Xendium - Manifestation von I.S. Alaxa
Teil 2 - Die letzten Tage von Windwibbenburg
Kapitel III

Normalerweise war frühes Aufstehen bei den meisten jungen Windwibbs sehr verhasst, aber leider unumgänglich.
Doch am Morgen von Equinox Veris konnte jeder anscheinend gar nicht zeitig genug wach sein. Schon lange vor dem Morgenappell um 7:30 Uhr huschten die Windwibbs von Rosenhag 3
aufgeregt zwischen den Bädern und ihren Zimmern hin und her. Die einen mussten noch ihre Haare fönen oder eindrehen, den anderen gefiel das am Vortag noch ausgewählte Outfit nun doch nicht, die Mädchen schminkten sich gegenseitig, die Jungs probierten mit Gel verschiedene und hoffentlich cool genug wirkende Stylings. Selbst Antigua wurde so kurz vor dem Ende des Countdown munter und nervös, weswegen sie  fluchend dreimal hintereinander verschiedene Frisuren verwarf.
Ganz Windwibbenburg machte sich ausgehfein.
Außer Tigris.
»Tigris! Du Eule, steh endlich auf! Du hast nur noch eine Stunde, bis wir zur Messe hochgehen. Halloooo!«
Antigua rüttelte die Schläferin unsanft in ihrem Bett durch, wodurch Tigris zwar maulte und irgendetwas in sich hineinnuschelte, sich aber gleichzeitig entschlossen auf den Bauch warf und die Decke fest über den Kopf zog.
»Du hast es nicht anders gewollt...«
Die Ruferin streckte die Hand in Richtung der nächsten Steckdose aus, lockte einen dünnen, kurzen Blitz daraus hervor - und legte der Schlafmütze die Hand auf den Allerwertesten unter der Daunendecke. Es gab ein kurzes Quieken und schon stand Tigris im wahrsten Sinne des Wortes senkrecht im Bett.
»Hm?« Mit verquollenen Augen schaute sie sich um.
»Du wirst heute geprüft. Schon vergessen?«
»Echt? Ach ja, stimmt. Von De Nirvana.« Tigris gähnte ausgiebig und entstieg langsam ihrem Bett, um zu ihrem Kleiderschrank zu gehen und einen lustlosen Blick auf den Inhalt zu werfen. Schließlich griff sie sich achselzuckend nach ihrer Jeans mit den strategisch günstig platzierten Löchern am Hintern und an den Knien.
Antigua, gerade dabei, sich die Wimpern zu tuschen, sah im Spiegel diesen monströsen Missgriff, stürzte zu Tigris und riss ihr das Kleidungsstück aus den Händen.
»Spinnst du? Du wolltest doch den schwarzen, knielangen engen Rock und deine rosa Carmen-Bluse anziehen! Wir gehen schließlich nicht auf die Love-Parade!«
»Yo, wir alle gehn dahin wo Spießer stehn und blöd aussehn.« Tigris schnappte sich mit gleichmütiger Miene die fraglichen Sachen und zog sich widerspruchslos um.
»Und? Wie fühlst du dich? Lux Montana kann dir bestimmt ein bisschen Baldrian verpassen.«
»Wofür? Es geht mir gut, mann. Alles easy, alles okay. Barcelona ist bestimmt cool. Tausend Freaks auf einem Haufen, da falle ich gar nicht auf.«
Antigua zog die Stirn kraus. »Hast du irgendetwas genommen? Lux Montanas Vorrat an Morphium geplündert? Gestern Abend bist du im Minutentakt beinahe in Ohnmacht gefallen - und jetzt ist alles easy? Du bist wirklich einmalig, Teuerste.«
Dann lachte sie und zog Tigris auf einen Stuhl, um ihr die Haare zu glätten, was diese erstaunlich widerstandslos über sich ergehen ließ und noch nicht einmal das kleinste Murren von sich hören ließ, als der Kamm sich immer wieder in ihren Locken verhedderte oder Antigua zu fest bürstete.
»Hey, du siehst gut aus mit glatten Haaren!«
Doch Tigris war das Ergebnis nur einen kurzen, müden Blick wert, genau wie das dezente Make-up, das Sienna ihr anschließend auftrug.
Auf dem Weg hinunter in die Eingangshalle, wo sich allmählich alle versammelten, knuffte Antigua Tigris in die Seite.
»Bat Furan macht ein Gesicht, als würde er sich dir gerne augenblicklich vor die Füße schmeißen, damit du auf ihn drauftreten kannst, um deine Pumps zu schonen. Meine Güte, wie sieht der denn 
aus?«
Tatsächlich hatte sich der junge, hochgewachsene Wandler nach besten Kräften in Schale geworfen. Schon seit Tagen hatte er seinen spärlichen Bartwuchs nicht rasiert, nur um zur Feier des Tages mit einem dünnen, sorgsam zurechtgestutzten Lippen- und Kinnbart glänzen zu können. Sein blütenweißes Hemd, modisch ungebügelt und zerknittert, war bis unter die Brust geöffnet, um das große goldene Pentagramm an dem schwarzen Lederband richtig zur Geltung kommen zu lassen. Dazu trug er Jeans und ein schwarzes Sakko, dessen Ärmel er an der Außenseite mit je einem großen angeberischen BAT FURAN in weißer Farbe verziert hatte. Abgerundet wurde das Outfit durch eine verkehrt aufgesetzte schwarze Schirmmütze, die er lächelnd auszog und sich zum Gruß vor Antigua und Tigris verbeugte.
»Fröhliches Equinox Veris wünsche ich den Damen.«
Aber auch Ras Algheti machte sich gut in einem geblümten Hemd, einer weißen Stoffhose und einem weißen Bogart-Hut. Er pfiff anerkennend durch die Zähne, als Antigua stolz und unnahbar die Treppe hinunter kam, mit einer silbrig schimmernden Samtstola um die Schultern und silberne Bändchen ins weißblonde Haar geflochten.
»Oh Schneeprinzessin, meine Gedanken frieren schlagartig ein, wenn ich dich sehe«, hauchte er, insgeheim fasziniert und daher übertrieben pathetisch.
»Wenn deine Zunge einfriert, wäre das viel besser für uns alle«, versetzte die Ruferin und rauschte an den beiden vorbei, Tigris hinter sich herschleifend, die Bat Furan ungewohnt nett angrinste und ihm noch zurief: »Echt Styler, Mann. Dein Look ist der Burner, ist der Bringer, ist voll fett, Alter. Check it out, yo.«
»Wirklich?« Bat Furans Tag schien gerettet, so wie er strahlte und immer wieder ungläubig an sich heruntersah.
Und endlich zog die lange Prozession aufgemotzter, geschniegelter und adretter Windwibbs zwischen 6 und 45 Jahren aufgeregt und fröhlich durcheinander redend zur Burg. Selbst die unvermeidliche Morgenmesse, die ausnahmsweise nur eine dreiviertel Stunde dauerte, schien die allgemeine gute Laune nur noch zu steigern. Kurz nach zehn Uhr war es dann soweit. Die Älteren teilten sich in zwei Gruppen: Die einen blieben bis vier Uhr nachmittags in der Burg, um die Gäste zu empfangen, die durch die Tore hereinschneien würden, die anderen hatten bis dahin Zeit, nach Herzenslust der Reihe nach sämtliche befreundete Sippen in den anderen Doméns der Allianz zu beehren, dann gab es einen Schichtwechsel. Das Privileg der Jugend hingegen war es, bis spät in die Nacht auf der halben Welt spazieren zu gehen und Equinox Veris zu feiern. Lediglich Lux Livas und Lux Montana mussten mit Tigris zunächst in Barcelona erscheinen, wo die Examination für 11 Uhr morgens angesetzt war.
Die Tore zu anderen deutschen Sippen befanden sich in der Burg in einem langen Korridor, an dessen Ende der Festsaal lag. An diesem Tag standen alle alten, reich verschnitzten Eichentüren weit offen und verschluckten die gutgelaunt andrängenden Reihen von Windwibbs.
Tigris war im Begriff, in wenigen Momenten mit Antigua, Bat Furan, Ras Algheti und Ilvyn hinüber nach Aachen zu den Raunenfelsens zu gehen, als Lux Livas sie zurückhielt und zur Seite nahm.
»Ich muss dir noch etwas Wichtiges mitteilen, Tigris«, begann Livas und sah wieder einmal genau wie jemand aus, der einem anderen die Nachricht von einem Todesfall oder einem bevorstehenden Bombenangriff übermitteln musste.
»Na, dann lass mal endlich hören, Chef. Wird schon nicht so schlimm sein.« Kaugummikauend sah sich Tigris gelangweilt die alten Bilder ringsum an.
»Nun... deine Mutter kann leider nicht mit nach Barcelona kommen. Sie muss etwas für die Sippe erledigen und bleibt vielleicht einige Tage weg. Das hat sich heute ganz früh erst ergeben.«
Tigris zuckte mit Achseln. »Schlaue Entscheidung. Würde ich jetzt gerne auch tun, mich verkrümeln. Ich hoffe nur, De Nervinis wird nicht sauer, wenn sie wegbleibt.«
»Ich habe sie vor zwei Wochen abgemeldet und ganz vergessen, sie wieder als aktive Seherin eintragen zu lassen, niemand kann sie vermissen. Aber keine Angst, ich und Lux Montana werden dir beistehen.«
Die hagere, ältere Wandlerin nickte zur Bekräftigung entschlossen.
»Von mir aus. Sonst noch was?«
Etwas verwirrt darüber, dass Tigris so gelassen blieb, sahen sich Lux Montana und Lux Livas an. 
»Gut. Dann... auf zum Palais Almacielo.« Lux Montana drehte sich mit entschiedenem Schwung um und schritt an Antigua und den anderen vorbei in die Finsternis, die im Tor zu den Raunenfelsens lauerte.
Auf der anderen Seite kamen sie in einem großen, weiten Flur an, der in warmen Aprikot-Tönen gestrichen war. Aus allen Toren strömten unentwegt Xendii fast jeden Alters, ebenfalls von piekfein bis edel-chic. Manche gingen in einen schönen, hellen Raum, dessen beide weiße Türflügel weit offen standen und den Windwibbs einen kurzen Blick ins Innere boten. Es sah nach einem gepflegten Cocktail-Empfang aus: Zu leiser Jazz-Musik standen dort lachend und plaudernd Xendii, nippten an Champagnergläsern oder holten sich Nachschlag am opulenten Frühstücks-Büffet.
»Die Raunenfelsens genießen ziemliches Ansehen bei De Navarris«, erzählte Ilvyn flüsternd.
»Das sieht ja jeder Blinde«, meinte Ras Algheti schnippisch.
Die Windwibbs hingegen steuerten wie etliche andere Xendii die dreistufige Marmortreppe an, die zu einer achteckigen Empore führte. Dort verschwanden die Besucher in einem der sieben Tore, größtenteils aber in die Finsternis, die die beiden weit geöffneten, mit goldenen Blumenornamenten verzierten Flügel des Tores nach Berlin offenbarten.
Auch in Berlin hielten sich die Windwibbs nicht lange auf. Sie kamen in einer hohen, weiten Halle an, die sich laut Lux Montana in einer großen Villa am Seddinsee befand. Riesige Fenster ließen nach draußen auf das unruhige graue Gewässer blicken, mit dem der niederprasselnde Regen und kräftige Böen spielten. Die Von Laurentzens hatten offenbar eine Vorliebe für Moderne Kunst, wie zahlreiche große Bilder an den schlichten weißen Wänden bewiesen. Man kam sich vor wie in einem Museum, so hoch über ihnen schwebte die asymmetrische, verwinkelte Decke. Es herrschte reger Andrang; aus allen Seitengängen mit Toren strömten Xendii aus ganz Europa und bildeten einen langsamen Zug in Richtung eines weit geöffneten großen Durchganges zu der Schwärze, hinter der die Europäische Node lag. Zahlreiche Männer in beiger Uniform patrouillierten zu beiden Seiten der Passage nach Barcelona, kontrollierten jedoch nicht wie sonst die Ausweise der heranwogenden Xendii. An den Feiertagen - so lautete ein uraltes Gesetz - sollten alle Meinungsverschiedenheiten und Konflikte ruhen und jeder ungehindert durch die Welt reisen können. Wie sich wenig später herausstellen sollte, galt dies mittlerweile jedoch nicht mehr für alle Xendii.
Und so mündete der Strom der Besucher aus Berlin schließlich in einem Seitengang der Europäischen Node, tief im Herzen des Berges El Carmel, während Touristen aus aller Welt ahnungslos im darauf gelegenen Parc Güell umherspazierten und die phantastischen Bauwerke von Antonio Gaudí fotografierten.
Die Wände waren aus poliertem hellen Stein, an denen sich spiralförmig ein breiter Aufgang bis wenige Meter unter den Scheitelpunkt entlangzog, gesichert durch ein Gitter aus Schmiedeeisen, dessen Stäbe sich gleich Blumenranken umeinander flochten und deren Blüten goldlackiert waren. Orangegelb glühende Leuchtkugeln saßen auf filigranen, schmiedeeisernen Fabeltieren und spendeten dem Besucher auf seinen Weg hinauf oder hinab ein warmes, beruhigendes Licht. Von der serpentinengleichen Promenade gingen Säulenhallen ab, neben denen goldenen Tafeln darauf hinwiesen, in welche Gegenden Europas ihre polierten Ebenholztüren führten. Die Windwibbs etwa kamen aus ›Viae ad Germania II.‹ und gingen langsam die Kurven hinab, sich an der Gitterseite haltend, um den Strom derjenigen nicht aufzuhalten, die ihnen entgegendrängten und in die abzweigenden Säulengänge verschwanden.
Unten angekommen, sahen sich die jungen Xendii um. Sie befanden sich in einem kreisrunden, riesigen Saal mit allmählich spitz zulaufender Kuppeldecke, in dessen Scheitelpunkt eine goldene Platte eingelassen war, geschmückt vom Logo der Allianz: Ein silbernes Pentagramm aus Rosenblüten. Um sie herum raunten, lachten und riefen die Stimmen von Menschen aus allen Herren Länder, alle festlich angezogen oder gar in die Tracht der Region gewandet, aus der sie stammten. 
»Wir sind jetzt auf dem Weg zu den anderen elf Noden und zum Tor zum Palais Almacielo. Mann, was für ein Gedränge. Ich liebe es!«, seufzte Bat Furan spürbar glückselig, was Tigris endlich zumindest einen halbwegs interessierten Blick aus halbgeöffneten Augen wert war. Die ganze Zeit über hatte sie kaum ein Wort gesprochen und wirkte wie jemand, der aus purer Langeweile mitlatschte.
Die bunte Masse Xendii bewegte sich in Richtung eines breiten Durchganges unter der ersten Windung der Serpentine, der von fünf weit auseinander stehenden Säulen getragen wurde, an denen schmiedeeiserne Blumenranken emporkletterten. Ihnen genau gegenüber befanden sich die elf riesigen, weit geöffneten Tore, von denen fünf von uniformierten Männern und Frauen streng kontrolliert wurden. Sie unterzogen jeden Xendi, der einzeln aus- oder eintrat, einer Leibesvisitation, untersuchten seinen Ausweis unendlich lange und stellten ihm oder ihr anscheinend immer neue Fragen. An den unbewachten Toren hingegen ging alles viel, viel zügiger: An der rechten Seite der schwarzen Halbkreise zogen die Xendii in nie abreißenden Ketten in die anderen Gebiete der Allianz ein, linkerhand strömten Besucher aus den anderen Doméns in die Europäische Node.
Am Kopfende der Halle der Noden gab es eine weitere, weit geöffnete Tür. Ungewöhnlich an ihr war, dass hinter ihr nicht die gewohnte Schwärze lag, sondern dem Betrachter schemenhaft und verschwommen die Konturen von Menschen gezeigt wurden, als läge nur ein Hitzeschleier zwischen der Europäischen Node unter dem El Carmel und der Villa der De Navarris außerhalb von Barcelona.
Und so standen sie mit einem Schritt um zwanzig nach zehn im Festsaal des Palais Almacielo, der der Bezeichnung ›Palast‹ mit seiner schneeweißen Marmorpracht alle Ehre machte.
Lux Livas und Lux Montana trafen sogleich auf zahlreiche Mitglieder anderer Sippen und begrüßten sie mal herzlich, mal höflich, während Tigris zunächst  mit Bat Furan und den anderen mitging, die ein paar Jugendliche in einer Nische mit blauen Sofas entdeckt hatten und gleich darauf zusteuerten; man kannte sich vom letzten Mittsommernachtsfest.
Sie stammten aus einer finnischen Sippe und fläzten sich lässig dahin, während sie die jungen Windwibbs mit hoch erhobenen Weingläsern begrüßten und sie lachend in fast perfekten Deutsch willkommen hießen.
»Und wohin surft ihr heute?«, erkundigte sich Bat Furan.
»Ach, Surfen ist out«, winkte ein schlaksiger Jüngling namens Garbin ab.
»Genau. So etwas macht man, wenn man noch klein ist und Angst vor Hausarrest und dergleichen hat«, stimmte die flachsblonde, rotwangige Taygete zu. »Wer wirklich mitreden will, der hackt sich rein.«
»In die Matrix, nicht wahr?«, meinte Tigris und schenkte allen Beteiligten ein müdes, halbherziges Grinsen.
»Nein, in...« Taygete senkte die Stimme »Die Andere, Abtrünnige Seite. Jeder weiß doch, dass sie in unseren Doméns illegale Tore haben. Man braucht nur einen halbwegs begabten Seher, der nach Zeichen aus Aethron Ausschau hält.«
»Natürlich«, erzählte ein anderer der finnischen Gruppe weiter, »muss man dazu die sichere heile Welt der Sippen und Arxes verlassen und sich nach außerhalb hinausbegeben, am besten in eine der Großstädte. New York. Paris. London...«
»London zählt nicht, die gehören doch schon so gut wie zu deiner so genannten Anderen Seite.« Antigua gefiel das neue Spiel offensichtlich nicht. »Und wenn sie euch mal so eben umnieten oder irgendwelchen Götzen opfern, kann niemand etwas für euch tun oder sich gar beschweren, nicht wahr, denn ihr seid ja außerhalb gewesen. Weit weg von der heilen sicheren Welt der Sippen und Arxes.«
»Ach, man stürmt nur die Bude, schreit ›Hoch lebe die Allianz‹ und rennt gleich wieder hinaus. Manche verpassen der versammelten Abtrünnigen-Mannschaft einen juckenden Aethron-Nebel, bevor sie wieder abhauen. Das macht wirklich Laune. Und heute Abend haben wir ein Mega-Ding vor!«
Nun doch neugierig geworden, ließen sich Bat Furan und Ras Algheti weitere Details von Garbin enthüllen, während Antigua und Ilvyn entnervt aufseufzten und sich nach anderen bekannten Gesichtern im Festsaal umsahen. Derweil betrachtete Tigris schläfrig die hohen Fenster aus buntem Mosaikglas, zwischen denen schlanke Yucca-Palmen in unglaublich riesigen Terracotta-Kübeln standen.
»Ja. Wir haben rausgekriegt, dass in Tokio eine kleine Fete von ... denen steigt, jüngeres Volk natürlich. Nennen sich großkotzig DiSMaster. Das sagt ja schon alles, oder? Wir dachten, wir schneien mal herein und hinterlassen einen bleibenden Eindruck.«
»Cool...« Die beiden jungen Wandler Windwibbenburgs waren endgültig hin und weg.
»Wenn ihr Lust habt: Wir treffen uns mit ein paar anderen um vier Uhr nachmittags oben in der Node vor ›Viae ad Francia  I‹  und nehmen von dort aus das Tor nach Paris zu den Mont Tonc. Dort treffen wir unseren Kontaktmann, der kürzlich eins von diesen illegalen Toren entdeckt hat. Wenn wir erst mal im Gebiet der Anderen Seite sind, erreichen wir locker innerhalb von zwanzig Minuten oder weniger Tokio. Und wir haben den Namen der Disco, in der sie sich treffen. Aber zieht euch normale Sachen und Jacken an, wir sollten möglichst nicht auffallen, wenn wir uns in den Städten außerhalb aufhalten.«
»Lux Livas ruft uns zu sich!«, rief Antigua mit einem Mal erleichtert und zog Bat Furan und Tigris mit sich fort, als sie das Oberhaupt der Windwibbs am anderen Ende des Saales winken sah. Sie drängten sich an den zumeist edel gekleideten Xendii vorbei, die offensichtlich zum größten Teil aus anderen Domén und Mayor Arxes stammten. Erstaunte, manchmal schockierte Blicke begleiteten Tigris, was jedoch nur Antigua auffiel.
»Was glotzen die denn Tigris nur so an?«, wisperte die Ruferin ärgerlich.
»Tigris sieht doch phänomenal aus. Vor allem ihr Hintern«, raunte Bat Furan, der mit Ras Algheti hinter den Mädchen ging.
»Ja, das ist mal ein Hintern. Gut genährt, rund...«, pflichtete Ras bei.
»Die Toiletten sind hinter der Tür da drüben, wenn irgendetwas bei euch zu platzen droht...«, zischte Antigua ihnen hämisch zu.
Lux Livas stand mit Lux Montana und einer melancholisch aussehenden, dunkelhaarigen Frau mit schweren Lidern am Buffet und sagte zu Tigris, kaum dass sie bei ihnen eintrafen: »Darf ich vorstellen: Das ist Lux Phoebe De Navarris. Sie wird dich gleich examinieren, Tigris.«
Lux Phoebe begrüßte sie mit erstaunlich kraftvollem Händedruck, den man von einer derart dünnen, lethargisch wirkenden Person nicht erwartet hätte.
»Wie wäre es, wenn wir den Scheiß gleich hinter uns bringen? Wo wir doch schon einmal hier sind...«, sagte Tigris und kaute an ihrem Kaugummi noch schmatzender, woraufhin Antigua sie leicht auf den Fuß trat und sie verständnislos und wütend zugleich anfunkelte. Windwibbenburg so zu blamieren!
»Nun... Du bist nicht die einzige, die heute untersucht wird, also wirst du dich schon gedulden müssen, bis du an der Reihe bist«, sagte Lux Montana ungehalten.
Die Seherin der Domén Arx ließ sich jedoch keine Gefühlsregung anmerken, sondern wirkte ähnlich unerschütterlich und gelangweilt wie Tigris. Lediglich ihre schwarzen Augen verrieten, dass sie unentwegt ihre Umgebung und die Xendii musterte und beobachtete. Scheinbar zufällig kam ihr Blick immer wieder zu Tigris zurück, studierte kurz ihre Gesichtzüge und kehrte sich dann für Momente nachdenklich nach innen.

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Gegen fünf Uhr früh an Equinox Veris brach Aévon auf, nachdem die Kontinentalräte geschlossen dafür gestimmt hatten, innerhalb von 48 Stunden die Daimontore innerhalb des Hoheitsgebietes von PAGAN zu schließen.
Trotz der späten Stunde fühlte er sich unbeschreiblich gut. Er platzte vor Energie und Freude, nahm noch eine schnelle Dusche in Shangri-La, zog sich frische Sachen an, verabschiedete sich sogar von Bloomsworth und anderen Daimons ungewohnt fröhlich - und stürmte in das nächste Tor zur Asiatischen Node.
Mit wild klopfendem Herzen fuhr er mit dem Lift hinauf in den atlantischen Sektor, aufgeregt wie ein Schuljunge, aber auch ein wenig ängstlich: Wie würde Rosanjin auf das unerwartete Wiedersehen reagieren? Aévon hatte keine Lust auf Vorwürfe oder einen beleidigt weggedrehten Rücken - er wollte wilde Küsse, am ganzen Körper, wollte Rosanjin überall an sich und in sich spüren, wollte ihn schmecken, von oben bis unten abknutschen, zärtlich beißen, wollte erregt geflüsterte schmutzige Wörter und atemlos gehauchte Liebesschwüre, wollte nur noch bis in alle Ewigkeit lieben und geliebt werden.
Mit dem nächsten Schritt befand er sich im Untergeschosses von Elms Hall, ihrem Herrenhaus vor den Toren von London. An dem Tor zwischen Tanggula Shann und dem privaten Wohnsitz des Sippenoberhauptes waren keine Wachen nötig, denn es war auf Procyon, Aévon und Rosanjin fixiert und niemand konnte es durchschreiten, es sei denn, einer der Drei erlaubte dies und gab es frei.
Es war erst Mitternacht in England und still im Haus. In der Loggia mit den kürzlich erst gestrichenen hellgelben Wänden brannte nur ein kleines Nachtlicht. Aévon ging leise die geschwungene, frisch renovierte Treppe hinauf in den ersten Stock, wo ein ganzer Trakt nur ihm gehörte. Ihm und Rosanjin natürlich.
Er dachte auf dem Weg zum Schlafzimmer an den Moment vor vier Jahren zurück, als er Rosanjin Yamashita, ein Jahr jünger als er selber, zum ersten Mal bei einem illegalen Motorradrennen in Australien kennen gelernt hatte. Seitdem waren sie unzertrennlich, waren Geliebte, Kampfesgenossen und Blutsbrüder zugleich; hatten keinerlei Geheimnisse voreinander, bildeten einen unentzweibaren Wall gegen alle Angriffe und Kritik, ja, traten oft wie ein Wesen auf, weswegen schon ein Spitzname für beide innerhalb von PAGAN kursierte: ›Aévanjin‹.
Noch nie zuvor waren sie länger als drei Tage voneinander getrennt gewesen... bis zu dem Streit in eben diesem Haus seines Vaters in England.
Die Wut und die Entschlossenheit, endlich Beweise für die Gefahr zu finden, in der sie alle schwebten, hatten ihn fortgetrieben aus Elms Hall. Doch seit wenigen Stunden bestand endlich eine reale Chance, der MDL Einhalt zu gebieten.
Und ebenso ihren menschlichen, abgrundtief verrotteten Anhängern.
›Umarme Unsere Blutige Mutter, mein Sohn, und labe dich statt an meiner Brust an der ihren, trinke dich satt an ihrer rubinroten Milch, mit dem sie uns nähren wird, bis der Tag der Heimkehr kommt.‹
Wie so oft, wenn seine Gedanken sich in die verhassten und sorgsam verschlossenen Bereiche seiner Erinnerung verirrten, erstarrte Aévon und schloss die Augen, um den kalten, schmerzvollen Schauer schnell über sich ergehen zu lassen, der ihn jedes Mal überwältigte und gegen den er nichts auszurichten vermochte. Die grauenvollen Momentaufnahmen aus lange vergangenen Kindheitstagen hatten sogar Miras Künste der Erinnerungslöschung überstanden.
Doch es gab eine Medizin gegen dieses Leiden: Rosanjin. Seitdem Aévon ihn um sich hatte, waren seine Depressionen und Zerstörungsgelüste sehr stark zurückgegangen, hatten sich in die tiefen, dunklen Winkel seiner Seele verkrochen wie Hyänen, die sich angesichts eines überlegenen Gegners zunächst einmal geschlagen zurückziehen mussten.
Rosanjin lag schlafend in dem riesigen Futon, eine Hand auf einem japanischen Buch neben sich.
Im sanften Schein der kegelförmigen Nachtischlampe aus Reispapier sah sein ebenmäßiges Gesicht mit den wie von Künstlerhand gemeißelten asiatischen Zügen noch schöner aus.
Aévon blieb minutenlang in der Tür stehen, betrachtete ihn und huldigte ihm schweigend, während grenzenloses Verlangen und überschäumende Liebe sein Herz und seinen Körper in Flammen setzten und seinen Atem stocken ließen.
Langsam näherte er sich und kletterte aufs Bett, bis er genau über seinem Geliebten war und mit angehaltenem Atem auf ihn herabblickte.
Rosanjin atmete tief und genüsslich ein - dann öffnete er mit einem Mal seine pechschwarzen Mandelaugen, über die sich dunkle Brauen in einem anbetungswürdigen, natürlich geschwungen Bogen spannten.
»Tadaima«, flüstere Aévon erstickt.
»Okaeri nasai«, antwortete Rosanjin leise mit bebender Stimme.
Und gleich darauf fielen sie sich wie magnetisiert in die Arme, küssten  sich, vollkommen von Sinnen, wie ausgehungert. Innerhalb weniger Augenblicke flogen achtlos Kleidungsstücke durchs Zimmer und landeten auf dem schwarzen Parkettboden.
»Wo hast du die ganze Zeit nur gesteckt, Aév?«, fragte Rosanjin später leise, die Augen genussvoll geschlossen, während sein Geliebter seine Brust und seinen Bauch mit hauchzarten Küssen beschenkte.
Aévon seufzte und beendete seine erotische Wiedergutmachungstour mit einem kleinen Biss. Dann beugte er sich über das geliebte Gesicht und musterte es zärtlich.
»Kann es sein, dass du mich nicht ganz so vermisst hast, wie ich dich?«
»Unmöglich.« Rosanjin lächelte, die Augen immer noch geschlossen. »Ich bin umgekommen vor Sorge und Angst, dich verloren zu haben. Hat es sich wenigstens gelohnt, mich fast zwei Monate mit Missachtung und Ungewissheit zu strafen? Dann verzeihe ich dir. Aber deiner Buße wirst du dennoch nicht entgehen...«
»Hai! Dann sofort, ich habe seit Wochen sehr starke Schuldgefühle und brauche noch mehr Züchtigung.«
Er packte Rosanjins Schultern, zog ihn auf sich und presste seinen feingliedrigen, muskulösen Körper eng an sich, wieder wahnsinnig vor Lust.
»Aaa, zuzushii! Wie frech: Erst zwei Monate einfach wegbleiben und dann auch noch Ansprüche stellen. Aber das sieht dir ähnlich, Koibito no.« Rosanjin spielte amüsiert mit einigen von Aévons dunklen Locken, die sich aus seinem kurzen Zopf befreit hatten und in glänzenden Spiralen auf dem Kissen ausgebreitet lagen. Und immer wieder kehrte sein Blick zu diesen Augen zurück, die ihn noch immer geradezu zu hypnotisieren vermochten. Aévon hielt sich nicht für hübsch, und vielleicht war er das auch nicht im herkömmlichen Sinne; sein Mund mochte für viele ein wenig zu groß sein, seine Nase zu breit - und zweimal gebrochen - das Kinn energisch hervorspringend... aber das intensive, strahlende Honigbraun dieser großen Augen mit ihrem herausfordernden, beinahe stechendem Blick machten alles mehr als wett. Er beugte sich hinab und küsste Aévon zärtlich auf die Halsbeuge, während seine Hand langsam an den kraftvollen Schenkeln emporwanderten und seinem Geliebten leise aufstöhnen ließ. »Tu das nie wieder, hast du mich verstanden?«, raunte er in Aévons Ohr. »Oder ich verwandle mich das nächste Mal für zehn Wochen in eine beleidigte Ehefrau, die dich auf dem Sofa übernachten lässt.«
»Ich schwöre es, wenn du dich jetzt dafür wieder in eine wilde Hure verwandelst«, erwiderte Aévon mit einem kleinen dreckigen Grinsen um die breiten, sinnlichen Lippen.
»Ich sollte mich wohl besser in einen Zitteraal verwandeln und dir mit einigen Stromstößen Manieren beibringen, Aévon-san.« Rosanjin wickelte eine von Aévons Locken um seinen Finger und setzte eine strenge Miene auf.
Aévon lachte. »Meine japanische 1,70 m-Batterie droht mir? Was für eine Frechheit...«
»Frag mich noch einmal, ob ich dein Handy auflade, weil dein Ladegerät kaputt ist.« Rosanjin hob gespielt arrogant seine Braue. »Oder einen 1,90 m großen Zauberer -«
»Daimonjäger, bitte!«
»- mit einem Ego von hier bis Rio. Aber jetzt erzähl erst einmal, was passiert ist. Ich fühle doch schon die ganze Zeit, dass du vor Genugtuung und Energie platzt. Hast du wieder eine friedliche Diskussionsrunde in einen Prügelmob verwandelt, Koibito no? Oder ein paar wichtige MDL-Agenten erledigt?«
»Viel besser. Allerdings war es letztendlich nicht mein Verdienst. Aber das Ergebnis ist großartig: Die Passagen zur Daimonsion werden geschlossen.«
Rosanjin setzte sich auf und sah Aévon ungläubig an. Und nachdem dieser ihm bis ins Detail von den Ereignissen in Shangri-La wenige Stunden zuvor erzählt hatte, rief er strahlend: »Das ist ja phantastisch! Und auch noch fast genau zu Equinox Veris. Was für ein großartiges Geschenk. Endlich kehrt vielleicht Ruhe in unser Leben ein.«
»Ich wünsche es mir, Ro.« Aévon legte seine Hand auf Rosanjins Wange und verlor sich für einen Moment in seinen schwarzen Mandelaugen. »Manchmal bin ich schon so müde und kraftlos, Aisuru hito...«, flüsterte er traurig. »Die Zeit rennt mir davon, dabei will ich doch noch soviel erreichen. Soviel erschaffen... und soviel lieben.«
»Rede nicht von unserem Tod.« Rosanjin schloss getroffen die Augen und küsste Aévons Hand.
»Unser Tod? Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich dich im Jenseits verfluchen werde, solltest du es wagen, dir wegen mir das Leben zu nehmen. Falls es überhaupt ein Jenseits gibt.«
»Und ich hab dir schon einmal gesagt, dass mir das gleich ist. Sehr viel mehr Zeit als dir bleibt mir auch nicht, vielleicht sterbe ich sogar vor dir. Wer kann das schon sagen? Aber ob von dir verflucht oder nicht: Du kannst mich nicht loswerden. Nicht in diesem Leben. Und danach auch nicht. Ai shiteiru. Eien ni.«
»Nein, ich würde das gleiche tun, wenn du...« Aévon lächelte mit weichem Blick. »Ich dich auch, für immer. Eien ni.« 
»Lass uns von erfreulichen Dingen reden«, sagte Rosanjin daraufhin, entschlossen, das unangenehme Thema beiseite zu schieben. »Was machen wir zur Feier von Equinox Veris, außer uns bis nachmittags von unserer Liebe zu erholen?«
Aévons Hände glitt wieder begehrend zärtlich an Rosanjins köstlich schmaler Taille hinab und über seinen kleinen, festen Hintern. »Was ist mit Volta, Cres und den anderen? Backt denn niemand mehr bei PAGAN Kekse und bringt sie zu einem Anstandsbesuch mit?«
»Wenn du Kekse willst, musst du wohl die Allianz besuchen. Ich und ein paar andere DiSMaster hingegen treffen sich morgen in Tokio, im ›Furasshu‹. Eigentlich wollten wir irgendetwas in Chicago machen, aber dann hatten wir doch keine Lust, uns von den Wächtern an der Nordamerikanischen Node schikanieren zu lassen, oder irgendwo im Allianz-Gebiet hängen zu bleiben, weil unsere illegalen Tore gelöscht wurden.«
»Tokio ist gut. Zurzeit laufe ich bei der RSA sowieso unter persona non grata. Ein paar Daimons haben mir berichtet, dass sich dieser Giftspucker Umbriel erfolgreich hochgeätzt hat.«
»Ja, er ist jetzt der Persönliche Berater von Mimas. Dein Vater ist sehr besorgt deswegen. Ich glaube, soviel schlechte Nachrichten wie zurzeit gab es noch nie auf einmal.«
»Das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht in Sicht, Ro. Aber wenigstens ist erst mal die MDL aus dem Rennen. Freie Entfaltung, Freier Wettbewerb, pah! Alle Menschen und alle Daimonklassen leben einträchtig miteinander. Es gibt viele Daimons, die an den Schwachsinn glauben.«
»Wenn man Schwachsinn nur wortreich und mit angenehmen Lügen verkleidet, wird er immer gern geglaubt. Aber Menschen und Daimons wollen nun einmal an ETWAS glauben. Deswegen sind wir uns ja so schrecklich ähnlich. Und deswegen kann ich nicht alle Daimons so leidenschaftlich hassen wie du.«
Aévon verdrehte lächelnd die Augen, nahm den Kopf seines Geliebten zwischen seine Hände und küsste ihn ganz fest auf die Lippen.
»Dein Vater hat mich übrigens gebeten, dir etwas auszurichten, Aév, falls du auftauchen solltest«, sagte Rosanjin und spielte wieder mit Aévons Locken.
»Ich hatte vorhin seine angenehme Gesellschaft schon um mich, aber er hat nichts Besonderes erwähnt. Was will mein glorreicher Vater denn vor mir?«
»Es geht um unser Seminar im Mai, bei dem einige Leute aus dieser Allianz-Sippe dabei sein 
sollen.«
»Erinnere mich nicht daran«, stöhnte Aévon. »Allianz-Typen sind mein persönlicher Alptraum. Sie halten sich für etwas Besseres und sind dann die ersten, die heulen, wenn es ein bisschen härter wird und ich sie hin und wieder zusammenscheiße. Ich hätte nicht zusagen sollen.« Er knurrte verächtlich.
»Wie schade...« Rosanjin setzte ein mitleidiges Gesicht auf. »Denn er bittet dich im Namen des Sippenoberhauptes darum, dieses Seminar vorzuziehen. Es soll so schnell wie möglich stattfinden.«
»Meinetwegen«, brummte Aévon. »Je schneller ich sie wieder los bin, um so besser für den Rest meines Lebens. Von mir aus gleich nach Equinox Veris.«
»Findest du es nicht merkwürdig, dass sich die geheimen Anfragen von Allianz-Sippen für unsere Seminare in letzter Zeit häufen?«, sagte Rosanjin nachdenklich.
»Nicht wirklich. Wer eine strenge Gesetzgebung befürwortet, kann ihr natürlich durchaus auch selber zum Opfer fallen - schuldig oder nicht.  Aber das kapieren diese Leute oft erst, wenn es sie selber 
trifft.«
»Wohl wahr. Und die Allianz führt seit einigen Wochen verstärkt Kontrollen durch. Jede Woche werden in jeder Domén drei bis vier Sippen mindestens aufgelöst, mehr als in den ganzen Jahren davor.«
»Ach, das liegt vor allem an diesem Gardinenprediger Umbriel. Er quatscht die Leute voll mit diesem Armageddon-Zeug und seinen Engelsvisionen. Zuviel Sünde auf dieser Welt, alle sind im Bunde mit den Teufeln. Vor allem wir natürlich.«
»Hast du schon von Umbriels neuester Vision gehört? Er behauptet, der ›Erzengel‹ Raffael hätte einen Neutralen mithilfe eines Amuletts dazu ausersehen, ein Heer von Gotteskriegern anzuführen. Zu Equinox Mebani spätestens soll er sich den Gläubigen zu erkennen geben.«
Aévon verdrehte belustigt die Augen. »Daimons sind die reinsten Tratschtanten und ersparen einem das Surfen im DimensioNet. Ich bin voll im Bilde, über alles Wichtige und Nichtige. Ja, dieses Gerücht haben mir etliche Daimons in etwa hundert Variationen erzählt. Aber selbst mit so einem Superhelden wäre die Allianz uns doch absolut unterlegen. Und das wissen die Schlaueren dort schon seit langem. Oder was glaubst du, weswegen die Mehrheit der Allianz-Sippen gegen einen Angriff auf Atlantika gestimmt und stattdessen das Stillhalte-Abkommen vorgeschlagen hat?«
Rosanjin sah seinen Geliebten mit einer Mischung zwischen Erstaunen und Belustigung an. »Du weißt von dem Stillhalte-Abkommen? Und du bleibst sogar ruhig?«
»Ich kenne meinen wunderbaren Vater nur zu gut. Das war bloß einer seiner Show-Effekte, um zu beweisen, dass auch er nur Friede, Freude und Häkelkurse will.« Aévon strich verträumt über Rosanjins volle, weiche Lippen und lächelte zärtlich. Doch schon im nächsten Moment glühten seine Augen vor kaum gebändigter Begeisterung auf, als er fortfuhr: »Aber in Wahrheit möchte er bei PAGAN  nach ganz oben und den guten alten George ablösen, der schon starke Anzeichen von Xendium-Verfall zeigt, wie ich vorhin selber erlebt habe. Leider besteht die Führung von PAGAN, wie du weißt, zurzeit vorwiegend aus einem Haufen verträumter Alt-Hippies mit Xendium, was Pappi im Moment noch tolerieren muss.« Und während Rosanjins Lippen von seinem Hals weiter abwärts wanderte, fuhr er, immer noch erfüllt von seiner Vision, fort: »Sollte Big Daddy es jedoch tatsächlich an die Spitze schaffen, ist es vorbei mit der Gemütlichkeit und Felsformer-Kursen. Und dann braucht er schlagkräftige Leute, die nicht ihre Zeit damit verschwenden, jeden Daimon zu therapieren und ihm Ping Pong beizubringen. Xendii wie uns beide und unsere Leute. Die Allianz hat nur die alten Techniken drauf. Gegen PAGAN und vor allem natürlich unsere DiSMaster werden sie auf voller Länge verlieren. Unsere Stunde wird noch kommen, dann allerdings gewaltig.«

.

Pünktlich um elf Uhr lotsten Lux Livas und Lux Montana Tigris, die ausdauernd am märchenhaften Buffet klebte, aus dem Festsaal und gingen mit ihr durch sehr lange, sehr alte und sehr prunkvolle Korridore und Treppenhäuser voller Ritterrüstungen und Ölgemälden zu einem kleinen Zimmer im zweiten Stock des weitläufigen Palastes.
Dort wartete Lux Phoebe schon auf sie, in ihrer langen, dunkelroten Samtrobe anmutig in einem dunkelblauen Ohrensessel sitzend, die Fingerspitzen aneinander gelegt.
Tigris sah unbeeindruckt umher, dafür umso energischer ihren Kaugummi kauend. Der kleine Raum war mahagonigetäfelt und voller antiker Möbel und uralt aussehenden Büchern.
»Wenn wir so einen Kram hätten und verkaufen würden, könnten wir unsere Klitsche super renovieren.«, bemerkte sie spöttisch.
»Dein Kaugummi brauchst du nicht mehr«, wisperte Lux Montana ihr ärgerlich ins Ohr. Daraufhin spuckte Tigris ihn gekonnt und treffsicher in die nächststehende Palme, was die beiden älteren Windwibbs schockiert zusammenzucken, Lux Phoebe jedoch nur leicht die Braue hochziehen ließ.
»Setz dich auf den Schemel vor mir.«, forderte sie Tigris mit einem leichten, spanischen Akzent auf.
Tigris trottete zu ihr und ließ sich auf den samtgepolsterten Hocker vor Lux Phoebe fallen, stemmte ihre Hände auf die Beine und sah die Seherin übertrieben erwartungsvoll an.
»Tigris, weißt du, was die Erbsünde der Xendii ist, aus der bis heute unsere Verpflichtung erwächst?«
»Klar. Dämonen haben vor langer Zeit mal was mit Menschen angefangen, und ihre Kinder waren die Nefaílim. Sie verwüsteten die Erde und waren sooo gemein zu den anderen Menschen, weswegen die lieben Erzengel kamen und gegen sie kämpften. Und weil Gott gnädig zu den Nefaílim war, die ihre Taten bereuten, wurden sie von den Erzengel nicht ausgerottet, sondern bekamen die Aufgabe, fortan die Dämonen auf Erden zu bekämpfen.«
»Und wirst du als Abkömmling der Nefaílim ebenfalls deine Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit stellen und dein Leben für sie hingeben?«
»Aber klaro! Davon habe ich schon immer geträumt. Wer würde nicht gerne mit mir tauschen?«
Nun doch etwas irritiert durch den unüberhörbar spöttischen, ironischen Tonfall des Mädchens, räusperte sich Lux Phoebe und fuhr fort: »Nun, denn lass mich dich prüfen, um zu sehen, wie stark dein Xendium ist.«
»Yo, let’s check it out.«
»Sie ist noch nicht so lange bei uns«, beeilte sich Lux Montana zu sagen, während die Seherin der Domén Arx aufstand und aus einem Kästchen auf ihrem Mahagoni-Schreibtisch eine getrocknete Blume holte. »Ihre Fähigkeiten sind wirklich nicht besonders ausgeprägt.«
Ohne darauf zu antworten, reichte Lux Phoebe Tigris die getrocknete Rose, setzte sich und legte wieder mit ausdruckslosem Gesicht die Fingerspitzen aneinander.
»Und jetzt? Soll ich sie wieder zum Leben erwecken, oder was?« Tigris betrachtete die Blume lustlos.
»Das übersteigt wohl bei weitem die Fähig-« Lux Phoebe riss mit einem Mal die Augen auf.
Und auch die beiden älteren Windwibbs klappte förmlich der Unterkiefer herunter.
Ein tiefes saftiges Grün erklomm langsam den schwarzen Stengel der Blüte und die runzeligen Ästchen mit den Blättern. Begleitet von feinem Knistern und Gluckern schien die Rose tief einzuatmen, entrollte ihre Blätter und sog ihre Blüte von roter Farbe voll. Alles an ihr lebte innerhalb von wenigen Sekunden wieder auf, glättete, spannte, reckte und streckte sich - bis sie wie frisch gepflückt aussah.
»In etwa so? Reicht das? Kann ich jetzt wieder gehen?«
Lux Phoebe holte tief Luft, um sich wieder zu fangen und sah fragend zu den Windwibbs hinüber. Doch diese schauten nur noch bestürzt auf Tigris und die zu neuem Leben erweckte Blume in ihren Händen. Wie konnte das sein? Lux Montana glaubte zu träumen, hatte sich Tigris doch in ihren Unterrichtsstunden damit hervorgetan, aus allen Gegenständen, die ihr in die Hände fielen, kleine flauschige Bällchen zu machen.
»Ihr werdet wohl Verständnis dafür haben, wenn ich ihre Begutachtung noch ein wenig vertiefe«, sagte Lux Phoebe mit einem kurzen Seitenblick zu den ältern Windwibbs, nahm das Kästchen ganz auf ihren Schoß, schien etwas zu suchen und reichte Tigris erneut einen Gegenstand, diesmal ein Stück Kohle.
»Hm. Soll ich das Ding anzünden, oder wie?«
»Was dir gerade einfällt.«
Tigris betrachtete ausdruckslos das schwarze Ding auf ihrer Handfläche. Es stieg langsam von ihr auf, bis es zwei Handbreit darüber schwebte. Für einige Sekunden passierte gar nichts, außer dass die Kohle sich langsam um ihre Längsachse drehte, umweht von hauchfeinen grünen Schlieren, die aus Tigris' Hand aufstiegen.
Dann gab es ein Fauchen und Zischen - und das Stück sog tiefrote Glut in sich ein. Doch die Demonstration war noch nicht beendet. Ein weiteres Fauchen - und eine hohe, schlanke Flamme schoss aus der Glut, teilte sich in zwei Feuerszungen, die gleich zwei verliebten Schwänen umeinander warben und sich umschlangen. Sie teilten sich wiederum, und immer wieder, bis die Flammen einem feurigen siebenarmigen Kandelaber glichen, auf dessen Spitzen kleine Feuerszungen tanzten.
»El Señor y Sus Sietes Zerrafin!«, keuchte Lux Phoebe und konnte sich gerade noch beherrschen, nicht aufzuspringen. Ihr erschrockener Blick galt jedoch weniger der beeindruckenden Demonstration von Wandler-Xendium als Tigris selber.
Zu guter Letzt verschluckte die glühende Kohle die Feuerszungen wieder, fing zu pulsieren an, wobei ihre Farbe immer heller und strahlender wurde - und fiel mit einem Mal in Tigris Handfläche zurück, als ungeschliffener Diamant.
»Nicht schlecht, was?« Tigris grinste kurz, dann gingen ihre Augen wieder auf Halbmast - wie die ganze Zeit über.
»Gut... du... kannst vor der Tür Platz nehmen, Tigris.« sagte Lux Phoebe schließlich mit zitternder Stimme und erhob sich. Tigris zuckte mit den Schultern und schlurfte aus dem Zimmer, um augenblicklich in den Chippendale-Sesseln im Gang zu fallen. Sie fläzte sich tief in den Stuhl und gönnte sich ein Mittagsschläfchen, nicht ahnend, dass sich in Lux Phoebes Zimmer ein Drama anbahnte.
Die beiden älteren Windwibbs überlegten krampfhaft eine gute Ausrede, die Tigris plötzliche phänomenale Wandlerkünste erklären konnten. Lux Phoebe indes machte keinen Hehl mehr aus ihrer Aufregung.
»Ihr beide wisst hoffentlich, dass Menschen mit diesen Fähigkeiten sofort in das Sonder-Ausbildungslager der Allianz gesteckt werden!« Trotz ihrer Erregung sprach die Seherin gedämpft.
»Wir äh... hatten keine Ahnung, wir...wir...« Lux Livas schüttelte unentwegt den Kopf, während er verzweifelt um Worte rang.
»Ihr habt sie also angeblich in Düsseldorf gefunden. Hat noch keiner eurer Seher ihre Aura genau studiert?«
Die beiden Windwibbs blickten sich verwirrt und schockiert an: Hatten die Seher Windwibbenburgs etwas übersehen, dass die exzellente Lux Phoebe mühelos erkennen konnte? Es war aus...
»Sie flackert, ist fast gar nicht da, wenn Tigris nichts tut. Nun gut, das kommt manchmal vor. Aber wenn sie etwas tut, blendet ihre Aura fast meine Augen!«
Lux Montana riss entgeistert die Augen auf. Wieso hatte nicht einmal Danubia, Tigris’ eigene Mutter, diese Anomalien entdeckt?
»Und sie ist vollkommen anders als die Aura jedes anderen Wandlers. Ich kann sie nicht einordnen, jedenfalls nicht in die Kategorien, die uns seit Jahrhunderten überliefert sind. Wer ist sie? Schon die ganze Zeit zerbreche ich mir den Kopf über ihre Ähnlichkeit mit einer bestimmten Person, aber ich komme nicht darauf. Und anscheinend bin ich nicht die einzige.«
»Wir wissen es nicht. Wir haben nichts Besonderes an ihr festgestellt. Aber natürlich haben wir auch nicht so eine außerordentlich begabte Seherin wie dich, Phoebe«, begann Lux Montana leise.
»Es ist zwecklos, mich zu belügen. Ich spüre deutlich, dass ihr etwas vor mir verbergt, Livas.« Lux Phoebe starrte die beiden verdatterten und zerknirschten Windwibbs an.
»Möchtet ihr etwa nicht, dass sie von den besten Wandlern der Allianz ausgebildet wird? Wäre es nicht schön, wenn so eine talentierte Kriegerin unsere Armee anführt? Unsere Armee, die schon bald ausziehen wird, um die sündigen Xendii in aller Welt auszulöschen, die den Schwur ihrer Ahnen anscheinend vergessen haben? Mit einer wie ihr würden wir die Frevler doch hinwegfegen und ein neues himmlisches Reich errichten. Ganz so wie es Umbriel voraussagt. Lux Mimas glaubt fest an ihn, nichts kann ihn von der Katharsis abbringen.«
Sie trat ganz nahe an die beiden heran, die schweigend ihre Köpfe gesenkt hielten, sichtlich zu keinen Worten oder klaren Gedanken mehr fähig.
»Ich habe dich einige Male bei Umbriels Messen beobachtet, Livas«, flüsterte Phoebe atemlos, und Schweiß trat augenblicklich auf die Stirn des Sippenoberhauptes. »Du schienst sie nicht so zu genießen wie viele andere. Wenn sie Umbriel applaudierten und ihm frenetisch zujubelten, hieltest du deinen Kopf gesenkt. Wie jetzt.«
Lux Livas schwieg immer noch. Eine große, traurige, entsetzliche Leere dehnte sich in seinem Geist aus. Die schreckliche Gewissheit, trotz aller Maßnahmen und Vorsicht versagt zu haben, ließ ihn die Augen schließen, um die Tränen zurückzuhalten, die dennoch zwischen seinen Lidern hinausdrängten und langsam seine Wangen hinunterstürzten.
»Sie ist es, nicht wahr?«, wisperte Phoebe mit bebender, leiser Stimme und klang dabei so traurig und bestürzt, dass die beiden Wandler erstaunt aufhorchten. »Sie ist dieser Auserwählte, der die Katharsis anführen soll, von der Umbriel träumt. Der engelsgleiche hübsche Umbriel, der mit seinen schönen Augen und seinen giftigen Worten unsere Seelen zu stinkenden Tümpeln wandelt. Im Namen Gottes sollen wir uns gegenseitig abschlachten. Und wenn wir fertig damit sind, wenden wir uns den anderen, ahnungslosen Menschen zu, um sie ebenfalls zu richten. Wir werden ein Reich der Xendii erschaffen, und es wird ohne Gnade sein. Wer seine Stimme dagegen erhebt, wird augenblicklich getötet, im Namen Gottes und der Erzengel.«
Tränenblind sah Lux Livas auf und flüsterte mit erstickter Stimme. »Sie wird das sein, was immer du in das Register einträgst. Sie hat nicht um diese Begabung gebeten, es war ein Zufall, ein Versehen. Sie wird ohnehin niemals irgendwelche Heere anführen wollen. Tigris könnte keiner Menschenseele etwas zuleide tun.«
Die Seherin wandte sich ab, die Arme fest um sich geschlungen, und schaute gedankenverloren auf den leeren Schemel vor ihrem Sessel.
»Lux Yesu sagte: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein... doch ich sehe immer mehr Xendii, die anscheinend gewillt sind, hunderte, ja, tausende Steine zu werfen, um ihre eigenen Fehler und Schuldgefühle zu begraben. Immer wenn Umbriel predigt, möchte ich aufspringen und laut schreien, möchte den anderen zurufen, dass sie nicht das Recht haben, Richter und Henker zu spielen. Doch dann wäre mein Leben verwirkt. De Navarris und andere Sippen haben sich schon lange von den Idealen und Gesetzen der Allianz entfernt. Und seit Umbriel in Barcelona weilt, kriecht ein giftiger Nebel durch unsere Gärten und Herzen. Misstrauen, Angst und Ohnmacht herrschen hier mittlerweile, wie auch in anderen Doméns. Kleine Sippen wie die Eure bemerken es erst jetzt allmählich. Aber Xendii, die auch nur die leiseste Kritik anbringen wollen, verschwinden spurlos. Die Dämonen sind nicht bei den Abtrünnigen zu finden - sie sind genau hier, von Menschen geboren, mit menschlichen Seelen - und doch so weit von Menschlichkeit entfernt, wie der kalte Pluto von unserer strahlenden Sonne. Und sie sind auch noch stolz darauf. Ich habe Angst, Livas.«
»Ja, auch ich habe Angst«, sagte Lux Livas leise. »So sehr fürchte ich mich mittlerweile, dass ich alles tun würde, um meine Sippe zu schützen - und Tigris. Alles. Ich würde bis zum Äußersten gehen.«
»Das musst du. Und ich helfe dir. Viel kann ich nicht tun. Aber ich werde Tigris als gewöhnliche Wandlerin in das Register eintragen. Die Bosheit, die sich Umbriel erdacht hat, kann nicht von den Erzengeln stammen. Er wird wohl weiter auf seinen Auserwählten warten müssen.«
Ungläubig, gleichzeitig aber auch fassungslos vor Glück und Erleichterung machte Lux Montana einen Schritt auf die Seherin zu. »Das ist schon mehr, als wir zu hoffen gewagt haben! Wir danken dir, Phoebe. Auch du solltest nicht zögern, das Äußerste in Erwägung zu ziehen, wenn -«
Lux Phoebe lachte bitter auf. »Das werde ich nicht. Exil ist besser als ein sinnloser Heldentod. Und sei versichert: Wir drei sind nicht die einzigen, die an Flucht denken. Du solltest dich nicht zu lange hier aufhalten, Livas. Bleibt keine Minute mehr länger als nötig unter den Massen von Xendii. Viele wundern sich schon über ihr Aussehen.«
Lux Livas nickte eifrig. »Wir gehen sofort zurück nach Windwibbenburg. Ich danke dir, Phoebe.«
Mit dem Rücken zu ihnen murmelte die Seherin. »Ich danke Gott, dass eure Sippe zu den Unvergifteten gehört. Gottes Segen sei mit euch. Er ließ Tigris zu euch kommen, und er sandte euch zu mir. Wusstet ihr, dass ursprünglich geplant war, jeden Neuling aus bestimmten Sippen von Umbriel persönlich examinieren zu lassen? Doch er wurde heute Morgen überraschend von ranghohen Xendii gebeten, Messen in Venedig, Kopenhagen und Paris abzuhalten. Das ist ein Zeichen Gottes, dass er Umbriel genauso verabscheut wie ich und Pläne gegen ihn schmiedet.«
Die beiden älteren Windwibbs gingen unendlich erleichtert und freudig aus dem Zimmer und trafen vor der Tür Tigris leise schnarchend im Sessel an.
»Wach auf, Tigris! Wir gehen. Es ist alles in Ordnung!«
Tigris riss die Augen auf.
Die Examination!
Sie sprang auf und schlug sich die Hände vor den Mund. »Oh Gott, ich bin dran, oder? Oh mein Gott! Ich habe vergessen, was ich sagen sollte! Verdammt!«
Mit großen ängstlichen Augen sah sie die beiden älteren Windwibbs an.
»Tigris, du hast doch eben deine Fähigkeiten unter Beweis gestellt«, sagte Lux Livas und legte beruhigend seinen Arm auf ihre Schulter. »Was ist denn heute nur los mit dir? Du warst die ganze Zeit so... merkwürdig. Gar nicht du selbst.«
»Hast du dich etwa an meinem Erste-Hilfe-Koffer zu schaffen gemacht?«, brummte Lux Montana argwöhnisch.
»Oh... tatsächlich? Ich... ich war schon da drinnen?« Tigris überlegte krampfhaft, konnte sich jedoch nur verschwommen an Lux Phoebes Gesicht erinnern, undeutlich tauchten Bilder von einer Rose und Flammen vor ihrem geistigen Auge auf.
»Wir sind hier fertig«, erklärte Lux Montana leise, nahm sie in den Arm und führte sie zurück in den Festsaal, während Lux Livas ihr noch einmal erklären musste, weswegen ihre Mutter nicht bei ihnen war, was Tigris’ Verwirrung nur noch steigerte.
Im Festsaal warteten Antigua und die anderen schon ungeduldig auf sie.
»Okay, dann kann’s ja losgehen!« jubilierte Bat Furan und wollte schon beschwingt durch die Passage zurück in die Europäische Node gehen, von der sie nur der flirrende Schleier zwischen zwei Palmen trennte.
»Ihr müsst ohne Tigris losziehen. Wir nehmen sie mit zurück nach Windwibbenburg«, erklärte Lux Montana entschieden, bevor Tigris den Mund aufmachen konnte. Enttäuscht und beleidigt senkte sie daraufhin den Kopf und verschränkte trotzig die Arme. »Aber es ist doch alles glatt gelaufen, denke ich?«, grummelte sie.
»Und es wäre uns lieb, wenn ihr wie die anderen aus unserer Sippe in der Nähe bleibt, also zwischen Gibraltar und Oulou.«, ergänzte Lux Livas.
»Aber wir wollten nach Ecuador!«, protestierte Ras Algheti.
»Und wieso kann Tigris nicht mit uns gehen?«, maulte Antigua. »Wir haben uns schon so gefreut, ihr einmal ein bisschen die Weltgegend zu zeigen.«
»Wir erklären es euch -« Lux Livas erstarrte, als zwei Männer mit Sektgläsern auf einmal vor ihnen auftauchten. Der eine, höchstens Mitte zwanzig, trug die beige Uniform der Allianz-Streitkräfte. Der andere hingegen war älter und grauhaarig, mit grauem Lippenbart und in einen dunkelblauen Smoking gekleidet. Er lächelte den beiden älteren Windwibbs kalt zu, die pflichtschuldigst eine Verbeugung andeuteten.
»Livas, nicht wahr? Livas aus Windwibbenburg, in Deutschland«, begann er und hob leicht sein Glas. »Ein fröhliches Equinox Veris. Dies ist übrigens Thanatos, der neue General unserer Armee.«
Der Jüngere nickte arrogant mit dem Kopf. Er war groß, überaus kräftig und wirkte eher wie ein Bodybuilder denn wie einer der schmächtigen Durchschnitts-Xendii. Unverhohlen bewundernd glitt sein Blick von Antiguas schmalen, kleinen Füßen in den silbernen Sandalen bis hinauf zu ihren blaugrünen Katzenaugen. Doch sie sah sichtlich genervt demonstrativ zur Seite.
»Antigua, Bat Furan... dies ist Lux Mimas, unser aller Oberhaupt«, erklärte Lux Livas, woraufhin die jungen Windwibbs mehr oder weniger gekonnt ebenfalls eine Verbeugung andeuteten. Ilvyn knickste sogar artig, und musterte mit verwirrten, heimlichen, schnellen Blicken General Thanatos. Tigris, weiterhin beleidigt, sah kaum auf, verbeugte sich aber dennoch gehorsamst.
»Lasst nun die Jugend umherstreifen, Livas, wie wir es alle früher getan haben. Ich möchte euch beide gleich unter anderem mit Lux Letitia bekannt machen. Sie ist das neue Oberhaupt der O’Malleys, denen Irland untersteht, seit jeher einer der treuesten Sippen der Allianz.«
Tigris zuckte zusammen, da Mimas ›treuesten‹ auf eine bestimmte Art betonte, die in ihr sämtliche Alarmglocken schrillen ließ, so als spräche er ohne Worte aus: ›Im Gegensatz zu euch‹.
Und ehe sich Lux Livas versah, hatte ihn das Oberhaupt der Europäischen Xendii vertraulich in den Arm genommen und führte ihn zurück in den Festsaal.
»Dann müsst ihr Tigris zurück nach Windwibbenburg schaffen!«, raunte Lux Montana den jungen Windwibbs noch zu, bevor sie Lux Mimas und Lux Livas folgte. »Berlin, Aachen, Windwibbenburg.«
»Na super!« Bat Furan verzog das Gesicht und sah Tigris vorwurfsvoll an. »Hast du dich so blöd angestellt, dass du Hausarrest bekommen hast, oder was?«
»Pfff. Na und? Lieber Langeweile in Windwibbenburg als gleich von einer Anakonda erwürgt zu werden.« Tigris versuchte, soviel Gemeinheit und Trotz wie möglich in ihre Stimme zu legen, klang jedoch stattdessen unüberhörbar traurig und enttäuscht. Dann jedoch erhellte sich ihr Gesicht mehr und mehr. »Na, dann mal los. Ich bin gespannt, wo wir dank Bat Furan diesmal stranden.«
Bat Furans Grinsen wurde von Sekunde zu Sekunde breiter. »Ich gebe mein Bestes. Wie immer.«
Voller verschwörerischer Vorfreude schritten er, Ras Algheti und Antigua durch die wabernden Schleier.
»Ilvyn, kommst du nicht mit?« Tigris zupfte die junge Seherin am Ärmel, weil diese immer noch wie angewurzelt auf der Stelle stand und verwirrt in die Menge schaute.
»Was ist los? Sind irgendwelche Dämonen hier?«
»Ich könnte schwören, dieser Thanatos hat Doppel-Xendium. Seine Aura sah nach Wandler und Rufer gleichzeitig aus.«
»Das glaubst du doch wohl selber nicht. Solche Freaks werden doch sofort nach der Geburt getötet, wenn sie überhaupt überleben, hat mir Antigua erzählt. Als ob das hier niemand merken würde.«
Ilvyn blickte immer noch in die Menge der Xendii, um einen weiteren Blick auf Thanatos zu erhaschen, als Tigris sie hinüber in die Europäische Node zog.

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Sehr verehrte Damen und Herren: Die Windwibb Equinox-Veris-Tournee!
Zum Beispiel 12:35 Baklava in Adana bei den ?im?eks, einer Mayor Arx der Türkei. Und Tigris' Frisur hielt immer noch. Von dort ging es zu den Alt?nda?s in der Nähe von Bodrum, weil einige Bekannte von Bat Furan aus Belgien auftauchten und sie alle geradezu mit sich schliffen. Im nachhinein bereute niemand diese Entscheidung, da beim Grillen an einem einsamen Strand der Türkischen Ägäis noch viel Stimmung aufkam, je mehr Xendii aus anderen Ländern Europas und des Nahen Ostens dazustießen.
Weiter durch etliche Tore und zwei Noden zu einer winzigen Sippe mit einem umso längeren, unaussprechbaren gälischen Namen im wildromantischen Connemara in Irland, wo es merkwürdigerweise 12:37 war, obwohl man Bodrum  gegen halb zwei verlassen hatte. Dies erschien aber noch lange nicht so seltsam wie wenig später um 8 Uhr morgens im 26. Stockwerk eines New Yorker Wolkenkratzers Sushi und Bagels zu essen. Zwar konnte man sich durch die Noden und Tore tausende Flugkilometer sparen, aber der uralten Tatsache der Erdrotation entging man dennoch nicht. An manchen Orten war eben später vorhin oder früher später...
Mit der langsam zum Zenith steigenden Sonne in Nordamerika schauten die Windwibbs noch bei diversen kleineren und größeren Sippen in Florida, Ohio und Louisiana vorbei, während die Westküste bedauerlicherweise noch schlief und erst später für Xendii-Besucher bereitstand. Deswegen hängte man sich um 9:54 Uhr Ortszeit an einen Schwall junger Xendii in Houston und landete zwanzig Minuten später um 16:16  in der Europäischen Node, und schließlich gegen halb fünf wieder in der heimatlichen Burg.
Im Festsaal mit dem nostalgischen Flair vergangener Jahrzehnte hielten sich vorwiegend Xendii aus anderen deutschen und mitteleuropäischen Sippen auf.
»Wieder zu Hause!« Bat Furan spähte vorsichtig in den Raum. »Lux Livas und Lux Montana sind noch nicht da. Tja, kein Wunder. Wann kommt es schon vor, dass sich De Navarris persönlich um Leute aus No-Name-Sippen kümmert?«
»Soll ich so bleiben oder mich umziehen?« Ras Algheti wandte sich mit fragendem Blick an die drei Mädchen.
»Solange du das nicht vor unseren Augen tust, ist es mir egal.« Antigua musterte ihn in ihrer kühlen, spöttischen Art.
»Wofür umziehen? Geht ihr etwa noch irgendwohin?«, wollte Tigris wissen. Sie fühlte sich zwar ein bisschen benommen durch die Tatsache, die ganzen Stunden vorher durch die halbe Welt spaziert zu sein, hatte aber Geschmack an der Möglichkeit gefunden, so frei herumzustreifen. Zumindest die Tore entschädigten sie ihrer Meinung nach ein wenig für ein verpfuschtes, normales Leben. Und auf Entschädigung hatte doch wohl niemand mehr Anspruch als sie, Tigris!
»Hast du das vergessen? Surfen ist doch eigentlich out«, antwortete Antigua ärgerlich. »Sie wollen sich in die ›Andere Seite‹ hacken und den Abtrünnigen ein ›Frohes Equinox Veris‹ wünschen.«
»Ihr müsst ja nicht mitkommen. Aber ich wollte schon immer einmal Tokio sehen«, erklärte Bat Furan ungerührt und wandte sich mit Ras Algheti zum Gehen um.
»Ihr geht in die Doméns von PAGAN?«, fragte Tigris mit glänzenden Augen. Tokio! Die Abtrünnigen... es klang nach Abenteuer pur.
»Erstens«, zischte Antigua wütend, »werdet ihr ganz bestimmt nichts von Tokio sehen außer irgendeiner schäbigen Abstellkammer, in der sie Tiere oder noch schlimmeres opfern. Und zweitens: Lux Livas und deine Mutter, Tigris, zerreißen uns alle in der Luft, wenn das herauskommt. Aber anscheinend möchtest du gerne noch einmal in einem Lieferwagen aufwachen, der dich nach Excelsior bringt.«
»Wir gehen doch nicht alleine. Wir werden ein ganzer Pulk sein, der diese ›DiSMaster‹ ein wenig aufmischt.« Bat Furan sah Tigris eindringlich an.
»DiSMaster. Also AethronMaster. Was für ein idiotischer Name«, sagte Tigris grinsend. »Schon alleine dafür verdienen sie einen Denkzettel. Wenn sich hier jemand AethronMaster nennen darf, dann doch wohl unsere Sippe!«
»Genau meine Rede. Du kommst also mit?«
»Klar. Das lasse ich mir doch nicht entgehen«, rief Tigris lachend und rauschte schon an Antigua vorbei, die ihnen mit vor Verblüffung offen stehenden Mund nachsah, während Ilvyn die Achseln zuckte und zu Tigris aufschloss.
»Ich gehe mit euch, aber nur bis zur Europäischen Node. Die Plantinskys in Prag haben eine riesige Bibliothek, darunter viele alte Bücher über Engel.« Sie warf Tigris einen verschwörerischen bedeutungsvollen Blick zu. Seitdem diese sie vertraulich gebeten hatte, etwas über einen Engel namens Barujadiel herauszufinden, hatte sie mit Begeisterung ihre ganzen Bücher und die spärliche Bibliothek in der Burg durchforstet, aber noch nichts entdecken können. Doch die vollen Regale in Prag boten vielleicht ergiebigere Quellen.
Energisches Absatzgeklapper tönte hinter ihnen her. Dann war Antigua auch schon wieder an ihrer Seite.
»Na gut!«, schnaubte die Ruferin aufgebracht. »Ich komme mit. Wenigstens ein Mensch mit klarem Verstand sollte dabei sein und auf euch aufpassen.«
»Gute Idee! Aber wer wäre denn intelligent genug dafür?« Bat Furan dachte übertrieben angestrengt nach.
Und so kam es, dass sich alle bis auf Ilvyn unspektakuläre Jeans, Sweatshirts und Jacken anzogen und schließlich fünf Minuten vor vier wieder oben in den Windungen der Europäischen Node standen, wo immer noch Scharen von Xendii ein- und ausgingen. Vor dem Tor zu den Mont Tonc nach Paris hatten sich bereits schon fünfzehn Jugendliche aus Finnland, der Schweiz, Belgien und Norwegen versammelt und tuschelten aufgeregt miteinander. Die vier jungen Windwibbs stießen dazu und gingen mit ihnen gemeinsam hinüber.
Sie landeten in einem prachtvollen Altbau mitten im Zentrum der Seine-Metropole. Anscheinend gehörte auch Mont Tonc zu denen, die hohes Ansehen bei De Navarris genossen, jedenfalls waren die Zimmer der Sippe geschmackvoll und modern eingerichtet. Klaviermusik und Gelächter hallten durch das geräumige, schöne Treppenhaus, durch das die Abenteurer-Truppe aus dem vierten Stockwerk voller Toller hinab stieg, um ins Erdgeschoss zu gelangen. Dort führte die geölte Birnbaum-Tür hinaus ins taghelle Paris.
Und dort stand auch schon ein junger Mann aus der Sippe Mont Tonc herum.
»Das ist aber nicht Markhab«, hörte Tigris Taygete wispern.
»Nein, aber sein Bruder Al Giédi«, flüsterte ein anderer aus der finnischen Sippe, was Taygete anscheinend beruhigte.
»Frohes Equinox Veris. Wir wollten uns nur mal ein bisschen Paris ansehen. Und Spaß haben.« Garbin lächelte verschwörerisch.
Al Giédi, dem die hellbraunen, glatten Haare bis über die Augen fielen, lehnte neben der Tür und wandte seinen Kopf. Blaugrüne Augen blitzten zwischen den Strähnen hervor. War er amüsiert? Oder misstrauisch?
»Naturellement. Ihr wollt Spaß, ihr bekommt Spaß. Isch kenne da eine nette kleine Disco.« Er stieß sich von der Wand ab und öffnete die Haustür, um nacheinander die Abenteuerhungrigen ins Freie zu entlassen.
Als Tigris als Letzte an ihm vorbeiging, riss er die Augen auf und hielt sie am Arm fest.
»Wer... wer bist du? Du ge’örst doch nischt zur Allianz!«, entfuhr es ihm.
»Zu wem denn sonst? Zur B.A.D Company?«, fauchte Tigris leise und riss sich los. »Ich gehöre zu den Windwibbs! Der besten Sippe der Welt!« Sie funkelte Al Giédi böse an, dann beeilte sie sich, zu Antigua und den andern zu kommen, die sich auf dem Bürgersteig versammelt hatten und sich erwartungsvoll und glänzend gelaunt umsahen.
»Tut mir leid... isch abe disch wohl vertauscht. Quel hasard...« Al Giédi warf ihr noch kopfschüttelnd einen letzten Blick zu und setzte sich dann an die Spitze der Truppe, die leise diskutierend mitten auf der Rue de Turenne stand, wo eine lange Reihe Altbauten aus dem 17. Jahrhundert die Straße säumten, Autos an ihnen entlangfuhren und Menschen achtlos an ihnen vorbeigingen. Tigris konnte die Normalität dieses Augenblicks kaum fassen. ›Es könnte ebenso irgendwo in Düsseldorf sein‹, schoss es ihr durch den Kopf. Und all die Menschen ringsum wussten nichts, aber auch gar nichts von dem, was hinter den Fassaden einiger Häuser ablief. Ahnten nichts von den Fehden der Allianz und der Abtrünnigen, von überirdischen Wesenheiten. Wussten nichts von illegalen Toren mitten in ihrer Stadt, durch die man mit einem Schritt ganz woanders war, vielleicht sogar tausende Kilometer entfernt!
Al Giédi führte sie zur nächstgelegen U-Bahn-Station und fuhr mit ihnen in den Osten der Stadt, dirigierte sie an belebten Straßenzügen voller Geschäfte vorbei in einen unscheinbaren Durchgang zu einem Innenhof.
»Oh, ich sehe etwas, neben dem Fenster da oben«, wisperte Taygete aufgeregt und alle wandten die Köpfe empor zu den heruntergekommenen, sechsstöckigen Häusern um sie herum. Doch die Aethron-Spuren waren so fein, dass nur die Seher unter ihnen sie ausmachen konnten. »37 52 / 145  07? Ist das eine Telefonnummer?«, wunderte sich ein norwegischer Seher.
»Nein, natürlisch nischt. Das sind Koordinaten. Wenn wir das Tor in diesem Aus dur’schreiten, befinden wir uns nischt mehr auf Alliance-Gebiet.«
»Dann mal los. Da hinten sehe ich die Tür hierher in den Hof.« Taygete winkte sie hinter sich her.
»Na, toll«, knurrte Antigua und warf noch einen schnellen Blick nach oben. »Wir haben schon Zuschauer.« Tatsächlich lugten an mindestens drei Fenster Köpfe hinter halb zurückgezogenen Gardinen hervor. Eine dicke Frau machte sogar das Fenster auf und sah misstrauisch aus dem dritten Stock zu ihnen herunter.
Sie verschwanden schnell in einem düsteren, säuerlich nach altem Kohl riechenden Treppenhaus.
»Da hinunter, ich sehe einen Stern aus Aethron«, raunte Taygete und ging die ächzende Treppe hinunter in einen muffig riechenden Keller voller Sperrmüll, Fahrräder und ausgeweideten Kleidersäcken.
»Woher weißt du eigentlich von diesem Tor?«, fragte Tigris misstrauisch. Al Giédi sah sie unverhohlen belustigt an. »Tja, isch streife gern durch Paris. Man lernt die merkwürdigsten Leute kennen, sieht mal ier etwas,  mal da...«
Hinter einem alten, halbzertrümmerten Schrank endlich fanden sie das Tor, perfekt getarnt durch den Schatten des alten Möbel. Sie rückten es mit vereinten Kräften fort und betrachteten schließlich fasziniert die klaffende Schwärze vor ihnen.
»Er soll vorgehen«, sagte Antigua, die Al Giédi anscheinend auch nicht über den Weg traute. Doch dieser warf ihnen nur wieder ein amüsiert-spöttisches Lächeln zu - und verschwand ohne zu zögern in die Finsternis.
Das Dunkel nahm kein Ende, selbst als sie nach dem kurzen Moment der Schwerelosigkeit wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Glücklicherweise hatte Ras Algheti eine Taschenlampe eingepackt, deren Licht gleich darauf Regale voller Knabbereien und Mixed Pickles sowie Unmengen von Bierkästen erhellte. Schwach drangen Männerstimmen und Gelächter zu ihnen.
Al Giédi schien nicht das erste Mal an diesem Ort gewesen zu sein. Zielsicher brachte er sie aus der Vorratskammer und ließ sie nacheinander durch die Tür gegenüber huschen, anscheinend wieder einem Keller, den ausrangierten Sachen nach zu urteilen.
Die nächste Passage brachte sie jedoch überraschenderweise in ein gut beleuchtetes Parkdeck.
»Wo sind wir hier?«, wisperten einige aus der Gruppe neugierig.
»Direkt unter einem O’aus in Melbourne, das PAGAN ge’ört. Ier gibt es jede Menge Tore, in fast jede Großstadt ihres Gebietes. Tokio ist im zwölften Stock.«
Der junge Mont Tonc ging seelenruhig zu den Aufzügen, die sich hinter einer Eisentüre befanden.
»Und die sagen nichts, wenn wir so einfach ihre Tore benutzen?«, wunderte sich Tigris.
»PAGAN ist nischt die Allianz, ma chère. Schon gar nischt an Equinox Veris.«
Und wahrhaftig! Obwohl es fast halb drei Uhr morgens war, wunderte sich niemand über den Pulk Jugendlicher, der im zwölften Stock ausstieg. Es kamen ihnen zwar nicht Massen an Leuten in den Korridoren entgegen, aber für die Uhrzeit war es noch recht belebt. Durch die Fenster sah man die Lichter Melbournes, das ruhig und friedlich auf den in wenigen Stunden heranbrechenden Morgen wartete. Alles wirkte wie in einem Bürokomplex, niemand wäre jemals darauf gekommen, dass hier Xendii ein- und ausgingen. Die Tore in verschiedene Städte des pazifischen Raums befanden sich in einem marmorverkleideten runden Forum, das mit seinen hellen Sitzlandschaften und Pflanzen für Neutrale wie ein edel gestalteter, riesiger Warte- und Aufenthaltsraum aussah. Glastüren aus verschiedenen Korridoren mündeten dort, regelmäßigen getrennt durch die hellen Marmorzwischenwände.
›PAZIFIC BRANCHES OF TYDELL INC.‹ stand auf einer großen Chromtafel hoch über dem Saal, von ihr gingen in den Marmor gravierte Strahlen ab und endeten jeweils bei einem der Chromschilder, die zwischen den Glastüren in den Wänden eingelassen worden waren.
Manila, Jakarta, Auckland, Taipeh, Sapporo, Tokio...
Außer Xendii konnte kein anderer Mensch den rechteckigen, mannshohen Türausschnitt unter ihnen sehen. In ihm waberte und flirrte es - ähnlich wie bei dem Durchgang in das Palais der De Navarris.
»Hat PAGAN keine Angst, dass ein Neutraler mal aus Versehen da durchgeht?«, fragte sich Tigris laut, woraufhin ein junges, asiatisches Mädchen, das auf dem Weg nach Jakarta an ihnen vorbeiging, lachend antwortete: »In die Deckenbeleuchtung sind Kristalle eingebaut. Vor ihrer Nase könnten zehn Leute auf einmal durch die Tore marschieren und sie würden denken, sie gingen durch die Glastür daneben. Sie sehen die Tore noch nicht einmal. Sie weigern sich sowieso, etwas zu sehen, das von ihrer Realität abweicht. Die Kristalle sind dabei behilflich, sie in diesem Glauben zu bestärken.«
»Das gäbe ja auch ein viel zu großes Gedränge hier«, sagte Ras Algheti, der sich mit wachsender Begeisterung umsah. »Stell dir mal vor, jeder wollte per Tor nach Tokio... dieses Hochhaus würde zusammenbrechen.«
Sie waren also auf feindlichem Gebiet.
Ein wenig mehr Action hatten die meisten wohl schon erwartet, etwa hereinstürzende Offiziere, die sich auf sie werfen und verhaften würden oder zumindest Agenten, die sie in sicherem Abstand observierten oder verfolgten. Stattdessen - nichts. Keine fragenden Gesichter, keine erhobenen Brauen, keine Ausweiskontrollen... nichts.
Willkommen bei PAGAN - Macht was ihr wollt.
Der angriffslustige Schwung der Schar verpuffte zu unsicherem Geflüster und unschlüssigem Herumstehen vor dem Tor nach Tokio.
»Was ist?« Al Giédi musterte sie sichtlich belustigt, die Hände tief in seiner Jeansjacke vergraben.
»Ein Schritt und ihr seid fast am Ziel. Das ›Furasshu‹ ist in Roppongi, dem Vergnügungsviertel Tokios. Auf der anderen Seite dieser Passage ist ein O’aus in Tokio. Dort sind Tore in fast jeden Stadtteil, auch nach Roppongi.«
»Du kennst dich für meine Begriffe viel zu gut auf PAGAN-Gebiet aus. Gehörst du zu ihnen?«, fragte Antigua unverblümt.
Al Giédi starrte sie finster an. »Und was ist mit dir? Die Allianz at es nisch gerne, wenn ihre Mitglieder auf feindlischem Territorium spazieren ge’en. Ihr ängt genauso tief in der Kacke.«
»Ach, wir halten natürlich alle dicht!«, rief Bat Furan energisch, bevor Antigua noch tiefer bohren konnte. »Was ist los mit euch? Kommt schon. Sonst sind unsere lieben DiSMaster schon abgehauen, bevor wir auch nur nett winken können. In Japan ist es bestimmt auch fast Morgens.«
Al Giédi sah sie plötzlich mit großen Augen an. »Die DiSMaster sind im  Furasshu?«
»Ja, das hat uns doch dein Bruder Markhab selber erzählt«, antwortete Taygete mit erhobener Braue.
Al Giédi schien zutiefst erschrocken aus. »Dieser kleine, verdammte... Wenn ihr feiern und tanzen wollt - okay. Alles andere ist Selbstmord.« Er sah sie der Reihe nach ernst an.
Doch anscheinend gab diese Warnung der Truppe wieder die Kampfeslust zurück, die Al Giédi spöttisch anschauten.
»Sicher. Die Typen sind meist nicht älter als wir, höchstens um die zwanzig - aber sie sind ja soo gefährlich.« Bat Furan griff sich gespielt entsetzt ans Herz.
»Ein Bekannter von mir hat mit seiner Truppe schon einige Abtrünnigen-Feten aufgemischt«, sagte auch ein junger Belgier stolz. »Die waren ziemlich perplex und haben es nicht einmal auf die Reihe bekommen, sie zu verfolgen.«
»Ich habe auch gehört, dass sie gerne kiffen und dann gar nichts mehr geregelt kriegen«, stimmte Taygete zu.
»Aber die DiSMaster kriegen selbst dann alles geregelt. Sie sind eine Art Elite-Gruppe inner'alb PAGANs, die sogar PAGAN Ärger ma’t. Kein Wunder, denn Aévon Zimberdale trainiert sie.« Al Giédis Blick ging zu Tigris, als er diesen Namen nannte. Er musterte sie kurz und senkte dann nachdenklich den Kopf.
»Eine Elite-Tunten-Truppe, also«, rief Bat Furan und alle stimmten in sein Gelächter ein.
»Oh Gott, ich habe schon Angst vor den rosa Wattebällchen, die sie auf uns schießen werden.«
»Ich sterbe bestimmt vor Entsetzten, wenn sie mit ihren Glitzerklamotten herumspringen!«
»Wehe, einer von denen geht mir an die Wäsche. Dann schieß ich ihm einen Strahl direkt ins seinen Arsch.«
Wieder gutgelaunt und entschlossener als zuvor gingen die ersten nach Tokio hinüber.
»Mon Dieu, was für Idioten...«, murmelte Al Giédi und schloss genervt die Augen.
»Ach komm, so schlimm wird es schon nicht werden. Sie werden uns doch nicht umbringen, oder?« Tigris sah den jungen Mont Tonc etwas unsicher geworden an.
»Die DiSMaster würden niemanden etwas ohne Grund tun. Eure Freunde brauchen nischt um ihr Leben zu fürschten, das sischer nischt.«
»Na also.«
»Aber sie haben einen eigenartigen Umor. Sehr eigenartisch. Vor allem Aévon Zimberdale.«

.

Die Stimmung im ›Furasshu‹ hatte für gewisse Leute schon lange ihren Höhepunkt überschritten. Auf der Tanzfläche zumindest drängelten sich noch die Leute, überwiegend Neutrale, und tanzten zu einem treibenden Techno-Beat. Über ihren Köpfen schwebte außer Zigarettenqualm ein feines Gespinst aus DiS, das dafür sorgte, dass sie ungewöhnliche Aktivitäten um sie herum einfach ignorierten.
Aévon lag mit Rosanjin im Arm auf einer der knallbunten Sitzlandschaften, die sich auf Erhöhungen rings um die übervolle Tanzfläche befanden.
»Noch Champagner gefällig?« Er sah in die Runde der ermatteten, leicht gelangweilten jungen Männer und Frauen, von denen einige zustimmend nickten.
Also lehnte er sich ein wenig zur Seite, bis er die Bar im Blickfeld hatte, streckte den Arm aus und ließ einen grünen Strahl über die Köpfe der Tanzwütigen hinwegschießen, der sich um eine Flasche Crystal in den beleuchteten Regalen hinter der Bar schlang und samt seiner Beute zu dem Seher-Wandler zurückschnellte.
»Spiderman ist’n Scheiß gegen dich, Aév«, kicherte Volta, ein bulliger Schwarzafrikaner mit stahlblauen Augen.
»Wie weit bist du eigentlich mit deiner good domina, Volta? Komm, lass mal sehen und hol uns den Chivas Régal da ganz oben, sonst fliegst du sofort hochkant aus unserem Häkelclub«, erwiderte Aévon gespielt streng.
»Sonst noch was? Soll ich diesen Kerl da hinten auch noch gleich an Land ziehen, der Ro so fasziniert anglotzt?«
Rosanjin, an Aévons Brust geschmiegt, zog missbilligend die Brauen zusammen. »Er ist überhaupt nicht unser Typ.«
»Da haben wir recht.« Aévon drückte seinem Freund ein Küsschen aufs Haar.
»Was macht denn Didy schon wieder für einen Scheiß?«, bemerkte Shirooka, ein junges Mädchen mit ketchuproten kurzen Haaren spöttisch, woraufhin alle lustlos hinunter auf die Tanzfläche sahen, wo ein drahtiger Orientale in atemberaubenden Saltos und Spiralen umherwirbelte, vor einer Japanerin im kurzen Kimonokleid lächelnd stehen blieb und aus dem Nichts nacheinander einen Blumenstrauß, einen Oscar und sprühende Wunderkerzen für sie hervorzauberte, was die Umstehenden mit begeisterten Applaus honorierten.
»Irgendwie hat er seine Berufung verfehlt, wo er doch so gerne den Copperfield fürs Volk gibt.« Aévon verdrehte die Augen.
»Wo ist eigentlich Celestine abgeblieben?«, fragte Cres, ein siebzehnjähriger Brasilianer mit kahlgeschorenem Kopf und einem chinesischen Tatoo im Nacken.
»Sie hängt seit zwei Stunden drüben an der Bar und intoniert den Barkeeper ein bisschen«, antwortete Rosanjin und gähnte.
»Wer wettet mit mir, dass Cely den Typen nach Shangri-La abschleppt?«, fragte Rahel, eine israelische Wandlerin mit Verstärktem Xendium.
Plötzlich knackte ein Mikrofon, während die Musik schlagartig endete.
»ROSENSTERN-ALLIANZ FOREVER!« dröhnte es durch die Disko und alle Neutralen sahen sich verwirrt um.
»Scheiße, nein!«, lachte Volta und suchte mit raschen Blicken die Menge nach verdächtigen Subjekten ab.
»Wundervoll! Der Herr hat meine Gebete nach Zerstreuung erhört!«, rief auch Aévon hochgradig entzückt. »Ah ja. Dort drüben... und da... ein Rufer, vier Seher, hmm... vierzehn Wandler, oder dreizehn und irgendetwas Undefinierbares. Hababai! Du sicherst das Tor, ein paar andere kümmern sich um die restlichen Ausgänge. Los! Das wird ein Spaß!«
Augenblicklich war Leben in die noch eben nur herumgammelnden DiSMaster gekommen.
Aévon und Rosanjin fuhren in erwartungsvoller Vorfreude aus den Sitzen und stoben wie die anderen auseinander, um in die riesige Menge der Neutralen auf der Tanzfläche einzutauchen.
»Was machen wir, wenn wir einen erwischt haben?«, fragte die rothaarige Shirooka, als sie bei ihrer Tour durch die Menge auf Rosanjin traf.
»Wie damals in New York: Hängen wir sie an den Beinen kopfüber an die Decke! Das entspannt die Nackenmuskeln.«
Volta und Naiad, eine junge Philipina, sprangen über sämtliche Sitzgelegenheiten hinweg direkt zur Vordertür und ›überredeten‹ die beiden Türsteher, ab sofort niemanden mehr herein- oder hinaus zu lassen. Währenddessen hatte sich Hababai, der zweite Afrikaner bei den DiSMaster, vor dem Xendi-Eingang zur Disko postiert, der in dem spärlich beleuchteten Korridor in der Nähe der Toiletten lag.
»Verdammt«, knurrte Bat Furan, der mit Tigris an der Hand nach Garbins klarer Ansage sogleich wie ein geölter Blitz zurück zur Passage gerannt war, jedoch im letzten Moment mit ihr hinter einen Zigarettenautomaten flüchten musste.
Ein durchdringendes Pfeifen ließ sie, aber auch den schwarzen Hünen vor dem rettenden Ausgang, überrascht zusammenfahren.
»Hallo und Guten Abend, liebe Gäste von der Schmusegern-Allianz«, erklärte eine Stimme durchs Mikrofon betont freundlich. »Herzlich willkommen in unserem kleinen Partykeller. Die Getränke sind übrigens sponsered by The DiSMasters, dem beliebten Sportverein on Ectasy mit Xendium. Bedient euch ruhig. Wir empfehlen Whisky on the DiS. Es unterhält euch an diesem Abend...« Erste Klänge eines groovigen Rap-Songs ertönen. »DJ Zimberdale, ein kleiner, jähzorniger Sadist, der für jeden hübschen Hintern ein gutes Wort und mehr übrig hat.« Das dreckige Lachen ging zu Bat Furans Erleichterung in der lauter werdenden Musik unter. Aévon Zimberdale persönlich! Der beste Wandler Windwibbenburgs biss vor Verachtung und Entschlossenheit zugleich die Zähne aufeinander.
»Ich greife ihn an und lenke ihn ab, und du rennst durch das Tor!«, flüsterte er Tigris zu. Mit einem heldenhaften Satz sprang er hinter dem Zigarettenautomaten hervor und feuerte ohne Pause tiefgrüne Kugeln auf den schwarzen Hünen. Doch sie trafen ihn nicht, denn er hatte sich schon längst in ein blaues, schützendes Netz gehüllt.
»Ihr spinnt wohl. Immer müsst ihr von der Allianz so übertreiben...«, brummte er ärgerlich und nutzte den Moment aus in dem Bat Furan fluchend innehielt, weil schon wieder Blut aus seiner Nase tropfte. Hababai hob seinen Schutz auf und warf eine Sphäre nach ihm, in der es merkwürdig durcheinander wimmelte. Als sie auf den jungen Windwibb traf, schleuderte sie ihn mehrere Meter fort und platzte dann - Tigris kniff schockiert die Augen zusammen.
»Was... was ist das denn? Igitt...«, hörte sie Bat Furan angewidert keuchen und öffnete die Augen wieder, erleichtert, dass er noch lebte. Dafür war er jedoch von oben bis unten mit braungrünem, nach altem Käse stinkenden Schleim besudelt.
»Das war doch nur ein easy turkey crush, Kleiner. Kennst du denn die ›Ghostbusters‹ nicht? Wir spielen jetzt sowas ähnliches, nämlich ›Allianzbusters‹.«
Tigris, wütend auf diese arrogante Antwort, sprang hervor und feuerte wild los.
Und zwar Unmengen an wilden kleinen Federblumen in heiteren Mintfarben.
»Wie gemein!«, lachte Hababai und beantwortete die Attacke mit einer weiteren Sphäre, die über Tigris einen Schwall Wasser entlud.
»Los, wir müssen die anderen finden! Alleine haben wir keine Chance gegen ihn«, sagte Bat Furan, immer noch ziemlich verschleimt und undezent parfümiert und rannte mit der triefendnassen, wutsprühenden Tigris wieder zurück in die Disco.
Ras Algheti und Antigua hingegen hatten sich hinter einer Sitzgruppe verschanzt und beobachteten fassungslos das wüste Treiben auf der Tanzfläche.
Während sämtliche Neutrale begonnen hatten, ausgelassen umher zu springen und wahre Volkstänze aufführten, flitzten sowohl Mitglieder der Allianz-Schar als auch der DiSMaster zwischen ihnen umher und beschossen sich. Doch während erstere das ganze anscheinend als Duell auf Leben und Tod auffassten und Strahlen und Schüsse der gefährlichen Sorte abgaben, begnügten sich die Abtrünnigen-Truppe damit, ihnen Sphären um die Ohren zu schleudern, die beim Auftreffen auf den Körper hübsche, neonbunte Farbflecke auf der Kleidung hinterließen; oder aber auch Strahlen, die kurze Kommentare auf ihre Rücken oder Bäuche schrieben: ›Gotcha, ha!‹ ›Gehört Tayfur‹ ›Greetz, Didymos‹ ›Sale! $ 3,99‹.
»Wenn unsere Leute so weiter machen, werden die Typen noch richtig sauer«, stieß Ras Algheti gedämpft hervor. »Mann, guck dir das an: Wie schnell die DiSMaster reagieren - bevor die Schüsse auftreffen, sind sie schon geschützt. Oh nein, der Belgier!«
Turin, der besagte Wandler der Allianz, hatte schlecht gezielt und die Lichtsäule in der Mitte der Tanzfläche getroffen, woraufhin sämtliche bunt blinkenden Lichter explodierten und in Sekundenschnelle ihren Geist aufgaben, bejubelt von der tanzwütigen Masse der Neutralen. Und er war nicht der Einzige, der mit seinen Attacken ein wenig über das Ziel hinausschoss. Des weitern wurden neben zwei Boxen, einigen Discokugeln auch noch einige Sitzgruppen durch die scharfen Schüsse demoliert.
»Das war eine blöde Idee von euch!«, zischte Antigua, völlig aufgebracht. »Und diese DiSMaster-Typen spinnen auch! Mitten in einer Disco voller Neutrale ihr bescheuerten Spielchen mit uns abzuziehen!«
Als hätte jemand von den DiSMaster das gehört, wurde die Musik leise und eine Mädchenstimme brüllte wütend durchs Mikrofon: »Hey, ihr Irren von der Allianz! Falls ihr es noch nicht gemerkt habt: Hier laufen Neutrale durch die Gegend. Also hört gefälligst auf, scharf zu schießen. Wir sind noch nicht im Krieg.« Und eine wohlbekannte Stimme ergänzte: »Danke, Rahel, du sprichst uns allen aus der Seele. Aber sei doch nicht so hart zu der Schmusegern-Allianz. Sie wollen nichts weiter als Aufmerksamkeit und Liebe. Und eine kleine Abkühlung!«
Celestine Saint-Thalisse, immer noch heftigst mit dem nur an ihr interessierten Barkeeper flirtend, beobachtete amüsiert, wie Aévon sich nach seinen Worten an einem DiS-Strahl wie Tarzan an den Regalen vorbeischwang und dabei einen grünen Nebel versprühte.
Sämtlich Flaschen in den Regalen hinter der Bar begannen daraufhin zu zittern und schlitterten dabei langsam zu den Kanten. Dann schossen sie auch schon in sicherer Höhe von ihren Plätzen in Richtung Tanzfläche, ein Kampfgeschwader von Tequila, Batida de Coco, Blue Curacao, Amaretto und anderen schmackhaften Spirituosen.
»Die Alko’ol fliegt aber eute sehr tief, nischt wahr?«, sagte Celestine und beugte sich wieder dem hübschen Japaner hinter der Bar entgegen.
»Hai, es ist Frühling, sie kommen wieder zurück und nisten«, antwortete dieser glücklich lächelnd und immer noch in romantischer Stimmung, da er sich mit Celestine auf einer grünen Wiese im Sonnenschein wähnte, während gerade ein Schwarm Vögel über den blauen Himmel hinwegzog.
Die Unmengen an Flaschen verharrten noch einen Moment über den Köpfen der Tanz- und Schießwütigen, bevor sie mit ohrenbetäubenden Knall alle auf einmal barsten und ihren hochprozentigen Inhalt auf die größtenteils begeisterte Menge niederregnen ließ. Die Glasscherben hingegen rieselten als Papierkonfetti auf die Köpfe herunter.
»Die spinnen! Die sind total verrückt!«, keuchte Antigua fassungslos. »Los, wir sammeln jetzt die anderen ein und verschwinden endlich! Ich glaube es nicht!«
Doch gerade, als sie und Ras Algheti aus ihrem Versteck hervorkommen wollten, tauchte ein breit grinsendes Mädchengesicht mit knallroten Haaren über ihnen auf. »Hallo! Ist das nicht langweilig, die ganze Zeit hinter dem Sofa zu sitzen?«
Geistesgegenwärtig reagierte Ras Algheti und hüllte die Gegnerin in Nebel ein, der bewirkte, dass das Sofa zu einer roten, weichen, klebrigen Masse wurde, die das Mädchen gierig verschlang.
»Super! Du bist besser als ich dachte!«, lachte Antigua und klatschte bei Ras Algheti ab.
»Die ist erst einmal damit beschäftigt, sich aus dem Schlamassel zu manövrieren«, lachte der junge Wandler und schlich geduckt mit Antigua zur Tanzfläche. Inzwischen flippten dort die Leute vollkommen aus und hatten begonnen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und jeden anzufallen, der noch nicht entblättert war. Einige Allianz-Leute waren ihnen schon in die Hände gefallen und wehrten sich mit Händen, Füßen und Aethron gegen die Freikörper-Kultur-Aktion. Die Musik wurde immer schneller, die Lichtorgeln spielten vollkommen verrückt - und die DiSMaster lachten sich kaputt. Antigua und Ras Algheti sahen einige von ihnen hinter einer Gruppe Neutrale stehen, was die beiden Windwibbs nur noch wütender machte. Sie bahnten sich ihren Weg behutsam durch die völlig ausrastenden Partypeople, wobei Antigua reichlich Stromschläge an jede Hand austeilte, die ihr oder Ras Algheti zu nahe kamen.
»Da seid ihr ja!«, keuchte jemand neben ihnen. Bat Furan taumelte ihnen entgegen, nur noch in seine Boxershorts und Turnschuhe gekleidet, über und über mit Farbe bekleckert, an der noch einige äußerst flauschige mintfarbige Federn und buntes Konfetti klebten.
»Wo ist Tigris?«, zischte Antigua entsetzt.
»Zuletzt war sie - keine Ahnung. Mein Gott, sowas verrücktes wie diese DiSMaster habe ich noch nie erlebt.«
Die drei bemerkten nicht, wie sich ein grüner Strahl zwischen etlichen Beinen hindurch am Boden seinen Weg zu Bat Furan bahnte.
Erst als dieser fühlte, wie sich etwas um seine Knöchel schlang, sah er nach unten. Doch da war es auch schon zu spät. Mit einem machtvollen Schwung riss es ihn vor den Augen seiner beiden Freunde von den Füßen und in die Höhe. Er schrie entsetzt auf - und fand sich plötzlich mit dem Kopf nach unten hoch über der jubelnden Meng baumelnd: Der Strahl aus Aethron hatte seine Beine gefesselt, während sein anderes Ende um die Stahlverstrebungen an der Decke geknotet war, an denen sich die Scheinwerfer befanden.
Und er blieb nicht der einzige: nacheinander ereilte noch sechs weitere Jungs der Allianz-Truppe dieses Schicksal, darunter auch Garbin und Al Giédi.
Antigua hatte die Nase endgültig voll. Wütend drängelte sie sich durch die Menge zu einer Gruppe DiSMaster, die sich in der Kabine des Discjockeys versammelt hatten und sich königlich über die an der Decke zappelnden Jugendlichen amüsierten.
»Okay, ihr habt gewonnen!«, fuhr sie sie zornig an. »Ihr hattet euren Spaß, lasst sie wieder herunter und gebt das Tor frei.«
Aévon drehte sich langsam um, mit dem breitesten und dreckigsten Grinsen im Gesicht, das er parat hatte. Antigua fuhr schockiert zusammen und starrte ihn entgeistert an.
»Es geht doch nicht ums Gewinnen, Schätzchen. Dabei sein ist alles!« Aévon legte den Kopf schief und betrachtete das augenscheinlich vollkommen irritierte Mädchen. »Tja, ich weiß, ich bin genau dein Typ. Doch leider bin ich schon für immer und ewig vergeben.« Er umarmte Rosanjin und drückte ihn fest an sich.
»Das kann nur ein Zufall sein...«, murmelte Antigua. Diese Augen... die Nase... sogar der Mund. Und nicht zu vergessen, die Locken...
»Nein, das ist Wahre Liebe«, erwiderte Rosanjin amüsiert.
»Können wir jetzt wieder gehen? Wir haben keine Lust mehr«, sagte Antigua, die sich wieder einigermaßen gefasst hatte.
»Hm. Ich weiß nicht«, sagte Volta und schaute die anderen fragend an.
»Aber wieso denn? Wir hatten soviel Spaß miteinander...«, entgegnete Aévon gespielt traurig.
»Ihr müsst erst noch eine Runde mit uns trinken. Wir kennen unglaublich tolle Cocktails.«
»Oh ja, wirklich!« »Wirklich phänomenale Mixe. Die hauen jeden um, manchmal sogar uns selber.«
»Na, dann wollen wir erst einmal den Schinken abhängen«, sagte Aévon daraufhin und nahm Antigua zwischen sich und Rosanjin.
»Volta, Cres, Shirooka... wir brauchen eine etwas intimere Atmosphäre zum Abchillen.«
Obwohl sich Antigua gegen die Umarmungen von beiden Seiten sträubte, schoben Aévon und Rosanjin sie mit sich, während einige andere DiSMaster daran gingen, die Partylaune der Menge in augenblickliche Müdigkeit zu wandeln und sie zu veranlassen, langsam aber sicher die Disco zu räumen.
Während sich die Tanzfläche, die inzwischen voller Schaum, Konfetti und Alkoholpfützen war, zusehends lichtete, kam allmählich das ganze Ausmaß der Verwüstungen zum Vorschein. Es sah aus, als wäre ein Orkan durch das ›Furasshu‹ gefegt. Von den Sitzecken war vielfach nicht mehr übrig als umherliegende Teile, aus denen der Schaumstoff und die Federung quoll. Es gab nur noch vier Boxen, die nicht ramponiert waren. An der Bar steckten eine attraktive Frau und der Barkeeper die Köpfe zusammen und unterhielten sich angeregt, während die Regale hinter ihnen vollkommen leergeräumt waren.
Aévon und ein paar andere beförderten derweil die gefesselten Jugendlichen wieder zu Boden. Mit wütenden, aber auch beschämten Blicken suchten diese nach ihren Kleidern und versammelten sich an der lädierten Lichtsäule. Sie waren alle über und über mit Farbklecksen und merkwürdigen Sprüchen verziert, manche Hosen und Sweatshirts wiesen Löcher und Risse auf.
Einige waren so wütend über die schmähliche Niederlage, dass schon wieder im Flüsterton Rachepläne unter den Gedemütigten kursierten.
»Wo verdammt noch einmal ist Tigris?«, rief Bat Furan entsetzt auf, als er nirgendwo einen Lockenschopf unter seinen Leuten ausmachen konnte. Sein Blick ging zu der Truppe DiSMaster in einigen Metern Entfernung - dann klappte auch ihm der Unterkiefer herunter.
»Das gibt es doch nicht!«, entfuhr es ihm.
»Ich hab auch nicht schlecht gestaunt, als ich diesen Aévon Zimberdale zum ersten Mal vor mir stehen gesehen habe. Merkwürdig, nicht?«, wisperte Antigua.
»Das muss ein Zufall sein«, meinte Ras Algheti und zuckte mit den Achseln. »Jeder auf der Welt hat seinen Doppelgänger, glaube ich.«
»Aber nicht jeder hat eine gedopte, schwule, aufgepumpte 2-Meter-Version von sich selber.«, knurrte Bat Furan, der Aévon Zimberdale nun erst recht aus tiefster Seele hasste.
»Egal, wir müssen Tigris suchen! Kommt...«, entschied die Ruferin und wies alle anderen aus der Allianz-Truppe an, hinter den Sesseln und Sofas und in den Vorratsräumen zu suchen, während sie mit Bat Furan zu den Toiletten ging.
Aber auch die DiSMaster vermissten ein Mitglied ihrer zwölfköpfigen Truppe.
»Shirooka, schau mal nach, was Hababai immer noch beim Tor macht.«, rief Aévon dem rothaarigen Mädchen zu. »Er sollte es nur mit einer Sperrintonation sichern und nicht treu wie ein Schäferhund davor stehen bleiben.«
Schon auf dem Weg zu dem Gang, in dem die Toiletten und auch das Xendi-Tor waren, klangen sowohl den Windwibbs als auch Shirooka Gelächter entgegen.
Und zwar jenes von Tigris als auch Tiefes, Dröhnendes.
»Das gibt es doch nicht!«, regte sich Bat Furan auf. »Während die Spinner uns wie die Hasen gejagt haben, spielt sie mit einem Spinner Federball!«
Tatsächlich warfen sich Tigris und Hababai gegenseitig glitzernde, flauschigweich aussehende Ping-Pongbälle zu, immer mehrere auf einmal, und eifrig darum bemüht, so viele ankommende Geschosse mit beiden Händen zurück zu dem Anderen zu schleudern.
»Ihr spinnt anscheinend genauso.«, meinte Shirooka pikiert. »Feuert scharfe Geschosse, während Neutrale um uns herumspringen. Wie blöd muss man sein?«
»Und wer feiert mitten unter Neutralen und erlaubt sich blöde Scherze mit ihnen?«, schnaubte Antigua.
»Oh hallo!«, Tigris wandte strahlend den Kopf. »Das ist Hababai. Er liebt Ping-Pong, genau wie ich!«
»Nein, wie rührend. Wieso adoptiert Windwibbenburg ihn dann nicht?«, grummelte Bat Furan.
»Ja, wieso eigentlich nicht, wo ihr absolut nach totaler Blamage ausseht«, meinte Tigris daraufhin, die außer durch Hababais Dusche und einem kleinen Farbklecks auf der Schulter vollkommen unversehrt war.
»Das stimmt«, sagte Hababai grinsend. »Sie sehen wie die meisten aus, die ahnungslos auf die DiSMaster treffen. Shirooka, findest du es nicht erstaunlich, wie ähnlich Tigris Aévon ist? Man könnte meinen, sie wären Zwillinge.«
»Unsere Sippe hat gar nichts mit den Zimberdales zu tun, das habe ich dir doch eben schon erklärt, Habbi.« Tigris runzelte die Stirn. Sie hatte Aévon zwar noch nicht richtig gesichtet, war aber überzeugt, dass der farbige Hüne entschieden übertrieb.
»Ist bestimmt nur ein Zufall. Tig. Ich wollte dich nicht beleidigen, 'tschuldige.«, meinte Hababai daraufhin treuherzig. »Ähm, wenn ihr wollt, könnt ihr gehen.« Er wies schüchtern lächelnd auf das schwarze Loch in der gekachelten Mauer hinter sich.
»Aber Aévon wollte noch ein bisschen mit unseren Gästen abchillen«, widersprach Shirooka, spöttisch grinsend gegen den Zigarettenautomaten gelehnt.
»Hm. Nein, das finde ich nicht in Ordnung. Sie sind noch viel zu jung für DiS-Cocktails. Schau sie dir doch mal an: Alles noch Kinder!«
Kinder! Beleidigt schauten die Windwibbs erst sich und dann die beiden DiSMaster an. Shirooka sah nach höchstens sechzehn aus und Hababai war zwar groß, aber sicher auch knapp erst volljährig.
»Warum nicht? Eine kleine Erfrischung haben wir alle sicher nötig«, befand Tigris schnippisch und machte den Anfang, wieder in den Saal zu gehen.
Die DiSMaster hatten inzwischen inmitten des Chaos und der Verwüstung eine Ruhe-Oase geschaffen. Die noch tauglichen Sofas und Sessel waren auf die Tanzfläche levitiert worden, wo die noch etwas verwirrten und misstrauischen Jugendlichen der Allianz Platz genommen hatten und die DiSMaster beobachteten, die aus dem Lagerräumen Gläser und Getränke herbeischafften.
Derweil waren Aévon und Rosanjin dabei, passende dezente Musik aufzulegen. Heitere Swing-Klänge dudelten gleich darauf durch das ›Furasshu‹.
Fast zeitgleich kamen der junge Zimberdale und Tigris bei der Chillout-Ecke an und wollten sich in die Sofas fallen lassen, als sie beide geradezu zu Salzsäuren erstarrten und sich perplex anstarrten.
Die Blicke der anderen gingen ebenso erstaunt zwischen den beiden hin und her.
Aévon gewann als erster seine gewohnt lässige Verfassung zurück.
»Bist du das Resultat eines unglaublichen Zufalls oder des internationalen unkontrollierten Samenaustosses meines geliebten Vaters?«, meinte er mit erhobener Braue und ließ sich in die Couch fallen, wo er augenblicklich Rosanjin zu sich zog und ihm einen Kuss gab, vor allem deswegen, weil prompt wie beabsichtigt entsetzte, erstaunte oder angewiderte Blicke seitens der Allianz folgten.
»Wohl kaum. Unsere Sippe hat nichts mit PAGAN zu tun.«, antwortete Tigris und setzte sich langsam hin, ohne Aévon aus den Augen zu lassen. Einige höchst unerfreuliche Gedanken schwirrten kreischend in ihrem Kopf umher, doch sie entschied sich, sie entschlossen zu ignorieren.
»Noch gehört Atlantika zu euch.«, sagte Aévon finster, der die merkwürdige Ähnlichkeit anscheinend überhaupt nicht witzig fand. »Und die Schwäche meines Vaters für kleine, dunkelhaarige Seherinnen ist in den Domén Arxes überaus bekannt. Ist deine Mutter Seherin?«
»Ja. Aber mein Vater hieß Orinoco Merskøg. Er starb vor ein paar Jahren.«, antwortete Tigris trotzig.
»Tja, also Gott sei Dank doch Zufall.« Aévon schnappte sich eine Flasche Rum, die ihm Shirooka zuwarf, öffnete sie und hielt dann die Hand über den Flaschenhals. Rosanjin hob die rechte Hand und hielt sie vor sich mit der Handfläche nach oben.
»Er zieht Aethron aus der Umgebung an.«, wisperte Al Giédi, der neben Bat Furan und Tigris saß. Die Allianz sah sich unbehaglich an.
Doch Rosanjin gab gleich darauf Aévon die andere Hand und übertrug ein blaues Licht an ihn, das wiederum aus dessen linker Handfläche in die Flasche strömte. Auf die gleiche Art behandelte er einige weitere Getränke, die dann unter den DiSMaster die Runde machten. 
Als Aévon sah, dass sich die Jugendlichen der Allianz zierten und die Getränke ablehnten, meinte er amüsiert. »Selber schuld. Ihr seht alle schon reichlich blass aus. Gleich werden die ersten wie die Weltmeister kotzen und vor Schmerzen jaulen. Das kennen wir von früher.«
»Aber mit einem kleinen Wodka lösen sich die Probleme, was?«, rief Garbin ärgerlich, dem der Schweiß bereits auf der Stirn stand, was die unausweichlichen Magenkrämpfe ankündigte.
»Meinetwegen können wir auch Orangensaft für euch mixen, oder Milch.«, entgegnete Volta und prostete ihnen zu.
»Jaja, Xendium«, seufzte Aévon, nachdem er sich eine Whisky-Cola auf Ex genehmigt hatte.
»Segen und Fluch. Aber vor allem - und das will die Allianz einfach nicht einsehen -« Er schaute spöttisch in die Runde. »Ist Xendium eine Sucht. Wenn nicht ständig Nachschub an DiS erfolgt - oder Aethron, wie es bei euch heisst - drohen eben höchst triviale Entzugserscheinungen. Mit ein wenig stark angereichertem DiS hingegen hat man bis zu vierundzwanzig Stunden Ruhe.«
Und während die ersten bereits fluchtartig aufsprangen und zur Toilette rannten, oder sich gleich über den Rücklehnen der Sofas übergaben, mixten sich die DiSMaster seelenruhig noch weitere Cocktails.
Ras Algheti sank ebenfalls immer tiefer in die Couch und hielt sich mit schmerzverzerrten Gesicht den Bauch.
»Das kann ich nicht mit ansehen!«, entschied Hababai, der ein weiches Herz besaß. Er zog den gepeinigten Wandler an sich und flösste ihm ein wenig von seinem Vodka Redbull ein. Ras Algheti riss keuchend die Augen auf, in der Erwartung, vergiftet worden zu sein - stattdessen ließ das Stechen und Ziehen in seinem Magen schlagartig nach. Verdattert lächelnd kam er wieder hoch. »Wahnsinn! Das Zeug ist spitze!«
Nachdem man ihn noch einige Sekunden misstrauisch beäugte und auf merkwürdige Veränderungen hin prüfte, hielt die Allianz-Truppe nichts mehr. Schnell machten stärkende Säfte, aber auch Alkoholisches die Runde und befreiten innerhalb weniger Augenblicke jeden von seinen Schmerzen.
Lediglich Tigris, die wie üblich nicht die geringsten Anzeichen von Übelkeit aufwies, und Antigua, die zwar leichte Kopfschmerzen hatte, aber entschlossen war, nicht Brüderschaft mit den Abtrünnigen zu trinken, beobachteten kopfschüttelnd das sich unweigerlich anbahnende Saufgelage. Die feindliche Stimmung seitens der Allianz-Jugendlichen schlug schnell in fröhliches Sprücheklopfen und spontane Tanzeinlagen um. Sogar Bat Furan flirtete unverhohlen mit Shirooka, die augenscheinlich von ihm mehr als angetan war und ihm unaufhörlich tief in die Augen sah.
»Soviel zum Thema ›Wir mischen die DiSMaster auf‹.«, knurrte Antigua später verächtlich, während die Stimmung immer ausgelassener wurde.
»Isch ab doch gesagt, sie tun eusch nischts.«, meinte Al Giédi, bereits sichtlich angeheitert.
»Gib endlich zu, dass du mit ihnen unter einer Decke steckst.«
»Ja, aber nur, wenn die beiden nischt unter der Gleischen stecken«. Er wies grinsend mit dem Kinn hinüber zu Aévon und Rosanjin, die sich angeregt mit Garbin unterhielten.
»Aha, wusste ich es doch. Und deine Sippe weiß nichts davon.«
»Tout Mont Tonc sympathiriert-, merde! Symastesiert... sympatidingsbüms mit PAGAN. Wir assen diesen Umbriel. Und unsere Wandler aben vor ein paar Wo’en ein Seminar von Aévon besu’t. Mein Bruder Markhab ist vollkommen begeistert von DiSMasters. Dieser böse kleine Schellem at mir nischt gesagt, dass sie ier sind, als er misch gebeten at, eusch ierer zu bringen.«
»Tja, jetzt wissen wir ja, wie es zu diesem Desaster vorhin kommen konnte.« Tigris kicherte und schnappte sich kurzentschlossen ein Glas Vodka Lemon, das sich Bat Furan eingegossen hatte, kurz bevor Shirooka ihn auf die Tanzfläche geschleift hatte.
»Livas reißt uns in Stücke, wenn unsere Alkoholfahnen ihn als erstes in Windwibbenburg begrüßen.«, seufzte die Ruferin - und genehmigte sich dann doch eine Cola mit ein wenig DiS-angereichertem Rum. Sehnsüchtig schaute sie hinüber zu Aévon, der genüsslich eine Zigarette nach der anderen qualmte und hin und wieder zu ihnen hinüber sah. Insgeheim beschäftigte ihn die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen Tigris und ihm immer noch stark. Als er Antiguas schmachtende Blicke auf seine Marlboros bemerkte, kam er zu ihnen herübergeschlendert und ließ sich zwischen den beiden Mädchen nieder, wo er Antigua sogleich eine Zigarette anbot.
»Du bist ziemlich merkwürdig, meine Liebe«, begann er dann, an Tigris gewandt.
»Bestimmt nicht merkwürdiger als ihr DiSMaster. Wie seid ihr bloß auf diesen beknackten Namen gekommen?«, erwiderte Tigris leicht lallend.
»Wir haben ihn zwar nicht erfunden, aber viele Daimons bekommen schon Herzattacken, wenn sie ihn nur hören. Es gibt eine interessante Game-Show in der Daimonsion, die PeppTV veranstaltet, der beliebteste Sender dort. Sie findet - natürlich illegal - überall im materiellen Universum statt. Und so auch auf Erden. Sie heißt ›DiSMaster Tournament‹. Dort kämpfen Daimons gegen Xendii. Xendii gibt es übrigens auf allen Planeten mit Leben, also vergesst diese Legende mit Erbsünde und dergleichen. Jedenfalls bekommt jeder Xendii, je nachdem, welche Runde er geschafft hat, einen DiSMaster-Titel. Die meisten unter uns haben einen. Und deswegen nennen wir uns DiSMaster. Weil die Daimons auf dieser Welt dann wissen, mit was für einem Schlag Xendii sie es zu tun haben. Wir reißen ihnen gehörig den Arsch auf, und das wissen sie.«
»Ich dachte, PAGAN mag Daimons und gibt ihnen auch noch Asyl.«, wunderte sich Tigris, die an Engelbert dachte.
»Jetzt nicht mehr. Wir schließen sämtliche Tore von der Daimonsion auf die Erde, die in unserem Gebiet liegen. Manche Daimons sind nämlich entschieden zu unverschämt geworden. Das können wir nicht durchgehen lassen. Aus welcher Sippe stammt ihr noch einmal?«
»Windwibbenburg in Deutschland. Und wir halten treu zur Allianz«, erklärte Antigua, die den DiSMaster überhaupt nicht über den Weg traute.
»Von mir aus. Hauptsache, ihr lasst auch keine Daimons mehr auf die Erde.«
»Dein Vater scheint ziemlich nett zu sein.«, meldete sich Tigris nach einem weiteren Cocktail zu Wort.
»Ach ja? Und zu wem genau? Zu deiner Mutter?« Aévon betrachtete Tigris’ Gesicht aufmerksam.
»Neiyen... zu mir. Er hat mich als kleines Baby gerettet. Irgendeine Herzkrankheit.«
»Das ist mir neu, dass er unter die Chirurgen gegangen ist. Aber ich werde ihm auf jeden Fall von unserer heutigen Begegnung erzählen. Mal schauen, was für Antworten dabei herausspringen.«
»Genau, und grüß ihn ganz herzlich von mir. Von Tigris Aurora Melisande Wind - hick- wibb.«
»Aber gerne.« Aévon grinste breit. »Auf die Reaktion bin ich schon gespannt. Besonders, wo ich doch auch Seher bin und Lügen auf hundert Meter durchschaue.«
»Dein Glück, dass du bei PAGAN gelandet bist«, sagte Antigua spöttisch. »In der Allianz hätten sie Leute wie dich gar nicht am Leben gelassen. Du bist eine Bedrohung für die Menschheit.«
»Ich fühle mich außerordentlich geschmeichelt, obwohl ich mich mehr als Bedrohung für jeden Daimon sehe.« Aévon lachte leise. »Ach, die gute alte Allianz. Wasser predigen und Wein saufen. Sie töten schon lange keine Doppel-Xendii mehr. Sie sagen das zwar. Aber in Wahrheit sind sie ganz scharf auf Leute wie mich. Sie entführen sie regelrecht aus ihren Wiegen und stecken sie in ihr Sonder-Ausbildungslager. Wie sollten sie sonst gegen uns vorgehen können?«
Antigua schluckte und sah Aévon ungläubig an, Tigris hingegen kicherte. »Ach, dann hatte Ilvyn vielleicht doch recht. Sie glaubt, dieser Thanatos hat Doppel-Xendium.«
»Tja, so langsam dämmert es den ersten Sippen, wohin die Reise geht. Und nicht alle sind gewillt, auf den Zug nach Nirgendwo aufzuspringen. Das sind die Schlaueren, die in unsere Doméns flüchten. Es werden immer mehr.«
»Quatsch!«, entschied Antigua böse. Sie glaubte Aévon Zimberdale nicht ein Wort. Was für ein erbärmlicher Versuch, sie und die anderen gegen die Allianz aufzuhetzen!
Aévon warf einen Blick auf seine Uhr. »Nanu, schon so früh: halb sieben Uhr morgens. Zeit, den Tag zu verschlafen. Was sagen eure Sippen denn, wenn ihr so spät und reichlich beschwippst durch die heimischen Tore torkelt? Es ist in Deutschland etwa... halb elf abends.«
»Ja, genau. Es reicht. Wir hatten genug Party«, meinte Antigua und nahm Tigris ein Glas puren Whiskey weg, den diese in einem Wetttrinken mit Al Giédi auf Ex leeren wollte.
»Shirooka, begleitest du die Herrschaften noch ein Stück bis zu irgendeiner Node?«, rief Aévon und erntete böse Blicke von der rothaarigen Wandlerin der DiSMaster, weil er sie beim Knutschen mit Bat Furan gestört hatte. Schließlich erhoben sich die beiden frischgebackenen Turteltäubchen widerwillig und sammelten die restlichen Jugendlichen der Allianz ein.
»Ähm, Aévon?«, fragte Hababai laut und besah sich schuldbewusst das Chaos ringsum. »Wer war es diesmal?«
»Hm.«, Aévon kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Wen hatten wir denn noch nicht... Greenpeace... Die Lutheranische Neue Kirche... die Anonymen Alkoholiker... ah, ich hab’s. Wir hatten den YMCA noch nicht. Wir schreiben YMCA auf die Wände und irgendwelche frommen Sprüche, von wegen ›Gott wird euch für eure Laster strafen‹ und all das übliche.« Er sprang lachend auf und schritt mit Volta und einigen anderen sogleich zur Tat.
»Die spinnen wirklich und absolut!«, murmelte Antigua fassungslos. Anderen einfach die Schuld für die Verwüstungen in die Schuhe zu schieben!
Umso erleichterter war sie, als sich ihre Truppe endlich in Richtung des Tores in Bewegung setzte. Die meisten waren sturzbetrunken und sahen wie durch den Mixer und mehrere Farbeimer gezogen aus. Aber immerhin waren sie glänzend gelaunt, als sie nach einer Viertelstunde wieder in den Vorratskeller unter einer australischen Kneipe traten. Bat Furan trennte sich erst nach einem langen Kuss von Shirooka, den die anderen johlend quittierten und dadurch den Wirt aufweckten, den sie fluchend die Treppe herunterstampfen hörten.
Verständlicherweise fand er keine Spur von irgendwelchen Eindringlingen, denn diese waren schon längst wieder in Paris, um eine U-Bahn zu den Mont Toncs und von da aus ein Tor nach Barcelona zu nehmen. Dort trennten sich die Wege der Schar und alle verschwanden schleunigst aus der Europäischen Node, wo immer noch etliche Xendii ein- und ausgingen und ihnen mit großen Augen nachsahen.
 

© I.S. Alaxa
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Und schon geht's weiter zum 11. Kapitel (bzw. zum 4. Kapitel des 2. Teils)...

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