhnisch auf, weil der Cherub sich mit seiner ganzen Kraft
dagegen wehrte, auf den Beifahrersitz verfrachtet zu werden. Ein Karatetritt
in den Rücken ließ ihn vor Schmerz aufheulen und ins Wageninnere
fallen.
»Im Gegensatz zu dir bin ich auch ohne DiS gefährlich
genug.«
Die unerwartete Attacke hatte den Daimon anscheinend fürs erste
überzeugt. Er leistete keinen Widerstand mehr, als Aévon ihn
noch mit einem Strick fesselte und mit dem Sicherheitsgurt anschnallte.
Der Performer justierte den Rückspiegel, der seinen zufriedenen,
siegessicheren Blick aus durchdringend hellen, honigbraunen Augen zurückwarf.
Während er den Motor startete, dachte er triumphierend: »Gleich
weiß ich mehr über die Beendigung dieses verdammten Eden-Projekts.
Und ich kann mir gut vorstellen, dass es diesmal für eine Einreisesperre
und die sofortige Schließung der Daimontore in unseren Noden reicht.«
.
In den letzten Tagen vor Equinox Veris war zunächst nichts von
einer festlichen Stimmung in Windwibbenburg zu spüren gewesen. Unermüdlich
waren alle Xendii von morgens bis abends damit beschäftigt gewesen,
die Burg und die Wohnhäuser unten in der Siedlung auf Hochglanz zu
bringen, mit frischen Blumen- und Zweiggestecken die Innenräume zu
dekorieren und Unmengen an Kuchen, herzhaftem Gebäck und Keksen zu
backen. Diese wurden in der Festhalle der Burg aufgetischt und bescherten
Tigris das erste Mal in ihrem Leben einen Blick in den großen Raum,
der allerdings überhaupt nichts Prunkvolles oder wenigstens Mittelalterliches
an sich hatte. Da die kleineren Sippen Europas von ihrer Domén Arx
nicht gerade großzügig finanziell unterstützt wurden, ging
der meiste Teil des Geldes für Nahrungsmittel und Bekleidung drauf
und Extravaganzen wie neue Tapeten oder Möbel konnten nur durch eisernes,
manchmal jahrelanges Sparen angeschafft werden. Dementsprechend wirkte
der Festsaal der Windwibbs wie ein Relikt aus den späten 70’ern. Seit
dieser Zeit waren die Tapeten mit den großen Kreismustern in Kreischend
Orange und Bärig Braun nicht mehr erneuert worden, ebenso wenig der
grünbraune Schlingenflorteppich von 1985. Die Möbel hatte noch
das vorige Oberhaupt in den 60’ern anschaffen lassen, einfache, zweckmäßige
Schränke aus dunklem Holz, ohne jegliche Verzierungen oder Schnitzarbeiten.
Und nur weil der Festsaal lediglich vier Mal im Jahr für einen Tag
betreten werden durfte, sah das veraltete Interieur wenigstens noch sauber
und heil aus.
Doch der kollektive Festtags-Wahnsinn brach zumindest bei den jüngeren
Windwibbs endlich am Vorabend von Equinox Veris aus und bestätigte
Tigris in ihrer Meinung, dass Xendii allesamt eine Schraube locker hatten.
Es ging natürlich um Klamotten, Frisuren und Accessoires.
Bat Furan und Ras Algheti hatten offenbar die Altkleider-Container
der umliegenden Ortschaften geplündert und schütteten ihre Beute
auf drei riesige Haufen mitten in der Eingangshalle aus, um bald mit fast
allen anderen Jugendlichen der Siedlung darin aus Herzenslust zu wühlen.
Nur Tigris, die überhaupt keine Lust hatte, sich für De
Navarris auch noch besonders in Schale zu werfen, verzog sich schnell mit
Antigua und Ember in den Alten Turm. Antigua hatte vor einem Jahr von eine
befreundeten Sippe in Tschechien, deren beiden Rufer sie einmal in der
Woche ausbildeten, ein schönes langes, mintfarbenes Seidenkleid bekommen
und gedachte es ›schon wieder??‹ anzuziehen. Obwohl sie wirklich ein sehr
hübsches Mädchen war, wie sich Tigris immer noch mit einem leichten
Anflug von Neid eingestehen musste, machte sie sich anscheinend überhaupt
nichts aus den Dingen, die die anderen jungen Xendi-Mädchen ihres
Alters brennend interessierten. Und das waren neben Kleidern und Allianz-Getratsch
nun einmal Jungs. Aber Antigua ging anscheinend völlig in ihrer Ausbildung
auf und zeigte allen die kalte Schulter, hielt sogar zu den Mädchen
eine unübersehbare Distanz. Merkwürdigerweise jedoch waren Ember
und Tigris davon ausgenommen. Diese war sich immer noch nicht ganz klar
darüber, was sie von der ungewohnten Herzlichkeit der sonst so kühl
auftretenden Ruferin halten sollte. Ember hingegen fand die neue Freundschaft
zwischen den beiden jedoch prima, da er sich mit Antigua am besten von
allen Windwibbs verstand und wohl vor Tigris gerne als Kummerkasten und
Ratgeber hergehalten hatte.
Der Alte Turm, in den sie sich vor dem Styling- und Modewahn der
anderen Jugendlichen Windwibbenburgs geflüchtet hatten, trug seinen
Namen völlig zu Recht. Es war immer wieder aufs Neue eine fast lebensgefährliche
Angelegenheit, die morsche, knarzende und knurrende Wendeltreppe hinauf
aufs Dachgeschoss zu steigen. Einst hatte es auch einmal ein Mittelgeschoss
gegeben, doch davon waren nur noch einzelne, wurmzerfressene Holzbohlen
übrig, die so aussahen, als würden auch sie sich vor Alterschwäche
in die Tiefe stürzen, wenn man sie zulange mitleidig anschaute.
Der Speicher hingegen war seinerzeit viel stabiler konstruiert worden,
im Gegensatz zu dem Schindeldach, das große Löcher aufwies.
Ember und Tigris hatten vor einiger Zeit klammheimlich einen der Sonnenschirme
in der Siedlung mitgehen lassen und als Regenschutz in den Alten Turm geschleppt.
Etliche Kissen und Decken waren ebenfalls auf diese Weise grausam ihren
kuscheligen Lagern auf den Sofas der Windwibbs entrissen worden.
Und nun, da die anderen unentwegt unten in der Siedlung neue Frisuren,
Make-ups und Klamottenarrangements ausprobierten, machten es sich die drei
bei Taschenlampenschein, Chips und Cola so gemütlich, wie es bei nieseligen
5° eben ging.
»Was wohl Lux Montana sagen würde, wenn sie gleich die
Tür aufmacht und augenblicklich von einem Berg alter Hosen und Hemden
verschüttet wird?« Tigris musste bei dieser Vorstellung grinsen.
»Ach, die kommen doch alle nicht vor elf oder zwölf aus
ihrer Versammlung.«
Das stimmte wohl. Seit Tagen verschwanden die älteren Windwibbs
immer abends in einem der Unterrichtsräume und berieten sich
bis spät in die Nacht, manchmal sogar bis ein oder zwei Uhr. Keiner
von ihnen verriet den Jugendlichen, worum es eigentlich dabei ging, doch
Tigris ahnte, dass es mit Lux Livas’ Misstrauen in einige Xendii der Domén
Arx und um ihre eigene Begutachtung durch eine Seherin von De Navarris
ging. Denn ihre Mutter machte aus der nach einhelliger Meinung ziemlich
harmlosen Angelegenheit seit Tagen ein Drama. In ihrer ständig steigenden
Nervosität und Angst hatte sie sogar allen Ernstes den glorreichen
Einfall gehabt, dass Tigris sich die Haare abschneiden und blond färben
sowie braune Kontaktlinsen anziehen sollte. Diese höchst kindische
Idee konnte Lux Livas ihr sofort ausreden, indem er daran erinnerte, dass
selbst die mittelmäßigsten Seher solche Tarnungsversuche sofort
durchschauen und erst recht misstrauisch werden würden. Antigua hatte
daraufhin angeboten, Tigris die Haare zu glätten und zu frisieren
und Sienna, die rothaarige 17jährige Wandlerin von Haus Rosenhag 1
würde Tigris ein dezentes, nettes Make-up verpassen. Und mehr war
nicht drin für Tigris, die die Ängste ihrer Mutter überhaupt
nicht nachvollziehen konnte. Hatte Lux Livas nicht selber gesagt, niemand
würde sie in Barcelona erkennen, weil sie erst mit ihrer Anmeldung
als Wandlerin für De Navarris existierte?
»Ember, was ziehst du eigentlich an, um die Herzen der Frauen
im Sturm zu erobern?« Tigris stubbste ihren besten Freund an, der
mal wieder verträumt lächelnd neben sich sah. In letzter Zeit
wirkte er immer leicht verpeilt, fast wie... verliebt. Aber wenn das der
Fall sein sollte, rückte er mit der Sprache einfach nicht heraus.
»Ach, schwarze Hose, weißes Hemd, Hosenträger.
Mittelscheitel. Pomade. Die ›Schönsten Lieder der Weißen Bibel‹
in den Händen... was sonst?« Ember grinste und lehnte sich zurück,
um durch ein besonders großes Loch im Dach in den bewölkten
Himmel zu spähen.
»Ich sage doch: Xendii haben einen an der Waffel«, seufzte
Tigris.
»Und endlich auch du, Teuerste.« entgegnete Antigua
ungerührt. »In Wahrheit wolltest du schon immer zu uns gehörten.
Gib es endlich zu.«
»Never.«
»Wie war es eigentlich heute Nachmittag unten im Dorf? Konntest
du deine Freundin anrufen?«, fragte Ember interessiert, was Tigris
erneut aufseufzen ließ. Da das einzige Telefon mit Amtsleitungen
in Lux Livas Büro stand, hatte Tigris sich sofort als Freiwillige
gemeldet, als noch einige Kleinigkeiten unten im Dorf gekauft werden mussten.
Bei der Gelegenheit endlich konnte sie von einer Telefonzelle aus Berry
erreichen. Das Gespräch war mangels genügend Kleingeld ziemlich
kurz, aber um so tränenreicher. Und dass Tigris ihre beste Freundin
auch noch belügen musste, machte die Sache umso schlimmer.
»Ich habe ihr erzählt, dass bei mir irgendetwas am Herzen
festgestellt wurde und ich erstmal ein paar Monate in einer Klinik in England
bleiben muss. Eigentlich wollte ich zuerst gar nicht anrufen... wegen der
Sache mit der Kirche. Aber davon hat sie kein Wort erwähnt, anscheinend
ist davon nichts in den Zeitungen aufgetaucht, oder zumindest nicht mein
Name. Nur eines macht mit Sorgen.« Sie schaute die beiden Xendii
der Reihe nach an, dann nagte sie an ihrer Unterlippe und meinte leise:
»Ich habe euch doch von diesem Jungen erzählt, mit dem ich äh
... ausgegangen bin. Er ist auch ein Xendi. Und er ist seit zwei Wochen
spurlos verschwunden.«
Antigua und Ember sahen sie schockiert an und stießen wie
aus einem Munde hervor: »Excelsior!«
Tigris atmete tief durch, bevor sie sagte: »Möglich.
Allerdings kann es auch sein, dass er zu dieser Organisation gegangen ist,
von der er so geschwärmt hat.«
»PAGAN!«, rief Antigua, diesmal solo.
Tigris runzelte die Stirn. »Gibt es eine Gruppe, die noch
schlimmer ist als PAGAN? Ich meine... richtige Satans-Anhänger?«
»Bei PAGAN sind nur richtige Dämonenanhänger«,
entgegnete die Ruferin kühl, was Ember augenrollend zur Seite sehen
ließ. Er teilte diese Meinung natürlich nicht, hatte aber offensichtlich
keine Lust, sich auf eine Diskussion über das Reizthema einzulassen.
Stattdessen fragte er: »Was ist mit B.A.D. Company?«
»Das ist doch nur der Oberbegriff für alle Spinner und
Satansanbeter. PAGAN fällt also genauso darunter wie Mère d’Enfer,
Satanfaction und wie sie alle heißen.« Antigua schnaubte und
schüttelte sich dann vor Ekel. »Wobei ich ihm eher PAGAN wünsche
als Mère d’Enfer. Denn diese Kreaturen, die sich bei Mère
d’Enfer sammeln, sind wirklich vollkommen jenseits aller Worte und Menschlichkeit.«
Ember räusperte sich. »Hat nicht Procyon Zimberdale diese
schreckliche Sekte vor Jahren ausgelöscht?«
»Da war er ja auch noch einer von uns und noch nicht von PAGAN
gehirnverseucht«, brauste Antigua auf, was Ember überrascht
zusammenzucken ließ. »Aber er war wohl nicht gründlich
genug. Es gibt sie immer noch irgendwo, wie ich gehört habe. Jedenfalls
findet die Polizei auf der ganzen Welt von Zeit zu Zeit Kinderleichen,
die völlig ausgeblutet in einem Dämonkreis gelegen hatten. Sie
hatten alle diesen Dornigen Rosenkranz um ihre winzigen Hände gewickelt
und-«
»Na toll!« Ember, ohnehin sehr feinfühlig, lachte
bitter auf. »Es ist stockdunkel draußen, wir müssen gleich
durch den Wald und mein Magen hat sich immer noch nicht von der Vorstellung
von... ach, ist ja auch egal.« Ärgerlich schnippte er Chipskrümel
von seinem Bein.
»Ich bin gespannt, ob dieses Sippen-Surfen wirklich soviel
Spaß macht, wie Bat Furan behauptet«, warf Tigris eilig ein,
um die beiden auf ein erfreulicheres Thema zu bringen und einem Streit
vorzubeugen.
»Bat Furan, unser Erdkunde-Genie, hat vollkommen recht.«
Antigua bebte vor Lachen, während sie weiterzählte: »Vorletztes
Jahr an Equinox Mebani, das ist die Tag- und Nachtgleiche im Herbst am
21. September, da mussten wir nach den Sippen-Surfern in Finnland suchen.
Tja...«
»Oder als wir uns letzten Mitsommer in Island inmitten von
Geysiren statt wie geplant in Rimini wiedergefunden haben.« Ember
schüttelte lachend den Kopf.
»Na, das scheint dann eine ziemliche gefährliche Angelegenheit
zu sein, wenn Bat Furan die Finger im Spiel hat«, sagte Tigris und
dachte an dessen Erklärung des Sippen-Surfens zurück: ›Wir klappen
den Atlas auf, einer tippt mit geschlossenen Augen auf das Zielgebiet und
dann hängen wir uns von Barcelona aus an alle möglichen Sippen,
die uns an unser Ziel möglichst nahe heranbringen. Denn der Sinn von
Equinox Veris ist ja, dass man sich gegenseitig besucht, einen Keks isst
und zur nächsten Sippe weiterzieht. Jedenfalls so ähnlich. Es
ist so etwas wie Per Anhalter fahren, nur ohne Auto und ohne, dass wir
ein Visum brauchen. Dafür haben wir ja die Tore. Da kommt man ganz
schön rum, lernt jede Menge neuer Leute kennen und trifft alte Bekannte.
Es wird dir garantiert gefallen, Tigris. Vertrau mir.‹
»Trotzdem kratzt das überhaupt nicht an seinem Selbstbewusstsein.
Er hält sich für den Größten, egal ob er von einem
Fettnäpfchen ins nächste tritt.« Tigris rollte die Augen.
»Und er steht auf dich.« Antigua grinste und ignorierte
Embers Stups in die Seite.
»Was für eine Ehre.« Tigris stöhnte genervt
auf.
»Vielleicht ist er ein wenig großspurig und unüberlegt«,
sagte Ember daraufhin ernst. »Aber er würde sich für jeden
von uns ohne mit der Wimper zu zucken in den Kampf stürzen. Oder hast
du vergessen, dass er auch bei deiner Rettung dabei war? Er hat sich gleich
als erster gemeldet, als Lux Montana uns von deinem Verschwinden erzählt
hat.«
»Ach, er sammelt doch nur Punkte für De Navarris«,
winkte Antigua kühl ab. »Er will diesen Sommer schließlich
diese Aufnahmeprüfung für deren Spezialtruppen machen. Da macht
es sich natürlich gut, wenn man so viele Leute wie möglich vor
Excelsior oder PAGAN rettet.«
»Ich glaube, da tut ihr ihm wirklich unrecht. Ja, er möchte
sein Talent in den Dienst der Allianz stellen. Aber wir gehen für
ihn vor. Egal, was passieren würde - er würde keine Sekunde zögern,
um uns zu beschützen. So ist er. Ein typischer Fall von Großmaul
mit Herz.«
Plötzlich schwiegen sie alle und lauschten in den Wald: Jemand
rief ihre Namen.
»Nicht nur Großmaul, sondern auch Lautmaul. Wenn man
vom Teufel spricht...« Antigua erhob sich vorsichtig und ging noch
bedächtiger zu dem Loch in der Turmwand, in dem vor langer Zeit vielleicht
ein Fenster gewesen sein mochte.
Zweige krachten, Laub raschelte. Dann tönte auch schon Bat
Furans kräftige Stimme zu ihnen hoch.
»Es ist gleich zehn Uhr, ihr Eulen! Die Älteren sind
schon da und wollen noch eine kleine Predigt wegen morgen loswerden. Und
Tigris kriegt sogar eine Extra-Gebrauchsanweisung. Also kommt endlich da
runter. Ich und Ras warten hier.«
»Wie süß von dir...«, säuselte Antigua
lieblich-boshaft zu ihm herunter. »Hast du Angst, dass Tigris wieder
entführt werden könnte?«
»Nein, ich habe nur Angst, dass das Sippen-Surfen gestrichen
wird, wenn wir nicht ganz nett und folgsam sind, allerliebste Antigua.«
Genau so vorsichtig, wie sie hinaufgestiegen waren, machten sie
sie sich Absatz für Absatz wieder die bruchfällige Wendeltreppe
hinunter.
»Und?«, sagte Tigris zu dem hochgewachsenen Wandler
vor dem Turm schnippisch. »Wohin geht es diesmal und wo landen wir
stattdessen?«
»Die Sahara wäre genau das Richtige für dich, Tigris.
Vielleicht verliere ich dich ja dort auf dem Weg nach Guayaqil«,
knurrte Bat Furan und ging mit Ras Algheti voran, der ihnen verständnislose
Blicke zuwarf.
»Gu- was? Wo liegt das?«, fragte Ember und schloss zu
den beiden Wandlern auf.
»In Ecuador.«, erklärte Ras Algheti und überließ
wieder Bat Furan das Wort, der sogleich anfing, seinen ›Sprungplan‹ zu
erläutern. »Das ist diesmal sowas von todsicher. Als erstes
natürlich die Node von Azteca. Da wären wir dann schon einmal
in Mexiko. Von da aus finden wir spielend eine ecuadorsche Sippe. Und im
Null komma Null sind wir in Guayaqil.«
»So, wie du das sagst, sehe ich mich schon irgendwo in Bombay
herumirren und nach Essen flehen«, rief Antigua dazwischen, was Bat
Furan jedoch vollkommen ignorierte. Die beiden Mädchen fingen dennoch
an zu kichern.
Gerade als Tigris sich noch eine gemeinere Stichelei überlegt
hatte, passierte es schon wieder.
›Ich habe dir das Wahre Bild gezeigt! Erinnerst du dich denn wirklich
nicht?‹, dröhnte eine weibliche Stimme durch ihren Geist, und Tigris
blieb schlagartig stehen.
»Schon wieder... eine Vision?«, fragte Antigua leise
und hielt an, ohne darauf zu achten, dass die Jungs mit großen Schritten
den matschigen, von feuchtem Laub bedeckten Waldpfad weiter entlang schritten.
Tigris nickte schwach und spähte mit schnellen ängstlichen Blicken
in die dunklen Wälle aus Baumstämmen zu beiden Seiten, obwohl
sie sich gleich darauf über sich selber ärgerte. Es war nie jemand
Unbekanntes da, wenn die Stimmen in ihrem Kopf redeten. Sie atmete tief
durch und machte einen entschlossen Schritt nach vorne.
›Wie konntest du alles vergessen? Du musst dich erinnern! Nur du
kannst uns noch retten!‹ Die Stimme klang fast flehentlich.
»Tigris, komm endlich! Die Jungs sind weit vor uns!«
Antigua hakte sich bei ihr unter und zerrte sie mit sich. Wie leicht benebelt
stolperte Tigris mit ihr weiter. Aber anscheinend war die Vision vorbei.
Sie beeilten sich und erreichten die drei Jungs, die ein gutes Stück
weiter schon auf sie warteten.
»Anscheinend kann man euch auch schon ganz leicht in Windwibbenburg
verlieren«, begrüßte Bat Furan die Mädchen spöttisch
und bot ihnen seine Arme zum Unterhaken an.
»Wir haben nur deine Reaktionen getestet, mein Lieber. Wenigstens
werden wir nicht alleine sein, wenn wir uns durch den Dschungel schlagen
müssen«, entgegnete Antigua ungerührt, woraufhin Ras Algheti
meinte: »Andere bezahlen für so einen Urlaub Tausende. Ihr habt
keinen Sinn für Abenteuer und Aufregung. Typisch Weiber. Am liebsten
würdet ihr auf einer Modenschau von Dior verloren gehen, stimmt’s?«
Dann bemerkte er, dass Tigris ungewohnt schweigsam war und mit gerunzelter
Stirn zu Boden schaute, anscheinend wild entschlossen, sich jede Einzelheit
ihrer Wildleder-Boots einzuprägen.
»Ihr geht es nicht so besonders«, sagte Ember daraufhin
schnell. »Wegen morgen, ihr wisst ja. Die Prüfung in Barcelona.«
»Ach, das ist doch nur eine Sache von zehn Sekunden«,
meinte Bat Furan lachend und hielt sich für den Rest des Weges an
Tigris' Seite. »Die Seherin kommt ins Zimmer gerauscht, du machst
aus dem Teil, das sie dir gibt, irgendetwas anderes, zum Beispiel diese
flauschigen Bälle. Das kannst du doch am besten. Währenddessen
wirft sie einen müden Blick auf deine Aura, oder auch nicht. Und dann
kritzelt sie deinen Namen in das Register für Windwibbenburg und rauscht
wieder davon. Sie prüfen noch nicht einmal, ob etwas Sinnvolles bei
deiner Wandlung herausgekommen ist. Sie wollen nur sichergehen, ob du irgendetwas
aus irgendetwas machen kannst. Das ist alles. Und je blöder du dich
anstellst, um so lieber lassen sie dich bei uns.«
Bat Furans Stimme, die wie immer grenzenlos optimistisch klang,
lenkte Tigris zumindest bis kurz vor der Siedlung von dem merkwürdigen
Zwang ab, hinter sich in die finsteren Wälder zu blicken. Wieso hatte
sie bei dieser Vision nur das Gefühl, dass diesmal Jemand oder Etwas
in der Nähe war? Und welches Wahre Bild sollte sie angeblich gesehen
haben?
›Was kann ich noch tun, damit du dich erinnerst? Man hat mir gesagt,
dass es schwierig wird, ich weiß. Aber wir haben nur noch wenig Zeit...‹,
begann die Stimme wieder traurig zu sprechen.
Tigris schaute von der Haustüre aus noch einmal in den Wald.
»Ich schnappe noch ein wenig frische Luft vor der Tür«,
stieß Tigris plötzlich hervor, als sie an ihrem Haus angelangt
waren. »Geht schon einmal hinein und sagt meiner Mutter und den anderen
Bescheid. Nur eine Minute!« Sie lächelte zur Bekräftigung,
dass es ihr tatsächlich gut ging. Nach einigem Zögern und besorgten
Blicken traten Antigua und die anderen schließlich alleine durch
die Haustür von Rosenhag 3.
Tigris holte noch einige Male tief Luft - und drehte sich um. Vor
ihr lag feuchtglänzend der Schotterweg hinauf zur Burg. In einigen
Metern Entfernung verbarg sich irgendwo zwischen der dunklen Waldwand links
der schmale Pfad, der zum Turm führte.
»Okay. Wer bist du und was willst du? Ich weiß genau,
dass du irgendwo hier rumhängst«, sagte Tigris leise und atemlos.
Sie spähte durch die Dunkelheit, bereit, irgendetwas Furchterregendes
zwischen den Bäumen zu erblicken. Aber dort waren nichts als Dunkelheiten
und Schatten, aus denen Angst ohnehin alles formen konnte, was man fürchtete.
›Ich gehöre zu denen, die schon lange als vermisst oder sogar
tot gelten. Nichts als ein Mythos der Daimons bin ich inzwischen. Ich büße
für ein großes Unrecht, und meine Strafe ist, dass ich seit
Jahrtausenden die letzten Fragmente einer bestimmten Wahrheit beschütze,
die sich noch an verschiedenen Orten dieser Welt befinden. Aber ich habe
meine Buße selber gewählt und tue bereitwillig meinen Dienst.
Meine Reue ist immer noch groß. Und jetzt, wo ich dich so vorgefunden
habe, wie Omrishah es mir vorausgesagt hat...‹ Die Stimme wurde brüchig
und zitternd. ›Oh, ich muss behutsam sein mit dir. Ich hätte nicht
gedacht, dass dein Zustand so schlimm ist.‹
»Ich habe nichts mit all dem zu tun. Es ist alles nur ein
schrecklicher Irrtum!«, stammelte Tigris und schüttelte unentwegt
den Kopf. Die Frauenstimme sprach in Rätseln, die ihr eigentlich gleichgültig
sein sollten und sie doch beunruhigten und verunsicherten. Irgendetwas
stimmte nicht mehr an ihrem Leben, von Tag zu Tag lösten sich seine
Selbstverständlichkeiten und Wahrheiten auf und vergrößerten
das schwarze Loch in ihrer Seele, in dem irgendetwas lauerte. Etwas Bedeutsames,
Schreckliches...?
›Fühlst du denn gar nichts bei seinem Namen? Kriecht nicht
die winzigste Ahnung in dir hoch, was du auf diesem Bild siehst? Wie konntest
du ihn nur vergessen? Er denkt unentwegt an dich. Erinnerst du dich denn
gar nicht an Barujadiel?‹
Tigris stockte der Atem, als die Stimme diesen Namen nannte. Darum
ging es ihr also: Um die Engelsvision, die wie ein Blitz ihre Gedanken
erleuchtet und sich anscheinend für immer darin eingebrannt hatte.
»Ich... nein. Ich kann mich nicht erinnern, weil ich nichts
damit zu tun habe. Es ist alles nur die Schuld von Raffael. Er hat mir
dieses verdammte Amulett gegeben! Ich wollte es nicht, ich sollte es gar
nicht bekommen.«, flüsterte Tigris und setzte sich auf die kalte
Treppe, barg den Kopf in die Hände und schloss müde die Augen.
›Ja, es war anders geplant. Jemand hat fahrlässig oder absichtlich
etwas vertauscht. Das macht alles so schwierig. Ich könnte dir jetzt
auf der Stelle die ganze Wahrheit über dich und alles andere sagen.
Aber vielleicht könntest du einen Schock erleiden und alles würde
noch schlimmer, als es schon ist. Oder vielleicht ist dein Vergessen so
groß, dass selbst die Wahrheit nicht mehr helfen kann. Ich muss langsam
vorgehen, und vorsichtig.‹
Tigris hob den Kopf und sah sich um.
»Bist du nur wieder so eine Stimme in meinen Kopf, oder bist
du in der Nähe? Ich habe das Gefühl, das jemand hier ist.«
›Schau nach oben...‹
Tigris' Blick schnellte nach oben, hinauf in die sich im Wind wiegenden
Baumwipfel, weiterhin ratlos, da nichts Besonderes zu erkennen war.
Doch schließlich verharrte ihr erstaunter Blick auf einer
Eiche in nächster Nähe. Zwischen den Zweigen nahe der Krone wehte
etwas Silbrigweißes. Zunächst hielt Tigris es für einen
Schal, der einem Windwibb einmal davongeflogen sein mochte.
Doch die silbrige fließende Form erwies sich bei genauerem
Hinsehen als etwas größer. Sie ähnelte einer vielleicht
kindgroßen Gestalt, die auf einer Astgabel saß und sanft auf
und ab wippte. Dabei schwebte ihr merkwürdig zerfetzt wirkender silbriger
Kapuzenumhang beständig mit in die Höhe, doch erstaunlicherweise
viel langsamer als es sein sollte. Alles an der Erscheinung wirkte so federleicht
und ätherisch, als ob sie mit der nächsten stärkeren Böe
davongetragen würde.
›Es ist gut, dass du angefangen hast, alles nieder zu schreiben,
was an Worten und Bildern in deinem Geist auftaucht. Nur schade, dass dir
das Wahre Bild gar nichts mehr bedeutet.‹
›Du meinst den Engel, der jemanden umarmt? Ist das Barujadiel? Wen
umarmt er?‹ Tigris bemerkte gar nicht mehr, dass sie nicht mehr laut sprach,
sondern nur noch dachte.
›Meine Güte, wenn du das alles nicht mehr weißt... ich
hatte große Hoffnungen, als ich hierher kam. Doch ich verlasse diesen
Ort vollkommen verzweifelt. Trotzdem darf ich nicht aufgeben.‹
›Ich bin ja traurig, wenn ich diesen Namen höre oder mich an
den Engel erinnere. Aber ich konnte das Bild nur ganz kurz wahrnehmen.
Wenn ich es doch länger sehen könnte... vielleicht fällt
mir dann ein, was daran bedeutsam ist.‹
›Du wirst es bald in Ruhe betrachten können. Es ist auf dieser
Welt. Ich bewache es mit meinem Leben. Und ich muss wieder dorthin. Ich
lasse es nicht gerne alleine. Ich werde dir ab und zu ein Zeichen geben
und dich besuchen. Wenn du Barujadiel bald begegnest, erinnerst du dich
vielleicht ein wenig. Ich hoffe es. Bis dahin Leb wohl.‹
Tigris stellte erschrocken fest, dass die silbrige Gestalt in den
nächsten Baum schwebte und anscheinend im Begriff war, zu verschwinden.
›Warte!‹ Sie sprang auf die Beine und rannte ein paar Schritte auf
den Wald zu. ›Barujadiel ist
hier?‹
›Hat Omrishah dir nicht einen machtvollen Beschützer versprochen?
Was auch passiert: Vertraue in deinen machtvollen Engel, wie damals.‹
›Ich dachte, es gibt keine Teufel oder Engel?‹
›Natürlich nicht. Ich meinte es sinnbildlich. Es gibt nur gute
oder schlechte Gedanken, Absichten und Taten. Und niemand sollte für
sich selber die Hand ins Feuer legen. Die eigene Gutartigkeit ist so leicht
zu erschüttern. Hölle oder Paradies sind in uns selber, manchmal
zur gleichen Zeit. Leb wohl.‹
»Tigris?«
Sie wandte den Kopf und sah ihre Mutter in der Haustür stehen,
immer noch ohne das kleinste Lächeln, nichts als Besorgnis und Angst
im Gesicht tragend. »Komm bitte herein, wir müssen noch einmal
genau durchgehen, was du morgen tun musst.«
Tigris warf einen Blick in die dunklen Baumwipfel, dann stampfte
sie ärgerlich und verwirrt zugleich zurück zum Haus.
»Geht es dir wieder besser, Spätzchen?« Ihre Mutter
drückte sie ganz fest an sich. »Es wird alles gut. Wir werden
auch deine Examination schon durchstehen.«
»Genau. Und zwar ohne blondgefärbte Haare und Kontaktlinsen«,
grummelte Tigris noch und ließ sich dann im Arm ihrer Mutter ins
Esszimmer führen, wo schon Antigua und die anderen Hausbewohner saßen
und den nächsten Tag besprachen.
.
Unter allen fünf Noden, die PAGAN bewachte, gehörte die
Asiatische eindeutig zu denjenigen Orten, die die meisten Superlativen
für sich beanspruchen konnte. Sie verfügte über die meisten
Passagen in alle Welt, war die Größte, Bestbewachteste, Höchstgelegene,
Abgeschiedenste - und Kälteste: Sie lag inmitten des Himalayas, genauer
gesagt im Herzen der Tanggula-Shann-Kette und erstreckte sich mittlerweile
bis zu vier Kilometer vertikal und drei Kilometer horizontal unter dem
Gesteinsmassiv. Dies lag daran, dass PAGAN Tanggula Shann zu ihrem Hauptquartier
gemacht hatte und seit dem Frontenwechsel der asiatischen Domén
Arx vor zwanzig Jahren ständig weitergebaut und modernisiert wurde.
Es gab in dieser unterirdischen Schaltzentrale dank der unermüdlichen
Hilfe tausender Daimons Stätten und Dinge, die sich weder die ahnungslose
Menschheit noch die altmodische Rosenstern-Allianz in ihren wildesten Träumen
ausmalen konnte, so wirklichkeitsgetreu und doch über alle Maßen
phantastisch war ihr Anblick. Schon alleine das ›Reisezentrum‹ ließ
sämtliche anderen Noden erbärmlich wirken, obwohl der Stil der
gleiche war: Ein mehr oder weniger runder Saal mit mehr oder weniger hoher,
spitzzulaufender Kuppel. Und Tanggula Shann besaß eben von allem
Mehr. Sie erstreckte sich vom Boden bis zum Scheitelpunkt achthundert Meter
in die Höhe und hatte einen Radius von über sechshundert. Wie
bei allen anderen Noden auch lief ein serpentinengleicher Weg vom Grund
bis fast unter den Scheitelpunkt, von dem in regelmäßigen Abständen
Korridore abgingen, in denen sich die Passagen zur restlichen Welt
befanden. Auch hier hatte die Asiatische Node mehr zu bieten: Neben der
Standardausstattung von elf Passagen zu den anderen Noden beherbergte Tanggula
Shann auch noch sämtliche Tore und Portale im ganzen Einflussbereich
des Asiatischen Territoriums, die die ersten sechsundzwanzig von hundertdrei
Serpentinenwindungen belegten sowie die bei der RSA verpönten Direktverbindungen
zu allen wichtigen oder aus sonstigen Gründen bedeutsamen Orten der
Welt. Vier Windungen im oberen Drittel der ›Kathedrale‹ beherbergten sogar
Durchgänge zu mit PAGAN sympathisierenden Sippen der RSA - und es
kamen ständig neue dazu. In kluger Voraussicht und angetrieben von
der Vision eines brüderlichen Zusammenschlusses aller Xendii hatte
PAGAN darüber hinaus dreißig weitere Windungen samt - noch zumeist
leerer - Korridore direkt unterhalb des Scheitelpunktes von den Daimons
ins Gestein treiben lassen. Lediglich achtzehn Tore davon waren bereits
aktiviert und führten allesamt zu ausgewählten atlantischen Sippen
- eine davon direkt ins Herrenhaus der Zimberdales.
Diese Dimensionen konnte man nur durch die fünfzig Fahrstühle
und ein Transportband auf den Serpentinen bewältigen - weswegen ästethisch
feinfühlige Xendii die Asiatische Node dezent, aber treffend ironisch
auch als ›Einkaufszentrum‹ oder ›PAGAN Plaza‹ betitelten. Inzwischen nämlich
blitzte die Node vor Marmor, Chrom und Plexiglas und bot die gleiche Betriebsamkeit
eines echten Bahnhofs - was jede Node nüchtern betrachtet eigentlich
auch war.
Viele der tagtäglich eintreffenden Xendii aus aller Herren
Länder waren zumeist nur auf der Durchreise: Sie kamen etwa aus der
Achten Windung, bestiegen einen Fahrstuhl oder das Transportband und verschwanden
gleich wieder weiter oben im Australischen Sektor. Es gab zwar immer noch
größtenteils die nostalgischen alten Holztüren, hinter
denen die beklemmende undurchdringliche Finsternis herrschte, aber auch
schon die modernere Version von Passagen und Durchgängen: Torbögen,
zwischen denen die Luft wie verrückt zu flirren schien und alles dahinter
befindliche verschwommen vage andeutete.
Wie auch in den Allianz-Noden befanden sich zwar Patrouillen in
jedem Gang, doch strenge Kontrollen samt Ausweisen gab es nicht. Dennoch
konnten im Fall eines Zwischenfalls eine ständige Einsatztruppe von
fünfhundert Mann innerhalb weniger Sekunden zusammengezogen werden
- in jedem Korridor gab es ein Fixiertes Portal, das nur Mitglieder dieses
Bataillons betreten konnten und das direkt zu ihren Unterkünften in
Shangri-La führte.
Natürlich handelte es sich hierbei nicht um das mythische Wunderland
Asiens, das von heiligen unsterblichen Menschen bewohnt sein sollte, doch
angesichts der überwältigenden, täuschend echten Gestaltung
einer sonst nur auf der Erdoberfläche zu findenden Landschaft im Herzen
der Tanggula-Shann-Kette passte dieser sagenhafte Name sehr gut. In der
riesigen Höhle gab es sogar Tag und Nacht, ein Verdienst raffinierter
Techniker und Wissenschaftler, die regulierbare, monströse Beleuchtungsschienen
mithilfe von Daimons an das Felsdach hatten anbringen lassen, die durch
einen künstlichen Himmel verborgen wurden.
In Shangri-La fand der Besucher Parks, Waldhaine, hügelige
Wiesen, zwei Pferdekoppeln, einen kleinen See mit Bootshafen und etliche
phantastisch aussehende Gebäude, die vor über hundert Jahren
Antonio Gaudí, der berühmte spanische Architekt, höchstpersönlich
für eine zukünftige Xendi-Hauptstadt entworfen hatte - auch er
selber war seherisch begabt und eines der Gründungmitglieder PAGANs
gewesen: einer der zahlreichen Prominenten, von deren Doppelleben die wenigsten
Menschen etwas wussten.
Daher stand kein Gebäude in Shangri-La, das dem anderen glich
und jedes einzelne von ihnen schien einem Fantasy-Märchen entsprungen
zu sein. Einige sahen aus, als hätte man Dinosaurierknochen und -schädel
kunstvoll bearbeitet und zu einem Haus zusammengefügt, andere erinnerten
an prachtvolle Jugendstilhäuser, manche wirkten wie sagenhafte Dämonenpaläste
mit ihren schmiedeeisernen Toren, Treppengeländern und Kerzenhaltern
in Form von Drachenklauen, Schlangen und zahllosen Variationen von Pentagrammen.
An manchen befanden sich an der gesamten Außenfassade Mosaikarbeiten,
andere waren aus Sandstein mit kleinen Zinnen, die wie in Zuckerguss getaucht
schienen, oder aus poliertem Marmor mit schmiedeeisernen Einlegearbeiten.
Selbst jene, die hier ständig wohnten, entdeckten noch nach Jahren
neue Details in den Ornamenten, Säulen, Fenstern, Kuppeln und Türrahmen.
Die märchenhafte Pracht setzte sich auch in den Häusern fort
und wurde nur durch die Anwesenheit von Fernsehern, Telefonen, Computern
und anderen Annehmlichkeiten des technischen Fortschritts ein wenig gestört,
wo man diese nicht hinter kunstvollen Holztüren verschwinden lassen
konnten.
Zum bevorstehenden Equinox Veris, der Tag- und Nachtgleiche im Frühling
und ein Feiertag, den die Xendii aller Bündnisse und Sekten auf der
nördlichen Hemisphäre begingen, wurde auch in Shangri-La das
Innere der Häuser traditionell mit frischen Blumen und Zweigen geschmückt.
Die Vorbereitungen liefen deswegen auch an diesem phantastischen
Ort auf Hochtouren.
Als Aévon Zimberdale die Treppen des zentral in Shangri-La
gelegenen ›Aquariums‹ hochkam, zu dem eine direkte Passage von der tiefer
im Gebirgsmassiv gelegenen Node führte, sah er ungewohnt verdreckt
und sehr mitgenommen aus. Dies gab einen markanten, erfrischenden Kontrast
zu all den Blumengestecken und Girlanden ab, mit denen die dienstbaren
Geister das Gästehaus mit der blauen Mosaikfassade vom Tiefgeschoss
bis zum Speicher geschmückt hatten. Und ›dienstbare Geister‹ beschrieb
die tatsächliche Natur der Angestellten recht gut: Es handelte sich
fast ausnahmslos um Daimons, die schon seit längerer Zeit Asyl unter
PAGAN genossen und die Prüfungen für eine dauerhafte Niederlassung
bei den Xendii mit guten Beurteilungen abgeschlossen hatten. Diese an sich
erfreuliche Eigenschaft konnte Procyons Sohn jedoch nicht im mindesten
beeindrucken, weswegen er jedem von ihnen finstere, durchdringende Blicke
aus seinen strahlend honigbraunen Augen zuwarf - wenn sie nicht gleich
panikerfüllt die Flucht vor ihm ergriffen.
»Wo ist mein gottverdammter Vater?«, herrschte er Bloomsworth
an, der in der langgezogenen Bibliothekshalle mit den schraubenförmigen
Säulen aus hellem Marmor die Bücher abstaubte und mit seinem
schwarzen Frack geradezu ein Klischee von einem daimonischen Butler abgab.
Procyon schätzte ihn sehr und nahm ihn auf allen seinen Reisen mit,
die ihn sehr oft nach Shangri-La führten.
»Er wird sich höchstwahrscheinlich oben im Konferenzsaal
wieder mit den Kontinentalräten von PAGAN beraten, wie fast jeden
Tag«, entgegnete Bloomsworth ungerührt und glitt würdevoll
und hochnäsig zum nächsten Regal.
»Ist Rosanjin auch hier?« Aévon bemühte
sich, betont gleichgültig zu klingen, konnte allerdings den alten
Daimon, der mit wenigen Unterbrechungen schon seit Jahrhunderten auf der
Erde lebte, natürlich nicht täuschen. Und so antwortete Bloomsworth
unüberhörbar ironisch: »Nein, Mr. Yamashita ist vor zwei
Tagen nach England zurückgekehrt. Aber vielleicht sollten Sie sich
trotzdem vorher ein wenig frisch machen, Sir. Auch wenn Sie höchstwahrscheinlich
nur diese unwichtige Zusammenkunft der Kontinentalräte stören
wollen: Sie sehen aus wie ein Kaktus, der mit voller Absicht in einen Schweinepfuhl
gefallen ist, Mr. Zimberdale junior.«
»Und das war Nummer 79. Beim hundertsten ›Junior‹ erledige
ich dich, Bloomy. Vergiss das nie«, raunte Aévon unheilsschwanger.
»Oh, ich habe noch einundzwanzig Versuche? Ich dachte, es
wären bereits 82 Verstöße gewesen, wenn man jene Male auf
der Treppe vor rund zwei Monaten dazurechnet. Oder gelten diese wegen zeitweiliger
Unzurechnungsfähigkeit aus Wut nicht?«
»Ah ja. Okay, ich zähle sie nicht mit. Aber nur, damit
du und die anderen Dummons in diesem Haus nicht denken, ich wäre ein
Materialist, der euch alle hasst.« Aévon grinste spöttisch.
»Kein Daimon glaubt, dass Sie ein aggressiver, egoistischer
Ignorant sind, Sir.« Bloomsworth, mittlerweile oberhalb eines Regals
schwebend, schaute Aévon gespielt entsetzt an. Und als dieser sich
einen passenden Kommentar schenkte und davonstürmte, murmelte der
alte Daimon: »Denn wir wissen es genau.«
Währenddessen rannte Aévon die weiße Freitreppe
hinauf, einem versehentlich eingelassenen Landstreicher mehr ähnlich
als dem Sohn und Erben des gepflegten Mister Procyon Zimberdale.
Der Offizier, postiert vor der meergrünen zweiflügeligen
Tür des Sitzungssaales, schob schon seit Stunden Wache und kämpfte
bereits gegen seine Langweile und das Sekunden währende Eindösen
an, da stand auch schon Aévon plötzlich vor ihm und verschaffte
sich mit einer Druckwelle sowohl Einlass als auch die augenblickliche,
ungeteilte Aufmerksamkeit aller Beteiligten.
»Gott zum Gruße, meine lieben seelenmutierten Brüder
und Schwestern. Liegen irgendwelche Vorschläge an, über die ihr
abstimmen müsst, aber nicht wisst, wie und warum? Vielleicht kann
ich dabei behilflich sein.«
Er sah scheinbar gutgelaunt in die Gesichter der über hundert
Männer und Frauen, die ihn vollkommen sprachlos aus den drei treppenartig
ansteigenden, halbkreisförmigen weißen Tribünen anstarrten.
Vor ihnen stand ein ebenso weißes Marmorpult mit drei Plätzen,
auf denen der bereits fassungslose George Midfield saß, sowie seine
Stellvertreterin, Mira Szelwyczinski und als Protokollant ein junger Chinese
aus der Sippe Han Shui, ehemals die Domén Arx Asiens und immer noch
sehr einflussreich und traditionsbewusst. Aévon hatte ihn noch nie
zuvor gesehen und warf ihm im Vorbeigehen absichtlich einen viel zu langen,
viel zu zweideutigen Blick zu, der den jungen Mann verwirrte und anscheinend
in tiefste Verlegenheit brachte - er senkte rasch den Kopf.
Als Procyons Sohn dann auch noch seelenruhig zu den Sitztribünen
schlenderte, wo sich am äußersten Rande noch ein freier Platz
genau neben seinem Vater befand, platzte George Midfield erwartungsgemäß
der Kragen. Er tupfte sich sein schweißnasses Gesicht rasch mit einem
Taschentuch ab und rief dann kaum beherrscht: »Dies ist eine nicht-öffentliche
Sitzung der Kontinentalräte. Ich muss dich bitten, das Ende abzuwarten,
wenn du uns etwas mitzuteilen hast.«
Doch Aévon ließ sich seelenruhig neben seinem adretten,
gepflegten Vater nieder, der mit verschränkten Armen und gerunzelter
Stirn anscheinend schon über die passenden Worte brütete, mit
dem das rüpelhafte Verhalten seines Sohnes am besten zu entschuldigen
wäre.
»Bitte mich, bis du umfällst, George, mein Bester. Also
sind wir schon auf dem Allianz-Niveau angekommen? Die großen Führer
entscheiden über die Zukunft des Fußvolks, ohne dass sie auch
nur einmal aufmucken dürfen? Ich habe ein dringendes Anliegen, es
ist mein Recht, es hier vorzubringen. Und es geht um die Zukunft aller
Menschen auf dieser Welt.«
»Aévon, bitte! Nicht schon wieder...«, stöhnte
Procyon auf und verzog gequält das Gesicht.
»Doch, doch. Immer wieder. Bis ihr es endlich kapiert! Das
Eden-Projekt ist gestrichen. Hat jemand zufällig irgendeinen Schimmer,
was das für uns bedeutet? Wenn wir doch schon die ganze Zeit noch
nicht einmal gewusst haben, dass wir Teil dieses Projekts sind, sollte
uns vielleicht schon ein wenig interessieren, was sich ändert, nachdem
unsere Welt hochkant aus Omris Zoo geflogen ist.«
Nun erhob sich ein empörtes Rauen im ganzen Saal. Viele waren
ja schon die respektlose Ausdrucks- und Verhaltensweise des jungen Zimberdales
gewohnt. Aber Omrishah genoss höchstes Ansehen bei PAGAN - manche
verehrten ihn geradezu.
»Ah, ich weiß, die Zeiten sind hart«, fuhr Aévon
ungeachtet der bösen Blicke fort. »Ein gefährliches DiSfakt
ist der MDL in die Hände gefallen - nun ja, Schicksal. Ein ziemliches
redebegabtes Bürschchen ist gerade dabei, die Xendii der Allianz gegen
uns aufzuhetzen - aber was! Das fällt wohl unter Meinungsfreiheit.
Die Welt wird von unfassbar gierigen, skrupellosen Politikern, Militärs
und Finanzgeiern gerade genüsslich gefleddert - pah, was haben wir
damit zu tun, auf unseren Inseln der Glückseligen? Ständig legen
gewiefte MDL-Agenten unsere mitfühlenden Daimontherapeuten herein
und kriegen ungehindert Asyl - Risiko, nicht wahr? Da erscheint es mir
bei genauer Betrachtung auch nicht weiter tragisch, was ich über das
Ende dieses glorreichen Eden-Projekts herausgefunden habe. Es klingt auch
noch so verdammt nett und sympathisch: Freie Entfaltung und Freier Wettbewerb
für alle Geschöpfe Gottes. Ah, wenn ich nicht so ein verdammt
misstrauisches Biest wäre, könnte es mir glatt gefallen.«
Mira ergriff daraufhin mit schneidender Stimme das Wort. »Omrishah
wird uns helfen, wie er es bisher immer getan hat. Zufälligerweise
erwarten wir heute seinen Boten, der uns vielleicht endlich über einiges
aufklären kann.«
»Na, das trifft sich ja wirklich großartig. Ich habe
da einiges auf der Homepage der MDL gelesen, das Anlass zur Besorgnis
gibt. Wusstet ihr zum Beispiel, dass innerhalb von drei Monaten nach Ende
des Projekts keinem Daimon mehr auch nur Fragen nach seinem Wohlbefinden
gestellt werden dürfen, wenn er durch die Daimontore hereinschneit?
Sämtliche direkten Passagen von der Daimonsion in die Noden dürfen
nicht mehr kontrolliert geschweige denn gesperrt werden. Zuwiderhandlungen
werden von den Melegonin umgehend geahndet.«
Schadenfreudig registrierte Aévon daraufhin die lautstark
ausbrechenden Diskussionen und die immer wieder zu ihm herumschnellenden
Köpfe der Xendii.
»Woher weißt du das alles?«, fragte Procyon seinen
Sohn leise.
»Ich habe einen MDL-Spitzel gefoltert, um an die Passwörter
zu kommen«, antwortete Aévon, nicht im mindestens bemüht,
seine Stimme gedämpft zu halten. Das rief sogleich eine empörte
Afrikanerin auf den Plan, die eine Reihe über ihm saß. »Geständnisse
unter Folter sind nichts wert. Wir bei PAGAN verabscheuen diese Praktiken.
Unter Folter würdest sogar du gestehen, ein Daimon zu sein und mit
der MDL zusammen zu arbeiten.«
»Tja, das hat er auch ohne Folter gestanden. Die Passworte
waren trotzdem richtig.«
Mira rief durch das Mikrofon die Anwesenden zur Ruhe, deren aufgeregten
Stimme allmählich verebbten und schließlich verstummten, als
sie schließlich fortfuhr: »Wenn dem so sein sollte, können
wir jederzeit die Dimensionspassagen sperren. Aber bevor wir keine richtigen
Beweise haben, können wir nicht einfach die Verträge mit den
FreeDaimons einseitig kündigen, da sind wir alle einstimmiger Meinung.
Wir verdanken unseren Daimons viel. Nicht zuletzt Shangri-La.«
Zustimmendes Gemurmel ließ Mira zufrieden zurück in ihren
Sitz lehnen. Dennoch behielt sie Aévon genauestens im Auge. Über
sechs Wochen war er verschwunden gewesen - hatte sogar seinen Geliebten
in völliger Ungewissheit und Sorge zurückgelassen - und nun tauchte
er mirnichts dirnichts einfach wieder auf und hatte offensichtlich beunruhigende
Erkenntnisse über das Ende des Eden-Projekts gewonnen. Er saß
überaus gelassen und selbstsicher wie gewohnt da, ähnelte zwar
zurzeit mehr einem verwahrlosten Bettler, dennoch wirkte er genau wie jemand,
der noch viele Asse im Ärmel hatte und sie Blatt für Blatt auszuspielen
gedachte. Wo blieb nur Nikaelu, Omrishahs Bote? Seitdem der mächtige
Daimon unter Hausarrest gestellt worden war, waren keine Nachrichten mehr
von ihm gekommen. Hoffentlich brachte Nikaelu wenigstens auch gute Neuigkeiten
mit. Mira hatte das Gefühl, auf der Stelle zusammenzubrechen, wenn
sich jetzt noch mehr Schwierigkeiten vor ihr auftürmten.
»Wer protzige Miniaturwelten in Gebirgen braucht, benötigt
sicher Daimons«, rief Aévon scheinheilig lächelnd. »Seit
König Salomon gibt es immer wieder Xendii, die mit Prunkbauten aus
der Masse herausragen möchten. Aber wofür? Was ist mit unseren
Idealen, eines Tages unsere Talente und die Noden mit den anderen
Menschen zu teilen? Verschoben bis zum Jüngsten Gericht, nehme ich
mal an. Glücklicherweise haben wir ja ständig mit den Daimons
zu tun, da muss alles andere warten.«
»Du bist im Begriff, uns alle zu beleidigen!«, mischte
sich George mit bebender Stimme ein. Er sah überhaupt nicht gesund
aus und kämpfte gegen die seit zwei Wochen immer häufiger auftretenden
Schüttelanfälle an. Aévon spürte sogar einen Anflug
von Mitleid mit ihm. Dieses Schicksal eines langsamen Ausbrennens und heranschleichender
geistiger Umnachtung würde ihm selber erspart bleiben. Er würde
einfach in Flammen aufgehen und in Sekunden sterben. Mit 21 Jahren hatte
seine Sanduhr schon zu rieseln angefangen. Und das letzte Körnchen
konnte jeden Tag, vielleicht sogar in der nächsten Minute hinabschweben.
»Es war nicht meine Absicht, jemandem etwas zu unterstellen«,
sagte Aévon in milderem Tonfall.
»Aber ich frage mich ernsthaft, wer Vorrang für PAGAN
hat: Die Menschheit - oder Daimons? Diese Welt, dieses Universum ist nicht
ihre Heimat. Aber trotzdem bestimmen sie seit Urzeiten selbstherrlich darüber.
Jetzt, wo das Eden-Projekt zu Ende ist, ist unsere Welt angeblich wieder
Teil der Freien Welten, des Freien Universums. Wisst ihr, was das Merkmal
der Freien Welten ist, meine lieben Brüder und Schwestern?«
Aévon erhob sich, um die Tragweite seiner nächsten Worte noch
zu unterstreichen. »Der DiS-Level muss mindestens 18% betragen. Damit
auch wirklich jeder Daimon sich dort wohlfühlen kann. Und dagegen
könnt ihr gar nichts machen, denn das ist die erste von vielen Neuerungen,
die hier durchgesetzt werden - notfalls gewaltsam. Wer Daimonkratie und
Freien Wettbewerb behindert, ist eben ein materialistischer Reaktionär,
der zu seinem Glück gezwungen werden muss.«
»Hast du Beweise für diese ungeheuerlichen Behauptungen?«,
riefen mehrere Räte gleichzeitig über die sich wieder laut erhebenden
Stimmen hinweg.
»Wir können uns jederzeit in den nicht-öffentlichen
Mitglieder-Bereich der MDL einloggen, ich habe die Passwörter erfahren.
Wer nicht wie wir über die wahren Beweggründe der Shinnn informiert
ist, wird sogleich mit Freuden in die MDL eintreten: Uneingeschränkte
Bewegungsfreiheit für alle Geschöpfe Gottes! Spaß im ganzen
Universum für alle! Religionsfreiheit für alle! Und das heißt
nach Abzug aller Blümchen und Doppelzüngigkeit: Der DiS-Level
wird erhöht, bis auch ein Angoleah-Daimon sich zumindest wieder materialisieren
kann. Das geht natürlich nur, wenn ungehindert große Mengen
DiS aus der Daimonsion durch die Daimontore hierher verfrachtet werden.
Menschliche Anhänger wahnsinniger Kulte dürfen nicht mehr daran
gehindert werden, ihren Göttern Blutopfer darzubringen.« Zum
ersten Mal begann Aévons Stimme zu zittern, doch er fing sich rasch
und wehrte harsch die tröstende Hand seines Vaters ab. »Die
Menschen werden sich in einer völlig veränderten Welt wiederfinden.
Jeder Daimon darf natürlich in der Gestalt erscheinen, die ihm zusagt.
Und wenn er gerne ein meterhoher Drache sein möchte, dann müssen
wir ihm eben seinen Spaß lassen, alles andere ist diskriminierend
und materialistisch. Alles ist diskriminierend und ungerecht, wenn wir
bei dem Spiel nicht mitmachen. Wir behindern die Freie Entfaltung und den
Freien Wettbewerb.«
Mira schloss getroffen die Augen. Wenn das alles tatsächlich
stimmte... dann blieb PAGAN wohl keine andere Wahl, als alle Zugängen
zu sperren - ungeachtet all der wirklich verzweifelten Daimons, die politisch
oder religiös verfolgt wurden. Seit dem Verschwinden des gefährlichen
›Seelenfressers‹ hatte die MDL an Beliebtheit unter den Daimons stark zugenommen.
Sie versprachen Sicherheit und gleichzeitig grenzenlose Freiheit. Dabei
wusste jedes halbwegs intelligentes Geschöpf, dass es niemals absolute
Sicherheit ohne Überwachung, Kontrollen und strenge Gesetze geben
konnte. Und an dieser Stelle hörte Freiheit auf. Den gebildeten,
nachdenklichen Daimons war schon seit langem klar, dass hinter allen Versprechungen
der MDL nichts als Machtgelüste standen, der Wunsch, alles und jeden
zu beherrschen, nach Gutdünken schalten und zu walten. Da kam ein
entflohener, psychopathischer Massenmörder gerade recht. Freie, selbstbestimmte
Individuen ohne Angst, noch dazu in Massen, waren der natürliche Feind
von egozentrischen, machtgierigen Einzelnen. Völker in Furcht hingegen...
Mira schreckte auf, als ein Windstoß mit einem Mal sämtliche
Blätter auf dem Marmorpult durcheinander wirbelte.
Nikaelu, endlich!
Eine wie vor abertausenden Juwelen glitzernde Säule schoss
von der hohen Decke des Saals bis in den Boden, in ihr rotierten außerordentlich
schöne florale Blumenornamente in filigranen Streifen umeinander.
Der Anblick ließ etliche, zumeist weibliche Räte entzückt
aufseufzen, während die anderen ein wenig ungeduldig darauf warteten,
dass der Daimon sich endlich endgültig materialisierte. Aévon
verzog das Gesicht und rollte die Augen. Er erkannte den Shine sofort wieder.
»Omri scheint Blondinen zu bevorzugen.«, knurrte er
verächtlich und verschränkte fest die Arme vor sich.
»So ein Kleid möchte man auch einmal gerne tragen, ohne
verspottet zu werden«, sagte eine hagere, australische Kontinentalrätin
sehnsüchtig.
»Einen wunderschönen Abend wünsche ich!«,
gurrte Nikaelu und hob lächelnd den Kopf. Sie trug diesmal eine bodenlange,
perlenbestickte Robe aus goldenem Brokat und mit weiten Ärmeln, deren
Ränder ebenso wie der Saum des ganzen Kleides in einem breiten Streifen
von dunkelrotem Samt eingefasst waren. Das Gewand brachte ihre schmale
Taille und das üppige Dekolleté vollendet zur Geltung. Passend
zu ihm trug sie einen dunkelroten Kosakenhut, einen Samtmuff der gleichen
Farbe und goldene, perlenverzierte Barock-Stiefelchen. Natürlich fehlte
passendes Goldgeschmeide in Form von tropfenförmigen Rubinanhängern
an Ohrringen und Kette nicht. Dieses Mal hatte sie ihre platinblonden Haare
ordentlich hochgesteckt und auf zuviel Make-up verzichtet.
»Omrishah lässt euch alle ganz herzlich grüßen
und knuddeln. Wie ihr sicher wisst, hat er zurzeit einige Probleme in der
Daimonsion, hofft aber, sie recht bald lösen zu können.«
»Er ist der mächtigste Daimon von allen«, rief
Aévon mitten in die andächtige Stille kurz nach Nikaelus Ansprache.
»Dass er sich Hausarrest von Daimons gefallen lässt, die er
mit einem Wimpernschlag in Luft auflösen könnte, hat schon etwas
unfreiwillig Komisches.«
»Aévon, bitte!«, grollte Mira, deren Zornesausbruch
sogleich strenge Blicke der versammelten Räte in die Richtung des
unverschämten Zimberdales folgten. Aber Aévon genoss seine
Provokationen viel zu sehr, um sich schuldig oder gar angesprochen zu fühlen.
Nikaelu warf ihm nur einen amüsierten Blick zu. »Ja,
das könnte er. Aber er ist nun einmal so idealistisch und will nicht
noch mehr Unfrieden in der Daimonsion stiften. Wir sind alle sehr besorgt
über den Ausbruch dieses Monstrums.«
»Das wäre ich an eurer Stelle auch, wo doch vor allem
Daimons auf seinem Speiseplan stehen.«
»Jedenfalls hat mich Omrishah beauftragt, euch einige Neuigkeiten
zu überbringen. Erst die Guten oder die Schlechten Nachrichten?«,
fuhr Nikaelu im heitersten Plauderton weiter und ließ die erwartungsvollen
Mienen um sich herum schlagartig zusammenfallen.
»Bitte erst die Guten!«, flehte Mira laut, bevor jemand
anderer den Mund öffnen konnte. »Vielleicht ertragen wir dann
weitere Schlechte besser.«
»Nun gut.« Nikaelu zwinkerte ihr zuversichtlich zu und
begann in kleinen, anmutigen Schritten an den Tribünen entlang zu
gehen. »Ihr braucht euch keine Sorgen wegen des DiSfaktes zu machen,
das Omrishah euch ursprünglich zukommen lassen wollte.« Sie
strahlte, als sich die Gesichter der Xendii in ungläubigem Erstaunen
erhellten. »Durch ein unglückliches Versehen war Raffiyell,
der die Übergabe durchführen sollte, zur richtigen Zeit am falschen
Ort. Das, was die MDL in ihre Hände bekommen hat, war nichts Besonders,
nur eines dieser illegalen CX, CoreExtractors. Wieder eins mehr für
ihre Vitrinen...«
»Und wer hat nun dieses mächtige, geheime DiSfakt?«
schaltete sich Procyon ein, der den Vorfall in Prag aus Georges Erzählungen
bis ins Detail kannte und augenblicklich seinen ersten Verdacht bestätigt
fühlte, dass eine Verwechslung des Zeitpunktes oder der Koordinaten
der Grund für Gabiriyells merkwürdiges Verhalten war.
»Nun ja, Raffiyell, der wirklich ganz zerknirscht über
die ganze Angelegenheit ist, hat sie offensichtlich einer Neutralen übergeben.
Leider ist das Mädchen wie vom Erdboden verschwunden.«
Diese Neuigkeit brachte George Midfield beinahe an den Rand eines
Nervenzusammenbruches. Er atmete schwer und unregelmäßig, als
er fragte: »Soll ...das heißen... ein... ahnungsloser Mensch
läuft mit einem derart... gefährlichen Gegenstand ohne jeglichen
Schutz durch die Welt?«
»Ich denke schon, mein lieber George.«, juchzte Nikaelu.
»Soll ich jetzt mit den schlechten Nachrichten weitermachen?«
»Warum nicht?«, zischte Aévon. »Wir sind
jetzt in der richtigen Stimmung dafür.«
Nikaelu ging in die Mitte des Saales und stellte sich würdevoll
genau zwischen dem Präsidentenpult und den Tribünen auf. »Leider
sind auf dieser Welt die Bedingungen nicht mehr gegeben, weiter in dem
Eden-Projekt von Omrishah zu verbleiben. Er ist wirklich völlig aufgelöst
deswegen, geradezu verzweifelt. Das Eden-Projekt ist dazu gedacht, Planeten
des materiellen Universums Zeit und Gelegenheit zu geben, sich möglichst
ohne Einflüsse von außen zu entwickeln; Strategien und Techniken
zu finden, um konstant einen DiS-Level von höchstens 5,5 % beizubehalten.
Dies gelingt nur Völkern, die eine möglichst friedliche Form
des Zusammenlebens entwickeln können. Nun ja, im Moment sieht es auf
dieser Welt nicht besonders gut in dieser Hinsicht aus. Omrishah muss seine
Protektion der Erde aufgeben und kann nichts dagegen tun, dass sie wieder
den Freien Welten
zufällt.«
Schuldbewusst sahen viele der Ratsmitglieder verstohlen zu Aévon,
dessen durchdringend helle Augen jedoch nur finster blickend an Nikaelu
hingen.
»Sämtliche Passagen von der Daimonsion zu eurer Welt
müssen augenblicklich freigegeben werden. Ihr dürft keinen Daimon
mehr am Besuch dieser Welt hindern. Der DiS-Level muss derart erhöht
werden, dass jeder Daimon die Möglichkeit hat, sich hier frei zu bewegen.«
Nikaelus Stimme hallte heiter und beschwingt durch den Saal. Niemand sagte
zunächst auch nur ein Wort, als sie geendet hatte.
Es war Mira, die vollkommen ruhig, aber bestimmt zu reden begann.
»Omrishah muss klar sein, dass wir das niemals akzeptieren können.«
»Ja, er war auch sehr traurig, als er mir das erzählt
hat.«, plauderte Nikaelu fröhlich weiter. » ›Nik‹, meinte
er vorhin leise zu mir. ›Weißt du... wenn ich George wäre, würde
ich die Schotten dicht machen. Ich habe zurzeit wirklich keine Möglichkeit,
einzugreifen. Ich hab sogar den Schlüssel für das Oberste Portal
verquast noch mal irgendwie verlegt. Selbst wenn die MDL mir die Bude einrennt
und verlangt, ich soll gefälligst den Schalter drücken, mit dem
alle Noden automatisch auf- oder zugehen, ohne dass die zwölf Nodenschlüssel
noch eine Wirkung hätten... ich könnte das noch nicht einmal
mehr. Ich bin halt so ein alter Schussel.‹ «
Mira und George sahen sich mit großen Augen an, und auch einigen
anderen Xendii ging die Bedeutung der so harmlos daher geflöteten
Worte Nikaelus allmählich auf.
Selbst Aévon sah vollkommen erschüttert aus. Omri riet
ihnen also ganz offen, die Noden für die Daimons sofort zu schließen.
Sein sehnlichster Wunsch war urplötzlich in Erfüllung
gegangen.
Aber was, verdammt noch einmal, war dieses Oberste Portal, mit dem
alle Noden automatisch geöffnet oder geschlossen werden konnten?
Niemand der Räte, niemand bei PAGAN, und wahrscheinlich kein
einziger Xendii auf der ganzen Welt hatte von einer derartigen Vorrichtung
gehört.
Und doch existierte es.
Lediglich der Schlüssel war verloren gegangen.
.
Engelbert tauchte kurz nach Mitternacht auf, nachdem er tagelang
wie vom Erdboden verschluckt gewesen war und störte Tigris bei ihrer
Grübelei über die Begegnung mit der seltsamen Gestalt wenige
Stunden vorher.
»Schatzerl, wie ich sehe, geht es dir beschissen. Schon wieder.«,
sagte er, nachdem er sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch materialisiert
hatte, auf dem der Computer stand. Er war das einzige Erinnerungsstück
an ihre Zeit in Düsseldorf. Nichts war mehr von ihrem alten Leben
übrig, stattdessen wurde alles nach von Tag zu Tag chaotischer und
verwirrender.
»Du weckst Antigua und den Rest von Windwibbenburg gleich
noch auf«, zischte Tigris und spähte in der Dunkelheit hinüber
zu dem anderen Bett, in dem silberblondes Haar schimmerte.
»Ich hab ein wenig vor der Haustür gesungen, wenn du
verstehst, was ich meine. Alle träumen jetzt von einer wunderschönen
Weide und tollen mit den anderen Schafen umher. Aber ich kann die Intonation
natürlich beenden, wenn du nicht willst, dass ich dir mein kleines
Geschenk zeige.«
»Danke! Ich habe bereits ein tolles Geschenk bekommen. Von
ganz oben. Meine Freude ist grenzenlos!«, giftete Tigris und schnaubte
entnervt auf, krampfhaft bemüht, nicht schon wieder in Tränen
auszubrechen.
»Verdammt, hätte ich damals an der Takran doch den Kurs
›Psychische Unterstützung und Seelsorge an materiellen Geschöpfen‹
belegt. Was ist denn passiert, dass du wieder so ausrastest, Schatzerl?
Die ganzen Tage kamst du mir ziemlich gutgelaunt vor. Du hattest doch auch
viel Spaß beim Training, oder nicht?«
Tigris wischte sich mit verbittert zusammengepressten Lippen über
die Augen. »Irgendetwas Merkwürdiges passiert gerade mit meinem
Leben. Meine Mutter spielt total verrückt«, schluchzte sie schließlich
ohne aufzusehen. »Dann hat mich ein merkwürdiger Daimon zugetextet.
Und in ein paar Stunden stehe ich irgendsoeiner blöden Seherin der
Domén gegenüber. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran
denke. Meine Mutter wollte sogar, dass ich mir die Haare blond färbe
und Kontaktlinsen anziehe, nur damit mich niemand erkennt. Obwohl ich laut
Lux Livas erst mit meiner Anmeldung als Wandlerin für De Navarris
existiere. Ich werde noch verrückt!«
»Kontaktlinsen! Was für eine blöde Idee, wenn man
einem erfahrenen Seher unter die Augen tritt.«
»Lux Livas hat behauptet, dass De Navarris oder andere Sippen
vielleicht schon von mir und dem Amulett wissen. Stimmt das, Engelbert?
Weiß die ganze Welt schon über mich Bescheid?« Sie wischte
sich eine Träne aus den Augen und knipste die Nachttischlampe an,
gerade in dem Moment, in dem in Engelberts sommersprossigem Gesicht wieder
das breiteste Grinsen auftauchet, das tatsächlich von einem Ohr zum
anderen reichte. »Wir Daimons lieben Gerüchte, aber noch mehr,
sie ein wenig... äh, liebevoll auszuschmücken, bevor man sie
weitererzählt. Ich selber habe daran tatkräftig mitgewirkt. Zurzeit
ist die Rede von einem bekannten Action-Star aus Hollywood, dem Raffael
seine eigenen Kräfte übertragen hat. Er ist etwa 2,80 groß
geworden, trägt Schuhgröße 60 und kann mit einem müden
Blick erkennen, ob jemand ein Sünder ist oder ein gottesfürchtiger,
rechtschaffener Mensch. Er wird spätestens an Equinox Mebani mit einem
riesigen Helikopter über dem Petersdom, der Kaaba und der Al-Aksa-Moschee
gleichzeitig erscheinen und das drohende Ende der Welt verkünden.
Natürlich in Dolby-Surround und digitally remastered.«
Und damit entlockte er Tigris wieder ein kleines Lächeln. »Wirklich?
Sie wissen also nicht, wie derjenige in Wahrheit aussieht, der dieses verfluchte
Ding mit sich schleppt?«
»Wenn überhaupt, dann glauben sie eher die Version mit
dem starken Muskelpaket. Einige sollen zwar etwas von einem jungen, seelisch
labilen Mädchen gehört haben, aber diese Variante gilt als absurd.
Von einem Auserwählten erwartet man ja schließlich einiges,
nicht wahr? Nur nicht, dass er alle drei Minuten einen Heulkrampf kriegt.«
Tigris erhob sich langsam und fuhr sich ein wenig verlegen und beleidigt
zugleich über ihre zerzausten Locken. »Trotzdem ist das alles
zum Kotzen. Und was ist dein Geschenk an mich? Wieder etwas, das ich nicht
mehr loswerde, wenn ich es auch nur ansehe? Vielleicht riesige Creolen?
Oder ein fetter Bernstein-Ring?«
»Pfff, so etwas doch nicht. Meine Geschenke sind sinnvoll.
Jedenfalls in letzter Zeit. Ich habe dir eine 300-Jahre-Probeversion von
DOL mitgebracht. Mit Pop-up-Blocker und jeder Menge toller Links.«
»Ach so. Und was soll ich damit? Wo warst du eigentlich die
ganze Zeit?«
»Mich ein wenig umhören, und vor allem Maruké
suchen. Dieser verdammte schizophrene Spinner hatte doch tatsächlich
recht: Der ›Seelenfresser‹ ist aus der Hochsicherheitsgalaxie getürmt.
Drüben soll die Hölle los sein. Die Sicherheitsstufe wurde auf
›Verkriecht euch und überlasst alles weitere den Angoleah‹ erhöht.
Und ich bekomme langsam Angst. Was ist, wenn sich dieses Monster tatsächlich
schon hier auf dieser Welt herumtreibt? Langsam habe ich das Gefühl,
hier steigt eine große Familienfeier. Raffi huscht durch die Gegend,
Gabi auch. Demnächst tauchen wohl auch noch die Sieben Shinnn auf
und zünden das Feuerwerk. Gibt es keinen einsamen Planeten voller
Schlamm, in den ich versinken und das Ende von dem Chaos abwarten kann?«
Engelbert trat missmutig gegen den Computertower, der daraufhin ansprang.
»Und was soll ich bitteschön mit DOL mitten in der Nacht
anfangen?«, fragte Tigris. »Mit den Shinnn chatten und sie
bitten, vielleicht ein paar tausend Jahre später vorbeizukommen?«
»Mit denen kannst du sowieso nicht chatten, wenn du kein Daimonskript
beherrschst.«
»Daimonskript wie Javaskript?«
»Daimonskript wie Daimonschrift. Ist eine ziemliche verwinkelte
Angelegenheit und kein Mensch könnte die ganzen Ecken und sich kreuzenden
Striche in der Schnelligkeit lesen, in der ein Daimon damit zu schreiben
pflegt. Das ist eine höchst daimonische Kunst.
Aber wie wäre es zum Beispiel nach Informationen über
dein lästiges Schmuckstück zu suchen? Um vielleicht herauszukriegen,
wie man es wieder loswird, ohne dabei draufzugehen?«
»Einfach so?« Tigris schüttelte befremdet den Kopf.
»Wie ist es eigentlich bei euch in der Daimonsion? Wie sieht es da
aus? Wie seht ihr Daimons dort aus?«
Engelbert seufzte lächelnd. »Schatzerl, um dir das auch
nur ansatzweise zu erklären, bräuchte ich Wochen. Und selbst
dann könntest du dir darunter immer noch nichts vorstellen. Also denk
dir einfach, es ist ungefähr wie hier auf der Erde, nur größer
und phantastischer. Und Daimons sind wie Menschen, nur dass ihre Gefühle
irgendwie stärker sind und länger anhalten. Aus Liebe oder Hass
könnte ein Daimon einen ganzen Planeten verwüsten oder tausende
von Jahren beleidigt sein. Wir sind ziemlich Ich-bezogen. Außer Omrishah,
natürlich. Er fühlt sich immer für alles verantwortlich
und will, dass alle sich ganz doll lieb haben. Kein Wunder, dass man ihn
auf vielen Welten für Gott hält. Was er allerdings nicht ist.
Er ist nur der Einzigmächtigste Daimon, der aus irgendeinem Grunde
stark harmoniebedürftig ist und jedem helfen möchte.«
»Omrishah.« Tigris sah mit zusammengezogenen Brauen
zum Boden. »Immer wenn ich seinen Namen höre, habe ich nicht
so ein gutes Gefühl... oder eher gemischte Gefühle. Einerseits
Wut, andererseits Mitleid.«
»Mitleid? Der Typ könnte im Prinzip innerhalb von Sekunden
jeden Zerrafin oder Shinnn erledigen. Und er ist der einzige Daimon, der
sich nicht zersetzt, wenn er in eine 0-DiS-Zone gerät.«
»0-DiS-Zone? Was ist das denn schon wieder? So eine Art Säuresee?«
»In etwa, ja. Es sind mal kleine, mal riesige Bereiche, wo
es überhaupt kein DiS gibt, nichts, nada, nothing. Zum Tode verurteilte
Daimons werden dort hineingeworfen. Deswegen musste ich ja auch so lachen,
als Maruké behauptet hat, dass der ›Seelenfresser‹ aus der Hochsicherheitsgalaxis
entkommen konnte: Der ganze Bau ist rundherum von einer riesigen 0-DiS-Hülle
umgeben. Kein Daimon kommt da lebend durch, wenn es sich nicht um Omrishah
handelt. Dafür braucht man nämlich Ultra-DiS. Und der einzige,
der Ultra-DiS sozusagen in sich hat, ist eben Omrishah. Alle DiSfakte,
die mit Ultra-DiS zu tun haben, können nur von ihm hergestellt worden
sein. Und es sind durch die Bank weg sehr wichtige Gegenstände. Ergo
hat Omri diesem durchgeknallten Killer entweder tatsächlich geholfen
- was keinen Sinn ergibt - oder der Schutz war doch nicht so lückenlos
wie gedacht. Das ist die Version, die ich glaube.«
»Ist er wirklich so gefährlich, dieser... wie hieß
er doch gleich « Sie sah den Cherubi mit hochgezogener Braue an.
»Bru’jaxxelon.«
Schockiert zuckte Tigris zusammen. Schlagartig erinnerte sie sich
daran, dass die Zwillinge diesen Namen ebenfalls erwähnt hatten -
und dass sie sich erbost darüber gefühlt hatte, wie sie über
ihn geredet hatten. Und wie so oft, wenn sie sich mit diesen Dingen beschäftigte,
tauchten aus den Tiefen ihres Geistes zusammenhanglose Sätze gleich
Erinnerungen auf, die aber nichts mit ihrem Leben zu tun haben konnten:
›Ich
hasse diese Schöpfung, ich hasse dich, Einziger Eloyah. Und mehr als
alles andere hasse ich mich. Statt mich mit dem Tod zu erlösen, hast
du mich mit dem Weiterleben bestraft. So sieht deine Liebe zu mir aus?
Aber auch du wirst lernen, mich zu hassen. Ich werde dich zwingen, mir
meinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Das schwöre ich dir.‹
Für einen winzigen Moment war es sogar so, als verkrampfte sich alles
in ihr vor Schmerz, unendlicher Trauer und wahnsinnigem Zorn. Es fühlte
sich so echt an, dass Tigris entsetzt aufstöhnte und sich verwirrt
umsah.
»Schatzerl? Sag nicht, du hast wieder eine von deinen Halluzinationen!
Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn man Gedanken empfängt, die zu
keinem gehören. In der Daimonsion landet man mit so etwas gleich im
Geschlossenen Sternhaufen.«
»Hier ebenfalls«, erklärte Tigris matt und setzte
sich aufs Bett. Antigua schlief anscheinend wirklich tief und fest, so
regelmäßig wie ihr Atem ging und so regungslos, wie sie unter
ihrer Decke lag. Währenddessen zog Engelbert etwas Silbriges aus seiner
Trainingsjacke. Es sah einer handelsüblichen CD ziemlich ähnlich,
wenn man von dem bunten Glitzer einmal absah.
»Und das tust du jetzt einfach so ins Laufwerk und kannst
dann in diesem DimensioNet surfen, oder wie?«
»Sagen wir so: Damit baut man eine spezielle Art von Leitung
zur nächstgelegenen Node. Keine Angst, durch diese Art von Tor passt
kein Daimon. Wenn es dir weiterhilft: Es ist wie eine Art Daten-Übertragungskabel,
doch es lässt nur eine bestimmte Sorte von DiS durch. Daimons bestehen
jedoch aus anderen, hunderten von Arten DiS. Pardon: Aethron.« Ohne
den Computer zu berühren, ließ Engelbert den CD-Player ausfahren
und legte dann seine DiS-CD ein.
Nun doch sehr neugierig geworden, trat Tigris hinzu und beobachtete
gespannt den Bildschirm, auf dem schlagartig ein grellgelbes, großes
Logo ›DOL - Dimensions online‹ auftauchte.
Nachdem Engelbert es ohne Maus anklickte, explodierte sofort der
Bildschirm in einem Farbgewitter, untermalt von einem leisen, schmissigen
Swing-Sound. ›NEWS! CHATS! GAMES! Für alle D-mons und alle B-inx‹
blinkte reißerisch in großen, fetten Buchstaben auf. Dann beruhigte
sich der Bildschirm und zeigte schließlich das Weltall mit kleinen,
glitzernden Pünktchen. Darin verstreut waren etliche Icons. ›DiSplorer‹
stand unter einem kleinen blauen Kometensymbol. ›Spiellusion‹ wiederum
gehörte zu zwei gekreuzten Schwertern. ›Daimagog online. News&Tipps&Stories‹
erschien in angeberischer Copperplate Gothic Bold-Schrift, während
›DateADaimon‹ in verschnörkelter, lieblich-rosa Buchstaben schüchtern
in der untersten Ecke zu finden war. Und dann gab es noch das verrucht-rote
›XXXmons‹, geschmückt von einer kleinen Peitsche in einem Pentagramm.
»Das ist jetzt doch nicht ernst gemeint, oder?« Tigris
bebte schon vor Kichern. »Daimons und Menschen? Das geht doch gar
nicht.«
»Und wie das geht«, entgegnete Engelbert und lachte
dann leise, aber umso dreckiger in sich hinein.
»Im Ernst jetzt? Aber... ihr seid doch nicht wie Menschen
gebaut, ich meine... häh?«
»Tja, da staunst du, was? Für uns Daimons handelt es
sich dabei weniger um eure billige Art von Sex, sondern um etwas wesentlich
Aufwühlenderes. Nennen wir es trotzdem mal in eurem Jargon ›Seelenfick‹«
Tigris hüstelte verlegen. »Das wird mir doch jetzt etwas
zu schräg. Ich glaube, wir nehmen den DiSplorer, wenn es das ist,
was ich meine.«
Tatsächlich hatte das darauf folgende Bild eine große
Ähnlichkeit mit einem Browser. Engelbert tippte im Suchfeld ›Disfakt
Ultra-DiS‹ ein und schon legte das Programm los und lieferte nach zwei
Sekunden bereits die Ergebnisse. Engelbert blätterte sich schneller
durch die angegebenen Links als Tigris gucken konnte.
Endlich schien ihm eine Seite zuzusagen: Auf dww.earthdisfacts.edu
waren die auf der Erde gebräuchlichsten DiSfakte übersichtlich
aufgelistet.
* DiSFakte für die Erde *
Offizielle und legale DiSfakte:
OpenDiS oder Nodenschlüssel, zur Öffnung oder Schließung
von Noden
SecurDiS oder Aura-Erkenner, zur Erkennung des Shines bei Daimons
und Xendii
MemorEx oder Erinnerungslöscher, zur Löschung des Kurzzeitgedächtnisses
bei Neutralen im Umkreis von 5 km. (bis zu 15Min nach Zündung des
MemorEx)
Dimmer oder Aura-Schwächer, zur vorübergehenden Löschung
der Aura eines Xendi mit XOP-Bliss (Seher-Begabung)
»Meine Mutter hat bestimmt diesen Dimmer, jedenfalls hat sie
mir erklärt, dass sie damit nicht mehr von Daimons als Xendi wahrgenommen
wird.« sagte Tigris, nachdem sie sich die merkwürdigen Bezeichnungen
durchgelesen hatte.
»Richtig. Aber bei deinem DiSfakt tippe ich eher auf die nächste
Sparte«, murmelte Engelbert und klickte entschlossen ›Illegale DiSfakte‹
an.
»Schau an, schau an: RAM- Rabiate Access Maker. Zur unauthorisierten
Schaffung von temporären, limitierten oder fixierten Portalen an jedem
Ort der betreffenden Welt.«
»Oder: CHARMI - Creator of Harmonic Ambiente Requested for
Manifestation and Incarnation? Verdammt, wieso benutzen Daimons soviel
Englisch?«
»Weil die meisten Daimons auf dieser Welt nur mit PAGAN zu
tun haben. Und die Hauptsprache bei PAGAN ist nun einmal Englisch.«
Engelbert seufzte, anscheinend in erfreulichen Gedanken schwelgend. »Ich
habe früher oft RAMs benutzt. Damals nannte man sie noch angeberisch
Höllentor oder so. Und wie ich gehört habe, gibt es noch etliche
bei PAGAN. Ob die Allianz auch noch einige hat, weiß ich allerdings
nicht. Aber wahrscheinlich haben sie ohnehin keine Ahnung, was man damit
tun kann.«
»Und was kann man damit tun? Und wofür ist ein CHARMI?«
»Wie der Name schon sagt, kann man mit einem RAM ohne jemanden
um Erlaubnis zu bitten, irgendwo auf der Welt ganz heimlich und rabiat
ein Portal erschaffen. Man kann auch zwei RAMs koppeln, also etwa
einen auf Borneo aktivieren, den anderen in Reykjavik - und dann kann derjenige
in Reykjavik nach Borneo kommen und umgekehrt, ohne die Noden benutzen
zu müssen. Oder ein Daimon ist in der Lage, von der Daimonsion auf
einen beliebigen Punkt auf der Welt zu reisen, ohne dass man Gefahr läuft,
gleich von der Allianz abgeknallt oder von PAGAN in eine Benimm-Schule
gesteckt zu werden. Die Noden sind nun einmal sehr gut bewacht. Da kann
niemand ungehindert ein- und ausgehen. Früher war das alles ganz anders.
Aber na ja...« Der Cherub rutschte wehmütig lächelnd tiefer
in den Sitz.
»Und CHARMI?«
»Ach, das. Das ist eine Art Schutzanzug, mit dem ein Cherub
trotz niedrigem Level zeitweise inkarnieren kann. Aber auch höherklassige
Daimons wie die Melegonin und Angoleah benutzen es immer noch gern. Zurzeit
würden sie auf dieser Welt ins Koma fallen, weil wir nur bei 6,5 %
DiS in der Atmosphäre sind. Aber mit einem CHARMI baut sich um den
Träger eine dünne Schicht mit bis zu 18% DiS auf. Logischerweise
hat Raffiyell einen CHARMI dabei gehabt, als er dir das Amulett angehängt
hat.«
»Dann hat er also etwas Illegales benutzt? Ich glaube, ich
verklage ihn wirklich!« Tigris verschränkte wütend die
Arme, als sie sich an das Manöver im Wald erinnerte. Und alles nur
wegen Miras verdammten Hunds! ›Wenn ich ihn doch nur nicht mitgenommen
hätte!‹, dachte sie traurig. Aber dann überlegte sie weiter.
›Wahrscheinlich hätte Raffael - oder Raffiyell - es weiter versucht.
Diese alte Frau vor dem Juweliersgeschäft, der Kaugummi-Automat...
der Fernsehmoderator... Das alles war Raffael gewesen. Vielleicht wusste
Mira gar nichts von seinem Vorhaben. Vielleicht... sollte PAGAN das Amulett
tatsächlich bekommen. Raffiyell erwähnte doch, dass er eigentlich
vier Leute von ihnen erwartet hat.‹
»Ah, das ist ja auch etwas feines«, sagte Engelbert
sarkastisch und lenkte Tigris’ Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm.
»CX - CoreExtractor oder Seelenfänger. Behältnis
zur Aufbewahrung und Transport von Daimonseelen? Also gibt es tatsächlich
so etwas wie eine Seele?«, fragte Tigris mit großen Augen.
»Wer weiß. CX zieht irgendetwas aus dem Innersten eines
Daimons, ohne dass er entweder stirbt oder regungslos vor sich hindämmert.
Ich habe mal einige ältere Daimons gesehen, die CX hinter sich haben.
Ihr Zustand gleicht jenen Patienten, die bei euch künstlich am Leben
gehalten werden. Mit dem Unterschied, dass sie nie wieder aufwachen. Sie
sind eigentlich tot.«
»Kann man die Seele - oder was auch immer es ist - nicht wieder
in sie hineinpflanzen? Wenn man genau den Behälter erwischt, in dem
sich ihre Seele befindet?«
»Das Problem mit CX ist, dass dieser Kern - bei PAGAN sagt
man treffenderweise Core - ohne einen Körper nicht sehr lange überleben
kann. Jedenfalls wurde in früheren Zeiten oft ein Seelenfänger
eingesetzt, um beispielsweise einen perfekten Spitzel zu erschaffen. Wenn
man das Core eines Cherub etwa in einen einflussreichen menschlichen Politiker
verpflanzen kann, dann würde niemand, nicht einmal ein Xendi merken,
dass es sich in Wahrheit um einen Daimon handelt - nur mit einer menschlichen
Hülle. Denn selbstverständlich wird dieser Mensch erst einmal
getötet, um seine menschliche Seele zu entfernen und Platz für
das Daimon-Core zu schaffen.«
»Mein Gott, wie schrecklich! Aber diese Dinger sind doch verboten,
oder nicht?«
»Oh ja. Omrishah hat den Gebrauch vieler DiSfakte mit hohen
Strafen belegt, besonders die, die früher auf der Erde kursierten.
Solange diese Welt zu seinem Eden-Projekt gehört hat, konnte Omri
die Regeln so gestalten, wie er wollte. Eine Zeit lang haben die Gesetze
und Aufenthaltsbestimmungen für Daimons dreitausend irdische Bände
gefüllt, gedruckt in Times New Roman 3. Omri hat eine Schwäche
für materielle Welten, ganz besonders für diese. Dass euer Planet
jetzt aus seinem Projekt geflogen ist, hat ihn bestimmt ziemlich mitgenommen.«
Diese Erklärung schockierte Tigris. Noch ein wenig ungläubig
fragte sie leise: »Wir sind also dieser MDL schutzlos ausgeliefert?«
»Nun ja. Sagen wir mal so: Wenn jetzt theoretisch gesehen
jeder Daimon die Erde besuchen darf, dann natürlich auch die Zerrafin
und ihre Melegonin-Armee. Besonders tröstend ist dies allerdings nicht.
Niemand zankt sich so ausdauernd wie Melegonin beider Sorten. Sie sind
eine Horde wildgewordener Elefanten, immer auf der Suche nach dem nächsten
Porzellanladen.«
»Weiß die Allianz das mit dem Eden-Projekt?«
Engelbert lachte bitter auf. »Die Allianz will doch noch nicht
einmal wahrhaben, dass es keine Engel oder Teufel gibt oder so etwas wie
das DimensioNet. Wenn die Dinge auf dieser Welt aus dem Ruder laufen, sind
natürlich nur böse Mächte am Werk. Oder Gottes Wille. Menschen,
aber auch Daimons lieben keine komplizierten Sachverhalte und klammern
sich dann an die Erklärung, die am plausibelsten erscheint.«
Engelbert klickte sich noch durch weitere Beschreibungen von DiSfakten
und sagte dann nachdenklich: »Keines von diesen Dingern auf der Seite
hat Ultra-DiS in sich.«
»Vielleicht sollten wir uns mal etwas über Ultra-DiS
allgemein durchlesen«, schlug Tigris vor.
»Möglicherweise finden wir auf diese Art einen Anhaltspunkt.«
»Meinetwegen... Für diesen Zweck ist das Lexikon auf
dww.letmeknow.org am besten.«
Tigris beobachtete, wie gleich darauf ein Artikel über den
gesuchten auf dem Monitor erschien. Sie las leise vor. »Besondere
Form von DiS, die nur bei einem Eloyah-Daimon zu finden ist. Ultra-DiS
gibt als einzige Spielart von DiS keinen Shine ab und kann nur von dem
Eloyah-Daimon als solches wahrgenommen werden. Seine Einsatzmöglichkeiten
sind vielfältig, auch wenn es in freier Form nicht vorkommt, sondern
von dem Eloyah abgesondert werden muss. Ultra-DiS ermöglicht das gefahrlose
Passieren von 0-DiS-Zonen und heilt sogar schwerste Verletzungen bei Daimons
und Menschen. Mit Ultra-DiS können die Fähigkeiten eines Daimons
oder eines Menschen erheblich erweitert und gesteigert werden. Allen Verwendungsmöglichkeiten
haben den Nachteil, nicht mehr rückgängig gemacht werden zu können.
Bei den seltenen Ultra-DiSfakten, die von dem Eloyah hergestellt wurden,
handelt es sich daher ausnahmslos um Dinge, die einen unwiderrufbaren Effekt
verursachen oder Effekte, die nur mit einer erneuten Gabe von Ultra-DiS
beendet oder begonnen werden können.«
»Im Klartext: Nur Omrishah kann dich von diesem Ding befreien«,
schloss Engelbert leise.
»Verdammt! Ich habe es schon geahnt.« Tigris barg ratlos
und traurig ihren Kopf in die Hand.
»Moment... lass uns einmal weiter überlegen. Angenommen,
nicht du solltest dieses Amulett bekommen, sondern tatsächlich jemand
von PAGAN. Aber wofür? Damit kann man nur einem Menschen besondere
Kräfte verleihen, aber nicht einer ganzen Armee... Und PAGAN ist den
Truppen der Allianz ohnehin haushoch überlegen. Sie haben völlig
neue Kampf-Techniken entwickelt, neue Arten von Schüssen... Warum
also sollte PAGAN dieses Ding bekommen? Was können sie damit tun,
außer es einen von ihnen umhängen und die Allianz vielleicht
schneller plattmachen? Und dadurch nebenbei den DiS-Level auf über
9% zu pushen, was eigentlich nicht in ihrem Sinne ist.«
Tigris sah wie elektrisiert auf. »Du meinst, wenn es wirklich
zu einem Krieg zwischen der Allianz und PAGAN kommt, schneiden sich die
Xendii ins eigene Fleisch?«
»Yep. Es ist so, Schatzerl: DiS entsteht auch ganz ohne Daimons.
Zum Beispiel aggressives Verhalten, Mord, Kriege - nicht zu vergessen Atom-Explosionen.
All das fördert die Umwandlung von Materie in DiS. Nun ja, natürlich
auch jahrelange Sex-Orgien und jedes Gelächter, das länger als
zehn Stunden dauert.
Normalerweise wird aber überschüssiges DiS von Pflanzen
wieder in Materie umgewandelt. Aber da ihr zurzeit wie verrückt eure
Wälder abholzt, entsteht mehr DiS als wieder umgewandelt werden kann.
Und wenn jetzt auch noch Xendii massenweise mit hochkonzentrierten DiS-Sorten
um sich schmeißen - dann hat das den gleichen Effekt wie hundert
Atombomben, die gleichzeitig explodieren. Wie du siehst, sind eure Karten
nicht besonders gut. Deswegen nehme ich stark an, dass dein Amulett auf
irgendeine Weise dafür sorgen soll, dass es entweder nicht zu den
9% oder mehr kommt - oder dass der Level wieder auf unter 5% fällt.
Denn dann erfüllt man wieder die Voraussetzungen, mit seiner Welt
ins Eden-Projekt und also unter Omrishahs liebende Fürsorge zu kommen.«
»Das klingt eigentlich ziemlich logisch. Dann wäre es
vielleicht sogar besser, ich würde so schnell wie möglich zu
PAGAN gehen...« Tigris hatte das Amulett aus ihrem Overall gefischt
und betrachtete es gedankenverloren.
»Das sag ich doch schon die ganze Zeit!«
»Sag mal, Engelbert... Hast du schon einmal jemals etwas von
einem Engel - oder was auch immer - namens Barujadiel gehört?«
»Nö. Wer soll das sein?«
»Das frage ich mich auch, seitdem mir sein Name durch den
Kopf geht und irgendein komischer Daimon mich heute angefleht hat, mich
an ihn zu erinnern. Und an das Wahre Bild.«
»Schatzerl, ich habe dir doch eben erst erklärt, dass
Daimons gerne Geschichte erfinden. Lass dich bloß nicht von irgendwelchen
gelangweilten Gestalten verrückt machen.«
»Aber...« Tigris nagte an ihrer Unterlippe, während
sie nachdachte. »Ach, schon gut. Wahrscheinlich hast du Recht. Es
ist gleich ein Uhr morgens. Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich noch
eine Mütze voll Schlaf. Mir wird immer schlechter, je näher der
Morgen rückt.«
»Meinetwegen. Soll ich dich in den Schlaf singen?« Engelbert
hüpfte auf das Fußende ihres Bettes und blieb im Schneidersitz
dort hocken. »Ich kenne da eine hübsche Traum-Intonation, wo
wahlweise viele nette junge Männer oder Frauen vorkommen. Aber ich
kann es auch so variieren, dass beide Sorten durch die Landschaft hüpfen
und sich die Kleider von den Leibern reißen.«
»Oh, bitte nicht«, grummelte Tigris. Dann fuhr sie mit
einem Mal wie von der Tarantel gestochen hoch. »Aber könntest
du nicht irgendwie meine Übelkeit und meine Angst beseitigen? So eine
Art Baldrian-Gedankenzufuhr, oder so ähnlich?«
»Beruhigungswellen? Hm... das konnte ich mal, ja. Ich gebe
mein Bestes. Aber die wirken nur zwölf Stunden, wenn überhaupt.
Dann geht das Ganze ziemlich schlagartig vorüber.«
»Egal. Hauptsache, mir klappern gleich nicht die Zähne,
wenn ich vor der De Navarris-Seherin stehe.«
»Aha, der lässige Stil. Die coole Leck-mich-Haltung.
Die Nach-Mir-Die-Sintflut-Einstellung. Das Scheiß-drauf-Gefühl.
Die Augen-zu-und-durch-Methode. Das Ey-was-wollt-ihr-überhaupt-von-mir-Verhalten.
Die Wo-geht’s-hier-denn-zum-Buffet-Gedanken. Der Kein-Anschluss-unter-dieser-Nummer-Blick.
Der Mal-schaun-was-so-los-ist-Gang. Der Reg-dich-ab-Mensch-Tonfall. Das
Zeitweilig-Gelangweilte-Lachen.«
Noch bevor ihr BodyDaimon den letzten Satz ausgesprochen hatte,
war Tigris bereits lächelnd eingeschlafen. Engelbert betrachtete nachdenklich
das junge Mädchen. »Du bist eine ziemliche Nervensäge und
ein Katastrophenmagnet, Schatzerl. Aber irgendwie mag ich dich. Viel Glück.«
© I.S.
Alaxa
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