Normalerweise war frühes Aufstehen bei den meisten jungen Windwibbs
sehr verhasst, aber leider unumgänglich.
Doch am Morgen von Equinox Veris konnte jeder anscheinend gar nicht
zeitig genug wach sein. Schon lange vor dem Morgenappell um 7:30 Uhr huschten
die Windwibbs von Rosenhag 3
aufgeregt zwischen den Bädern und ihren Zimmern hin und her.
Die einen mussten noch ihre Haare fönen oder eindrehen, den anderen
gefiel das am Vortag noch ausgewählte Outfit nun doch nicht, die Mädchen
schminkten sich gegenseitig, die Jungs probierten mit Gel verschiedene
und hoffentlich cool genug wirkende Stylings. Selbst Antigua wurde so kurz
vor dem Ende des Countdown munter und nervös, weswegen sie fluchend
dreimal hintereinander verschiedene Frisuren verwarf.
Ganz Windwibbenburg machte sich ausgehfein.
Außer Tigris.
»Tigris! Du Eule, steh endlich auf! Du hast nur noch eine
Stunde, bis wir zur Messe hochgehen. Halloooo!«
Antigua rüttelte die Schläferin unsanft in ihrem Bett
durch, wodurch Tigris zwar maulte und irgendetwas in sich hineinnuschelte,
sich aber gleichzeitig entschlossen auf den Bauch warf und die Decke fest
über den Kopf zog.
»Du hast es nicht anders gewollt...«
Die Ruferin streckte die Hand in Richtung der nächsten Steckdose
aus, lockte einen dünnen, kurzen Blitz daraus hervor - und legte der
Schlafmütze die Hand auf den Allerwertesten unter der Daunendecke.
Es gab ein kurzes Quieken und schon stand Tigris im wahrsten Sinne des
Wortes senkrecht im Bett.
»Hm?« Mit verquollenen Augen schaute sie sich um.
»Du wirst heute geprüft. Schon vergessen?«
»Echt? Ach ja, stimmt. Von De Nirvana.« Tigris gähnte
ausgiebig und entstieg langsam ihrem Bett, um zu ihrem Kleiderschrank zu
gehen und einen lustlosen Blick auf den Inhalt zu werfen. Schließlich
griff sie sich achselzuckend nach ihrer Jeans mit den strategisch günstig
platzierten Löchern am Hintern und an den Knien.
Antigua, gerade dabei, sich die Wimpern zu tuschen, sah im Spiegel
diesen monströsen Missgriff, stürzte zu Tigris und riss ihr das
Kleidungsstück aus den Händen.
»Spinnst du? Du wolltest doch den schwarzen, knielangen engen
Rock und deine rosa Carmen-Bluse anziehen! Wir gehen schließlich
nicht auf die Love-Parade!«
»Yo, wir alle gehn dahin wo Spießer stehn und blöd
aussehn.« Tigris schnappte sich mit gleichmütiger Miene die
fraglichen Sachen und zog sich widerspruchslos um.
»Und? Wie fühlst du dich? Lux Montana kann dir bestimmt
ein bisschen Baldrian verpassen.«
»Wofür? Es geht mir gut, mann. Alles easy, alles okay.
Barcelona ist bestimmt cool. Tausend Freaks auf einem Haufen, da falle
ich gar nicht auf.«
Antigua zog die Stirn kraus. »Hast du irgendetwas genommen?
Lux Montanas Vorrat an Morphium geplündert? Gestern Abend bist du
im Minutentakt beinahe in Ohnmacht gefallen - und jetzt ist alles easy?
Du bist wirklich einmalig, Teuerste.«
Dann lachte sie und zog Tigris auf einen Stuhl, um ihr die Haare
zu glätten, was diese erstaunlich widerstandslos über sich ergehen
ließ und noch nicht einmal das kleinste Murren von sich hören
ließ, als der Kamm sich immer wieder in ihren Locken verhedderte
oder Antigua zu fest bürstete.
»Hey, du siehst gut aus mit glatten Haaren!«
Doch Tigris war das Ergebnis nur einen kurzen, müden Blick
wert, genau wie das dezente Make-up, das Sienna ihr anschließend
auftrug.
Auf dem Weg hinunter in die Eingangshalle, wo sich allmählich
alle versammelten, knuffte Antigua Tigris in die Seite.
»Bat Furan macht ein Gesicht, als würde er sich dir gerne
augenblicklich vor die Füße schmeißen, damit du auf ihn
drauftreten kannst, um deine Pumps zu schonen. Meine Güte, wie sieht
der denn
aus?«
Tatsächlich hatte sich der junge, hochgewachsene Wandler nach
besten Kräften in Schale geworfen. Schon seit Tagen hatte er seinen
spärlichen Bartwuchs nicht rasiert, nur um zur Feier des Tages mit
einem dünnen, sorgsam zurechtgestutzten Lippen- und Kinnbart glänzen
zu können. Sein blütenweißes Hemd, modisch ungebügelt
und zerknittert, war bis unter die Brust geöffnet, um das große
goldene Pentagramm an dem schwarzen Lederband richtig zur Geltung kommen
zu lassen. Dazu trug er Jeans und ein schwarzes Sakko, dessen Ärmel
er an der Außenseite mit je einem großen angeberischen BAT
FURAN in weißer Farbe verziert hatte. Abgerundet wurde das Outfit
durch eine verkehrt aufgesetzte schwarze Schirmmütze, die er lächelnd
auszog und sich zum Gruß vor Antigua und Tigris verbeugte.
»Fröhliches Equinox Veris wünsche ich den Damen.«
Aber auch Ras Algheti machte sich gut in einem geblümten Hemd,
einer weißen Stoffhose und einem weißen Bogart-Hut. Er pfiff
anerkennend durch die Zähne, als Antigua stolz und unnahbar die Treppe
hinunter kam, mit einer silbrig schimmernden Samtstola um die Schultern
und silberne Bändchen ins weißblonde Haar geflochten.
»Oh Schneeprinzessin, meine Gedanken frieren schlagartig ein,
wenn ich dich sehe«, hauchte er, insgeheim fasziniert und daher übertrieben
pathetisch.
»Wenn deine Zunge einfriert, wäre das viel besser für
uns alle«, versetzte die Ruferin und rauschte an den beiden vorbei,
Tigris hinter sich herschleifend, die Bat Furan ungewohnt nett angrinste
und ihm noch zurief: »Echt Styler, Mann. Dein Look ist der Burner,
ist der Bringer, ist voll fett, Alter. Check it out, yo.«
»Wirklich?« Bat Furans Tag schien gerettet, so wie er
strahlte und immer wieder ungläubig an sich heruntersah.
Und endlich zog die lange Prozession aufgemotzter, geschniegelter
und adretter Windwibbs zwischen 6 und 45 Jahren aufgeregt und fröhlich
durcheinander redend zur Burg. Selbst die unvermeidliche Morgenmesse, die
ausnahmsweise nur eine dreiviertel Stunde dauerte, schien die allgemeine
gute Laune nur noch zu steigern. Kurz nach zehn Uhr war es dann soweit.
Die Älteren teilten sich in zwei Gruppen: Die einen blieben bis vier
Uhr nachmittags in der Burg, um die Gäste zu empfangen, die durch
die Tore hereinschneien würden, die anderen hatten bis dahin Zeit,
nach Herzenslust der Reihe nach sämtliche befreundete Sippen in den
anderen Doméns der Allianz zu beehren, dann gab es einen Schichtwechsel.
Das Privileg der Jugend hingegen war es, bis spät in die Nacht auf
der halben Welt spazieren zu gehen und Equinox Veris zu feiern. Lediglich
Lux Livas und Lux Montana mussten mit Tigris zunächst in Barcelona
erscheinen, wo die Examination für 11 Uhr morgens angesetzt war.
Die Tore zu anderen deutschen Sippen befanden sich in der Burg in
einem langen Korridor, an dessen Ende der Festsaal lag. An diesem Tag standen
alle alten, reich verschnitzten Eichentüren weit offen und verschluckten
die gutgelaunt andrängenden Reihen von Windwibbs.
Tigris war im Begriff, in wenigen Momenten mit Antigua, Bat Furan,
Ras Algheti und Ilvyn hinüber nach Aachen zu den Raunenfelsens zu
gehen, als Lux Livas sie zurückhielt und zur Seite nahm.
»Ich muss dir noch etwas Wichtiges mitteilen, Tigris«,
begann Livas und sah wieder einmal genau wie jemand aus, der einem anderen
die Nachricht von einem Todesfall oder einem bevorstehenden Bombenangriff
übermitteln musste.
»Na, dann lass mal endlich hören, Chef. Wird schon nicht
so schlimm sein.« Kaugummikauend sah sich Tigris gelangweilt die
alten Bilder ringsum an.
»Nun... deine Mutter kann leider nicht mit nach Barcelona
kommen. Sie muss etwas für die Sippe erledigen und bleibt vielleicht
einige Tage weg. Das hat sich heute ganz früh erst ergeben.«
Tigris zuckte mit Achseln. »Schlaue Entscheidung. Würde
ich jetzt gerne auch tun, mich verkrümeln. Ich hoffe nur, De Nervinis
wird nicht sauer, wenn sie wegbleibt.«
»Ich habe sie vor zwei Wochen abgemeldet und ganz vergessen,
sie wieder als aktive Seherin eintragen zu lassen, niemand kann sie vermissen.
Aber keine Angst, ich und Lux Montana werden dir beistehen.«
Die hagere, ältere Wandlerin nickte zur Bekräftigung entschlossen.
»Von mir aus. Sonst noch was?«
Etwas verwirrt darüber, dass Tigris so gelassen blieb, sahen
sich Lux Montana und Lux Livas an.
»Gut. Dann... auf zum Palais Almacielo.« Lux Montana
drehte sich mit entschiedenem Schwung um und schritt an Antigua und den
anderen vorbei in die Finsternis, die im Tor zu den Raunenfelsens lauerte.
Auf der anderen Seite kamen sie in einem großen, weiten Flur
an, der in warmen Aprikot-Tönen gestrichen war. Aus allen Toren strömten
unentwegt Xendii fast jeden Alters, ebenfalls von piekfein bis edel-chic.
Manche gingen in einen schönen, hellen Raum, dessen beide weiße
Türflügel weit offen standen und den Windwibbs einen kurzen Blick
ins Innere boten. Es sah nach einem gepflegten Cocktail-Empfang aus: Zu
leiser Jazz-Musik standen dort lachend und plaudernd Xendii, nippten an
Champagnergläsern oder holten sich Nachschlag am opulenten Frühstücks-Büffet.
»Die Raunenfelsens genießen ziemliches Ansehen bei De
Navarris«, erzählte Ilvyn flüsternd.
»Das sieht ja jeder Blinde«, meinte Ras Algheti schnippisch.
Die Windwibbs hingegen steuerten wie etliche andere Xendii die dreistufige
Marmortreppe an, die zu einer achteckigen Empore führte. Dort verschwanden
die Besucher in einem der sieben Tore, größtenteils aber in
die Finsternis, die die beiden weit geöffneten, mit goldenen Blumenornamenten
verzierten Flügel des Tores nach Berlin offenbarten.
Auch in Berlin hielten sich die Windwibbs nicht lange auf. Sie kamen
in einer hohen, weiten Halle an, die sich laut Lux Montana in einer großen
Villa am Seddinsee befand. Riesige Fenster ließen nach draußen
auf das unruhige graue Gewässer blicken, mit dem der niederprasselnde
Regen und kräftige Böen spielten. Die Von Laurentzens hatten
offenbar eine Vorliebe für Moderne Kunst, wie zahlreiche große
Bilder an den schlichten weißen Wänden bewiesen. Man kam sich
vor wie in einem Museum, so hoch über ihnen schwebte die asymmetrische,
verwinkelte Decke. Es herrschte reger Andrang; aus allen Seitengängen
mit Toren strömten Xendii aus ganz Europa und bildeten einen langsamen
Zug in Richtung eines weit geöffneten großen Durchganges zu
der Schwärze, hinter der die Europäische Node lag. Zahlreiche
Männer in beiger Uniform patrouillierten zu beiden Seiten der Passage
nach Barcelona, kontrollierten jedoch nicht wie sonst die Ausweise der
heranwogenden Xendii. An den Feiertagen - so lautete ein uraltes Gesetz
- sollten alle Meinungsverschiedenheiten und Konflikte ruhen und jeder
ungehindert durch die Welt reisen können. Wie sich wenig später
herausstellen sollte, galt dies mittlerweile jedoch nicht mehr für
alle Xendii.
Und so mündete der Strom der Besucher aus Berlin schließlich
in einem Seitengang der Europäischen Node, tief im Herzen des Berges
El Carmel, während Touristen aus aller Welt ahnungslos im darauf gelegenen
Parc Güell umherspazierten und die phantastischen Bauwerke von Antonio
Gaudí fotografierten.
Die Wände waren aus poliertem hellen Stein, an denen sich spiralförmig
ein breiter Aufgang bis wenige Meter unter den Scheitelpunkt entlangzog,
gesichert durch ein Gitter aus Schmiedeeisen, dessen Stäbe sich gleich
Blumenranken umeinander flochten und deren Blüten goldlackiert waren.
Orangegelb glühende Leuchtkugeln saßen auf filigranen, schmiedeeisernen
Fabeltieren und spendeten dem Besucher auf seinen Weg hinauf oder hinab
ein warmes, beruhigendes Licht. Von der serpentinengleichen Promenade gingen
Säulenhallen ab, neben denen goldenen Tafeln darauf hinwiesen, in
welche Gegenden Europas ihre polierten Ebenholztüren führten.
Die Windwibbs etwa kamen aus ›Viae ad Germania II.‹ und gingen langsam
die Kurven hinab, sich an der Gitterseite haltend, um den Strom derjenigen
nicht aufzuhalten, die ihnen entgegendrängten und in die abzweigenden
Säulengänge verschwanden.
Unten angekommen, sahen sich die jungen Xendii um. Sie befanden
sich in einem kreisrunden, riesigen Saal mit allmählich spitz zulaufender
Kuppeldecke, in dessen Scheitelpunkt eine goldene Platte eingelassen war,
geschmückt vom Logo der Allianz: Ein silbernes Pentagramm aus Rosenblüten.
Um sie herum raunten, lachten und riefen die Stimmen von Menschen aus allen
Herren Länder, alle festlich angezogen oder gar in die Tracht der
Region gewandet, aus der sie stammten.
»Wir sind jetzt auf dem Weg zu den anderen elf Noden und zum
Tor zum Palais Almacielo. Mann, was für ein Gedränge. Ich liebe
es!«, seufzte Bat Furan spürbar glückselig, was Tigris
endlich zumindest einen halbwegs interessierten Blick aus halbgeöffneten
Augen wert war. Die ganze Zeit über hatte sie kaum ein Wort gesprochen
und wirkte wie jemand, der aus purer Langeweile mitlatschte.
Die bunte Masse Xendii bewegte sich in Richtung eines breiten Durchganges
unter der ersten Windung der Serpentine, der von fünf weit auseinander
stehenden Säulen getragen wurde, an denen schmiedeeiserne Blumenranken
emporkletterten. Ihnen genau gegenüber befanden sich die elf riesigen,
weit geöffneten Tore, von denen fünf von uniformierten Männern
und Frauen streng kontrolliert wurden. Sie unterzogen jeden Xendi, der
einzeln aus- oder eintrat, einer Leibesvisitation, untersuchten seinen
Ausweis unendlich lange und stellten ihm oder ihr anscheinend immer neue
Fragen. An den unbewachten Toren hingegen ging alles viel, viel zügiger:
An der rechten Seite der schwarzen Halbkreise zogen die Xendii in nie abreißenden
Ketten in die anderen Gebiete der Allianz ein, linkerhand strömten
Besucher aus den anderen Doméns in die Europäische Node.
Am Kopfende der Halle der Noden gab es eine weitere, weit geöffnete
Tür. Ungewöhnlich an ihr war, dass hinter ihr nicht die gewohnte
Schwärze lag, sondern dem Betrachter schemenhaft und verschwommen
die Konturen von Menschen gezeigt wurden, als läge nur ein Hitzeschleier
zwischen der Europäischen Node unter dem El Carmel und der Villa der
De Navarris außerhalb von Barcelona.
Und so standen sie mit einem Schritt um zwanzig nach zehn im Festsaal
des Palais Almacielo, der der Bezeichnung ›Palast‹ mit seiner schneeweißen
Marmorpracht alle Ehre machte.
Lux Livas und Lux Montana trafen sogleich auf zahlreiche Mitglieder
anderer Sippen und begrüßten sie mal herzlich, mal höflich,
während Tigris zunächst mit Bat Furan und den anderen mitging,
die ein paar Jugendliche in einer Nische mit blauen Sofas entdeckt hatten
und gleich darauf zusteuerten; man kannte sich vom letzten Mittsommernachtsfest.
Sie stammten aus einer finnischen Sippe und fläzten sich lässig
dahin, während sie die jungen Windwibbs mit hoch erhobenen Weingläsern
begrüßten und sie lachend in fast perfekten Deutsch willkommen
hießen.
»Und wohin surft ihr heute?«, erkundigte sich Bat Furan.
»Ach, Surfen ist out«, winkte ein schlaksiger Jüngling
namens Garbin ab.
»Genau. So etwas macht man, wenn man noch klein ist und Angst
vor Hausarrest und dergleichen hat«, stimmte die flachsblonde, rotwangige
Taygete zu. »Wer wirklich mitreden will, der hackt sich rein.«
»In die Matrix, nicht wahr?«, meinte Tigris und schenkte
allen Beteiligten ein müdes, halbherziges Grinsen.
»Nein, in...« Taygete senkte die Stimme »Die Andere,
Abtrünnige Seite. Jeder weiß doch, dass sie in unseren Doméns
illegale Tore haben. Man braucht nur einen halbwegs begabten Seher, der
nach Zeichen aus Aethron Ausschau hält.«
»Natürlich«, erzählte ein anderer der finnischen
Gruppe weiter, »muss man dazu die sichere heile Welt der Sippen und
Arxes verlassen und sich nach außerhalb hinausbegeben, am besten
in eine der Großstädte. New York. Paris. London...«
»London zählt nicht, die gehören doch schon so gut
wie zu deiner so genannten Anderen Seite.« Antigua gefiel das neue
Spiel offensichtlich nicht. »Und wenn sie euch mal so eben umnieten
oder irgendwelchen Götzen opfern, kann niemand etwas für euch
tun oder sich gar beschweren, nicht wahr, denn ihr seid ja außerhalb
gewesen. Weit weg von der heilen sicheren Welt der Sippen und Arxes.«
»Ach, man stürmt nur die Bude, schreit ›Hoch lebe die
Allianz‹ und rennt gleich wieder hinaus. Manche verpassen der versammelten
Abtrünnigen-Mannschaft einen juckenden Aethron-Nebel, bevor sie wieder
abhauen. Das macht wirklich Laune. Und heute Abend haben wir ein Mega-Ding
vor!«
Nun doch neugierig geworden, ließen sich Bat Furan und Ras
Algheti weitere Details von Garbin enthüllen, während Antigua
und Ilvyn entnervt aufseufzten und sich nach anderen bekannten Gesichtern
im Festsaal umsahen. Derweil betrachtete Tigris schläfrig die hohen
Fenster aus buntem Mosaikglas, zwischen denen schlanke Yucca-Palmen in
unglaublich riesigen Terracotta-Kübeln standen.
»Ja. Wir haben rausgekriegt, dass in Tokio eine kleine Fete
von ... denen steigt, jüngeres Volk natürlich. Nennen sich großkotzig
DiSMaster. Das sagt ja schon alles, oder? Wir dachten, wir schneien mal
herein und hinterlassen einen bleibenden Eindruck.«
»Cool...« Die beiden jungen Wandler Windwibbenburgs
waren endgültig hin und weg.
»Wenn ihr Lust habt: Wir treffen uns mit ein paar anderen
um vier Uhr nachmittags oben in der Node vor ›Viae ad Francia I‹
und nehmen von dort aus das Tor nach Paris zu den Mont Tonc. Dort treffen
wir unseren Kontaktmann, der kürzlich eins von diesen illegalen Toren
entdeckt hat. Wenn wir erst mal im Gebiet der Anderen Seite sind, erreichen
wir locker innerhalb von zwanzig Minuten oder weniger Tokio. Und wir haben
den Namen der Disco, in der sie sich treffen. Aber zieht euch normale Sachen
und Jacken an, wir sollten möglichst nicht auffallen, wenn wir uns
in den Städten außerhalb aufhalten.«
»Lux Livas ruft uns zu sich!«, rief Antigua mit einem
Mal erleichtert und zog Bat Furan und Tigris mit sich fort, als sie das
Oberhaupt der Windwibbs am anderen Ende des Saales winken sah. Sie drängten
sich an den zumeist edel gekleideten Xendii vorbei, die offensichtlich
zum größten Teil aus anderen Domén und Mayor Arxes stammten.
Erstaunte, manchmal schockierte Blicke begleiteten Tigris, was jedoch nur
Antigua auffiel.
»Was glotzen die denn Tigris nur so an?«, wisperte die
Ruferin ärgerlich.
»Tigris sieht doch phänomenal aus. Vor allem ihr Hintern«,
raunte Bat Furan, der mit Ras Algheti hinter den Mädchen ging.
»Ja, das ist mal ein Hintern. Gut genährt, rund...«,
pflichtete Ras bei.
»Die Toiletten sind hinter der Tür da drüben, wenn
irgendetwas bei euch zu platzen droht...«, zischte Antigua ihnen
hämisch zu.
Lux Livas stand mit Lux Montana und einer melancholisch aussehenden,
dunkelhaarigen Frau mit schweren Lidern am Buffet und sagte zu Tigris,
kaum dass sie bei ihnen eintrafen: »Darf ich vorstellen: Das ist
Lux Phoebe De Navarris. Sie wird dich gleich examinieren, Tigris.«
Lux Phoebe begrüßte sie mit erstaunlich kraftvollem Händedruck,
den man von einer derart dünnen, lethargisch wirkenden Person nicht
erwartet hätte.
»Wie wäre es, wenn wir den Scheiß gleich hinter
uns bringen? Wo wir doch schon einmal hier sind...«, sagte Tigris
und kaute an ihrem Kaugummi noch schmatzender, woraufhin Antigua sie leicht
auf den Fuß trat und sie verständnislos und wütend zugleich
anfunkelte. Windwibbenburg so zu blamieren!
»Nun... Du bist nicht die einzige, die heute untersucht wird,
also wirst du dich schon gedulden müssen, bis du an der Reihe bist«,
sagte Lux Montana ungehalten.
Die Seherin der Domén Arx ließ sich jedoch keine Gefühlsregung
anmerken, sondern wirkte ähnlich unerschütterlich und gelangweilt
wie Tigris. Lediglich ihre schwarzen Augen verrieten, dass sie unentwegt
ihre Umgebung und die Xendii musterte und beobachtete. Scheinbar zufällig
kam ihr Blick immer wieder zu Tigris zurück, studierte kurz ihre Gesichtzüge
und kehrte sich dann für Momente nachdenklich nach innen.
.
Gegen fünf Uhr früh an Equinox Veris brach Aévon
auf, nachdem die Kontinentalräte geschlossen dafür gestimmt hatten,
innerhalb von 48 Stunden die Daimontore innerhalb des Hoheitsgebietes von
PAGAN zu schließen.
Trotz der späten Stunde fühlte er sich unbeschreiblich
gut. Er platzte vor Energie und Freude, nahm noch eine schnelle Dusche
in Shangri-La, zog sich frische Sachen an, verabschiedete sich sogar von
Bloomsworth und anderen Daimons ungewohnt fröhlich - und stürmte
in das nächste Tor zur Asiatischen Node.
Mit wild klopfendem Herzen fuhr er mit dem Lift hinauf in den atlantischen
Sektor, aufgeregt wie ein Schuljunge, aber auch ein wenig ängstlich:
Wie würde Rosanjin auf das unerwartete Wiedersehen reagieren? Aévon
hatte keine Lust auf Vorwürfe oder einen beleidigt weggedrehten Rücken
- er wollte wilde Küsse, am ganzen Körper, wollte Rosanjin überall
an sich und in sich spüren, wollte ihn schmecken, von oben bis unten
abknutschen, zärtlich beißen, wollte erregt geflüsterte
schmutzige Wörter und atemlos gehauchte Liebesschwüre, wollte
nur noch bis in alle Ewigkeit lieben und geliebt werden.
Mit dem nächsten Schritt befand er sich im Untergeschosses
von Elms Hall, ihrem Herrenhaus vor den Toren von London. An dem Tor zwischen
Tanggula Shann und dem privaten Wohnsitz des Sippenoberhauptes waren keine
Wachen nötig, denn es war auf Procyon, Aévon und Rosanjin fixiert
und niemand konnte es durchschreiten, es sei denn, einer der Drei erlaubte
dies und gab es frei.
Es war erst Mitternacht in England und still im Haus. In der Loggia
mit den kürzlich erst gestrichenen hellgelben Wänden brannte
nur ein kleines Nachtlicht. Aévon ging leise die geschwungene, frisch
renovierte Treppe hinauf in den ersten Stock, wo ein ganzer Trakt nur ihm
gehörte. Ihm und Rosanjin natürlich.
Er dachte auf dem Weg zum Schlafzimmer an den Moment vor vier Jahren
zurück, als er Rosanjin Yamashita, ein Jahr jünger als er selber,
zum ersten Mal bei einem illegalen Motorradrennen in Australien kennen
gelernt hatte. Seitdem waren sie unzertrennlich, waren Geliebte, Kampfesgenossen
und Blutsbrüder zugleich; hatten keinerlei Geheimnisse voreinander,
bildeten einen unentzweibaren Wall gegen alle Angriffe und Kritik, ja,
traten oft wie ein Wesen auf, weswegen schon ein Spitzname für beide
innerhalb von PAGAN kursierte: ›Aévanjin‹.
Noch nie zuvor waren sie länger als drei Tage voneinander getrennt
gewesen... bis zu dem Streit in eben diesem Haus seines Vaters in England.
Die Wut und die Entschlossenheit, endlich Beweise für die Gefahr
zu finden, in der sie alle schwebten, hatten ihn fortgetrieben aus Elms
Hall. Doch seit wenigen Stunden bestand endlich eine reale Chance, der
MDL Einhalt zu gebieten.
Und ebenso ihren menschlichen, abgrundtief verrotteten Anhängern.
›Umarme Unsere Blutige Mutter, mein Sohn, und labe dich statt
an meiner Brust an der ihren, trinke dich satt an ihrer rubinroten Milch,
mit dem sie uns nähren wird, bis der Tag der Heimkehr kommt.‹
Wie so oft, wenn seine Gedanken sich in die verhassten und sorgsam
verschlossenen Bereiche seiner Erinnerung verirrten, erstarrte Aévon
und schloss die Augen, um den kalten, schmerzvollen Schauer schnell über
sich ergehen zu lassen, der ihn jedes Mal überwältigte und gegen
den er nichts auszurichten vermochte. Die grauenvollen Momentaufnahmen
aus lange vergangenen Kindheitstagen hatten sogar Miras Künste der
Erinnerungslöschung überstanden.
Doch es gab eine Medizin gegen dieses Leiden: Rosanjin. Seitdem
Aévon ihn um sich hatte, waren seine Depressionen und Zerstörungsgelüste
sehr stark zurückgegangen, hatten sich in die tiefen, dunklen Winkel
seiner Seele verkrochen wie Hyänen, die sich angesichts eines überlegenen
Gegners zunächst einmal geschlagen zurückziehen mussten.
Rosanjin lag schlafend in dem riesigen Futon, eine Hand auf einem
japanischen Buch neben sich.
Im sanften Schein der kegelförmigen Nachtischlampe aus Reispapier
sah sein ebenmäßiges Gesicht mit den wie von Künstlerhand
gemeißelten asiatischen Zügen noch schöner aus.
Aévon blieb minutenlang in der Tür stehen, betrachtete
ihn und huldigte ihm schweigend, während grenzenloses Verlangen und
überschäumende Liebe sein Herz und seinen Körper in Flammen
setzten und seinen Atem stocken ließen.
Langsam näherte er sich und kletterte aufs Bett, bis er genau
über seinem Geliebten war und mit angehaltenem Atem auf ihn herabblickte.
Rosanjin atmete tief und genüsslich ein - dann öffnete
er mit einem Mal seine pechschwarzen Mandelaugen, über die sich dunkle
Brauen in einem anbetungswürdigen, natürlich geschwungen Bogen
spannten.
»Tadaima«, flüstere Aévon erstickt.
»Okaeri nasai«, antwortete Rosanjin leise mit bebender
Stimme.
Und gleich darauf fielen sie sich wie magnetisiert in die Arme,
küssten sich, vollkommen von Sinnen, wie ausgehungert. Innerhalb
weniger Augenblicke flogen achtlos Kleidungsstücke durchs Zimmer und
landeten auf dem schwarzen Parkettboden.
»Wo hast du die ganze Zeit nur gesteckt, Aév?«,
fragte Rosanjin später leise, die Augen genussvoll geschlossen, während
sein Geliebter seine Brust und seinen Bauch mit hauchzarten Küssen
beschenkte.
Aévon seufzte und beendete seine erotische Wiedergutmachungstour
mit einem kleinen Biss. Dann beugte er sich über das geliebte Gesicht
und musterte es zärtlich.
»Kann es sein, dass du mich nicht ganz so vermisst hast, wie
ich dich?«
»Unmöglich.« Rosanjin lächelte, die Augen
immer noch geschlossen. »Ich bin umgekommen vor Sorge und Angst,
dich verloren zu haben. Hat es sich wenigstens gelohnt, mich fast zwei
Monate mit Missachtung und Ungewissheit zu strafen? Dann verzeihe ich dir.
Aber deiner Buße wirst du dennoch nicht entgehen...«
»Hai! Dann sofort, ich habe seit Wochen sehr starke Schuldgefühle
und brauche noch mehr Züchtigung.«
Er packte Rosanjins Schultern, zog ihn auf sich und presste seinen
feingliedrigen, muskulösen Körper eng an sich, wieder wahnsinnig
vor Lust.
»Aaa, zuzushii! Wie frech: Erst zwei Monate einfach wegbleiben
und dann auch noch Ansprüche stellen. Aber das sieht dir ähnlich,
Koibito no.« Rosanjin spielte amüsiert mit einigen von Aévons
dunklen Locken, die sich aus seinem kurzen Zopf befreit hatten und in glänzenden
Spiralen auf dem Kissen ausgebreitet lagen. Und immer wieder kehrte sein
Blick zu diesen Augen zurück, die ihn noch immer geradezu zu hypnotisieren
vermochten. Aévon hielt sich nicht für hübsch, und vielleicht
war er das auch nicht im herkömmlichen Sinne; sein Mund mochte für
viele ein wenig zu groß sein, seine Nase zu breit - und zweimal gebrochen
- das Kinn energisch hervorspringend... aber das intensive, strahlende
Honigbraun dieser großen Augen mit ihrem herausfordernden, beinahe
stechendem Blick machten alles mehr als wett. Er beugte sich hinab und
küsste Aévon zärtlich auf die Halsbeuge, während
seine Hand langsam an den kraftvollen Schenkeln emporwanderten und seinem
Geliebten leise aufstöhnen ließ. »Tu das nie wieder, hast
du mich verstanden?«, raunte er in Aévons Ohr. »Oder
ich verwandle mich das nächste Mal für zehn Wochen in eine beleidigte
Ehefrau, die dich auf dem Sofa übernachten lässt.«
»Ich schwöre es, wenn du dich jetzt dafür wieder
in eine wilde Hure verwandelst«, erwiderte Aévon mit einem
kleinen dreckigen Grinsen um die breiten, sinnlichen Lippen.
»Ich sollte mich wohl besser in einen Zitteraal verwandeln
und dir mit einigen Stromstößen Manieren beibringen, Aévon-san.«
Rosanjin wickelte eine von Aévons Locken um seinen Finger und setzte
eine strenge Miene auf.
Aévon lachte. »Meine japanische 1,70 m-Batterie droht
mir? Was für eine Frechheit...«
»Frag mich noch einmal, ob ich dein Handy auflade, weil dein
Ladegerät kaputt ist.« Rosanjin hob gespielt arrogant seine
Braue. »Oder einen 1,90 m großen Zauberer -«
»Daimonjäger, bitte!«
»- mit einem Ego von hier bis Rio. Aber jetzt erzähl
erst einmal, was passiert ist. Ich fühle doch schon die ganze Zeit,
dass du vor Genugtuung und Energie platzt. Hast du wieder eine friedliche
Diskussionsrunde in einen Prügelmob verwandelt, Koibito no? Oder ein
paar wichtige MDL-Agenten erledigt?«
»Viel besser. Allerdings war es letztendlich nicht mein Verdienst.
Aber das Ergebnis ist großartig: Die Passagen zur Daimonsion werden
geschlossen.«
Rosanjin setzte sich auf und sah Aévon ungläubig an.
Und nachdem dieser ihm bis ins Detail von den Ereignissen in Shangri-La
wenige Stunden zuvor erzählt hatte, rief er strahlend: »Das
ist ja phantastisch! Und auch noch fast genau zu Equinox Veris. Was für
ein großartiges Geschenk. Endlich kehrt vielleicht Ruhe in unser
Leben ein.«
»Ich wünsche es mir, Ro.« Aévon legte seine
Hand auf Rosanjins Wange und verlor sich für einen Moment in seinen
schwarzen Mandelaugen. »Manchmal bin ich schon so müde und kraftlos,
Aisuru hito...«, flüsterte er traurig. »Die Zeit rennt
mir davon, dabei will ich doch noch soviel erreichen. Soviel erschaffen...
und soviel lieben.«
»Rede nicht von unserem Tod.« Rosanjin schloss getroffen
die Augen und küsste Aévons Hand.
»Unser Tod? Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich dich
im Jenseits verfluchen werde, solltest du es wagen, dir wegen mir das Leben
zu nehmen. Falls es überhaupt ein Jenseits gibt.«
»Und ich hab dir schon einmal gesagt, dass mir das gleich
ist. Sehr viel mehr Zeit als dir bleibt mir auch nicht, vielleicht sterbe
ich sogar vor dir. Wer kann das schon sagen? Aber ob von dir verflucht
oder nicht: Du kannst mich nicht loswerden. Nicht in diesem Leben. Und
danach auch nicht. Ai shiteiru. Eien ni.«
»Nein, ich würde das gleiche tun, wenn du...« Aévon
lächelte mit weichem Blick. »Ich dich auch, für immer.
Eien ni.«
»Lass uns von erfreulichen Dingen reden«, sagte Rosanjin
daraufhin, entschlossen, das unangenehme Thema beiseite zu schieben. »Was
machen wir zur Feier von Equinox Veris, außer uns bis nachmittags
von unserer Liebe zu erholen?«
Aévons Hände glitt wieder begehrend zärtlich an
Rosanjins köstlich schmaler Taille hinab und über seinen kleinen,
festen Hintern. »Was ist mit Volta, Cres und den anderen? Backt denn
niemand mehr bei PAGAN Kekse und bringt sie zu einem Anstandsbesuch mit?«
»Wenn du Kekse willst, musst du wohl die Allianz besuchen.
Ich und ein paar andere DiSMaster hingegen treffen sich morgen in Tokio,
im ›Furasshu‹. Eigentlich wollten wir irgendetwas in Chicago machen, aber
dann hatten wir doch keine Lust, uns von den Wächtern an der Nordamerikanischen
Node schikanieren zu lassen, oder irgendwo im Allianz-Gebiet hängen
zu bleiben, weil unsere illegalen Tore gelöscht wurden.«
»Tokio ist gut. Zurzeit laufe ich bei der RSA sowieso unter
persona non grata. Ein paar Daimons haben mir berichtet, dass sich dieser
Giftspucker Umbriel erfolgreich hochgeätzt hat.«
»Ja, er ist jetzt der Persönliche Berater von Mimas.
Dein Vater ist sehr besorgt deswegen. Ich glaube, soviel schlechte Nachrichten
wie zurzeit gab es noch nie auf einmal.«
»Das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht in Sicht,
Ro. Aber wenigstens ist erst mal die MDL aus dem Rennen. Freie Entfaltung,
Freier Wettbewerb, pah! Alle Menschen und alle Daimonklassen leben einträchtig
miteinander. Es gibt viele Daimons, die an den Schwachsinn glauben.«
»Wenn man Schwachsinn nur wortreich und mit angenehmen Lügen
verkleidet, wird er immer gern geglaubt. Aber Menschen und Daimons wollen
nun einmal an ETWAS glauben. Deswegen sind wir uns ja so schrecklich ähnlich.
Und deswegen kann ich nicht alle Daimons so leidenschaftlich hassen wie
du.«
Aévon verdrehte lächelnd die Augen, nahm den Kopf seines
Geliebten zwischen seine Hände und küsste ihn ganz fest auf die
Lippen.
»Dein Vater hat mich übrigens gebeten, dir etwas auszurichten,
Aév, falls du auftauchen solltest«, sagte Rosanjin und spielte
wieder mit Aévons Locken.
»Ich hatte vorhin seine angenehme Gesellschaft schon um mich,
aber er hat nichts Besonderes erwähnt. Was will mein glorreicher Vater
denn vor mir?«
»Es geht um unser Seminar im Mai, bei dem einige Leute aus
dieser Allianz-Sippe dabei sein
sollen.«
»Erinnere mich nicht daran«, stöhnte Aévon.
»Allianz-Typen sind mein persönlicher Alptraum. Sie halten sich
für etwas Besseres und sind dann die ersten, die heulen, wenn es ein
bisschen härter wird und ich sie hin und wieder zusammenscheiße.
Ich hätte nicht zusagen sollen.« Er knurrte verächtlich.
»Wie schade...« Rosanjin setzte ein mitleidiges Gesicht
auf. »Denn er bittet dich im Namen des Sippenoberhauptes darum, dieses
Seminar vorzuziehen. Es soll so schnell wie möglich stattfinden.«
»Meinetwegen«, brummte Aévon. »Je schneller
ich sie wieder los bin, um so besser für den Rest meines Lebens. Von
mir aus gleich nach Equinox Veris.«
»Findest du es nicht merkwürdig, dass sich die geheimen
Anfragen von Allianz-Sippen für unsere Seminare in letzter Zeit häufen?«,
sagte Rosanjin nachdenklich.
»Nicht wirklich. Wer eine strenge Gesetzgebung befürwortet,
kann ihr natürlich durchaus auch selber zum Opfer fallen - schuldig
oder nicht. Aber das kapieren diese Leute oft erst, wenn es sie selber
trifft.«
»Wohl wahr. Und die Allianz führt seit einigen Wochen
verstärkt Kontrollen durch. Jede Woche werden in jeder Domén
drei bis vier Sippen mindestens aufgelöst, mehr als in den ganzen
Jahren davor.«
»Ach, das liegt vor allem an diesem Gardinenprediger Umbriel.
Er quatscht die Leute voll mit diesem Armageddon-Zeug und seinen Engelsvisionen.
Zuviel Sünde auf dieser Welt, alle sind im Bunde mit den Teufeln.
Vor allem wir natürlich.«
»Hast du schon von Umbriels neuester Vision gehört? Er
behauptet, der ›Erzengel‹ Raffael hätte einen Neutralen mithilfe eines
Amuletts dazu ausersehen, ein Heer von Gotteskriegern anzuführen.
Zu Equinox Mebani spätestens soll er sich den Gläubigen zu erkennen
geben.«
Aévon verdrehte belustigt die Augen. »Daimons sind
die reinsten Tratschtanten und ersparen einem das Surfen im DimensioNet.
Ich bin voll im Bilde, über alles Wichtige und Nichtige. Ja, dieses
Gerücht haben mir etliche Daimons in etwa hundert Variationen erzählt.
Aber selbst mit so einem Superhelden wäre die Allianz uns doch absolut
unterlegen. Und das wissen die Schlaueren dort schon seit langem. Oder
was glaubst du, weswegen die Mehrheit der Allianz-Sippen gegen einen Angriff
auf Atlantika gestimmt und stattdessen das Stillhalte-Abkommen vorgeschlagen
hat?«
Rosanjin sah seinen Geliebten mit einer Mischung zwischen Erstaunen
und Belustigung an. »Du weißt von dem Stillhalte-Abkommen?
Und du bleibst sogar ruhig?«
»Ich kenne meinen wunderbaren Vater nur zu gut. Das war bloß
einer seiner Show-Effekte, um zu beweisen, dass auch er nur Friede, Freude
und Häkelkurse will.« Aévon strich verträumt über
Rosanjins volle, weiche Lippen und lächelte zärtlich. Doch schon
im nächsten Moment glühten seine Augen vor kaum gebändigter
Begeisterung auf, als er fortfuhr: »Aber in Wahrheit möchte
er bei PAGAN nach ganz oben und den guten alten George ablösen,
der schon starke Anzeichen von Xendium-Verfall zeigt, wie ich vorhin selber
erlebt habe. Leider besteht die Führung von PAGAN, wie du weißt,
zurzeit vorwiegend aus einem Haufen verträumter Alt-Hippies mit Xendium,
was Pappi im Moment noch tolerieren muss.« Und während Rosanjins
Lippen von seinem Hals weiter abwärts wanderte, fuhr er, immer noch
erfüllt von seiner Vision, fort: »Sollte Big Daddy es jedoch
tatsächlich an die Spitze schaffen, ist es vorbei mit der Gemütlichkeit
und Felsformer-Kursen. Und dann braucht er schlagkräftige Leute, die
nicht ihre Zeit damit verschwenden, jeden Daimon zu therapieren und ihm
Ping Pong beizubringen. Xendii wie uns beide und unsere Leute. Die Allianz
hat nur die alten Techniken drauf. Gegen PAGAN und vor allem natürlich
unsere DiSMaster werden sie auf voller Länge verlieren. Unsere Stunde
wird noch kommen, dann allerdings gewaltig.«
.
Pünktlich um elf Uhr lotsten Lux Livas und Lux Montana Tigris,
die ausdauernd am märchenhaften Buffet klebte, aus dem Festsaal und
gingen mit ihr durch sehr lange, sehr alte und sehr prunkvolle Korridore
und Treppenhäuser voller Ritterrüstungen und Ölgemälden
zu einem kleinen Zimmer im zweiten Stock des weitläufigen Palastes.
Dort wartete Lux Phoebe schon auf sie, in ihrer langen, dunkelroten
Samtrobe anmutig in einem dunkelblauen Ohrensessel sitzend, die Fingerspitzen
aneinander gelegt.
Tigris sah unbeeindruckt umher, dafür umso energischer ihren
Kaugummi kauend. Der kleine Raum war mahagonigetäfelt und voller antiker
Möbel und uralt aussehenden Büchern.
»Wenn wir so einen Kram hätten und verkaufen würden,
könnten wir unsere Klitsche super renovieren.«, bemerkte sie
spöttisch.
»Dein Kaugummi brauchst du nicht mehr«, wisperte Lux
Montana ihr ärgerlich ins Ohr. Daraufhin spuckte Tigris ihn gekonnt
und treffsicher in die nächststehende Palme, was die beiden älteren
Windwibbs schockiert zusammenzucken, Lux Phoebe jedoch nur leicht die Braue
hochziehen ließ.
»Setz dich auf den Schemel vor mir.«, forderte sie Tigris
mit einem leichten, spanischen Akzent auf.
Tigris trottete zu ihr und ließ sich auf den samtgepolsterten
Hocker vor Lux Phoebe fallen, stemmte ihre Hände auf die Beine und
sah die Seherin übertrieben erwartungsvoll an.
»Tigris, weißt du, was die Erbsünde der Xendii
ist, aus der bis heute unsere Verpflichtung erwächst?«
»Klar. Dämonen haben vor langer Zeit mal was mit Menschen
angefangen, und ihre Kinder waren die Nefaílim. Sie verwüsteten
die Erde und waren sooo gemein zu den anderen Menschen, weswegen die lieben
Erzengel kamen und gegen sie kämpften. Und weil Gott gnädig zu
den Nefaílim war, die ihre Taten bereuten, wurden sie von den Erzengel
nicht ausgerottet, sondern bekamen die Aufgabe, fortan die Dämonen
auf Erden zu bekämpfen.«
»Und wirst du als Abkömmling der Nefaílim ebenfalls
deine Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit stellen und dein Leben
für sie hingeben?«
»Aber klaro! Davon habe ich schon immer geträumt. Wer
würde nicht gerne mit mir tauschen?«
Nun doch etwas irritiert durch den unüberhörbar spöttischen,
ironischen Tonfall des Mädchens, räusperte sich Lux Phoebe und
fuhr fort: »Nun, denn lass mich dich prüfen, um zu sehen, wie
stark dein Xendium ist.«
»Yo, let’s check it out.«
»Sie ist noch nicht so lange bei uns«, beeilte sich
Lux Montana zu sagen, während die Seherin der Domén Arx aufstand
und aus einem Kästchen auf ihrem Mahagoni-Schreibtisch eine getrocknete
Blume holte. »Ihre Fähigkeiten sind wirklich nicht besonders
ausgeprägt.«
Ohne darauf zu antworten, reichte Lux Phoebe Tigris die getrocknete
Rose, setzte sich und legte wieder mit ausdruckslosem Gesicht die Fingerspitzen
aneinander.
»Und jetzt? Soll ich sie wieder zum Leben erwecken, oder was?«
Tigris betrachtete die Blume lustlos.
»Das übersteigt wohl bei weitem die Fähig-«
Lux Phoebe riss mit einem Mal die Augen auf.
Und auch die beiden älteren Windwibbs klappte förmlich
der Unterkiefer herunter.
Ein tiefes saftiges Grün erklomm langsam den schwarzen Stengel
der Blüte und die runzeligen Ästchen mit den Blättern. Begleitet
von feinem Knistern und Gluckern schien die Rose tief einzuatmen, entrollte
ihre Blätter und sog ihre Blüte von roter Farbe voll. Alles an
ihr lebte innerhalb von wenigen Sekunden wieder auf, glättete, spannte,
reckte und streckte sich - bis sie wie frisch gepflückt aussah.
»In etwa so? Reicht das? Kann ich jetzt wieder gehen?«
Lux Phoebe holte tief Luft, um sich wieder zu fangen und sah fragend
zu den Windwibbs hinüber. Doch diese schauten nur noch bestürzt
auf Tigris und die zu neuem Leben erweckte Blume in ihren Händen.
Wie konnte das sein? Lux Montana glaubte zu träumen, hatte sich Tigris
doch in ihren Unterrichtsstunden damit hervorgetan, aus allen Gegenständen,
die ihr in die Hände fielen, kleine flauschige Bällchen zu machen.
»Ihr werdet wohl Verständnis dafür haben, wenn ich
ihre Begutachtung noch ein wenig vertiefe«, sagte Lux Phoebe mit
einem kurzen Seitenblick zu den ältern Windwibbs, nahm das Kästchen
ganz auf ihren Schoß, schien etwas zu suchen und reichte Tigris erneut
einen Gegenstand, diesmal ein Stück Kohle.
»Hm. Soll ich das Ding anzünden, oder wie?«
»Was dir gerade einfällt.«
Tigris betrachtete ausdruckslos das schwarze Ding auf ihrer Handfläche.
Es stieg langsam von ihr auf, bis es zwei Handbreit darüber schwebte.
Für einige Sekunden passierte gar nichts, außer dass die Kohle
sich langsam um ihre Längsachse drehte, umweht von hauchfeinen grünen
Schlieren, die aus Tigris' Hand aufstiegen.
Dann gab es ein Fauchen und Zischen - und das Stück sog tiefrote
Glut in sich ein. Doch die Demonstration war noch nicht beendet. Ein weiteres
Fauchen - und eine hohe, schlanke Flamme schoss aus der Glut, teilte sich
in zwei Feuerszungen, die gleich zwei verliebten Schwänen umeinander
warben und sich umschlangen. Sie teilten sich wiederum, und immer wieder,
bis die Flammen einem feurigen siebenarmigen Kandelaber glichen, auf dessen
Spitzen kleine Feuerszungen tanzten.
»El Señor y Sus Sietes Zerrafin!«, keuchte Lux
Phoebe und konnte sich gerade noch beherrschen, nicht aufzuspringen. Ihr
erschrockener Blick galt jedoch weniger der beeindruckenden Demonstration
von Wandler-Xendium als Tigris selber.
Zu guter Letzt verschluckte die glühende Kohle die Feuerszungen
wieder, fing zu pulsieren an, wobei ihre Farbe immer heller und strahlender
wurde - und fiel mit einem Mal in Tigris Handfläche zurück, als
ungeschliffener Diamant.
»Nicht schlecht, was?« Tigris grinste kurz, dann gingen
ihre Augen wieder auf Halbmast - wie die ganze Zeit über.
»Gut... du... kannst vor der Tür Platz nehmen, Tigris.«
sagte Lux Phoebe schließlich mit zitternder Stimme und erhob sich.
Tigris zuckte mit den Schultern und schlurfte aus dem Zimmer, um augenblicklich
in den Chippendale-Sesseln im Gang zu fallen. Sie fläzte sich tief
in den Stuhl und gönnte sich ein Mittagsschläfchen, nicht ahnend,
dass sich in Lux Phoebes Zimmer ein Drama anbahnte.
Die beiden älteren Windwibbs überlegten krampfhaft eine
gute Ausrede, die Tigris plötzliche phänomenale Wandlerkünste
erklären konnten. Lux Phoebe indes machte keinen Hehl mehr aus ihrer
Aufregung.
»Ihr beide wisst hoffentlich, dass Menschen mit diesen Fähigkeiten
sofort in das Sonder-Ausbildungslager der Allianz gesteckt werden!«
Trotz ihrer Erregung sprach die Seherin gedämpft.
»Wir äh... hatten keine Ahnung, wir...wir...« Lux
Livas schüttelte unentwegt den Kopf, während er verzweifelt um
Worte rang.
»Ihr habt sie also angeblich in Düsseldorf gefunden.
Hat noch keiner eurer Seher ihre Aura genau studiert?«
Die beiden Windwibbs blickten sich verwirrt und schockiert an: Hatten
die Seher Windwibbenburgs etwas übersehen, dass die exzellente Lux
Phoebe mühelos erkennen konnte? Es war aus...
»Sie flackert, ist fast gar nicht da, wenn Tigris nichts tut.
Nun gut, das kommt manchmal vor. Aber wenn sie etwas tut, blendet ihre
Aura fast meine Augen!«
Lux Montana riss entgeistert die Augen auf. Wieso hatte nicht einmal
Danubia, Tigris’ eigene Mutter, diese Anomalien entdeckt?
»Und sie ist vollkommen anders als die Aura jedes anderen
Wandlers. Ich kann sie nicht einordnen, jedenfalls nicht in die Kategorien,
die uns seit Jahrhunderten überliefert sind. Wer ist sie? Schon die
ganze Zeit zerbreche ich mir den Kopf über ihre Ähnlichkeit mit
einer bestimmten Person, aber ich komme nicht darauf. Und anscheinend bin
ich nicht die einzige.«
»Wir wissen es nicht. Wir haben nichts Besonderes an ihr festgestellt.
Aber natürlich haben wir auch nicht so eine außerordentlich
begabte Seherin wie dich, Phoebe«, begann Lux Montana leise.
»Es ist zwecklos, mich zu belügen. Ich spüre deutlich,
dass ihr etwas vor mir verbergt, Livas.« Lux Phoebe starrte die beiden
verdatterten und zerknirschten Windwibbs an.
»Möchtet ihr etwa nicht, dass sie von den besten Wandlern
der Allianz ausgebildet wird? Wäre es nicht schön, wenn so eine
talentierte Kriegerin unsere Armee anführt? Unsere Armee, die schon
bald ausziehen wird, um die sündigen Xendii in aller Welt auszulöschen,
die den Schwur ihrer Ahnen anscheinend vergessen haben? Mit einer wie ihr
würden wir die Frevler doch hinwegfegen und ein neues himmlisches
Reich errichten. Ganz so wie es Umbriel voraussagt. Lux Mimas glaubt fest
an ihn, nichts kann ihn von der Katharsis abbringen.«
Sie trat ganz nahe an die beiden heran, die schweigend ihre Köpfe
gesenkt hielten, sichtlich zu keinen Worten oder klaren Gedanken mehr fähig.
»Ich habe dich einige Male bei Umbriels Messen beobachtet,
Livas«, flüsterte Phoebe atemlos, und Schweiß trat augenblicklich
auf die Stirn des Sippenoberhauptes. »Du schienst sie nicht so zu
genießen wie viele andere. Wenn sie Umbriel applaudierten und ihm
frenetisch zujubelten, hieltest du deinen Kopf gesenkt. Wie jetzt.«
Lux Livas schwieg immer noch. Eine große, traurige, entsetzliche
Leere dehnte sich in seinem Geist aus. Die schreckliche Gewissheit, trotz
aller Maßnahmen und Vorsicht versagt zu haben, ließ ihn die
Augen schließen, um die Tränen zurückzuhalten, die dennoch
zwischen seinen Lidern hinausdrängten und langsam seine Wangen hinunterstürzten.
»Sie ist es, nicht wahr?«, wisperte Phoebe mit bebender,
leiser Stimme und klang dabei so traurig und bestürzt, dass die beiden
Wandler erstaunt aufhorchten. »Sie ist dieser Auserwählte, der
die Katharsis anführen soll, von der Umbriel träumt. Der engelsgleiche
hübsche Umbriel, der mit seinen schönen Augen und seinen giftigen
Worten unsere Seelen zu stinkenden Tümpeln wandelt. Im Namen Gottes
sollen wir uns gegenseitig abschlachten. Und wenn wir fertig damit sind,
wenden wir uns den anderen, ahnungslosen Menschen zu, um sie ebenfalls
zu richten. Wir werden ein Reich der Xendii erschaffen, und es wird ohne
Gnade sein. Wer seine Stimme dagegen erhebt, wird augenblicklich getötet,
im Namen Gottes und der Erzengel.«
Tränenblind sah Lux Livas auf und flüsterte mit erstickter
Stimme. »Sie wird das sein, was immer du in das Register einträgst.
Sie hat nicht um diese Begabung gebeten, es war ein Zufall, ein Versehen.
Sie wird ohnehin niemals irgendwelche Heere anführen wollen. Tigris
könnte keiner Menschenseele etwas zuleide tun.«
Die Seherin wandte sich ab, die Arme fest um sich geschlungen, und
schaute gedankenverloren auf den leeren Schemel vor ihrem Sessel.
»Lux Yesu sagte: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten
Stein... doch ich sehe immer mehr Xendii, die anscheinend gewillt sind,
hunderte, ja, tausende Steine zu werfen, um ihre eigenen Fehler und Schuldgefühle
zu begraben. Immer wenn Umbriel predigt, möchte ich aufspringen und
laut schreien, möchte den anderen zurufen, dass sie nicht das Recht
haben, Richter und Henker zu spielen. Doch dann wäre mein Leben verwirkt.
De Navarris und andere Sippen haben sich schon lange von den Idealen und
Gesetzen der Allianz entfernt. Und seit Umbriel in Barcelona weilt, kriecht
ein giftiger Nebel durch unsere Gärten und Herzen. Misstrauen, Angst
und Ohnmacht herrschen hier mittlerweile, wie auch in anderen Doméns.
Kleine Sippen wie die Eure bemerken es erst jetzt allmählich. Aber
Xendii, die auch nur die leiseste Kritik anbringen wollen, verschwinden
spurlos. Die Dämonen sind nicht bei den Abtrünnigen zu finden
- sie sind genau hier, von Menschen geboren, mit menschlichen Seelen -
und doch so weit von Menschlichkeit entfernt, wie der kalte Pluto von unserer
strahlenden Sonne. Und sie sind auch noch stolz darauf. Ich habe Angst,
Livas.«
»Ja, auch ich habe Angst«, sagte Lux Livas leise. »So
sehr fürchte ich mich mittlerweile, dass ich alles tun würde,
um meine Sippe zu schützen - und Tigris. Alles. Ich würde bis
zum Äußersten gehen.«
»Das musst du. Und ich helfe dir. Viel kann ich nicht tun.
Aber ich werde Tigris als gewöhnliche Wandlerin in das Register eintragen.
Die Bosheit, die sich Umbriel erdacht hat, kann nicht von den Erzengeln
stammen. Er wird wohl weiter auf seinen Auserwählten warten müssen.«
Ungläubig, gleichzeitig aber auch fassungslos vor Glück
und Erleichterung machte Lux Montana einen Schritt auf die Seherin zu.
»Das ist schon mehr, als wir zu hoffen gewagt haben! Wir danken dir,
Phoebe. Auch du solltest nicht zögern, das Äußerste in
Erwägung zu ziehen, wenn -«
Lux Phoebe lachte bitter auf. »Das werde ich nicht. Exil ist
besser als ein sinnloser Heldentod. Und sei versichert: Wir drei sind nicht
die einzigen, die an Flucht denken. Du solltest dich nicht zu lange hier
aufhalten, Livas. Bleibt keine Minute mehr länger als nötig unter
den Massen von Xendii. Viele wundern sich schon über ihr Aussehen.«
Lux Livas nickte eifrig. »Wir gehen sofort zurück nach
Windwibbenburg. Ich danke dir, Phoebe.«
Mit dem Rücken zu ihnen murmelte die Seherin. »Ich danke
Gott, dass eure Sippe zu den Unvergifteten gehört. Gottes Segen sei
mit euch. Er ließ Tigris zu euch kommen, und er sandte euch zu mir.
Wusstet ihr, dass ursprünglich geplant war, jeden Neuling aus bestimmten
Sippen von Umbriel persönlich examinieren zu lassen? Doch er wurde
heute Morgen überraschend von ranghohen Xendii gebeten, Messen in
Venedig, Kopenhagen und Paris abzuhalten. Das ist ein Zeichen Gottes, dass
er Umbriel genauso verabscheut wie ich und Pläne gegen ihn schmiedet.«
Die beiden älteren Windwibbs gingen unendlich erleichtert und
freudig aus dem Zimmer und trafen vor der Tür Tigris leise schnarchend
im Sessel an.
»Wach auf, Tigris! Wir gehen. Es ist alles in Ordnung!«
Tigris riss die Augen auf.
Die Examination!
Sie sprang auf und schlug sich die Hände vor den Mund. »Oh
Gott, ich bin dran, oder? Oh mein Gott! Ich habe vergessen, was ich sagen
sollte! Verdammt!«
Mit großen ängstlichen Augen sah sie die beiden älteren
Windwibbs an.
»Tigris, du hast doch eben deine Fähigkeiten unter Beweis
gestellt«, sagte Lux Livas und legte beruhigend seinen Arm auf ihre
Schulter. »Was ist denn heute nur los mit dir? Du warst die ganze
Zeit so... merkwürdig. Gar nicht du selbst.«
»Hast du dich etwa an meinem Erste-Hilfe-Koffer zu schaffen
gemacht?«, brummte Lux Montana argwöhnisch.
»Oh... tatsächlich? Ich... ich war schon da drinnen?«
Tigris überlegte krampfhaft, konnte sich jedoch nur verschwommen an
Lux Phoebes Gesicht erinnern, undeutlich tauchten Bilder von einer Rose
und Flammen vor ihrem geistigen Auge auf.
»Wir sind hier fertig«, erklärte Lux Montana leise,
nahm sie in den Arm und führte sie zurück in den Festsaal, während
Lux Livas ihr noch einmal erklären musste, weswegen ihre Mutter nicht
bei ihnen war, was Tigris’ Verwirrung nur noch steigerte.
Im Festsaal warteten Antigua und die anderen schon ungeduldig auf
sie.
»Okay, dann kann’s ja losgehen!« jubilierte Bat Furan
und wollte schon beschwingt durch die Passage zurück in die Europäische
Node gehen, von der sie nur der flirrende Schleier zwischen zwei Palmen
trennte.
»Ihr müsst ohne Tigris losziehen. Wir nehmen sie mit
zurück nach Windwibbenburg«, erklärte Lux Montana entschieden,
bevor Tigris den Mund aufmachen konnte. Enttäuscht und beleidigt senkte
sie daraufhin den Kopf und verschränkte trotzig die Arme. »Aber
es ist doch alles glatt gelaufen, denke ich?«, grummelte sie.
»Und es wäre uns lieb, wenn ihr wie die anderen aus unserer
Sippe in der Nähe bleibt, also zwischen Gibraltar und Oulou.«,
ergänzte Lux Livas.
»Aber wir wollten nach Ecuador!«, protestierte Ras Algheti.
»Und wieso kann Tigris nicht mit uns gehen?«, maulte
Antigua. »Wir haben uns schon so gefreut, ihr einmal ein bisschen
die Weltgegend zu zeigen.«
»Wir erklären es euch -« Lux Livas erstarrte, als
zwei Männer mit Sektgläsern auf einmal vor ihnen auftauchten.
Der eine, höchstens Mitte zwanzig, trug die beige Uniform der Allianz-Streitkräfte.
Der andere hingegen war älter und grauhaarig, mit grauem Lippenbart
und in einen dunkelblauen Smoking gekleidet. Er lächelte den beiden
älteren Windwibbs kalt zu, die pflichtschuldigst eine Verbeugung andeuteten.
»Livas, nicht wahr? Livas aus Windwibbenburg, in Deutschland«,
begann er und hob leicht sein Glas. »Ein fröhliches Equinox
Veris. Dies ist übrigens Thanatos, der neue General unserer Armee.«
Der Jüngere nickte arrogant mit dem Kopf. Er war groß,
überaus kräftig und wirkte eher wie ein Bodybuilder denn wie
einer der schmächtigen Durchschnitts-Xendii. Unverhohlen bewundernd
glitt sein Blick von Antiguas schmalen, kleinen Füßen in den
silbernen Sandalen bis hinauf zu ihren blaugrünen Katzenaugen. Doch
sie sah sichtlich genervt demonstrativ zur Seite.
»Antigua, Bat Furan... dies ist Lux Mimas, unser aller Oberhaupt«,
erklärte Lux Livas, woraufhin die jungen Windwibbs mehr oder weniger
gekonnt ebenfalls eine Verbeugung andeuteten. Ilvyn knickste sogar artig,
und musterte mit verwirrten, heimlichen, schnellen Blicken General Thanatos.
Tigris, weiterhin beleidigt, sah kaum auf, verbeugte sich aber dennoch
gehorsamst.
»Lasst nun die Jugend umherstreifen, Livas, wie wir es alle
früher getan haben. Ich möchte euch beide gleich unter anderem
mit Lux Letitia bekannt machen. Sie ist das neue Oberhaupt der O’Malleys,
denen Irland untersteht, seit jeher einer der treuesten Sippen der Allianz.«
Tigris zuckte zusammen, da Mimas ›treuesten‹ auf eine bestimmte
Art betonte, die in ihr sämtliche Alarmglocken schrillen ließ,
so als spräche er ohne Worte aus: ›Im Gegensatz zu euch‹.
Und ehe sich Lux Livas versah, hatte ihn das Oberhaupt der Europäischen
Xendii vertraulich in den Arm genommen und führte ihn zurück
in den Festsaal.
»Dann müsst ihr Tigris zurück nach Windwibbenburg
schaffen!«, raunte Lux Montana den jungen Windwibbs noch zu, bevor
sie Lux Mimas und Lux Livas folgte. »Berlin, Aachen, Windwibbenburg.«
»Na super!« Bat Furan verzog das Gesicht und sah Tigris
vorwurfsvoll an. »Hast du dich so blöd angestellt, dass du Hausarrest
bekommen hast, oder was?«
»Pfff. Na und? Lieber Langeweile in Windwibbenburg als gleich
von einer Anakonda erwürgt zu werden.« Tigris versuchte, soviel
Gemeinheit und Trotz wie möglich in ihre Stimme zu legen, klang jedoch
stattdessen unüberhörbar traurig und enttäuscht. Dann jedoch
erhellte sich ihr Gesicht mehr und mehr. »Na, dann mal los. Ich bin
gespannt, wo wir dank Bat Furan diesmal stranden.«
Bat Furans Grinsen wurde von Sekunde zu Sekunde breiter. »Ich
gebe mein Bestes. Wie immer.«
Voller verschwörerischer Vorfreude schritten er, Ras Algheti
und Antigua durch die wabernden Schleier.
»Ilvyn, kommst du nicht mit?« Tigris zupfte die junge
Seherin am Ärmel, weil diese immer noch wie angewurzelt auf der Stelle
stand und verwirrt in die Menge schaute.
»Was ist los? Sind irgendwelche Dämonen hier?«
»Ich könnte schwören, dieser Thanatos hat Doppel-Xendium.
Seine Aura sah nach Wandler und Rufer gleichzeitig aus.«
»Das glaubst du doch wohl selber nicht. Solche Freaks werden
doch sofort nach der Geburt getötet, wenn sie überhaupt überleben,
hat mir Antigua erzählt. Als ob das hier niemand merken würde.«
Ilvyn blickte immer noch in die Menge der Xendii, um einen weiteren
Blick auf Thanatos zu erhaschen, als Tigris sie hinüber in die Europäische
Node zog.
.
Sehr verehrte Damen und Herren: Die Windwibb Equinox-Veris-Tournee!
Zum Beispiel 12:35 Baklava in Adana bei den ?im?eks, einer Mayor
Arx der Türkei. Und Tigris' Frisur hielt immer noch. Von dort ging
es zu den Alt?nda?s in der Nähe von Bodrum, weil einige Bekannte von
Bat Furan aus Belgien auftauchten und sie alle geradezu mit sich schliffen.
Im nachhinein bereute niemand diese Entscheidung, da beim Grillen an einem
einsamen Strand der Türkischen Ägäis noch viel Stimmung
aufkam, je mehr Xendii aus anderen Ländern Europas und des Nahen Ostens
dazustießen.
Weiter durch etliche Tore und zwei Noden zu einer winzigen Sippe
mit einem umso längeren, unaussprechbaren gälischen Namen im
wildromantischen Connemara in Irland, wo es merkwürdigerweise 12:37
war, obwohl man Bodrum gegen halb zwei verlassen hatte. Dies erschien
aber noch lange nicht so seltsam wie wenig später um 8 Uhr morgens
im 26. Stockwerk eines New Yorker Wolkenkratzers Sushi und Bagels zu essen.
Zwar konnte man sich durch die Noden und Tore tausende Flugkilometer sparen,
aber der uralten Tatsache der Erdrotation entging man dennoch nicht. An
manchen Orten war eben später vorhin oder früher später...
Mit der langsam zum Zenith steigenden Sonne in Nordamerika schauten
die Windwibbs noch bei diversen kleineren und größeren Sippen
in Florida, Ohio und Louisiana vorbei, während die Westküste
bedauerlicherweise noch schlief und erst später für Xendii-Besucher
bereitstand. Deswegen hängte man sich um 9:54 Uhr Ortszeit an einen
Schwall junger Xendii in Houston und landete zwanzig Minuten später
um 16:16 in der Europäischen Node, und schließlich gegen
halb fünf wieder in der heimatlichen Burg.
Im Festsaal mit dem nostalgischen Flair vergangener Jahrzehnte hielten
sich vorwiegend Xendii aus anderen deutschen und mitteleuropäischen
Sippen auf.
»Wieder zu Hause!« Bat Furan spähte vorsichtig
in den Raum. »Lux Livas und Lux Montana sind noch nicht da. Tja,
kein Wunder. Wann kommt es schon vor, dass sich De Navarris persönlich
um Leute aus No-Name-Sippen kümmert?«
»Soll ich so bleiben oder mich umziehen?« Ras Algheti
wandte sich mit fragendem Blick an die drei Mädchen.
»Solange du das nicht vor unseren Augen tust, ist es mir egal.«
Antigua musterte ihn in ihrer kühlen, spöttischen Art.
»Wofür umziehen? Geht ihr etwa noch irgendwohin?«,
wollte Tigris wissen. Sie fühlte sich zwar ein bisschen benommen durch
die Tatsache, die ganzen Stunden vorher durch die halbe Welt spaziert zu
sein, hatte aber Geschmack an der Möglichkeit gefunden, so frei herumzustreifen.
Zumindest die Tore entschädigten sie ihrer Meinung nach ein wenig
für ein verpfuschtes, normales Leben. Und auf Entschädigung hatte
doch wohl niemand mehr Anspruch als sie, Tigris!
»Hast du das vergessen? Surfen ist doch eigentlich out«,
antwortete Antigua ärgerlich. »Sie wollen sich in die ›Andere
Seite‹ hacken und den Abtrünnigen ein ›Frohes Equinox Veris‹ wünschen.«
»Ihr müsst ja nicht mitkommen. Aber ich wollte schon
immer einmal Tokio sehen«, erklärte Bat Furan ungerührt
und wandte sich mit Ras Algheti zum Gehen um.
»Ihr geht in die Doméns von PAGAN?«, fragte Tigris
mit glänzenden Augen. Tokio! Die Abtrünnigen... es klang nach
Abenteuer pur.
»Erstens«, zischte Antigua wütend, »werdet
ihr ganz bestimmt nichts von Tokio sehen außer irgendeiner schäbigen
Abstellkammer, in der sie Tiere oder noch schlimmeres opfern. Und zweitens:
Lux Livas und deine Mutter, Tigris, zerreißen uns alle in der Luft,
wenn das herauskommt. Aber anscheinend möchtest du gerne noch einmal
in einem Lieferwagen aufwachen, der dich nach Excelsior bringt.«
»Wir gehen doch nicht alleine. Wir werden ein ganzer Pulk
sein, der diese ›DiSMaster‹ ein wenig aufmischt.« Bat Furan sah Tigris
eindringlich an.
»DiSMaster. Also AethronMaster. Was für ein idiotischer
Name«, sagte Tigris grinsend. »Schon alleine dafür verdienen
sie einen Denkzettel. Wenn sich hier jemand AethronMaster nennen darf,
dann doch wohl unsere Sippe!«
»Genau meine Rede. Du kommst also mit?«
»Klar. Das lasse ich mir doch nicht entgehen«, rief
Tigris lachend und rauschte schon an Antigua vorbei, die ihnen mit vor
Verblüffung offen stehenden Mund nachsah, während Ilvyn die Achseln
zuckte und zu Tigris aufschloss.
»Ich gehe mit euch, aber nur bis zur Europäischen Node.
Die Plantinskys in Prag haben eine riesige Bibliothek, darunter viele alte
Bücher über Engel.« Sie warf Tigris einen verschwörerischen
bedeutungsvollen Blick zu. Seitdem diese sie vertraulich gebeten hatte,
etwas über einen Engel namens Barujadiel herauszufinden, hatte sie
mit Begeisterung ihre ganzen Bücher und die spärliche Bibliothek
in der Burg durchforstet, aber noch nichts entdecken können. Doch
die vollen Regale in Prag boten vielleicht ergiebigere Quellen.
Energisches Absatzgeklapper tönte hinter ihnen her. Dann war
Antigua auch schon wieder an ihrer Seite.
»Na gut!«, schnaubte die Ruferin aufgebracht. »Ich
komme mit. Wenigstens ein Mensch mit klarem Verstand sollte dabei sein
und auf euch aufpassen.«
»Gute Idee! Aber wer wäre denn intelligent genug dafür?«
Bat Furan dachte übertrieben angestrengt nach.
Und so kam es, dass sich alle bis auf Ilvyn unspektakuläre
Jeans, Sweatshirts und Jacken anzogen und schließlich fünf Minuten
vor vier wieder oben in den Windungen der Europäischen Node standen,
wo immer noch Scharen von Xendii ein- und ausgingen. Vor dem Tor zu den
Mont Tonc nach Paris hatten sich bereits schon fünfzehn Jugendliche
aus Finnland, der Schweiz, Belgien und Norwegen versammelt und tuschelten
aufgeregt miteinander. Die vier jungen Windwibbs stießen dazu und
gingen mit ihnen gemeinsam hinüber.
Sie landeten in einem prachtvollen Altbau mitten im Zentrum der
Seine-Metropole. Anscheinend gehörte auch Mont Tonc zu denen, die
hohes Ansehen bei De Navarris genossen, jedenfalls waren die Zimmer der
Sippe geschmackvoll und modern eingerichtet. Klaviermusik und Gelächter
hallten durch das geräumige, schöne Treppenhaus, durch das die
Abenteurer-Truppe aus dem vierten Stockwerk voller Toller hinab stieg,
um ins Erdgeschoss zu gelangen. Dort führte die geölte Birnbaum-Tür
hinaus ins taghelle Paris.
Und dort stand auch schon ein junger Mann aus der Sippe Mont Tonc
herum.
»Das ist aber nicht Markhab«, hörte Tigris Taygete
wispern.
»Nein, aber sein Bruder Al Giédi«, flüsterte
ein anderer aus der finnischen Sippe, was Taygete anscheinend beruhigte.
»Frohes Equinox Veris. Wir wollten uns nur mal ein bisschen
Paris ansehen. Und Spaß haben.« Garbin lächelte verschwörerisch.
Al Giédi, dem die hellbraunen, glatten Haare bis über
die Augen fielen, lehnte neben der Tür und wandte seinen Kopf. Blaugrüne
Augen blitzten zwischen den Strähnen hervor. War er amüsiert?
Oder misstrauisch?
»Naturellement. Ihr wollt Spaß, ihr bekommt Spaß.
Isch kenne da eine nette kleine Disco.« Er stieß sich von der
Wand ab und öffnete die Haustür, um nacheinander die Abenteuerhungrigen
ins Freie zu entlassen.
Als Tigris als Letzte an ihm vorbeiging, riss er die Augen auf und
hielt sie am Arm fest.
»Wer... wer bist du? Du ge’örst doch nischt zur Allianz!«,
entfuhr es ihm.
»Zu wem denn sonst? Zur B.A.D Company?«, fauchte Tigris
leise und riss sich los. »Ich gehöre zu den Windwibbs! Der besten
Sippe der Welt!« Sie funkelte Al Giédi böse an, dann
beeilte sie sich, zu Antigua und den andern zu kommen, die sich auf dem
Bürgersteig versammelt hatten und sich erwartungsvoll und glänzend
gelaunt umsahen.
»Tut mir leid... isch abe disch wohl vertauscht. Quel hasard...«
Al Giédi warf ihr noch kopfschüttelnd einen letzten Blick zu
und setzte sich dann an die Spitze der Truppe, die leise diskutierend mitten
auf der Rue de Turenne stand, wo eine lange Reihe Altbauten aus dem 17.
Jahrhundert die Straße säumten, Autos an ihnen entlangfuhren
und Menschen achtlos an ihnen vorbeigingen. Tigris konnte die Normalität
dieses Augenblicks kaum fassen. ›Es könnte ebenso irgendwo in Düsseldorf
sein‹, schoss es ihr durch den Kopf. Und all die Menschen ringsum wussten
nichts, aber auch gar nichts von dem, was hinter den Fassaden einiger Häuser
ablief. Ahnten nichts von den Fehden der Allianz und der Abtrünnigen,
von überirdischen Wesenheiten. Wussten nichts von illegalen Toren
mitten in ihrer Stadt, durch die man mit einem Schritt ganz woanders war,
vielleicht sogar tausende Kilometer entfernt!
Al Giédi führte sie zur nächstgelegen U-Bahn-Station
und fuhr mit ihnen in den Osten der Stadt, dirigierte sie an belebten Straßenzügen
voller Geschäfte vorbei in einen unscheinbaren Durchgang zu einem
Innenhof.
»Oh, ich sehe etwas, neben dem Fenster da oben«, wisperte
Taygete aufgeregt und alle wandten die Köpfe empor zu den heruntergekommenen,
sechsstöckigen Häusern um sie herum. Doch die Aethron-Spuren
waren so fein, dass nur die Seher unter ihnen sie ausmachen konnten. »37
52 / 145 07? Ist das eine Telefonnummer?«, wunderte sich ein
norwegischer Seher.
»Nein, natürlisch nischt. Das sind Koordinaten. Wenn
wir das Tor in diesem Aus dur’schreiten, befinden wir uns nischt mehr auf
Alliance-Gebiet.«
»Dann mal los. Da hinten sehe ich die Tür hierher in
den Hof.« Taygete winkte sie hinter sich her.
»Na, toll«, knurrte Antigua und warf noch einen schnellen
Blick nach oben. »Wir haben schon Zuschauer.« Tatsächlich
lugten an mindestens drei Fenster Köpfe hinter halb zurückgezogenen
Gardinen hervor. Eine dicke Frau machte sogar das Fenster auf und sah misstrauisch
aus dem dritten Stock zu ihnen herunter.
Sie verschwanden schnell in einem düsteren, säuerlich
nach altem Kohl riechenden Treppenhaus.
»Da hinunter, ich sehe einen Stern aus Aethron«, raunte
Taygete und ging die ächzende Treppe hinunter in einen muffig riechenden
Keller voller Sperrmüll, Fahrräder und ausgeweideten Kleidersäcken.
»Woher weißt du eigentlich von diesem Tor?«, fragte
Tigris misstrauisch. Al Giédi sah sie unverhohlen belustigt an.
»Tja, isch streife gern durch Paris. Man lernt die merkwürdigsten
Leute kennen, sieht mal ier etwas, mal da...«
Hinter einem alten, halbzertrümmerten Schrank endlich fanden
sie das Tor, perfekt getarnt durch den Schatten des alten Möbel. Sie
rückten es mit vereinten Kräften fort und betrachteten schließlich
fasziniert die klaffende Schwärze vor ihnen.
»Er soll vorgehen«, sagte Antigua, die Al Giédi
anscheinend auch nicht über den Weg traute. Doch dieser warf ihnen
nur wieder ein amüsiert-spöttisches Lächeln zu - und verschwand
ohne zu zögern in die Finsternis.
Das Dunkel nahm kein Ende, selbst als sie nach dem kurzen Moment
der Schwerelosigkeit wieder festen Boden unter den Füßen hatten.
Glücklicherweise hatte Ras Algheti eine Taschenlampe eingepackt, deren
Licht gleich darauf Regale voller Knabbereien und Mixed Pickles sowie Unmengen
von Bierkästen erhellte. Schwach drangen Männerstimmen und Gelächter
zu ihnen.
Al Giédi schien nicht das erste Mal an diesem Ort gewesen
zu sein. Zielsicher brachte er sie aus der Vorratskammer und ließ
sie nacheinander durch die Tür gegenüber huschen, anscheinend
wieder einem Keller, den ausrangierten Sachen nach zu urteilen.
Die nächste Passage brachte sie jedoch überraschenderweise
in ein gut beleuchtetes Parkdeck.
»Wo sind wir hier?«, wisperten einige aus der Gruppe
neugierig.
»Direkt unter einem O’aus in Melbourne, das PAGAN ge’ört.
Ier gibt es jede Menge Tore, in fast jede Großstadt ihres Gebietes.
Tokio ist im zwölften Stock.«
Der junge Mont Tonc ging seelenruhig zu den Aufzügen, die sich
hinter einer Eisentüre befanden.
»Und die sagen nichts, wenn wir so einfach ihre Tore benutzen?«,
wunderte sich Tigris.
»PAGAN ist nischt die Allianz, ma chère. Schon gar
nischt an Equinox Veris.«
Und wahrhaftig! Obwohl es fast halb drei Uhr morgens war, wunderte
sich niemand über den Pulk Jugendlicher, der im zwölften Stock
ausstieg. Es kamen ihnen zwar nicht Massen an Leuten in den Korridoren
entgegen, aber für die Uhrzeit war es noch recht belebt. Durch die
Fenster sah man die Lichter Melbournes, das ruhig und friedlich auf den
in wenigen Stunden heranbrechenden Morgen wartete. Alles wirkte wie in
einem Bürokomplex, niemand wäre jemals darauf gekommen, dass
hier Xendii ein- und ausgingen. Die Tore in verschiedene Städte des
pazifischen Raums befanden sich in einem marmorverkleideten runden Forum,
das mit seinen hellen Sitzlandschaften und Pflanzen für Neutrale wie
ein edel gestalteter, riesiger Warte- und Aufenthaltsraum aussah. Glastüren
aus verschiedenen Korridoren mündeten dort, regelmäßigen
getrennt durch die hellen Marmorzwischenwände.
›PAZIFIC BRANCHES OF TYDELL INC.‹ stand auf einer großen Chromtafel
hoch über dem Saal, von ihr gingen in den Marmor gravierte Strahlen
ab und endeten jeweils bei einem der Chromschilder, die zwischen den Glastüren
in den Wänden eingelassen worden waren.
Manila, Jakarta, Auckland, Taipeh, Sapporo, Tokio...
Außer Xendii konnte kein anderer Mensch den rechteckigen,
mannshohen Türausschnitt unter ihnen sehen. In ihm waberte und flirrte
es - ähnlich wie bei dem Durchgang in das Palais der De Navarris.
»Hat PAGAN keine Angst, dass ein Neutraler mal aus Versehen
da durchgeht?«, fragte sich Tigris laut, woraufhin ein junges, asiatisches
Mädchen, das auf dem Weg nach Jakarta an ihnen vorbeiging, lachend
antwortete: »In die Deckenbeleuchtung sind Kristalle eingebaut. Vor
ihrer Nase könnten zehn Leute auf einmal durch die Tore marschieren
und sie würden denken, sie gingen durch die Glastür daneben.
Sie sehen die Tore noch nicht einmal. Sie weigern sich sowieso, etwas zu
sehen, das von ihrer Realität abweicht. Die Kristalle sind dabei behilflich,
sie in diesem Glauben zu bestärken.«
»Das gäbe ja auch ein viel zu großes Gedränge
hier«, sagte Ras Algheti, der sich mit wachsender Begeisterung umsah.
»Stell dir mal vor, jeder wollte per Tor nach Tokio... dieses Hochhaus
würde zusammenbrechen.«
Sie waren also auf feindlichem Gebiet.
Ein wenig mehr Action hatten die meisten wohl schon erwartet, etwa
hereinstürzende Offiziere, die sich auf sie werfen und verhaften würden
oder zumindest Agenten, die sie in sicherem Abstand observierten oder verfolgten.
Stattdessen - nichts. Keine fragenden Gesichter, keine erhobenen Brauen,
keine Ausweiskontrollen... nichts.
Willkommen bei PAGAN - Macht was ihr wollt.
Der angriffslustige Schwung der Schar verpuffte zu unsicherem Geflüster
und unschlüssigem Herumstehen vor dem Tor nach Tokio.
»Was ist?« Al Giédi musterte sie sichtlich belustigt,
die Hände tief in seiner Jeansjacke vergraben.
»Ein Schritt und ihr seid fast am Ziel. Das ›Furasshu‹ ist
in Roppongi, dem Vergnügungsviertel Tokios. Auf der anderen Seite
dieser Passage ist ein O’aus in Tokio. Dort sind Tore in fast jeden Stadtteil,
auch nach Roppongi.«
»Du kennst dich für meine Begriffe viel zu gut auf PAGAN-Gebiet
aus. Gehörst du zu ihnen?«, fragte Antigua unverblümt.
Al Giédi starrte sie finster an. »Und was ist mit dir?
Die Allianz at es nisch gerne, wenn ihre Mitglieder auf feindlischem Territorium
spazieren ge’en. Ihr ängt genauso tief in der Kacke.«
»Ach, wir halten natürlich alle dicht!«, rief Bat
Furan energisch, bevor Antigua noch tiefer bohren konnte. »Was ist
los mit euch? Kommt schon. Sonst sind unsere lieben DiSMaster schon abgehauen,
bevor wir auch nur nett winken können. In Japan ist es bestimmt auch
fast Morgens.«
Al Giédi sah sie plötzlich mit großen Augen an.
»Die DiSMaster sind im Furasshu?«
»Ja, das hat uns doch dein Bruder Markhab selber erzählt«,
antwortete Taygete mit erhobener Braue.
Al Giédi schien zutiefst erschrocken aus. »Dieser kleine,
verdammte... Wenn ihr feiern und tanzen wollt - okay. Alles andere ist
Selbstmord.« Er sah sie der Reihe nach ernst an.
Doch anscheinend gab diese Warnung der Truppe wieder die Kampfeslust
zurück, die Al Giédi spöttisch anschauten.
»Sicher. Die Typen sind meist nicht älter als wir, höchstens
um die zwanzig - aber sie sind ja soo gefährlich.« Bat Furan
griff sich gespielt entsetzt ans Herz.
»Ein Bekannter von mir hat mit seiner Truppe schon einige
Abtrünnigen-Feten aufgemischt«, sagte auch ein junger Belgier
stolz. »Die waren ziemlich perplex und haben es nicht einmal auf
die Reihe bekommen, sie zu verfolgen.«
»Ich habe auch gehört, dass sie gerne kiffen und dann
gar nichts mehr geregelt kriegen«, stimmte Taygete zu.
»Aber die DiSMaster kriegen selbst dann alles geregelt. Sie
sind eine Art Elite-Gruppe inner'alb PAGANs, die sogar PAGAN Ärger
ma’t. Kein Wunder, denn Aévon Zimberdale trainiert sie.« Al
Giédis Blick ging zu Tigris, als er diesen Namen nannte. Er musterte
sie kurz und senkte dann nachdenklich den Kopf.
»Eine Elite-Tunten-Truppe, also«, rief Bat Furan und
alle stimmten in sein Gelächter ein.
»Oh Gott, ich habe schon Angst vor den rosa Wattebällchen,
die sie auf uns schießen werden.«
»Ich sterbe bestimmt vor Entsetzten, wenn sie mit ihren Glitzerklamotten
herumspringen!«
»Wehe, einer von denen geht mir an die Wäsche. Dann schieß
ich ihm einen Strahl direkt ins seinen Arsch.«
Wieder gutgelaunt und entschlossener als zuvor gingen die ersten
nach Tokio hinüber.
»Mon Dieu, was für Idioten...«, murmelte Al Giédi
und schloss genervt die Augen.
»Ach komm, so schlimm wird es schon nicht werden. Sie werden
uns doch nicht umbringen, oder?« Tigris sah den jungen Mont Tonc
etwas unsicher geworden an.
»Die DiSMaster würden niemanden etwas ohne Grund tun.
Eure Freunde brauchen nischt um ihr Leben zu fürschten, das sischer
nischt.«
»Na also.«
»Aber sie haben einen eigenartigen Umor. Sehr eigenartisch.
Vor allem Aévon Zimberdale.«
.
Die Stimmung im ›Furasshu‹ hatte für gewisse Leute schon lange
ihren Höhepunkt überschritten. Auf der Tanzfläche zumindest
drängelten sich noch die Leute, überwiegend Neutrale, und tanzten
zu einem treibenden Techno-Beat. Über ihren Köpfen schwebte außer
Zigarettenqualm ein feines Gespinst aus DiS, das dafür sorgte, dass
sie ungewöhnliche Aktivitäten um sie herum einfach ignorierten.
Aévon lag mit Rosanjin im Arm auf einer der knallbunten Sitzlandschaften,
die sich auf Erhöhungen rings um die übervolle Tanzfläche
befanden.
»Noch Champagner gefällig?« Er sah in die Runde
der ermatteten, leicht gelangweilten jungen Männer und Frauen, von
denen einige zustimmend nickten.
Also lehnte er sich ein wenig zur Seite, bis er die Bar im Blickfeld
hatte, streckte den Arm aus und ließ einen grünen Strahl über
die Köpfe der Tanzwütigen hinwegschießen, der sich um eine
Flasche Crystal in den beleuchteten Regalen hinter der Bar schlang und
samt seiner Beute zu dem Seher-Wandler zurückschnellte.
»Spiderman ist’n Scheiß gegen dich, Aév«,
kicherte Volta, ein bulliger Schwarzafrikaner mit stahlblauen Augen.
»Wie weit bist du eigentlich mit deiner good domina, Volta?
Komm, lass mal sehen und hol uns den Chivas Régal da ganz oben,
sonst fliegst du sofort hochkant aus unserem Häkelclub«, erwiderte
Aévon gespielt streng.
»Sonst noch was? Soll ich diesen Kerl da hinten auch noch
gleich an Land ziehen, der Ro so fasziniert anglotzt?«
Rosanjin, an Aévons Brust geschmiegt, zog missbilligend die
Brauen zusammen. »Er ist überhaupt nicht unser Typ.«
»Da haben wir recht.« Aévon drückte seinem
Freund ein Küsschen aufs Haar.
»Was macht denn Didy schon wieder für einen Scheiß?«,
bemerkte Shirooka, ein junges Mädchen mit ketchuproten kurzen Haaren
spöttisch, woraufhin alle lustlos hinunter auf die Tanzfläche
sahen, wo ein drahtiger Orientale in atemberaubenden Saltos und Spiralen
umherwirbelte, vor einer Japanerin im kurzen Kimonokleid lächelnd
stehen blieb und aus dem Nichts nacheinander einen Blumenstrauß,
einen Oscar und sprühende Wunderkerzen für sie hervorzauberte,
was die Umstehenden mit begeisterten Applaus honorierten.
»Irgendwie hat er seine Berufung verfehlt, wo er doch so gerne
den Copperfield fürs Volk gibt.« Aévon verdrehte die
Augen.
»Wo ist eigentlich Celestine abgeblieben?«, fragte Cres,
ein siebzehnjähriger Brasilianer mit kahlgeschorenem Kopf und einem
chinesischen Tatoo im Nacken.
»Sie hängt seit zwei Stunden drüben an der Bar und
intoniert den Barkeeper ein bisschen«, antwortete Rosanjin und gähnte.
»Wer wettet mit mir, dass Cely den Typen nach Shangri-La abschleppt?«,
fragte Rahel, eine israelische Wandlerin mit Verstärktem Xendium.
Plötzlich knackte ein Mikrofon, während die Musik schlagartig
endete.
»ROSENSTERN-ALLIANZ FOREVER!« dröhnte es durch
die Disko und alle Neutralen sahen sich verwirrt um.
»Scheiße, nein!«, lachte Volta und suchte mit
raschen Blicken die Menge nach verdächtigen Subjekten ab.
»Wundervoll! Der Herr hat meine Gebete nach Zerstreuung erhört!«,
rief auch Aévon hochgradig entzückt. »Ah ja. Dort drüben...
und da... ein Rufer, vier Seher, hmm... vierzehn Wandler, oder dreizehn
und irgendetwas Undefinierbares. Hababai! Du sicherst das Tor, ein paar
andere kümmern sich um die restlichen Ausgänge. Los! Das wird
ein Spaß!«
Augenblicklich war Leben in die noch eben nur herumgammelnden DiSMaster
gekommen.
Aévon und Rosanjin fuhren in erwartungsvoller Vorfreude aus
den Sitzen und stoben wie die anderen auseinander, um in die riesige Menge
der Neutralen auf der Tanzfläche einzutauchen.
»Was machen wir, wenn wir einen erwischt haben?«, fragte
die rothaarige Shirooka, als sie bei ihrer Tour durch die Menge auf Rosanjin
traf.
»Wie damals in New York: Hängen wir sie an den Beinen
kopfüber an die Decke! Das entspannt die Nackenmuskeln.«
Volta und Naiad, eine junge Philipina, sprangen über sämtliche
Sitzgelegenheiten hinweg direkt zur Vordertür und ›überredeten‹
die beiden Türsteher, ab sofort niemanden mehr herein- oder hinaus
zu lassen. Währenddessen hatte sich Hababai, der zweite Afrikaner
bei den DiSMaster, vor dem Xendi-Eingang zur Disko postiert, der in dem
spärlich beleuchteten Korridor in der Nähe der Toiletten lag.
»Verdammt«, knurrte Bat Furan, der mit Tigris an der
Hand nach Garbins klarer Ansage sogleich wie ein geölter Blitz zurück
zur Passage gerannt war, jedoch im letzten Moment mit ihr hinter einen
Zigarettenautomaten flüchten musste.
Ein durchdringendes Pfeifen ließ sie, aber auch den schwarzen
Hünen vor dem rettenden Ausgang, überrascht zusammenfahren.
»Hallo und Guten Abend, liebe Gäste von der Schmusegern-Allianz«,
erklärte eine Stimme durchs Mikrofon betont freundlich. »Herzlich
willkommen in unserem kleinen Partykeller. Die Getränke sind übrigens
sponsered by The DiSMasters, dem beliebten Sportverein on Ectasy mit Xendium.
Bedient euch ruhig. Wir empfehlen Whisky on the DiS. Es unterhält
euch an diesem Abend...« Erste Klänge eines groovigen Rap-Songs
ertönen. »DJ Zimberdale, ein kleiner, jähzorniger Sadist,
der für jeden hübschen Hintern ein gutes Wort und mehr übrig
hat.« Das dreckige Lachen ging zu Bat Furans Erleichterung in der
lauter werdenden Musik unter. Aévon Zimberdale persönlich!
Der beste Wandler Windwibbenburgs biss vor Verachtung und Entschlossenheit
zugleich die Zähne aufeinander.
»Ich greife ihn an und lenke ihn ab, und du rennst durch das
Tor!«, flüsterte er Tigris zu. Mit einem heldenhaften Satz sprang
er hinter dem Zigarettenautomaten hervor und feuerte ohne Pause tiefgrüne
Kugeln auf den schwarzen Hünen. Doch sie trafen ihn nicht, denn er
hatte sich schon längst in ein blaues, schützendes Netz gehüllt.
»Ihr spinnt wohl. Immer müsst ihr von der Allianz so
übertreiben...«, brummte er ärgerlich und nutzte den Moment
aus in dem Bat Furan fluchend innehielt, weil schon wieder Blut aus seiner
Nase tropfte. Hababai hob seinen Schutz auf und warf eine Sphäre nach
ihm, in der es merkwürdig durcheinander wimmelte. Als sie auf den
jungen Windwibb traf, schleuderte sie ihn mehrere Meter fort und platzte
dann - Tigris kniff schockiert die Augen zusammen.
»Was... was ist das denn? Igitt...«, hörte sie
Bat Furan angewidert keuchen und öffnete die Augen wieder, erleichtert,
dass er noch lebte. Dafür war er jedoch von oben bis unten mit braungrünem,
nach altem Käse stinkenden Schleim besudelt.
»Das war doch nur ein easy turkey crush, Kleiner. Kennst du
denn die ›Ghostbusters‹ nicht? Wir spielen jetzt sowas ähnliches,
nämlich ›Allianzbusters‹.«
Tigris, wütend auf diese arrogante Antwort, sprang hervor und
feuerte wild los.
Und zwar Unmengen an wilden kleinen Federblumen in heiteren Mintfarben.
»Wie gemein!«, lachte Hababai und beantwortete die Attacke
mit einer weiteren Sphäre, die über Tigris einen Schwall Wasser
entlud.
»Los, wir müssen die anderen finden! Alleine haben wir
keine Chance gegen ihn«, sagte Bat Furan, immer noch ziemlich verschleimt
und undezent parfümiert und rannte mit der triefendnassen, wutsprühenden
Tigris wieder zurück in die Disco.
Ras Algheti und Antigua hingegen hatten sich hinter einer Sitzgruppe
verschanzt und beobachteten fassungslos das wüste Treiben auf der
Tanzfläche.
Während sämtliche Neutrale begonnen hatten, ausgelassen
umher zu springen und wahre Volkstänze aufführten, flitzten sowohl
Mitglieder der Allianz-Schar als auch der DiSMaster zwischen ihnen umher
und beschossen sich. Doch während erstere das ganze anscheinend als
Duell auf Leben und Tod auffassten und Strahlen und Schüsse der gefährlichen
Sorte abgaben, begnügten sich die Abtrünnigen-Truppe damit, ihnen
Sphären um die Ohren zu schleudern, die beim Auftreffen auf den Körper
hübsche, neonbunte Farbflecke auf der Kleidung hinterließen;
oder aber auch Strahlen, die kurze Kommentare auf ihre Rücken oder
Bäuche schrieben: ›Gotcha, ha!‹ ›Gehört Tayfur‹ ›Greetz, Didymos‹
›Sale! $ 3,99‹.
»Wenn unsere Leute so weiter machen, werden die Typen noch
richtig sauer«, stieß Ras Algheti gedämpft hervor. »Mann,
guck dir das an: Wie schnell die DiSMaster reagieren - bevor die Schüsse
auftreffen, sind sie schon geschützt. Oh nein, der Belgier!«
Turin, der besagte Wandler der Allianz, hatte schlecht gezielt und
die Lichtsäule in der Mitte der Tanzfläche getroffen, woraufhin
sämtliche bunt blinkenden Lichter explodierten und in Sekundenschnelle
ihren Geist aufgaben, bejubelt von der tanzwütigen Masse der Neutralen.
Und er war nicht der Einzige, der mit seinen Attacken ein wenig über
das Ziel hinausschoss. Des weitern wurden neben zwei Boxen, einigen Discokugeln
auch noch einige Sitzgruppen durch die scharfen Schüsse demoliert.
»Das war eine blöde Idee von euch!«, zischte Antigua,
völlig aufgebracht. »Und diese DiSMaster-Typen spinnen auch!
Mitten in einer Disco voller Neutrale ihr bescheuerten Spielchen mit uns
abzuziehen!«
Als hätte jemand von den DiSMaster das gehört, wurde die
Musik leise und eine Mädchenstimme brüllte wütend durchs
Mikrofon: »Hey, ihr Irren von der Allianz! Falls ihr es noch nicht
gemerkt habt: Hier laufen Neutrale durch die Gegend. Also hört gefälligst
auf, scharf zu schießen. Wir sind noch nicht im Krieg.« Und
eine wohlbekannte Stimme ergänzte: »Danke, Rahel, du sprichst
uns allen aus der Seele. Aber sei doch nicht so hart zu der Schmusegern-Allianz.
Sie wollen nichts weiter als Aufmerksamkeit und Liebe. Und eine kleine
Abkühlung!«
Celestine Saint-Thalisse, immer noch heftigst mit dem nur an ihr
interessierten Barkeeper flirtend, beobachtete amüsiert, wie Aévon
sich nach seinen Worten an einem DiS-Strahl wie Tarzan an den Regalen vorbeischwang
und dabei einen grünen Nebel versprühte.
Sämtlich Flaschen in den Regalen hinter der Bar begannen daraufhin
zu zittern und schlitterten dabei langsam zu den Kanten. Dann schossen
sie auch schon in sicherer Höhe von ihren Plätzen in Richtung
Tanzfläche, ein Kampfgeschwader von Tequila, Batida de Coco, Blue
Curacao, Amaretto und anderen schmackhaften Spirituosen.
»Die Alko’ol fliegt aber eute sehr tief, nischt wahr?«,
sagte Celestine und beugte sich wieder dem hübschen Japaner hinter
der Bar entgegen.
»Hai, es ist Frühling, sie kommen wieder zurück
und nisten«, antwortete dieser glücklich lächelnd und immer
noch in romantischer Stimmung, da er sich mit Celestine auf einer grünen
Wiese im Sonnenschein wähnte, während gerade ein Schwarm Vögel
über den blauen Himmel hinwegzog.
Die Unmengen an Flaschen verharrten noch einen Moment über
den Köpfen der Tanz- und Schießwütigen, bevor sie mit ohrenbetäubenden
Knall alle auf einmal barsten und ihren hochprozentigen Inhalt auf die
größtenteils begeisterte Menge niederregnen ließ. Die
Glasscherben hingegen rieselten als Papierkonfetti auf die Köpfe herunter.
»Die spinnen! Die sind total verrückt!«, keuchte
Antigua fassungslos. »Los, wir sammeln jetzt die anderen ein und
verschwinden endlich! Ich glaube es nicht!«
Doch gerade, als sie und Ras Algheti aus ihrem Versteck hervorkommen
wollten, tauchte ein breit grinsendes Mädchengesicht mit knallroten
Haaren über ihnen auf. »Hallo! Ist das nicht langweilig, die
ganze Zeit hinter dem Sofa zu sitzen?«
Geistesgegenwärtig reagierte Ras Algheti und hüllte die
Gegnerin in Nebel ein, der bewirkte, dass das Sofa zu einer roten, weichen,
klebrigen Masse wurde, die das Mädchen gierig verschlang.
»Super! Du bist besser als ich dachte!«, lachte Antigua
und klatschte bei Ras Algheti ab.
»Die ist erst einmal damit beschäftigt, sich aus dem
Schlamassel zu manövrieren«, lachte der junge Wandler und schlich
geduckt mit Antigua zur Tanzfläche. Inzwischen flippten dort die Leute
vollkommen aus und hatten begonnen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen
und jeden anzufallen, der noch nicht entblättert war. Einige Allianz-Leute
waren ihnen schon in die Hände gefallen und wehrten sich mit Händen,
Füßen und Aethron gegen die Freikörper-Kultur-Aktion. Die
Musik wurde immer schneller, die Lichtorgeln spielten vollkommen verrückt
- und die DiSMaster lachten sich kaputt. Antigua und Ras Algheti sahen
einige von ihnen hinter einer Gruppe Neutrale stehen, was die beiden Windwibbs
nur noch wütender machte. Sie bahnten sich ihren Weg behutsam durch
die völlig ausrastenden Partypeople, wobei Antigua reichlich Stromschläge
an jede Hand austeilte, die ihr oder Ras Algheti zu nahe kamen.
»Da seid ihr ja!«, keuchte jemand neben ihnen. Bat Furan
taumelte ihnen entgegen, nur noch in seine Boxershorts und Turnschuhe gekleidet,
über und über mit Farbe bekleckert, an der noch einige äußerst
flauschige mintfarbige Federn und buntes Konfetti klebten.
»Wo ist Tigris?«, zischte Antigua entsetzt.
»Zuletzt war sie - keine Ahnung. Mein Gott, sowas verrücktes
wie diese DiSMaster habe ich noch nie erlebt.«
Die drei bemerkten nicht, wie sich ein grüner Strahl zwischen
etlichen Beinen hindurch am Boden seinen Weg zu Bat Furan bahnte.
Erst als dieser fühlte, wie sich etwas um seine Knöchel
schlang, sah er nach unten. Doch da war es auch schon zu spät. Mit
einem machtvollen Schwung riss es ihn vor den Augen seiner beiden Freunde
von den Füßen und in die Höhe. Er schrie entsetzt auf -
und fand sich plötzlich mit dem Kopf nach unten hoch über der
jubelnden Meng baumelnd: Der Strahl aus Aethron hatte seine Beine gefesselt,
während sein anderes Ende um die Stahlverstrebungen an der Decke geknotet
war, an denen sich die Scheinwerfer befanden.
Und er blieb nicht der einzige: nacheinander ereilte noch sechs
weitere Jungs der Allianz-Truppe dieses Schicksal, darunter auch Garbin
und Al Giédi.
Antigua hatte die Nase endgültig voll. Wütend drängelte
sie sich durch die Menge zu einer Gruppe DiSMaster, die sich in der Kabine
des Discjockeys versammelt hatten und sich königlich über die
an der Decke zappelnden Jugendlichen amüsierten.
»Okay, ihr habt gewonnen!«, fuhr sie sie zornig an.
»Ihr hattet euren Spaß, lasst sie wieder herunter und gebt
das Tor frei.«
Aévon drehte sich langsam um, mit dem breitesten und dreckigsten
Grinsen im Gesicht, das er parat hatte. Antigua fuhr schockiert zusammen
und starrte ihn entgeistert an.
»Es geht doch nicht ums Gewinnen, Schätzchen. Dabei sein
ist alles!« Aévon legte den Kopf schief und betrachtete das
augenscheinlich vollkommen irritierte Mädchen. »Tja, ich weiß,
ich bin genau dein Typ. Doch leider bin ich schon für immer und ewig
vergeben.« Er umarmte Rosanjin und drückte ihn fest an sich.
»Das kann nur ein Zufall sein...«, murmelte Antigua.
Diese Augen... die Nase... sogar der Mund. Und nicht zu vergessen, die
Locken...
»Nein, das ist Wahre Liebe«, erwiderte Rosanjin amüsiert.
»Können wir jetzt wieder gehen? Wir haben keine Lust
mehr«, sagte Antigua, die sich wieder einigermaßen gefasst
hatte.
»Hm. Ich weiß nicht«, sagte Volta und schaute
die anderen fragend an.
»Aber wieso denn? Wir hatten soviel Spaß miteinander...«,
entgegnete Aévon gespielt traurig.
»Ihr müsst erst noch eine Runde mit uns trinken. Wir
kennen unglaublich tolle Cocktails.«
»Oh ja, wirklich!« »Wirklich phänomenale
Mixe. Die hauen jeden um, manchmal sogar uns selber.«
»Na, dann wollen wir erst einmal den Schinken abhängen«,
sagte Aévon daraufhin und nahm Antigua zwischen sich und Rosanjin.
»Volta, Cres, Shirooka... wir brauchen eine etwas intimere
Atmosphäre zum Abchillen.«
Obwohl sich Antigua gegen die Umarmungen von beiden Seiten sträubte,
schoben Aévon und Rosanjin sie mit sich, während einige andere
DiSMaster daran gingen, die Partylaune der Menge in augenblickliche Müdigkeit
zu wandeln und sie zu veranlassen, langsam aber sicher die Disco zu räumen.
Während sich die Tanzfläche, die inzwischen voller Schaum,
Konfetti und Alkoholpfützen war, zusehends lichtete, kam allmählich
das ganze Ausmaß der Verwüstungen zum Vorschein. Es sah aus,
als wäre ein Orkan durch das ›Furasshu‹ gefegt. Von den Sitzecken
war vielfach nicht mehr übrig als umherliegende Teile, aus denen der
Schaumstoff und die Federung quoll. Es gab nur noch vier Boxen, die nicht
ramponiert waren. An der Bar steckten eine attraktive Frau und der Barkeeper
die Köpfe zusammen und unterhielten sich angeregt, während die
Regale hinter ihnen vollkommen leergeräumt waren.
Aévon und ein paar andere beförderten derweil die gefesselten
Jugendlichen wieder zu Boden. Mit wütenden, aber auch beschämten
Blicken suchten diese nach ihren Kleidern und versammelten sich an der
lädierten Lichtsäule. Sie waren alle über und über
mit Farbklecksen und merkwürdigen Sprüchen verziert, manche Hosen
und Sweatshirts wiesen Löcher und Risse auf.
Einige waren so wütend über die schmähliche Niederlage,
dass schon wieder im Flüsterton Rachepläne unter den Gedemütigten
kursierten.
»Wo verdammt noch einmal ist Tigris?«, rief Bat Furan
entsetzt auf, als er nirgendwo einen Lockenschopf unter seinen Leuten ausmachen
konnte. Sein Blick ging zu der Truppe DiSMaster in einigen Metern Entfernung
- dann klappte auch ihm der Unterkiefer herunter.
»Das gibt es doch nicht!«, entfuhr es ihm.
»Ich hab auch nicht schlecht gestaunt, als ich diesen Aévon
Zimberdale zum ersten Mal vor mir stehen gesehen habe. Merkwürdig,
nicht?«, wisperte Antigua.
»Das muss ein Zufall sein«, meinte Ras Algheti und zuckte
mit den Achseln. »Jeder auf der Welt hat seinen Doppelgänger,
glaube ich.«
»Aber nicht jeder hat eine gedopte, schwule, aufgepumpte 2-Meter-Version
von sich selber.«, knurrte Bat Furan, der Aévon Zimberdale
nun erst recht aus tiefster Seele hasste.
»Egal, wir müssen Tigris suchen! Kommt...«, entschied
die Ruferin und wies alle anderen aus der Allianz-Truppe an, hinter den
Sesseln und Sofas und in den Vorratsräumen zu suchen, während
sie mit Bat Furan zu den Toiletten ging.
Aber auch die DiSMaster vermissten ein Mitglied ihrer zwölfköpfigen
Truppe.
»Shirooka, schau mal nach, was Hababai immer noch beim Tor
macht.«, rief Aévon dem rothaarigen Mädchen zu. »Er
sollte es nur mit einer Sperrintonation sichern und nicht treu wie ein
Schäferhund davor stehen bleiben.«
Schon auf dem Weg zu dem Gang, in dem die Toiletten und auch das
Xendi-Tor waren, klangen sowohl den Windwibbs als auch Shirooka Gelächter
entgegen.
Und zwar jenes von Tigris als auch Tiefes, Dröhnendes.
»Das gibt es doch nicht!«, regte sich Bat Furan auf.
»Während die Spinner uns wie die Hasen gejagt haben, spielt
sie mit einem Spinner Federball!«
Tatsächlich warfen sich Tigris und Hababai gegenseitig glitzernde,
flauschigweich aussehende Ping-Pongbälle zu, immer mehrere auf einmal,
und eifrig darum bemüht, so viele ankommende Geschosse mit beiden
Händen zurück zu dem Anderen zu schleudern.
»Ihr spinnt anscheinend genauso.«, meinte Shirooka pikiert.
»Feuert scharfe Geschosse, während Neutrale um uns herumspringen.
Wie blöd muss man sein?«
»Und wer feiert mitten unter Neutralen und erlaubt sich blöde
Scherze mit ihnen?«, schnaubte Antigua.
»Oh hallo!«, Tigris wandte strahlend den Kopf. »Das
ist Hababai. Er liebt Ping-Pong, genau wie ich!«
»Nein, wie rührend. Wieso adoptiert Windwibbenburg ihn
dann nicht?«, grummelte Bat Furan.
»Ja, wieso eigentlich nicht, wo ihr absolut nach totaler Blamage
ausseht«, meinte Tigris daraufhin, die außer durch Hababais
Dusche und einem kleinen Farbklecks auf der Schulter vollkommen unversehrt
war.
»Das stimmt«, sagte Hababai grinsend. »Sie sehen
wie die meisten aus, die ahnungslos auf die DiSMaster treffen. Shirooka,
findest du es nicht erstaunlich, wie ähnlich Tigris Aévon ist?
Man könnte meinen, sie wären Zwillinge.«
»Unsere Sippe hat gar nichts mit den Zimberdales zu tun, das
habe ich dir doch eben schon erklärt, Habbi.« Tigris runzelte
die Stirn. Sie hatte Aévon zwar noch nicht richtig gesichtet, war
aber überzeugt, dass der farbige Hüne entschieden übertrieb.
»Ist bestimmt nur ein Zufall. Tig. Ich wollte dich nicht beleidigen,
'tschuldige.«, meinte Hababai daraufhin treuherzig. »Ähm,
wenn ihr wollt, könnt ihr gehen.« Er wies schüchtern lächelnd
auf das schwarze Loch in der gekachelten Mauer hinter sich.
»Aber Aévon wollte noch ein bisschen mit unseren Gästen
abchillen«, widersprach Shirooka, spöttisch grinsend gegen den
Zigarettenautomaten gelehnt.
»Hm. Nein, das finde ich nicht in Ordnung. Sie sind noch viel
zu jung für DiS-Cocktails. Schau sie dir doch mal an: Alles noch Kinder!«
Kinder! Beleidigt schauten die Windwibbs erst sich und dann die
beiden DiSMaster an. Shirooka sah nach höchstens sechzehn aus und
Hababai war zwar groß, aber sicher auch knapp erst volljährig.
»Warum nicht? Eine kleine Erfrischung haben wir alle sicher
nötig«, befand Tigris schnippisch und machte den Anfang, wieder
in den Saal zu gehen.
Die DiSMaster hatten inzwischen inmitten des Chaos und der Verwüstung
eine Ruhe-Oase geschaffen. Die noch tauglichen Sofas und Sessel waren auf
die Tanzfläche levitiert worden, wo die noch etwas verwirrten und
misstrauischen Jugendlichen der Allianz Platz genommen hatten und die DiSMaster
beobachteten, die aus dem Lagerräumen Gläser und Getränke
herbeischafften.
Derweil waren Aévon und Rosanjin dabei, passende dezente
Musik aufzulegen. Heitere Swing-Klänge dudelten gleich darauf durch
das ›Furasshu‹.
Fast zeitgleich kamen der junge Zimberdale und Tigris bei der Chillout-Ecke
an und wollten sich in die Sofas fallen lassen, als sie beide geradezu
zu Salzsäuren erstarrten und sich perplex anstarrten.
Die Blicke der anderen gingen ebenso erstaunt zwischen den beiden
hin und her.
Aévon gewann als erster seine gewohnt lässige Verfassung
zurück.
»Bist du das Resultat eines unglaublichen Zufalls oder des
internationalen unkontrollierten Samenaustosses meines geliebten Vaters?«,
meinte er mit erhobener Braue und ließ sich in die Couch fallen,
wo er augenblicklich Rosanjin zu sich zog und ihm einen Kuss gab, vor allem
deswegen, weil prompt wie beabsichtigt entsetzte, erstaunte oder angewiderte
Blicke seitens der Allianz folgten.
»Wohl kaum. Unsere Sippe hat nichts mit PAGAN zu tun.«,
antwortete Tigris und setzte sich langsam hin, ohne Aévon aus den
Augen zu lassen. Einige höchst unerfreuliche Gedanken schwirrten kreischend
in ihrem Kopf umher, doch sie entschied sich, sie entschlossen zu ignorieren.
»Noch gehört Atlantika zu euch.«, sagte Aévon
finster, der die merkwürdige Ähnlichkeit anscheinend überhaupt
nicht witzig fand. »Und die Schwäche meines Vaters für
kleine, dunkelhaarige Seherinnen ist in den Domén Arxes überaus
bekannt. Ist deine Mutter Seherin?«
»Ja. Aber mein Vater hieß Orinoco Merskøg. Er
starb vor ein paar Jahren.«, antwortete Tigris trotzig.
»Tja, also Gott sei Dank doch Zufall.« Aévon
schnappte sich eine Flasche Rum, die ihm Shirooka zuwarf, öffnete
sie und hielt dann die Hand über den Flaschenhals. Rosanjin hob die
rechte Hand und hielt sie vor sich mit der Handfläche nach oben.
»Er zieht Aethron aus der Umgebung an.«, wisperte Al
Giédi, der neben Bat Furan und Tigris saß. Die Allianz sah
sich unbehaglich an.
Doch Rosanjin gab gleich darauf Aévon die andere Hand und
übertrug ein blaues Licht an ihn, das wiederum aus dessen linker Handfläche
in die Flasche strömte. Auf die gleiche Art behandelte er einige weitere
Getränke, die dann unter den DiSMaster die Runde machten.
Als Aévon sah, dass sich die Jugendlichen der Allianz zierten
und die Getränke ablehnten, meinte er amüsiert. »Selber
schuld. Ihr seht alle schon reichlich blass aus. Gleich werden die ersten
wie die Weltmeister kotzen und vor Schmerzen jaulen. Das kennen wir von
früher.«
»Aber mit einem kleinen Wodka lösen sich die Probleme,
was?«, rief Garbin ärgerlich, dem der Schweiß bereits
auf der Stirn stand, was die unausweichlichen Magenkrämpfe ankündigte.
»Meinetwegen können wir auch Orangensaft für euch
mixen, oder Milch.«, entgegnete Volta und prostete ihnen zu.
»Jaja, Xendium«, seufzte Aévon, nachdem er sich
eine Whisky-Cola auf Ex genehmigt hatte.
»Segen und Fluch. Aber vor allem - und das will die Allianz
einfach nicht einsehen -« Er schaute spöttisch in die Runde.
»Ist Xendium eine Sucht. Wenn nicht ständig Nachschub an DiS
erfolgt - oder Aethron, wie es bei euch heisst - drohen eben höchst
triviale Entzugserscheinungen. Mit ein wenig stark angereichertem DiS hingegen
hat man bis zu vierundzwanzig Stunden Ruhe.«
Und während die ersten bereits fluchtartig aufsprangen und
zur Toilette rannten, oder sich gleich über den Rücklehnen der
Sofas übergaben, mixten sich die DiSMaster seelenruhig noch weitere
Cocktails.
Ras Algheti sank ebenfalls immer tiefer in die Couch und hielt sich
mit schmerzverzerrten Gesicht den Bauch.
»Das kann ich nicht mit ansehen!«, entschied Hababai,
der ein weiches Herz besaß. Er zog den gepeinigten Wandler an sich
und flösste ihm ein wenig von seinem Vodka Redbull ein. Ras Algheti
riss keuchend die Augen auf, in der Erwartung, vergiftet worden zu sein
- stattdessen ließ das Stechen und Ziehen in seinem Magen schlagartig
nach. Verdattert lächelnd kam er wieder hoch. »Wahnsinn! Das
Zeug ist spitze!«
Nachdem man ihn noch einige Sekunden misstrauisch beäugte und
auf merkwürdige Veränderungen hin prüfte, hielt die Allianz-Truppe
nichts mehr. Schnell machten stärkende Säfte, aber auch Alkoholisches
die Runde und befreiten innerhalb weniger Augenblicke jeden von seinen
Schmerzen.
Lediglich Tigris, die wie üblich nicht die geringsten Anzeichen
von Übelkeit aufwies, und Antigua, die zwar leichte Kopfschmerzen
hatte, aber entschlossen war, nicht Brüderschaft mit den Abtrünnigen
zu trinken, beobachteten kopfschüttelnd das sich unweigerlich anbahnende
Saufgelage. Die feindliche Stimmung seitens der Allianz-Jugendlichen schlug
schnell in fröhliches Sprücheklopfen und spontane Tanzeinlagen
um. Sogar Bat Furan flirtete unverhohlen mit Shirooka, die augenscheinlich
von ihm mehr als angetan war und ihm unaufhörlich tief in die Augen
sah.
»Soviel zum Thema ›Wir mischen die DiSMaster auf‹.«,
knurrte Antigua später verächtlich, während die Stimmung
immer ausgelassener wurde.
»Isch ab doch gesagt, sie tun eusch nischts.«, meinte
Al Giédi, bereits sichtlich angeheitert.
»Gib endlich zu, dass du mit ihnen unter einer Decke steckst.«
»Ja, aber nur, wenn die beiden nischt unter der Gleischen
stecken«. Er wies grinsend mit dem Kinn hinüber zu Aévon
und Rosanjin, die sich angeregt mit Garbin unterhielten.
»Aha, wusste ich es doch. Und deine Sippe weiß nichts
davon.«
»Tout Mont Tonc sympathiriert-, merde! Symastesiert... sympatidingsbüms
mit PAGAN. Wir assen diesen Umbriel. Und unsere Wandler aben vor ein paar
Wo’en ein Seminar von Aévon besu’t. Mein Bruder Markhab ist vollkommen
begeistert von DiSMasters. Dieser böse kleine Schellem at mir nischt
gesagt, dass sie ier sind, als er misch gebeten at, eusch ierer zu bringen.«
»Tja, jetzt wissen wir ja, wie es zu diesem Desaster vorhin
kommen konnte.« Tigris kicherte und schnappte sich kurzentschlossen
ein Glas Vodka Lemon, das sich Bat Furan eingegossen hatte, kurz bevor
Shirooka ihn auf die Tanzfläche geschleift hatte.
»Livas reißt uns in Stücke, wenn unsere Alkoholfahnen
ihn als erstes in Windwibbenburg begrüßen.«, seufzte die
Ruferin - und genehmigte sich dann doch eine Cola mit ein wenig DiS-angereichertem
Rum. Sehnsüchtig schaute sie hinüber zu Aévon, der genüsslich
eine Zigarette nach der anderen qualmte und hin und wieder zu ihnen hinüber
sah. Insgeheim beschäftigte ihn die unglaubliche Ähnlichkeit
zwischen Tigris und ihm immer noch stark. Als er Antiguas schmachtende
Blicke auf seine Marlboros bemerkte, kam er zu ihnen herübergeschlendert
und ließ sich zwischen den beiden Mädchen nieder, wo er Antigua
sogleich eine Zigarette anbot.
»Du bist ziemlich merkwürdig, meine Liebe«, begann
er dann, an Tigris gewandt.
»Bestimmt nicht merkwürdiger als ihr DiSMaster. Wie seid
ihr bloß auf diesen beknackten Namen gekommen?«, erwiderte
Tigris leicht lallend.
»Wir haben ihn zwar nicht erfunden, aber viele Daimons bekommen
schon Herzattacken, wenn sie ihn nur hören. Es gibt eine interessante
Game-Show in der Daimonsion, die PeppTV veranstaltet, der beliebteste Sender
dort. Sie findet - natürlich illegal - überall im materiellen
Universum statt. Und so auch auf Erden. Sie heißt ›DiSMaster Tournament‹.
Dort kämpfen Daimons gegen Xendii. Xendii gibt es übrigens auf
allen Planeten mit Leben, also vergesst diese Legende mit Erbsünde
und dergleichen. Jedenfalls bekommt jeder Xendii, je nachdem, welche Runde
er geschafft hat, einen DiSMaster-Titel. Die meisten unter uns haben einen.
Und deswegen nennen wir uns DiSMaster. Weil die Daimons auf dieser Welt
dann wissen, mit was für einem Schlag Xendii sie es zu tun haben.
Wir reißen ihnen gehörig den Arsch auf, und das wissen sie.«
»Ich dachte, PAGAN mag Daimons und gibt ihnen auch noch Asyl.«,
wunderte sich Tigris, die an Engelbert dachte.
»Jetzt nicht mehr. Wir schließen sämtliche Tore
von der Daimonsion auf die Erde, die in unserem Gebiet liegen. Manche Daimons
sind nämlich entschieden zu unverschämt geworden. Das können
wir nicht durchgehen lassen. Aus welcher Sippe stammt ihr noch einmal?«
»Windwibbenburg in Deutschland. Und wir halten treu zur Allianz«,
erklärte Antigua, die den DiSMaster überhaupt nicht über
den Weg traute.
»Von mir aus. Hauptsache, ihr lasst auch keine Daimons mehr
auf die Erde.«
»Dein Vater scheint ziemlich nett zu sein.«, meldete
sich Tigris nach einem weiteren Cocktail zu Wort.
»Ach ja? Und zu wem genau? Zu deiner Mutter?« Aévon
betrachtete Tigris’ Gesicht aufmerksam.
»Neiyen... zu mir. Er hat mich als kleines Baby gerettet.
Irgendeine Herzkrankheit.«
»Das ist mir neu, dass er unter die Chirurgen gegangen ist.
Aber ich werde ihm auf jeden Fall von unserer heutigen Begegnung erzählen.
Mal schauen, was für Antworten dabei herausspringen.«
»Genau, und grüß ihn ganz herzlich von mir. Von
Tigris Aurora Melisande Wind - hick- wibb.«
»Aber gerne.« Aévon grinste breit. »Auf
die Reaktion bin ich schon gespannt. Besonders, wo ich doch auch Seher
bin und Lügen auf hundert Meter durchschaue.«
»Dein Glück, dass du bei PAGAN gelandet bist«,
sagte Antigua spöttisch. »In der Allianz hätten sie Leute
wie dich gar nicht am Leben gelassen. Du bist eine Bedrohung für die
Menschheit.«
»Ich fühle mich außerordentlich geschmeichelt,
obwohl ich mich mehr als Bedrohung für jeden Daimon sehe.« Aévon
lachte leise. »Ach, die gute alte Allianz. Wasser predigen und Wein
saufen. Sie töten schon lange keine Doppel-Xendii mehr. Sie sagen
das zwar. Aber in Wahrheit sind sie ganz scharf auf Leute wie mich. Sie
entführen sie regelrecht aus ihren Wiegen und stecken sie in ihr Sonder-Ausbildungslager.
Wie sollten sie sonst gegen uns vorgehen können?«
Antigua schluckte und sah Aévon ungläubig an, Tigris
hingegen kicherte. »Ach, dann hatte Ilvyn vielleicht doch recht.
Sie glaubt, dieser Thanatos hat Doppel-Xendium.«
»Tja, so langsam dämmert es den ersten Sippen, wohin
die Reise geht. Und nicht alle sind gewillt, auf den Zug nach Nirgendwo
aufzuspringen. Das sind die Schlaueren, die in unsere Doméns flüchten.
Es werden immer mehr.«
»Quatsch!«, entschied Antigua böse. Sie glaubte
Aévon Zimberdale nicht ein Wort. Was für ein erbärmlicher
Versuch, sie und die anderen gegen die Allianz aufzuhetzen!
Aévon warf einen Blick auf seine Uhr. »Nanu, schon
so früh: halb sieben Uhr morgens. Zeit, den Tag zu verschlafen. Was
sagen eure Sippen denn, wenn ihr so spät und reichlich beschwippst
durch die heimischen Tore torkelt? Es ist in Deutschland etwa... halb elf
abends.«
»Ja, genau. Es reicht. Wir hatten genug Party«, meinte
Antigua und nahm Tigris ein Glas puren Whiskey weg, den diese in einem
Wetttrinken mit Al Giédi auf Ex leeren wollte.
»Shirooka, begleitest du die Herrschaften noch ein Stück
bis zu irgendeiner Node?«, rief Aévon und erntete böse
Blicke von der rothaarigen Wandlerin der DiSMaster, weil er sie beim Knutschen
mit Bat Furan gestört hatte. Schließlich erhoben sich die beiden
frischgebackenen Turteltäubchen widerwillig und sammelten die restlichen
Jugendlichen der Allianz ein.
»Ähm, Aévon?«, fragte Hababai laut und besah
sich schuldbewusst das Chaos ringsum. »Wer war es diesmal?«
»Hm.«, Aévon kratzte sich nachdenklich am Kinn.
»Wen hatten wir denn noch nicht... Greenpeace... Die Lutheranische
Neue Kirche... die Anonymen Alkoholiker... ah, ich hab’s. Wir hatten den
YMCA noch nicht. Wir schreiben YMCA auf die Wände und irgendwelche
frommen Sprüche, von wegen ›Gott wird euch für eure Laster strafen‹
und all das übliche.« Er sprang lachend auf und schritt mit
Volta und einigen anderen sogleich zur Tat.
»Die spinnen wirklich und absolut!«, murmelte Antigua
fassungslos. Anderen einfach die Schuld für die Verwüstungen
in die Schuhe zu schieben!
Umso erleichterter war sie, als sich ihre Truppe endlich in Richtung
des Tores in Bewegung setzte. Die meisten waren sturzbetrunken und sahen
wie durch den Mixer und mehrere Farbeimer gezogen aus. Aber immerhin waren
sie glänzend gelaunt, als sie nach einer Viertelstunde wieder in den
Vorratskeller unter einer australischen Kneipe traten. Bat Furan trennte
sich erst nach einem langen Kuss von Shirooka, den die anderen johlend
quittierten und dadurch den Wirt aufweckten, den sie fluchend die Treppe
herunterstampfen hörten.
Verständlicherweise fand er keine Spur von irgendwelchen Eindringlingen,
denn diese waren schon längst wieder in Paris, um eine U-Bahn zu den
Mont Toncs und von da aus ein Tor nach Barcelona zu nehmen. Dort trennten
sich die Wege der Schar und alle verschwanden schleunigst aus der Europäischen
Node, wo immer noch etliche Xendii ein- und ausgingen und ihnen mit großen
Augen nachsahen.
© I.S.
Alaxa
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