Wie in Shangri-News angekündigt, gab es punkt vier Uhr nachmittags
für eine halbe Stunde strömenden Regen in Shangri-La, der aus
tiefvioletten Wolken niederprasselte, und einen böigen Wind, dessen
Rauschen an die Melodie von ›Nights in White Satin‹ erinnerte.
›Es war richtig. Schließlich haben sie uns zuerst angegriffen.
Aber nicht auf diese Art! Ich habe wie ein tollwütiges Tier
jeden von ihnen wie Puppen zerrissen und ausgeweidet!
Sie haben es verdient. Es war die Rache für ihren feigen Angriff.
Nein. Das war keine Rache. Das war Blutdurst. Ich war berauscht
von ihrer Panik, betrunken von meiner eigenen Macht. Wie konnte ich das
nur fertig bringen? Ich habe Angst vor mir selber!‹
Tigris sank ins nasse Gras und überließ sich ihren Tränen
und ihrem Entsetzen darüber, was in jener Blutnacht geschehen war.
Von Tag zu Tag kamen die Erinnerung daran immer deutlicher zurück
und massakrierten ihren Geist mit den entsetzlichen Bildern. Der Ekel und
die Furcht vor sich selber verdrängten selbst die Trauer um jene,
die in Windwibbenburg ermordet worden waren, doch stets versuchte ein anderer
Teil von ihr sich dafür zu rechtfertigen.
Sie war, wie seit den fünf Tagen ihrer Ankunft in Shangri-La,
wieder einmal alleine und planlos durch den Park und die Waldhaine unterwegs
und hatte sich schließlich trotz des Regenschauers in das kleine
Stück Wildgarten geflüchtet. Sie vermied es, lange mit den anderen
zusammen zu sein. Ihnen hatte Mira helfen können - doch niemand war
anscheinend in der Lage, Tigris’ grauenvolle Erinnerungen ›abzudunkeln‹.
Danubia hatte sich zunächst vehement gegen jede Art von Geistesmanipulation
durch Aethron bei den Jugendlichen gesperrt, dann aber doch zumindest zugestimmt,
die aufkommenden Schuldgefühle und Trauer bei bestimmten Erinnerungsbildern
dauerhaft abdämpfen zu lassen. Besonders Bat Furan, der seit Arkturs
Tod nachts kein Auge mehr zubekommen hatte und von Wein- und Schreikrämpfen
geplagt worden war, ging es nach Miras Behandlung schlagartig besser. Seitdem
stürzten er und Ras Algheti sich verbissen in ihr Training bei den
DiSMasters, genau wie Antigua, derer sich Rosanjin annahm. Ilvyn wollte
aus den Bibliotheken am liebsten gar nicht mehr herauskommen und verkroch
sich hinter Buchdeckeln.
Nur sie, Tigris, sprach überhaupt nicht auf die besondere Art
von Whisper an, der ihren Freunden geholfen hatte. Sie war wohl dazu verdammt,
langsam, aber sicher verrückt zu werden. Denn darauf lief es anscheinend
hinaus: Schizophrenie. Wie sonst konnte man all die merkwürdigen Bilder
in ihrem Geist, Echos von zusammenhanglosen, rätselhaften Sätzen
und vor allem seine Stimme erklären, die stets unerwartet mit ihr
zu reden anfing? Seit der Blutnacht hatte ›Seelenfresser‹ nicht mehr viel
mit ihr gesprochen. Aber dann und wann tauchten kurz unbekannte Gesichter,
Räume und Landschaften vor ihrem geistigen Auge auf. Einmal glaubte
sie das Palais Almacielo mit seinem schneeweißen Festsaal zu sehen,
dann wiederum lag eine hell erleuchtete Metropole nachts zu ihren Füßen,
als ob er wieder einmal auf dem Dach eines Wolkenkratzers stünde und
in die Tiefe blickte. Es gab aber auch Momente, in denen ganze Landstriche
unter ihr dahinrasten, als schösse er schneller als ein Überschallflugzeug
durch den Himmel. Suchte er sie bereits?
Vor drei Tagen hatte er es sogar wieder einmal geschafft, sie in
Panik zu versetzen.
Es war während einer Hypnose-Sitzung bei Mira passiert. Tigris
war gerade dabei gewesen, sich zu entspannen, während ein angenehmes,
warmes Schweregefühl sich in ihrem Körper breit machte. Und dies
hatte er auszunutzen gewusst, indem seine Stimme plötzlich in ihren
offenen Geist gedrungen war und überaus freundlich und sanft gefragt
hatte: ›Wo bist du, kleines Erdengeschöpf? Wohin hat man dich gebracht?‹.
Es war wieder jener rätselhafte Teil ihres Selbst gewesen, der sich
über seinen ›Besuch‹ gefreut und ganz unschuldig ihren Aufenthaltsort
verplappert hatte.
›Shangri-La, soso. Nun steht unserem Treffen fast nichts mehr im
Wege. Ich komme bald zu dir, kleines Erdengeschöpf. Und dann wirst
du mir einige Dinge erklären müssen.‹
Daraufhin war sie schreiend aus der Liege hochgefahren und weigerte
sich seitdem, noch einmal hypnotisiert zu werden.
›Ich komme bald zu dir...‹
Dieser Satz ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Was, wenn es sich
bei ›Seelenfresser‹ nicht um eine Halluzination handelte, die das Amulett
ihr eingab? Und vieles sprach dafür, dass er ein höchst lebendiges,
reales Geschöpf war, das angeblich aus dem Gefängnis ausgebrochen
war und noch viel geisteskranker zu sein schien, als sie es jemals werden
konnte.
Tigris, gegen eine Birke gelehnt, wischte sich mit dem Ärmel
ihrer Jeansjacke über die Augen und legte dann die Hand auf ihre Brust.
Unter dem Sweatshirt konnte sie es fühlen, das Verhängnis, dieses
Krebsgeschwür an einer Silberkette, das auf ihrer Haut, ihrem Geist
und ihrer Seele lastete wie tonnenschweres Gestein.
Vielleicht baute das Amulett diese merkwürdige Verbindung zu
ihm auf. Vielleicht suchte er es? Doch falls dem so war, vermutete er es
anscheinend noch nicht bei ihr, denn er hatte es bisher niemals erwähnt.
Und bis zu dieser grauenhaften Nacht hatte sie es zuweilen schon
selber fast vergessen.
Doch seit dem Überfall bekam sie es nicht mehr aus ihrem Bewusstsein,
ständig hatte sie das Gefühl, eine tickende Zeitbombe mit sich
herumzuschleppen, die irgendwann einmal explodieren und jeden in den Tod
reißen würde, der ihr etwas bedeutete. Denn wer konnte garantieren,
dass die unheimliche Verwandlung, die sie in Windwibbenburg durchgemacht
hatte, nicht wieder stattfinden würde? Wer würde dann diesem
Zorn und der Tollwut zum Opfer fallen? Sie wagte nicht, mit irgendjemandem
darüber zu reden, obwohl man sich in Shangri-La bereits fragte, wer
die Angreifer Windwibbenburgs dermaßen zugerichtet hatte. Niemand
der wenigen Überlebenden konnte genau sagen, was eigentlich passiert
war, bis auf Bat Furan. Doch er schwieg sich gegenüber PAGAN beharrlich
darüber aus, wenngleich er Tigris neuerdings mit einer Mischung aus
Unbehagen und Vorsicht begegnete.
Darüber hinaus hatte sie ihrer Mutter versprechen müssen,
zunächst niemandem von PAGAN von dem Amulett zu erzählen, angeblich
müsse erst ein geeigneter Zeitpunkt gefunden werden.
Ja, sie konnte seine Wärme fühlen, die merklich angestiegen
war, seitdem sie sich in Shangri-La befand.
Verfluchtes Ding!
Würde sie es jemals wieder loswerden, ohne zu sterben? Hass
stieg in ihr auf und sie zog es nach längerer Zeit wieder aus ihrem
Sweatshirt, nachdem sie es seit Wochen geschafft hatte, es mit Ignoranz
zu bestrafen. Doch nun wollte sie ihre Verzweiflung und ihren Zorn daran
auslassen, und sei es nur, indem sie es böse anstarren und vielleicht
anschreien konnte. Schließlich war bei dem Regen kaum jemand draußen,
alle hockten gemütlich in den Cafés und Bars von Shangri-La
oder in ihren ausgefallenen Wohnungen. Da baumelte es also vor ihrer Nase,
dieses gottverdammte Ding, das Raffiyell ihr einfach aufgedrängt hatte.
»Ich hasse dich, du hast mein Leben kaputt gemacht! Und ich
hasse denjenigen, der dich geschaffen hat. Und natürlich denjenigen,
der es mir ohne zu fragen umgehängt hat!«, schrie sie.
Dann verschlug es ihr plötzlich die Sprache. Entgeistert starrte
sie das Amulett an.
Es hatte sich verändert.
›Das ist doch unmöglich‹, dachte sie perplex. Doch was sollte
schon unmöglich bei einem Ding sein, das anscheinend Unmögliches
bewirken konnte?
Nein, kein Zweifel: Das Amulett besaß ein eigenes Innenleben,
denn der kleine Schmetterling befand sich nicht mehr an der Stelle, an
dem Tigris ihn in Erinnerung hatte. Er war sehr viel weiter nach rechts
und etwas nach unten gerutscht, Und die kleine zwölfblättrige
Blüte verharrte zwar immer noch in der unteren Spitze des fünfeckigen
Bernsteins, doch eines ihrer Blättchen glühte nun tiefblau.
»Was soll das denn schon wieder bedeuten?«, wisperte
Tigris tonlos.
»Tigris! Spätzchen, du bist ja vollkommen aufgeweicht!«
Sie wandte den Kopf und sah ihre Mutter mit einem Regenschirm über
die kleine Holzbrücke eilen und auf sich zukommen.
»Mama, bitte, wir müssen Mira davon erzählen. Jetzt
verändert es sich auch noch in seinem Inneren!«, sprudelte Tigris
hervor, kaum dass ihre Mutter vor ihr stand.
»Zuerst gehen wir in unser Zimmer, wo du ein heißes
Bad nimmst, Tigris. Du kannst doch nicht bei dem Regen herumspazieren und
es auf eine Grippe anlegen.«
»Aber ich ... will nicht mehr«, wimmerte Tigris und
senkte den Kopf. Danubia konnte bei dem erbarmungswürdigen Anblick
ihre Tränen auch nicht mehr länger zurückhalten und riss
ihre Tochter an sich.
»Lass mich erst mit deinem Vater darüber reden, Spätzchen,
ja? Ich will erst seine Meinung und seinen Rat einholen, bevor ich mich
an PAGAN wende«, erklärte Danubia mit zitternder Stimme.
»Wann kommt er? Ich habe ihn noch gar nicht gesehen. Wo ist
er?«, fragte Tigris leise, ihren Kopf an der Schulter ihrer Mutter
vergraben.
»In der Allianz kriselt es stark, er hat jeden Tag mehrere
Versammlungen in den verschiedenen Domén Arxes, die die Vorgehensweise
von De Navarris überhaupt nicht mehr verstehen können. Doch sobald
er einige Stunden übrig hat, wird er hierher kommen.«
Danubia nahm ihre durchnässte, niedergeschlagene Tochter in
den Arm und führte sie langsam in Richtung der Stadt.
»Glaubst du, er könnte es noch einmal bei mir schaffen?«
Tigris sah ihre Mutter mit verweinten Augen an.
»Was schaffen? Oh ...« Danubia wandte nachdenklich den
Blick ab. »Ich weiß es nicht, Tigris. Ich weiß bis heute
nicht, wie er es fertig gebracht hat, dass das Xendium so lange Zeit bei
dir nicht ausgebrochen ist. Doch wenn er der Meinung ist, es noch einmal
schaffen zu können, wird er es tun, Tigris.«
Anscheinend tröstete diese Antwort ihre Tochter ein wenig,
denn sie hörte auf zu weinen und schwieg den ganzen Weg durch den
Park.
Kurz bevor sie jedoch die verkleinerte Ausgabe des Arc De Triomphe
erreicht hatten, durch den der Weg aus dem Park in die Stadt führte,
sagte Tigris mit einem Mal nachdenklich:
»Aber wenn er es so ohne weiteres kann ... wieso hat er es
dann nicht auch bei Aévon gemacht? Wieso behält er so etwas
überhaupt für sich, wo er doch viele Leben mit seinem Wissen
retten könnte?«
Bei der letzten Frage, die sie stets verdrängt hatte, musste
Danubia passen. Es war nicht so, dass diese Frage sie niemals beschäftigt
hatte. Doch letztendlich hatte sie immer nur das Wohl ihrer einzigen Tochter
interessiert, selbst wenn sich hinter einer möglichen Antwort vielleicht
nicht sehr angenehme Tatsachen verbargen.
Oder besser gesagt: Gerade weil sie im tiefsten Innersten Schlimmes
befürchtete, zog sie es vor, nichts darüber zu wissen. Und sie
war bereit, auch ein weiteres Mal nicht nach den Hintergründen zu
fragen, wenn es nur Tigris zugute kam.
Doch als Tigris die Sprache auf Aévon gebracht hatte, bekam
die schöne Mauer aus angstbedingter Ignoranz und egoistischer Liebe
zu ihrem Kind erhebliche Risse.
Wieso eigentlich hatte er es nur für Tigris getan und nicht
für Aévon, den er mindestens genauso liebte? Geschweige denn
für seine anderen Nachkommen, die schon durch das Doppel-Xendium umgekommen
waren? Hätte er ihren Tod nicht verhindern können, wo er doch
anscheinend wusste, wie sich das Xendium im Zaum halten ließ?
Und mit einem Mal dachte sie daran, dass seine Erinnerung an Tigris’
Rettung mit Schmerz und Schuldgefühlen verbunden war.
Würde er es vielleicht sogar nie mehr wieder vollbringen wollen,
weil dafür schreckliche, unaussprechliche Dinge getan werden mussten,
über die er mit niemandem reden konnte und die nur er alleine kannte?
Nein, nicht er alleine ...
Danubia fühlte es kalt ihren Rücken hinunter kriechen.
Jemand war vor siebzehn Jahren in Elms Hall dabei gewesen, zumindest
hatte sie das Echo einer weiteren, unbekannten Stimme vernommen, als sie
eine von Procyons Erinnerungen aufgefangen hatte; an jenem Tag, an dem
sie sich hier in Shangri-La nach all den Jahren wieder begegnet waren.
Doch er beharrte gegenüber allen anderen darauf, sich damals
alleine mit Tigris eingesperrt zu haben.
Wenn jedoch entgegen seinen Beteuerungen doch noch eine Person dabei
gewesen war, dann war sie vielleicht die Erklärung für seine
Heimlichtuerei.
Und vielleicht ... vielleicht war es auch diese unbekannte Person
in Wahrheit gewesen, die Tigris vor dem Tode gerettet hatte.
Doch um welchen Preis, wenn er so schwer an diesem Geheimnis trug?
Circumpolaris umfasste alle Landstriche und Gewässer nördlich
des Polarkreises, sowie Island und Grönland und wurde seit zwanzig
Jahren von Snaefell Bakkaflói beaufsichtigt, einem großen,
massiven Mann, der die Strategie der circumpolaren Sippen fortführte:
Sich aus allem heraushalten und möglichst nur um die eigenen Belange
kümmern. Circumpolaris war nach eigener Aussage seinerzeit nur deswegen
der Allianz beigetreten, um Ruhe vor ihr zu haben und dieses Motto hatte
sich auch sein jetziges Oberhaupt zu Eigen gemacht. Allerdings konnte selbst
er nicht mehr länger die Unruhen und Zerwürfnisse innerhalb der
Allianz ignorieren und hatte in seiner Funktion als Ratsvorsitzender des
laufenden Jahres alle Oberhäupter zu einer dringlichen Versammlung
nach Island geladen. Denn mit einer Öffnung einer ihr anvertrauten
Node zum ›Jenseits‹ ohne vorherige Erlaubnis der anderen Domén Arxes
brach eine Wächtersippe die Gesetze der Allianz. Die Ankündigung
der europäischen und nordamerikanischen Wächtersippe ließ
daher verständlicherweise Empörung und Ratlosigkeit unter ihren
Kollegen entstehen. Mimas De Navarris und Adhara Whitechurch missachteten
unverhohlen und anscheinend vorsätzlich die Verfassung der Allianz
und die guten Sitten, was in der über hundertjährigen Geschichte
der Rosenstern-Allianz noch niemals vorgekommen war. Dieses selbstherrliche
Gebaren widersprach allem, wofür die Allianz gegründet war.
Anscheinend betrachteten sowohl De Navarris als auch Whitechurch
ihre zu beaufsichtigenden Noden als persönliches Eigentum, eine absurde
Vorstellung, denn in Artikel 1 der Allianz-Verfassung stand unmissverständlich:
›Die Noden sind neutraler Boden, zu dem allen Xendii der Allianz
freien Zutritt haben. Sie stehen lediglich unter der Verwaltung der Domén
Arxes, die für die Sicherheit und Instandhaltung sorgen, sowie für
die Sicherheit und Instandhaltung aller von ihnen abzweigenden Passagen.
Schließungen, Öffnungen oder Neuerrichtungen aller Art innerhalb
der Node bedürfen einer vorherigen Abstimmung durch den Domén-Rat,
dessen Entscheidungen bindend für alle Domén Arxes sind. Zuwiderhandlungen
können mit der Enthebung einer Domén von all ihren Pflichten
und Privilegien geahndet werden sowie mit militärische Maßnahmen
im Falle der Weigerung, den Nodenschlüssel an den Rat herauszugeben.‹
Procyon stand mit Chillán Taraqua, dem Oberhaupt der Wächtersippe
von Azteca, der südamerikanischen Node, vor dem abseits gelegenen,
großen Holzhaus der isländischen Küstensiedlung, in dem
die Versammlung schon längst hätte beginnen können, wenn
endlich einmal Mimas und Umbriel De Navarris eingetroffen wären. Doch
sie ließen seit einer Stunde auf sich warten, was die anderen Oberhäupter
sehr verärgerte - ausgenommen Adhara Whitechurch natürlich. Snaefell
Bakkaflói hatte daher kurzerhand das Abendessen auf den späten
Nachmittag vorziehen lassen und den Gästen köstlichen, frischen
Lachs und gegrilltes Lamm serviert. Natürlich war für etwaige
Nachzügler nicht mehr viel übrig geblieben, was aber den meisten
nicht das kleinste bisschen leid tat.
Doch selbst nach dem üppigen und ausgedehnten Gelage glänzte
De Navarris immer noch durch Abwesenheit, weswegen Chillán Taraqua
die Gelegenheit für eine Zigarettenpause und einige vertrauliche Worte
mit dem atlantischen Oberhaupt gesehen hatte. Draußen war es kühl
und böig, die See grau und aufgewühlt; eine passende Kulisse
für den Ernst des Anlasses.
»Mimas De Navarris fährt einen vollkommen irrationalen
Kurs«, befand Chillán, ein kleiner, graziler Mann, dessen
breitem, freundlichem Gesicht man die indianischen Vorfahren ansah. »Niemand
wird einer Öffnung der jenseitigen Tore zustimmen. Er bringt nur alle
gegen sich auf, und das kann doch wirklich nicht seine Absicht sein.«
»Du vergisst, dass er America Borea auf seiner Seite hat«,
meinte Procyon nachdenklich. »Und Orientalis scheint auch nicht abgeneigt
zu sein. Nein, Chillán, der Wahnsinn hat Methode. Immerhin verweist
Umbriel fortwährend auf die Gefahr, die von PAGAN ausgehen soll, weswegen
angeblich die Heerscharen der Erzengel intervenieren wollen. Und eine der
Pflichten einer Domén Arx ist es, die Sicherheit aller Xendii in
ihrem Gebiet sicher zu stellen. Darauf wird Mimas sich berufen.«
»PAGAN ist sehr mächtig geworden, das kannst du nicht
bestreiten. Ich frage mich, was dich zu ihnen hinzieht. Nur weil du dich
dafür entschieden hast, einstweilen in der Allianz zu verbleiben,
bedeutet das ja nicht, dass du nicht mehr mit ihnen sympathisierst.«
Chilláns dunkle, kleine Augen sahen den hochgewachsenen Engländer
forschend an.
»Meine Sippen stehen größtenteils hinter mir, ohne
ihren Rückhalt hätte ich niemals auch nur erwogen, einen Wechsel
zu PAGAN anzustreben. Bis auf einige Ausnahmen haben die meisten meiner
Häuser in einer inoffiziellen Befragung für einen solchen Wechsel
gestimmt. Sie beobachten genau, was nun innerhalb der Allianz vorgeht.
Sollten De Navarris und Whitechurch mit ihren Plänen durchkommen,
kann ich ihnen ihren Wunsch nach einem Austritt nicht mehr länger
verwehren. Zimberdale ist nichts weiter als eine Sippe unter vielen, die
lediglich seit Jahrhunderten von den anderen atlantischen Sippen damit
beauftragt wird, die Node zu bewachen und die Interessen Atlantikas in
einem Bündnis zu vertreten. So gesehen würde sich gar nichts
für uns ändern, wenn wir in PAGAN aufgingen. Selbst die kleinsten
Sippen dort sind autonomer als die Domén Arxes der Allianz. Und
vor allem sind dort Politik und Religion strikt getrennt. Jemand wie Umbriel
hätte wenige Chancen, zu solch einer machtvollen Position aufzusteigen
wie unter De Navarris.«
»Umbriel ist doch nur die Marionette von De Navarris«,
meinte Chillán verächtlich.
»Eine äußerst fanatische und von zu vielen bejubelte
Marionette. Ich würde ihn niemals unterschätzen, schon gar nicht,
wenn man seine Ursprünge bedenkt, die angeblich in einem Satanfaction-Orden
liegen sollen.«
»Dass er sie offen legt, spricht doch nur für ihn. Aber
er spaltet mit seinen Thesen meine Sippen; es sind schon zahlreiche Unruhen
durch seine übereifrigen Anhänger ausgebrochen, was ich nicht
mehr länger tolerieren kann. Die verschiedensten Konfessionen haben
so lange Zeit friedlich nebeneinander existiert, und wenn man gar nicht
miteinander konnte, ist man sich wenigstens aus dem Weg gegangen. Aber
jetzt fordert eine kleine, lautstarke Minderheit die Einhaltung sämtlicher
Gebote der Weißen Bibel und von mir eine Null-Toleranz-Politik gegenüber
Abweichlern. Meine Güte, ich kann doch nicht von Sippe zu Sippe reisen,
Inquisition spielen und jeden Freigeist, jeden Ehebrecher, jeden Homosexuellen
zu Tode steinigen lassen!« Chillán schüttelte langsam
den Kopf.
»Ein Grund mehr, PAGAN beizutreten. Eine derartige Einmischung
in das Leben eines Individuums ist undenkbar dort. Und genau das ist es,
was De Navarris und etliche andere Oberhäupter fürchten: Machtverlust.
Sie wissen genau, dass sie nicht mehr viel zu sagen haben, sollte sich
die Mehrheit ihrer untergeordneten Sippen für einen Austritt aus der
Allianz und Wechsel zu PAGAN entscheiden.«
»Sollte De Navarris weiterhin die Xendii derart gegeneinander
aufhetzen, kann auch ich für nichts mehr garantieren«, murmelte
Chillán düster. »Es würde mir Leid tun, denn ich
halte die Ideen der Rosenstern-Allianz für wichtig. Und ich bin ein
gläubiger Mensch und sehe in der fehlenden Moral und spirituellen
Bildung überall auf der Welt einen Hauptgrund für den desolaten
Zustand der Menschheit. Aber es den Leuten mit Gewalt einbläuen wollen,
halte ich nicht für den richtigen Weg. Anscheinend wollen De Navarris
und Whitechurch aber genau diese Methode anwenden.«
»De Navarris will nur Macht«, knurrte Procyon bitter.
»Adhara Whitechurch und ihrer frommen Sippe hingegen nehme ich durchaus
ab, dass sie sich als Vollstrecker des göttlichen Willens sehen. Dies
könnte auch für die orientalische Domén gelten, aber wer
kann das schon sagen?«
»Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in dieser Versammlung
endlich einen Durchbruch erzielen und vielleicht wieder Ruhe in die Xendii-Gemeinschaften
bringen können. Eine Abstimmung gegen die Öffnungen können
De Navarris und Whitechurch einfach nicht ignorieren, wenn sie nicht eine
geschlossene Front der anderen Doméns riskieren wollen.«
»Nur eines macht mir Sorge«, meinte Procyon daraufhin.
»Nüchtern betrachtet stellen die Europäische und Nordamerikanische
Domén schon fast die Hälfte aller wehrtüchtigen Xendii
der Allianz. Nimmt man Orientalis dazu, ergibt sich eine militärische
Überlegenheit gegenüber den restlichen Doméns.«
Chillán zog entgeistert die dunklen Augenbrauen hoch. »Ich
glaube, nun geht deine Fantasie mit dir durch, mein lieber Procyon. Nicht
einmal Mimas De Navarris oder Adhara Whitechurch wären dumm genug,
die Allianz in einen Bruderkrieg zu verwickeln, während PAGAN genüsslich
zusieht und nur darauf zu warten braucht, die kläglichen Überreste
zu beerben!« Er schüttelte energisch den Kopf mit einer Miene,
die deutlich sein Missfallen über Procyons Theorie ausdrückte.
In diesem Moment wurde die Tür des dunkelblau gestrichenen
Holzhauses geöffnet und ein blonder Jüngling der Bakkaflói-Sippe
steckte den Kopf hinaus. »Lux Mimas und Lux Umbriel sind im Gláma
eingetroffen und auf dem Weg hierher!«
»Nun denn. Ich bin gespannt, was sie uns zu sagen haben«,
seufzte Procyon und trat nach Chillán Taraqua ein.
Im Versammlungsraum war es gemütlich warm, ein Feuer prasselte
im Kamin und der Duft frischen Kaffees vermischte sich mit dem Geruch von
frittiertem süßem Gebäck, in Island Kleinur genannt. Kleine
Jungen und Mädchen der Bakkaflói-Sippe gingen an den hufeisenförmig
gestellten Tischen entlang und schenkten den Anwesenden ein, ein herzallerliebster
Anblick, der jedem Erwachsenen ein bezaubertes Lächeln entlockte.
Kaum, dass sich Procyon und Chillán an ihre nebeneinander
liegenden Plätze begeben hatten, standen auch schon Mimas und Umbriel
in der Tür.
»Ist das der Erzengel Gabriel?«, hauchte ein kleines
Mädchen fassungslos und konnte sich gar nicht vom Anblick jenes jungen
Mannes losreißen. Sämtliche kleine glänzende Augenpaare
waren wie hypnotisiert auf den Prediger gerichtet, der ihnen schüchtern
zulächelte.
Man konnte über Umbriel denken, was man wollte, doch seine
Schönheit war schon legendär in den Doméns und selbst
so mancher gestandene Mann wandte irritiert den Blick von ihm ab, um ihn
dann doch wieder verstohlen anzusehen. Das helle Türkis seiner Augen
erinnerte an das Meer an einem tropischen Strand, genauso klar und bewundernswert.
Groß und mandelförmig waren sie, diese langbewimperten Augen
in einem leicht gebräunten Gesicht mit hohen Wangenknochen, einer
makellosen, geraden Nase und vollen Lippen mit klar gezeichneten Konturen.
Sein schulterlanges hellbraunes, leicht gewelltes Haar trug Umbriel offen,
was die Sanftheit seines ganzen Gesichtsausdruckes unterstrich. Nicht wenige
seiner ergebenen Gläubigen feierten ihn schon als die Reinkarnation
von Lux Yesu. Er war nicht sonderlich groß, kaum 1,70, bewegte sich
jedoch elegant und geschmeidig. Doch seine Anziehungskraft bestand nicht
alleine in seinem atemberaubend schönen Gesicht. Es war seine Stimme,
deren samtiges Timbre niemanden kalt ließ und den Zuhörer oft
genug auch gegen seinen Willen dazu brachte, ihrem Klang unter vielen anderen
Stimmen nachzulauschen. Misstrauische Xendii hatten schon mehrfach Seher
damit beauftragt, zu überprüfen, ob Aethron mit im Spiel war,
was Umbriels phänomenale Wirkung auf Menschen betraf, doch dieser
Verdacht hatte sich niemals erhärtet. Ohnehin besaß Umbriel
selber keine wandlerischen Talente, er war mit Verstärktem Seher-Xendium
geschlagen und würde in absehbarer Zeit sterben - ein Umstand, der
ihm noch weitere Sympathiepunkte unter seinen Anhängern einbrachte.
»Es tut uns sehr leid, dass wir uns verspätet haben«,
begann er zu reden und sah wirklich überaus zerknirscht aus. »Aber
Lux Phoebe, ein hochgeschätztes Mitglied unserer Sippe, lag nach einem
unglücklichen Sturz im Sterben und es war ihr sehnlichster Wunsch,
dass ich ihr die Letzte Beichte abnehme und einige tröstende Worte
aus der Weißen Bibel vorlese.« Er schluckte und senkte scheu
den Blick, denn in den wunderschönen Augen hatten verräterische
Tränen geglänzt.
Adhara Whitechurch presste ihre ohnehin schmalen Lippen zusammen,
die vor Mitleid bebten. Sie war eine von Umbriels glühendsten Anhängern
und nahm ihn überall und vor allen Kritikern in Schutz, gleich einer
Adlermutter in ihrem Horst - und einem Raubvogel sah sie nicht unähnlich
mit ihrer großen, gebogenen Nase und dem schmalen, knochigen Gesicht.
»Auch ich entschuldige mich für unsere Verspätung,
es lag nicht in unserer Absicht, jemanden zu verärgern«, fügte
Mimas hinzu, der wie Umbriel in einen schwarzen Anzug gekleidet war und
wie immer wie aus dem Ei gepellt aussah.
»Dann setzt euch endlich hin, sonst schafft ihr es unabsichtlich
dennoch«, brummte Snaefell Bakkaflói mit seiner Bassstimme.
»Unser Beileid ist euch gewiss; wir alle kannten Phoebe und schätzten
ihre Fähigkeiten und ihre Güte sehr. Dennoch müssen wir
nun höchst unerfreuliche Dinge klären, während unsere lieben
kleinen Racker spielen dürfen.« Er zwinkerte den Kleinen mit
seinen stahlblauen Augen gutmütig zu.
Die Kinder trippelten daraufhin artig an Umbriel vorbei hinaus zur
Tür, wobei sie ihn begeistert anstrahlten und ein liebevolles Lächeln
zur Antwort erhielten.
»Bist du wirklich ein Engel?«, fragte ein kleines Mädchen
mit großer blauer Schleife im Rotschopf und sah erwartungsvoll zu
dem Prediger empor.
»Leider nicht«, sagte Umbriel und streichelte über
ihre Wangen. »Niemand kann so sein wie sie, so rein und so gut. Aber
wir können ihnen nacheifern. Ich liebe Gott und die Engel, und du
auch, nicht wahr?«
Sie nickte eifrig und hopste dann fröhlich davon, mit ihrer
süßen Stimme ein isländisches Engelslied trällernd.
Endlich hatten Umbriel und Mimas Platz genommen, als Snaefell auch
schon die Sitzung eröffnete.
»Ihr alle wisst, dass ich kein Freund von langen Reden bin.
Wir werden heute darüber abstimmen, ob die Jenseits-Tore der Europäischen
und Nordamerikanischen Node geöffnet werden sollen. Die Entscheidung
des Rates ist bindend und jedem Anwesenden sind die Konsequenzen bei Missachtung
dieser Entscheidung bekannt. Wer ist also dafür?«
»Einen Moment!«, rief Adhara Whitechurch empört,
was den wuchtigen, rotblonden Isländer die Augen verdrehen ließ.
Doch das Oberhaupt der nordamerikanischen Domén war schon aufgestanden
und gedachte eine Ansprache zu halten.
»Was gibt es denn da noch zu klären?«, rief Buran
El Beyt Akkamar ungeduldig, was Chillán Taraqua und vorallem Procyon
überrascht aufhorchen ließ. War Orientalis nun doch nicht mehr
auf dem Kurs von Europa und America Borea? »In den Sippen meiner
Domén zumindest ließ sich keine Mehrheit für eine Öffnung
finden.«
»Nun, immerhin haben wir doch noch das Recht, unsere Gründe
für einen solchen Schritt darzulegen«, sagte Adhara und sah
den Araber mit dem gepflegten, kurzen Vollbart sowohl irritiert als auch
giftig an.
»Falls so ein Recht existiert, sollten wir es dringend abschaffen«,
ließ sich Snaefell leise vernehmen, der seine Antipathie gegenüber
der biederen, verkniffenen Adhara bei keiner Versammlung verhehlte.
»Natürlich könnt ihr sofort dagegen stimmen. Aber
dann riskiert ihr nichts weniger als das Armaggedon!« Adharas Stimme
zitterte dramatisch.
»Das Armaggedon könnte viel eher hereinbrechen, wenn
die Tore zum ›Jenseits‹ geöffnet werden«, erwiderte Criador
Diostéa, das Oberhaupt der Wächtersippe von Balkan-Osmania
mit seiner leisen, hohen Stimme. Er war erst seit wenigen Monaten auf diesen
Posten berufen worden und mit knapp achtundzwanzig Jahren der Jüngste
im Rat der Oberhäupter, dementsprechend wirkte er noch recht unsicher.
»Ja, das ist wahr«, stimmte Procyon zu. »Wer sagt,
dass nur Engel hereinschneien werden?«
»Kein Dämon würde es riskieren, beim Passieren einem
Heer von Xendii in die Arme zu laufen«, antwortete Mimas mit einem
abschätzigen Blick zu Procyon. »Wir würden die Jenseits-Tore
natürlich nur minimal öffnen, sodass nur wenige überirdische
Geschöpfe auf einmal in unsere Welt gelangen können.«
»Und weshalb benötigen wir die Hilfe der Himmlischen
überhaupt?«, fragte Procyon. »Die Dinge stehen zugegebenermaßen
nicht sehr gut auf der Welt, doch das meiste davon hat wenig mit Dämonen
zu tun, sondern mit menschlichen Untugenden wie Gier und Machthunger.«
»Oh, wenn es nur das wäre!«, zischte Adhara erbittert.
»Seit Jahrzehnten hat PAGAN ungehindert Ströme von Dämonen
auf diese Welt kommen lassen. Zu welchem Zweck wohl? Nein, wir haben lange
genug zugesehen, wie sie sich eine übermächtige Armee aufgebaut
haben, um diese Welt in Finsternis und Chaos zu stürzen. Wir müssen
jetzt handeln! Ich bitte euch inständig, nicht mehr länger die
Gefahr zu ignorieren, die von diesen Satansanhängern ausgeht!«
Procyon musste sich stark beherrschen, um nicht aufzuspringen und
Adhara mit der Wahrheit über PAGAN und die Überirdischen niederzuschreien.
Stattdessen fragte er übertrieben freundlich: »Und wann findet
der Angriff statt? Woher weiß man, wie stark ihre Dämonenarmee
ist? Und was hätten die Xendii dieses Bündnisses davon?«
»Deine Meinung, Procyon, bezüglich der Satansanhänger
ist jedem von uns bekannt«, sagte Mimas frostig. »Es wäre
gerechter und ehrlicher, du enthieltest dich jedweder Abstimmung.«
»Ich bin kein Satansanhänger und verbitte mir jegliche
Anschuldigungen dieser Art«, zürnte Procyon zurück.
Umbriel räusperte sich und stand ebenfalls auf. »Bitte,
meine lieben Brüder und Schwester, bitte! Streitet doch nicht, wo
wir Einheit so bitter nötig haben. Wie stark unser Glaube ist, und
an was wir glauben, weiß nur Gott allein vollkommen, es ist anmaßend
von uns, ja, sündig sogar, über andere vorschnell zu urteilen
und ihnen mit Hass zu begegnen. Ich denke, unser Bruder Procyon will wie
alle Oberhäupter nur das Beste für seine Schutzbefohlenen. Deswegen
rufe ich euch auf, sachlich zu bleiben und ebenfalls stets im Blick zu
halten, was das Beste für diejenigen ist, die auf uns zählen
und deren Glück von unseren Entscheidungen abhängig ist. Haben
unsere Kinder nicht eine bessere Welt verdient? Ich bin sicher, niemand
von euch wird tatenlos zusehen, wenn ihnen Schmerz und Verzweiflung drohen.«
Er sah sie der Reihe eindringlich mit einem Blick an, dessen Qual aus einem
tiefen Winkel seiner Seele empor zu quellen schien. »Wer kann sie
beschützen, wenn nicht wir? Wer könnte sie vor dem Grauen erretten,
wenn nicht wir? Wenn die Nacht kommt und nicht mehr vergehen will, ohne
dass die Erlösung naht, auf die man hofft-« Er brach ab und
schloss kurz die Augen, während sich bis auf Adhara und Mimas alle
anderen Oberhäupter fragend ansahen.
»Was unser lieber Bruder Umbriel damit sagen will«,
rief Mimas, »ist, dass wir endlich handeln müssen. PAGAN und
ihre dämonischen Armeen werden uns überrollen und vernichten,
um die Führung über diese Welt zu übernehmen. Dass sie ihre
Noden geschlossen haben, soll uns nur in Sicherheit wiegen und uns davon
abhalten, die himmlischen Heerscharen einzulassen, die das Strafgericht
Gottes abhalten wollen.«
Procyon schnaubte verächtlich auf. »Gut, ihr habt eure
Gründe vorgelegt. Können wir nun zur Abstimmung übergehen?«
»Ich bin sehr dafür!«, stimmte Snaefell mit strahlendem
Gesicht zu.
»Es schmerzt mich, mit anzusehen, wie ihr blindlings in euer
Verderben rennt«, sagte Umbriel traurig. »Ich habe so sehr
dafür gebetet, dass ihr die Gefahr erkennt, die von PAGAN ausgeht.
Habt ihr denn wirklich unsere uralte Verpflichtung vergessen? Als die Nefaílim
Gottes unverdiente Gnade erfuhren, da schworen sie ihm doch Ewige Treue
und unermüdlichen Kampf gegen die Höllenbrut, die sich von der
Finsternis in menschlichen Seelen nähren. Jetzt ist die Stunde gekommen,
um unsere Wahrhaftigkeit und Treue auf die Probe zu stellen.«
»Wir möchten gerne abstimmen und keine Messe halten«,
sagte Buran El Beyt Akkamar mit kritisch erhobener Braue. Procyon und Chillán
nickten eilig, nachdem sie beide überrascht festgestellt hatten, dass
sie Umbriels warme, samtige Stimme viel zu lange in den Bann geschlagen
hatte.
Doch Umbriel fuhr noch inbrünstiger fort: »Ja, auch unter
uns zweifeln so manche an Gott, leugnen ihn womöglich insgeheim, wischen
Seinen Heiligen Namen achselzuckend hinweg, so sehr sind sie zurückgefallen
in ihre dämonische Natur. Dieses dämonische Erbe lastet schwer
auf uns allen und lässt uns oft hochmütig werden, doch wir sind
imstande, es in uns niederzuringen. Das ist unsere lebenslange Prüfung
und unsere heilige Pflicht. Ich bitte euch inständig: Lasst uns nicht
alleine, steht uns bei in unserem Kampf gegen diejenigen, die ihren Schwur
gebrochen haben und wie einst schon einmal böses gegen die anderen
Menschen planen! Auch die Neutralen sind wie Kinder, völlig ahnungslos,
dass furchtbare Mächte sich gegen sie erheben.«
»So ist es in der Tat!«, bekräftigte Adhara Whitechurch.
»Wir schweben alle in größter Gefahr und können nur
gemeinsam diese schwere Prüfung durchstehen.«
»Die Öffnung der Jenseits-Tore hat nichts mit unserer
Bereitschaft zu tun, unsere Sippen gegen Angriffe aller Art zu verteidigen«,
versetzte Snaefell scharf. »Auch wenn wir gegen die Öffnung
stimmen, heißt das noch lange nicht, dass wir mit PAGAN oder Dämonen
sympathisieren. Jede Domén wird derjenigen zur Hilfe eilen, die
diese nötig hat. Wieso muss ich hier Selbstverständlichkeiten
erörtern?«
»Ihr alle verkennt die Gefahr, in die wir uns begeben, wenn
wir nicht die Himmlischen Heerscharen einlassen!«, sagte Umbriel
bestürzt. »Denn PAGAN ist schon viel zu mächtig geworden
und wildert blutrünstig in unseren Gebieten. Erst vor wenigen Tagen
ist ihnen eine von unseren Sippen zum Opfer gefallen. Ich selber habe die
Stätte des Grauens besucht und einen bitteren Vorgeschmack dessen
bekommen, was uns erwarten wird. Sie haben dort einen tollwütigen
Dämon losgelassen, der selbst Kinder und Frauen zerrissen hat. Niemand
hat überlebt.« Seine Stimme geriet ins Stocken.
»Es stimmt«, schluchzte Adhara auf und wischte sich
Tränen aus den Augen. »Ich habe die Aufnahmen gesehen, es ist
unbeschreiblich.«
Procyons Innerstes verkrampfte sich vor Ekel und Zorn darüber,
dass nur er alleine im Kreis der anderen Oberhäupter die Wahrheit
kannte und sie nicht Mimas, Adhara und Umbriel entgegen speien konnte.
Kalte Schauer krochen über seinen Rücken angesichts der unfassbaren
Dreistigkeit, mit der diese Lüge in die Welt entlassen wurde. Eine
große Truppe Freiwilliger aus Shangri-La waren wenige Stunden nach
der Ankunft der wenigen Überlebenden dieses Massakers nach Windwibbenburg
gegangen, hatten die ermordeten Sippenmitglieder in einem Massengrab bestattet
und ihre toten Mörder eingeäschert. Diese waren allerdings höchst
unappetitlich zugerichtet worden, was auch PAGAN Rätsel aufgab. Woher
sollten also jene unbeschreiblichen Aufnahmen stammen, von denen Adhara
sprach?
»Nun, die Vorgehensweise der europäischen und nordamerikanischen
Domén Arx gegen ihre eigenen Sippen, die in manchen Dingen eine
andere Meinung vertreten, ist ebenso unbeschreiblich«, sagte Procyon
mit der kältester Verachtung, zu der er fähig war.
»Du verdrehst die Wahrheit, Procyon. Satansanhänger werde
ich selbstverständlich niemals in meiner Domén dulden, sie
sind eine Gefahr für alle, die in Frieden und gottgefällig leben
wollen!«, entgegnete Adhara empört.
»Gott selber befiehlt uns, das Böse in Menschengestalt
auszumerzen«, hub Umbriel nachdenklich an, »denn es ist wie
Schimmel auf dem Apfel, der bald die ganze Frucht verrotten lässt.
Und auch wenn uns diese Aufgabe schwer fällt, müssen wir doch
an diejenigen denken, die noch rein und unschuldig sind. Für das Heil
ihrer Seele kämpfen wir.«
»Deine aufrührerischen Predigten sind eine viel größere
Gefahr, Umbriel!«, fuhr Chillán den jungen Mann an, der ihn
verständnislos und getroffen ansah.
»Wie kannst du es wagen, Chillán?« Adhara war
außer sich vor Zorn aufgesprungen und funkelte den Südamerikaner
feindselig an. »Wie kannst du es wagen, Umbriel einen Aufrührer
zu nennen, wo er nichts anderes als die Wahrheit der Weißen Bibel
verkündet. Ist Gott auch ein Aufrührer für dich?«
»Jeden Xendi, der andere Xendii zum Mord an ihresgleichen
aufruft, nenne ich einen Aufrührer!«
»Wer von euch sich die Dämonen zu Freunden macht, begeht
wahrlich große Sünde!«, rezitierte Umbriel eindringlich
und voller Leidenschaft eine Passage aus der Weißen Bibel.
»Und er soll hinweggetilgt werden aus eurer Mitte, denn er
ist wortbrüchig geworden gegenüber Gott und seinen Heiligen Erzengel!
Wer aber tatkräftig zu seinem Heiligen Eid steht, der wird Seine Gnade
und Güte erfahren und seine Erbmakel wird von ihm genommen werden,
damit er in Seinem Lichte wandeln kann immerdar.«
»Niemand von uns verkehrt mit Dämonen!«, entrüstete
sich Criador Diostéa mit schriller Stimme.
»Meine Herrschaften!«, brüllte Snaefell Bakkaflói
und übertönte spielend mit seiner mächtigen Stimme die Streithähne.
»Wir sind weit vom eigentlichen Grund unserer heutigen Sitzung abgeschweift.
Wir kommen daher nun - endlich! - zur Abstimmung. Wer ist dafür, die
Jenseits-Tore in den Noden von Europa und America Borea zu öffnen?«
Mimas und Adhara hoben mit grimmiger Miene ihre Hand.
»Wer ist dagegen? Atlantika, Orientalis, Azteca, Balkan-Osmania
und Circumpolaris. Somit wurde soeben bindend beschlossen, die besagten
Jenseits-Tore nicht zu öffnen.«
Mimas schüttelte langsam und mit finsterer Miene seinen Kopf.
»Das kann nicht euer Ernst sein. Durch diesen Beschluss werft ihr
meine Sippen den Dämonen und PAGAN zum Fraß vor!« Dann
schnellte er plötzlich aus seinem Stuhl empor, sah jedes Ratsmitglied
bis auf Adhara noch einmal durchdringend an und marschierte begleitet von
überraschten und verwirrten Blicken zur Tür.
Umbriel erhob sich langsam und mühsam, als trüge er ein
schweres Gewicht auf seinen Schultern. »Gott stehe uns bei. Gott
stehe uns allen bei, denn ihr ahnt nicht, welches Grauen mir offenbart
wurde.«
»Er wird uns beistehen, Er und Seine Himmlischen Heerscharen.
Und unsere Pflicht ist es, unsere Sippen vor dem Übel zu bewahren«,
flüsterte Adhara tonlos und stand als letzte auf.
Dann gingen auch sie mit gesenktem Kopf und schmerzlich verzogener
Miene an den Tischen entlang in Richtung Tür.
»Wie sollen wir das jetzt verstehen?« Buran El Beyt
Akkamar wirkte genau wie seine Kollegen völlig überrumpelt.
»Am besten gar nicht«, entschied Snaefell achselzuckend.
»Ich lasse mir jedenfalls nicht von einem Prediger vorschreiben,
wie ich zu glauben habe. Konnte er denn keinen anständigen Beruf erlernen?
Wieso ist er mit seinem guten Aussehen nicht nach Hollywood zum Film gegangen
- da fällt mir ein: Wisst ihr eigentlich, dass ein Bakkaflói
gerade dabei ist, dort Karriere als Schauspieler zu machen? Er nennt sich
jetzt Floyd Baker.«
Die Anspannung aller Oberhäupter entlud sich in schallendem
Gelächter und gaben den meisten wieder ein wenig die Hoffnung zurück,
dass sich die ganze Krise doch noch zum Guten wenden konnte.
Einzig in Procyons tiefsten Inneren keimte eine böse Vorahnung
auf, die durch Adharas und Mimas letzte Worte gesät worden waren.
Wer so überzeugt vom herannahenden Ende der Welt wie sie war oder
zumindest so tat, würde sich vielleicht nicht durch ungläubige
Thomase davon abhalten lassen, das ›einzig Richtige‹ zu tun.
Mimas hatte seine engsten Vertrauten sowie Thanatos in sein abhörsicheres
Konferenzzimmer im Palais Almacielo versammelt. Mit der Audienz hatte er
wie schon oft gewartet, bis sich Umbriel in seine privaten Gemächer
zurückgezogen hatte, um die Nacht im Gebet zu verbringen und Gott
um Beistand anzuflehen.
Thanatos sah nach dem etwas missglückten Überfall auf
jene kleine, aufmüpfige deutsche Sippe arg lädiert aus, doch
zog es vor, sich nicht zu schonen. Er und eine bestimmte Gruppe innerhalb
Mimas’ geheimen Assassinentruppe waren überaus hart zu sich selber
und wurden wegen ihrer unmenschlichen Kälte und Unbarmherzigkeit sogar
von den anderen Kriegern mit Überbegabung gefürchtet. Bei Thanatos
kam noch absolute Humorlosigkeit dazu, die sich in seinem strengen, kantigen
Gesicht widerspiegelte, über das niemals auch nur das kleinste Lächeln
huschte.
Kein Wunder, wenn man denn wusste, von welchem Ort Mimas ihn und
einige andere als Jugendliche geholt - oder besser gesagt: geraubt hatte.
Thanatos blieb trotz einer großen Fleischwunde im Bein breitbeinig
und mit verschränkten Armen stehen und ließ die kleine Runde
um Mimas nicht aus seinen moorfarbigen Augen.
Das Oberhaupt der europäischen Domén Arx lehnte sich
mit äußerst zufrieden wirkender Miene behaglich in den teuren
Polstersesseln zurück. »Einfach wunderbar. Alles läuft
wie geplant. Dann können wir sofort zur nächsten Stufe übergehen.
Thanatos, wie viele deiner Leute sind schon in Mexiko?«
»Alle fünfzig. Du musst nur den Befehl zum Angriff erteilen,
mein Gebieter.«
»Diesmal darf nichts schief gehen wie in diesem Nest neulich.
Nun ja, wer konnte auch ahnen, dass sie sich Dämonen gehalten haben.
Insofern haben wir zufälligerweise einmal die Richtigen erwischt.«
Mimas grinste selbstgefällig und seine Hofschranzen kicherten pflichtschuldigst.
Nur Thanatos blieb vollkommen unbeeindruckt und ließ nicht mit dem
kleinsten Wimpernschlag durchblicken, dass er und ein erlesener kleiner
Kreis ganz andere Spekulationen über jene Nacht anstellten, die sich
durch ein intensives ›Gespräch‹ mit einer der abtrünnig gewordenen
De Navarris-Mitglieder noch weiter erhärtet hatten. Unglücklicherweise
war sie vor wenigen Stunden an inneren Blutungen krepiert, bevor man noch
mehr interessante Details aus ihr herausfoltern konnte, die vor Mimas und
seinen törichten Anhängern geheim gehalten wurden.
»Ach, ihr hättet dabei sein müssen. Es war zu köstlich!«,
lachte Mimas. »Umbriel ist einfach Gold wert. Durch ihn folgt uns
America Borea wie ein kleines Hündchen. Und unser lieber Mitverschworener
hat seine Rolle überzeugend gespielt. Procyon Zimberdale schöpft
keinerlei Verdacht mehr in dieser Hinsicht. Aber er wird bald sowieso genug
in seinem eigenen Gebiet zu kämpfen haben.«
»Aber was ist, wenn Adhara tatsächlich die Jenseits-Tore
öffnen will, wie Umbriel immer verlangt?«, wandte einer seiner
Leute ein.
»Uns wird schon etwas einfallen, um Umbriel noch ein wenig
hinzuhalten, er ist doch so rührend naiv. Manchmal möchte man
ihn geradezu schütteln, ihm ein Glas Champagner in die Hand drücken
und ihm ein hübsches Mädchen aufs Zimmer schicken. Ein wenig
Sünde würde ihm gut tun - und uns. Und falls er wider Erwarten
doch Probleme machen sollte ... wie wir alle wissen, kann sein Ende jederzeit
über ihn kommen. Wann immer wir es für nötig halten. Was
mir wirklich sehr Leid tun würde - er ist doch so ein hübsches
Kerlchen.«
Und wieder lachten Mimas und seine Getreuen, während Thanatos
sie mit ausdrucksloser Miene beobachtete und seine Augen nicht von ihnen
ließ.
Denn er sah schließlich für ihn mit, und hörte vor
allem für ihn mit, für ihn, das hübsche, rührend naive,
gottesfürchtige Kerlchen.
Ja, er konnte jedes Wort und jedes Mienenspiel deutlich mitverfolgen,
als stünde er gleich neben Thanatos.
»Rührend naiv bist du, mein guter Mimas.« Umbriels
schöne Lippen umspielte ein amüsiertes, kaltes Lächeln.
Er unterbrach die geistige Verbindung mit Thanatos und öffnete wieder
die Augen.
»Deine Naivität ist selbstmörderisch. Du hast dir
dein eigenes Grab und das Grab dieser verfluchten, dreckigen Welt geschaufelt,
schon an dem Tag, als du Thanatos und die anderen nach Barcelona gebracht
hast. Ab einem gewissen Alter ist jeder Versuch der Umerziehung aussichtslos.
Das hat man dir immer wieder gesagt, aber du warst zu geblendet von ihren
Fähigkeiten und ihrer Gnadenlosigkeit. Du hättest deine Beute
besser töten lassen sollen, wie Zimberdale es dir damals geraten hat.
Jetzt es ist zu spät.«
Umbriel erhob sich aus seinem Sessel und zündete noch weitere
Kerzen an, obwohl sein ganzes Zimmer schon hell erleuchtet von über
hundert kleinen und großen Flammen war.
Aber er liebte nun einmal Feuer, dieses erstaunliche, wunderschöne
Ding, das niemanden verschonte, wenn man es ließ und völlig
unparteiisch alles verzehrte, ob Gut oder Böse, Schön oder Hässlich,
nützlich oder bedeutungslos. So reinigend, so gründlich war Feuer
und es erinnert ihn an den Brand, der die Ordenssiedlung vor dreizehn Jahren
brüllend verschlungen hatte.
Und alles nur wegen dieses kleinen, jämmerlichen Jungen.
Nur alleine für ihn waren sie eines Nachts gekommen, allen
voran ein wütender Vater, der sein Leben hinzugeben bereit gewesen
war, um seinen kleinen Sohn zu befreien.
Für Umbriel aber war niemals jemand gekommen.
Nein, niemand rettete ihn vor den Schlägen, vor den Tritten,
vor den Strafen für Unaufmerksamkeit und Selbstmitleid. Keiner kam,
wenn man ihn in eisigkaltem Wasser halb ertränkte, oder seinen Rücken
blutig peitschte. Niemand hielt die Ordensbrüder davon ab, sich an
seinem kleinen, schmächtigen Körper zu vergehen.
Niemals kam jemand.
Nach einer Weile, so sagte man ihm, waren auch die Plakate mit seinem
Foto abgenommen und zu den Akten gelegt worden.
Er war zu den Akten gelegt worden: Ein vermisstes Kind mehr, nicht
das erste und nicht das letzte.
Niemand hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn zu
finden und nach Hause zu bringen.
Nur für diesen lächerlichen, weinerlichen Jungen mit den
Honigaugen, da war jemand gekommen, oho, und wie! Dieser Mann hatte einem
zornigen Gott geglichen, der mit seinen Rittern alle Männer und Frauen
der versteckten Siedlung niedergemetzelt hatte, die nicht rechtzeitig in
die Wälder hatten fliehen können.
Und jener zornige Vater hatte ein großartiges Feuer entzündet,
ja, ein herrliches, reinigendes Feuer.
Alles nur für diesen lächerlichen, weinerlichen Jungen.
Seitdem liebte Umbriel das Feuer.
Und seitdem hasste er das Haus Zimberdale abgrundtief, aber nicht
dafür, dass sie den Orden ausgelöscht hatten. Schließlich
hatte man ihm dort erfolgreich ›unnütze‹ Gefühle wie Mitleid
oder Trauer aus dem Leib geprügelt, damit jede Pore seines Herzens
sich mit Hass füllen konnte; Hass auf alle Menschen, Hass auf die
Welt und Sehnsucht nach der Erlösung durch die Blutige Mutter.
Nein, Umbriel hasste Zimberdale, weil dieser Name gleichbedeutend
mit einem schmerzhaften Rätsel war, verknüpft mit etwas in seinem
tiefsten Inneren, das sich qualvoll zusammenzog, wenn er über diese
Nacht vor dreizehn Jahren nachdachte: Nur wegen eines kleinen nichtswürdigen
Jungen hatten sich Procyon Zimberdale und seine Sippe in die Höhle
des Löwen gewagt, zahlenmäßig den Xendii des Ordens unterlegen.
Nur für seinen kleinen Bastard.
Aber Umbriel würde sie alle vernichten, früher oder später.
Diese ganze, ekelhafte Welt würde früher oder später
ihr wohlverdientes Ende finden, samt dem menschlichen Gewürm darauf.
Procyon Zimberdale würde sich noch wünschen, damals den
Orden Mère D’Enfer restlos ausgelöscht zu haben, genau wie
De Navarris sehr bald bereuen würden, aus blindem Machtstreben die
Erlaubnis zu dem Überfall von Zimberdale in Frankreich gegeben zu
haben. Was sie seinerzeit den anderen Sippen als Barmherzigkeit und Gnade
verkauft hatten, war nichts anderes gewesen, als all der überbegabten
jungen Xendii des Ordens habhaft zu werden, die Mère D’Enfer zusammengeraubt
oder absichtlich in die Welt gesetzt hatten, um sie für eigene Zwecke
einzusetzen.
Etliche von ihnen hatten sich in einem geheimen Lager der europäischen
Domén Arx wiedergefunden, nur ein kleiner Rest fanatischer Gläubiger
hatte fliehen können.
Merkwürdigerweise hatten diese sich vor ihrer Flucht als erstes
ihn, Umbriel, gegriffen; als wäre er ein kostbarer Gegenstand gewesen,
den es vor dem Feind zu verstecken galt.
Nach und nach war Umbriel aufgegangen, wieso. Und weshalb ihm niemals
jemand ins Gesicht hatte schlagen dürfen.
Mére D’Enfer hatte der Allianz, ohne dass sie es ahnte, einen
Todesengel geschickt: Ein unfassbar schöner, junger Apostel, so bewundernswert
fest im Glauben, so bemerkenswert bewandert in der Weißen Bibel und
so beschämenswert keusch und bescheiden. Er war für viele Xendii
der Allianz wie ein warmer Sonnenstrahl in einer trostlosen, immer schlechter
werdenden Welt. Er rief ihnen in Erinnerung, dass sie eine Aufgabe hatten,
dass eine bessere Welt möglich war, wenn sie nur fest im Glauben stünden.
Die, die ihrem Bekenntnis gegenüber gleichgültig geworden waren,
erfüllte er mit Beschämung und neuem Eifer, und jene, die schon
immer fest zu Gott und seinen Engeln gehalten hatten, ihnen gab er neuen
Stolz und die Bestätigung, auf der einzig wahren Seite zu sein.
Jahrelang hatte Mère D’Enfer ihn darin ausgebildet, innerhalb
kürzester Zeit die Sehnsüchte der Menschen zu erfassen. Deswegen
war es gar nicht schwer gewesen, Lux Mimas’ Gier nach Macht und Herrschaft
auszunützen - und Lux Adharas Gefühle für den gutaussehenden,
jungen Prediger. Um Adhara brauchte er sich keine Gedanken zu machen, sie
schmachtete ihn förmlich an und hätte sich ihm schon längst
willig selbst kredenzt, wenn er es gewollt hätte.
Doch er gab sich absichtlich schüchtern und zurückhaltend,
was viele Mädchen und Frauen nur noch mehr entzückte, träumten
doch viele von ihnen, den vermeintlichen Engel zu Fall zu bringen und die
Erste zu sein, die ihm die lüsternen Freuden mit Leib und Seele offenbarte.
Keine von ihnen konnte schließlich ahnen, dass solch eine himmlische
Liebesnacht mit ihm, dem wunderschönen Umbriel, fürgewöhnlich
in einer Hölle aus Schmerzen und Blut endete, in der er als unbarmherziger
Folterknecht eine seiner liebsten Rollen spielte. Die grenzenlose Bewunderung
der Menschen langweilte ihn unendlich, er hatte nichts als Verachtung für
sie übrig, maß keinem von ihnen mehr Wert bei als einer Schmeißfliege.
Er sehnte sich nur danach, einer derjenigen zu sein, die es erleben
durften, wenn die Blutige Mutter die Herrschaft über diese verachtenswerte,
trostlose Welt übernahm und ihre treuen Anhänger mit der Erfüllung
des Uralten Schwurs belohnten.
›Wenn die Anbetungswürdigen Sieben Kinder der Blutigen Mutter
die Welt heimsuchen, dann sollen die Treuen hinweg genommen werden, sollen
erhöht werden und in ihr Reich eingehen, wo sie ewig und voller Wonnen
leben werden.‹
Erlösung von diesem schmutzigen, ekelerregenden Ort, danach
sehnte Umbriel sich. Doch das Heil traf nur die, die der Blutigen Mutter
und ihren Sieben Kinder angesichtig werden würden.
Bis vor einer Weile hatte er manchmal nachts Panikattacken durchlebt,
da es ihm mit der Zerschlagung der Allianz und der Öffnung der Jenseits-Tore
nicht schnell genug ging und die Zeit ihm davonlief. Alpträume hatten
ihn gemartert, wenn er daran dachte, zu sterben, bevor er das Heil erleben
konnte.
Aber dann war ER ihm erschienen, ein überirdisches, machtvolles
Wesen, jedoch natürlich nicht der Erzengel Gabriel, wie er seinen
Schäfchen allerorten glauben machte.
Nein, dieser Dämon war eines der Sieben Kinder der Blutigen
Mutter selber, ein Shinn.
Und er hatte Umbriel gezeigt, wie man sich als überbegabter
Xendii mehr Lebenszeit verschaffte, wie man sich den ungeduldigen Klauen
des Todes entwinden konnte, die man schon um den eigenen Hals zu spüren
glaubte.
Alleine dafür war ihm Umbriel treu ergeben.
Nach diesem interessanten Gespräch des Hauses De Navarris war
es nun angebracht, den Machtvollen über den neuesten Stand der Dinge
zu unterrichten und seinen Rat einzuholen.
Umbriel holte aus einem Versteck in seinem Schlafgemach ein säuberlich
zusammengefaltetes Stück schwarzen Seidenstoffes.
Dieses breitete er inmitten seines kerzenerleuchteten Wohnzimmers
auf dem kostbaren indischen Teppich aus.
An dem Stoff war scheinbar nichts Ungewöhnliches - noch nicht.
Umbriel nahm eine kleinere Kerze und warf sie mitten auf das Tuch.
Augenblicklich ergriffen die Flammen Besitz davon, wobei sie jedoch ein
bestimmtes Muster auf das Schwarz schrieben.
Dann verfärbten sich die Feuerszungen tiefblau, schmolzen gleichzeitig
nieder und hinterließen einen bläulichweiß glühenden
Kreis, um den sich die Buchstaben des dämonischen Alphabets anordneten.
Nun nahm Umbriel eine weitere Kerze, die er an das ›B‹ hielt, bis
es blendend weiß erglühte. Von ihm aus zog er mit den Flammen
eine Linie bis zu dem nächsten, benötigten Buchstaben, dem ›R‹.
Sobald auch dieser Letter zu strahlendem Leben erweckt worden war, ging
es zu dem ›U‹, dann zu dem ›J‹, ›A‹ und ›XX‹, bis er schließlich
auf diese Weise den Namen seines Meisters geschrieben hatte.
Bru’jaxxelon.
Umbriel stellte sich gerade vor die Dämonensonne und versuchte,
die Beklemmung in seinem Herzen hinwegzuatmen, denn Bru’jaxxelon gefiel
es jedes Mal, alles um Umbriel herum in tiefste Schwärze und Eiseskälte
zu tauchen. Und nichts hasste Umbriel mehr als Finsternis, diese Furcht
hatten nicht tausend Schläge aus ihm austreiben können.
Nacheinander erstarben die Kerzenflammen rings um ihn herum und
ließen das Zimmer dunkler und dunkler werden. Noch war der leicht
bewölkte Sternenhimmel durch die Fenster zu sehen.
Dann rannen die ersten, pechschwarzen Schlieren an den Scheiben
herab. Sie flossen auch rasch aus den Schatten der Zimmerdecke die Wände
hinab, breiteten sich zu tintenähnlichen Lachen auf dem Fußboden
aus und ergriffen bald vollkommen Besitz von dem Raum.
Umbriel schloss die Augen, während in einem kurzen, schockierenden
Moment die Temperatur weit unter den Gefrierpunkt stürzte und die
plötzliche, klirrende Kälte ihn nach Luft schnappen ließ.
Er begann zu zittern, frierend, aber auch erfüllt von Angst und Ehrfurcht.
»Umbriel. Mein treuergebener Wolf im Schafspelz. Was verschafft
dir die Ehre meines Besuches?«, sagte der Machtvolle amüsiert,
was Umbriel immer wieder irritierte.
»Ich habe einige Neuigkeiten für dich, mein geliebter
Meister.«
»Geliebter Meister! Bleib besser bei der Wahrheit und sage:
Mein abgrundtief gefürchteter Meister. Liebe kann man das nun wirklich
nicht nennen. Und ich kenne dein Herz schließlich sehr gut, dieses
verhärtete, hass- und neidzerfressene Ding in deiner Brust, in dessen
Mitte sich alle deine Tränen zu einem tiefen See angesammelt haben,
vergossene und zurückgehaltene.«
»Ja, niemand kennt mich besser als du. Nur du kannst mich
rechtleiten zum Heil und Fürsprache vor unserer Blutigen Mutter für
mich halten«, erklärte Umbriel voll ehrlicher Demut.
»Amen, Amen, Preiset den Herrn - pardon, die Mutter!«
Ein unverhohlen boshaftes leises Kichern säuselte dicht an Umbriel
Ohr vorbei. Doch er blieb standhaft trotz dieses Spottes, mit dem der Machtvolle
ihn sicher nur auf die Probe stellen und seine Glaubensfestigkeit prüfen
wollte.
»Mimas gedenkt nicht, die Jenseits-Tore jemals zu öffnen.«
»Wie dumm von ihm. Wo ich doch so sehr auf das europäische
Oberhaupt gesetzt habe. Dann brauche ich eben ein neues europäisches
Oberhaupt. Eines, das nicht so widerspenstig ist. Wie wäre es mit
dir, Umbriel? Du bist sowieso viel beliebter bei den Menschen.«
»Wie soll ich Mimas töten, wo er doch ständig von
Wächtern und Hofschranzen umgeben ist? Und seine Speichellecker werden
niemals für mich stimmen.«
»Dann werde ich sie eben alle zusammen in die Luft sprengen.
Natürlich, wenn du zufällig woanders weilst. Sollen wir es gleich
tun?«
»Nein, er soll noch seine Pläne mit den anderen Noden
in die Tat umsetzen. Thanatos ist bereits auf dem Weg in die aztecische
Domén Arx.«
»Ah ja, richtig. PAGAN kapert Azteca und rottet Taraqua bis
auf die Schoßhündchen aus. Welche Durchtriebenheit, welche Grausamkeit!
Ich muss euch Staubgeweihten Respekt zollen. Besser könnten auch die
Shinnn es nicht erdacht haben. Nun, dann kann man PAGAN ja auch gleich
das baldige Attentat auf De Navarris anlasten, das beschleunigt den Niedergang
dieser heruntergekommenen Welt ein wenig.«
»In der Tat, das bringt die Unentschlossenen auf unsere Seite.
Und dann endlich gehen wir gegen PAGAN selber vor.«
»Lass PAGAN meine Sache sein, ich habe dort noch etwas Persönliches
zu erledigen. Wenn ich deine Hilfe brauche, lasse ich es dich wissen. Die
Tage der Allianz hingegen sind jedoch gezählt. Wie möchtest du
überhaupt dein kleines Reich taufen, das du bald dein eigen nennen
kannst, wenn ich bescheiden fragen darf?«
»Oh, darüber habe ich noch nicht-«
»Siehst du, wenn du mich nicht hättest, liebster, verrotteter
Umbriel!« Bru’jaxxelon lachte spöttisch. »Ich habe einen
wundervollen, dramatisch klingenden, zukunftsweisenden Namen dafür:
Das Reich der Letzten Dämmerung. The Empire of the Last Dawn. Gottes
gehässige Abschiedsszene. In vielen alten Schriften genüsslich
beschrieben, Armaggedon und dergleichen. Deine dir ergebene Adhara wird
ihn lieben und lobpreisen. Du solltest sie endlich ficken, damit auch der
letzte Rest ihres gesunden Menschenverstandes sich in Wollust und ewiger
Liebe auflöst.«
»Ich brauche sie noch, sonst hätte ich mir schon längst
das Vergnügen erlaubt, ihr meine wahren Gefühle für sie
zu offenbaren und ihr die Haut bei lebendigem Leibe vom Körper zu
schälen«, knurrte Umbriel, voller Hass bei dem Gedanken an die
biedere, alte Jungfer.
»Du hast Recht, alles zu seiner Zeit. Was habt ihr über
die Vorgänge in diesem kleinen Nest herausgefunden, bei dem deine
Leute eine so schmähliche Niederlage erlitten haben?«
»Diese verdammte De Navarris-Hexe Phoebe hat gestanden, uns
eine höchst interessante junge Wandlerin von dort unterschlagen zu
haben. Anscheinend ist sie diejenige, die von dem Erzengel ein Amulett
bekommen hat, das ihr übermenschliche Kräfte verleiht. Das würde
einiges erklären. Und dieses Mädchen wie auch das Amulett war
nicht in dem Massengrab. Dahinter steckt PAGAN, wir haben eine deaktivierte
Dämonensonne in der Burg gefunden.«
Bru’jaxxelon schwieg zunächst angesichts dieser Neuigkeiten.
Als er endlich wieder zu Umbriel sprach, bemühte er sich gar nicht,
seine Erregung zu unterdrücken. »Die Fäden laufen langsam
in die gleiche Richtung. Ah, es ist nun wirklich an der Zeit, meine kleine
private Intrige in Gang zu bringen. Wir haben Frühling, die Tage werden
wärmer, die Blümlein blühen: Zeit für eine perfekte
kleine Inkarnation. Die Blutige Mutter sei mit dir, du abgrundtief böses,
einsames, verlassenes Geschöpf.«
Umbriel schluckte seine Betroffenheit angesichts der brutalen Wahrheit
hinter Bru’jaxxelons Abschiedsgruß hinunter und war insgeheim erleichtert,
dass die bittere Kälte und die verhasste Dunkelheit mit dem Machtvollen
verschwinden würden. Schon wurde es wieder wärmer.
»Übrigens, Umbriel?«
»Meister?«
»Was würdest du demjenigen antworten, der behauptete,
es gäbe keine Engel und Dämonen, sondern nur eine Rasse von immateriellen
Geschöpfen, die in vieler Hinsicht den Menschen ähnelten?«
»Ich würde ihn auslachen und einen Blasphemiker nennen.«
»Euereiner ist wahrlich nicht zu helfen.«
Und noch während Umbriel verwirrt über diese Worte nachsann,
zog sich die Finsternis in Sekundenschnelle zurück und verschwand.
Umbriel ergriff die Karaffe auf einem Tischchen neben sich und schüttete
einen Schwall Wasser auf die Damönensonne, deren Glühen daraufhin
augenblicklich verlöschte.
Auch dieses Tuch hatte Bru’jaxxelon ihm zum Geschenk gemacht, nicht
ohne darüber einige seiner des Öfteren mehr als rätselhaften
Worte zu verlieren. »Hier ist ein kleines Geschenk für dich,
mein lieber, seelenverfaulter Umbriel. Euereiner liebt doch diesen altmodischen
Kram und Schnickschnack. Aber wieso nicht? Dann magst du mich eben auf
die alte, romantische Weise rufen.«
Erleichtert ließ sich Umbriel in seinen Sessel fallen, während
die Flammen der Kerzen überall im Zimmer wieder aufblühten.
Dann griff er nach der Fernbedienung des CD-Players und gab sich
den Klängen eines Kinderchors hin, der ›Bright Eyes‹ sang.
»Wie lange willst du diesen Scheiß noch durchziehen?«
Engelbert natürlich. Wie gewohnt, kam er unverhofft in ihr
Zimmer geschneit.
Tigris warf sich trotzig auf den Bauch und stellte sich schlafend.
Es war wieder ein neuer Morgen herangebrochen, doch weder der täuschend
echte, warme Frühlingstag noch der Vogel, der in der Nähe des
geöffneten Fensters sang, konnten ihre Depression auch nur ansatzweise
durchbrechen. Sie nahm noch nicht einmal wahr, dass der kleinere Zwitscherer
die ganze Zeit ›Always look on the bright side‹ schmetterte.
»Ich weiß genau, dass du wach bist. Wird das jetzt dieses
Vogel-Strauß-Ding? Kopf in den Sand stecken und warten, bis alles
vorüber geht? Hoffen, dass die ganzen Krisen sich in Wohlgefallen
auflösen und du dann entspannt aus deinem Bettchen steigen kannst,
um dein ›normales‹ Leben wieder aufzunehmen? Ich halte dich ja für
ziemlich unüberlegt, aber so blöd bist selbst du nicht. Also
hör auf damit und komm mit, die anderen warten schon auf dich.«
»Verpiss dich! Lass mich in Ruhe! Ich will nicht mehr!«,
stieß Tigris mit energisch zusammengekniffenen Augen hervor.
»Keiner hat mehr Lust auf den ganzen Mist, Schatzerl. Sollen
wir es dir etwa nachmachen und alle bis auf Weiteres die Augen zusammenkneifen?«
»Du weißt gar nichts über meine Gefühle«,
entgegnete Tigris und ließ ungehindert die Tränen an ihrer Nase
hinunter rinnen. »Ich bin am Ende. Vollkommen am Ende.«
»Aber du bist doch immerhin noch am Leben. Die anderen brauchen
dich. Ihr braucht euch jetzt gegenseitig.«
»Aber ich habe Angst, Engelbert«, bekannte Tigris schluchzend.
»Ich traue mich nicht mehr, aufzustehen und unter anderen Menschen
zu sein. Es wäre besser, wenn ich gestorben wäre.«
»Jeder von uns hat Angst vor den Spinnern der Allianz«,
versuchte Engelbert sie zu trösten.
»Das meine ich nicht.« Tigris' Lippen bebten. »Ich
habe Angst vor mir selber.«
»Äh ..., also, wie jetzt?« Engelbert war hörbar
verwirrt.
»Ich kann es dir nicht erklären. Ich verstehe es doch
selber nicht.«
»Versuch es.«
»Ich mutiere anscheinend langsam, aber sicher zu einem Monster.«
»Du meinst diese Sache, wie du diese Allianzleute erledigt
hast? Nja, das war ein wenig, äh, unorthodox. Vielleicht verleiht
dir das Amulett diese Kräfte?«
»Auf jeden Fall. Oder es macht mich schizophren. Vielleicht
ist etwas darin gefangen, das langsam aber sicher meinen Geist übernehmen
will. Vielleicht ist das Ding deshalb so gefährlich. Vielleicht ist
dieser Bru’jaxxelon darin gefangen und will durch mich die ganze Welt vernichten.«
»So ein Quatsch, er ist viel zu hyperaktiv, um die ganze Zeit
über in einem kleinen Bernstein hocken zu bleiben. Immerhin hast du
nur diese Mörder erledigt und keinem von uns etwas getan. Also hör
auf, dich hier zu vergraben und komm in den Park. Wir haben nämlich
eine Riesenüberraschung für dich.«
»Ich hasse Überraschungen! Ich will keine mehr.«
»Aber es ist eine wirklich tolle Überraschung. Alle haben
sich gefreut, und die Überraschung hat sich auch sehr gefreut«
Tigris schnellte aus den Kissen hoch und starrte Engelbert für
einige Sekunden mit großen Augen an.
»Wo?«
»Am See, Cafe ›Bootshaus‹.«
»Ist es eine lebendige Überraschung?«
»Ja. Ein wenig melancholisch und übertrieben vernünftig,
aber sonst ...«
»Blond? Braune Augen?«
»Aber ich sage nicht, welches Braun!«
Doch das hörte Tigris gar nicht mehr, da sie schon aus dem
Bett gesprungen und aus der prachtvollen Wohnung gerannt war, die man ihnen
im ›Aquarium‹ fürs erste überlassen hatte.
So schnell sie konnte, drängelte sie sich vorbei an den Unmengen
von Xendii, Touristen größtenteils, die die malerischen Gassen
und Sträßchen von Shangri-La verstopften und ihr perplex hinterher
sahen. Manche brachen sogar in Lachen aus, aber das nahm sie gar nicht
wahr.
In Rekordzeit hastete sie durch die Parkanlagen und Waldwege zum
kleinen künstlichen See, auf dem viele Ruderboote unterwegs waren.
Vor dem hellblau gestrichenen Holzhaus saßen sie schon alle:
Bat Furan, Ras Algheti, Antigua und sogar Ilvyn.
Doch war wo die Überraschung?
»Meine Güte, ist sie es oder ist sie es nicht?«,
rief Antigua den anderen zu, als sich Tigris ihrem Tisch näherte.
»Wirre Locken, Pyjama, tiefe Augenringe...« Bat Furan
nickte. »Ich würde sagen, sie ist es.«
Pyjama? Tigris sah an sich herunter und errötete. Sie hatte
sich noch nicht einmal umgezogen, so sehr hatte sie sich gefreut und war
ohne nachzudenken hierher gesprintet.
»Wo ist er?«
»Wer?« Ras Algheti ließ eine kleine grüne
Sphäre in seiner Handfläche hervorkommen und wieder verschwinden.
»Kommt schon, Engelbert hat sich verplappert.«
»Keine Ahnung, was du meinst.« Antigua runzelte befremdet
die Stirn.
Tigris schnaubte genervt auf - ihre anfänglich hoffnungsfrohe,
gehobene Stimmung war dabei zusammenzufallen wie ein Hefekuchen, den man
zu früh aus dem Backofen holte.
Mit einem Mal legte sich ein Arm um sie und ein Paar samtbraune
Augen sahen liebevoll und traurig zugleich bis hinab in ihre Seele.
»Oh mein Gott, Ember!«, stieß sie mit zitternder
Stimme hervor und flüchtete augenblicklich in seine Arme, weil die
Tränen bereits nur so aus ihren Augen hervorstürzten.
»Meine arme Tigris«, hörte sie ihn mit seiner vertrauten,
sanften Stimme leise sagen, während er sich mit ihr sachte wiegte.
»Was ist nur mit der Welt und uns passiert? Ich kann immer noch nicht
glauben, was man euch angetan hat.«
Antigua und selbst die beiden Jungen wischten sich verstohlen über
die Augen. Ember stand für eine Zeit, bevor all die schrecklichen
Dinge passiert waren, für glücklichere, für immer verlorene
Tage.
»Tja, wir sind jetzt wohl erst mal für die nächsten
drei Jahre bei Tigris abgeschrieben«, frotzelte Bat Furan schließlich,
um das bedrückte Schweigen zu vertreiben.
»Von wegen. Ember war und ist auch mein bester Freund«,
erklärte Antigua, ebenfalls gewillt, sich trotz allem nicht unterkriegen
zu lassen und Stärke zu demonstrieren.
»Wessen bester Freund bist du eigentlich nicht, Ember?«,
fragte Ras Algheti grinsend.
»Wieso habe ich jetzt das Gefühl, in meinem vorigen Leben
ein Hund gewesen zu sein?«, seufzte Ember. Dann schmunzelte er ihnen
aufmunternd zu und löste sich von Tigris, um auch sie mit einem Lächeln
aufzuheitern.
»Kann er auch mein bester Freund werden?«, ließ
sich Engelbert vernehmen, der aus Versehen vergessen hatte, sich blonde
Engelslöckchen anzumaterialisieren, bevor er das zweite Mal an diesem
Morgen die jungen Windwibbs besucht hatte. Ilvyn musterte seine mitternachtsblaue
Punkfrisur mit erhobenen Brauen. »Seitdem wir hier sind, warte ich
darauf, dass du dich endlich verrätst, Dämon«, raunte sie
unheilschwanger, was Engelberts Grinsen schockgefrieren ließ.
»Ilvyn, er ist ein lieber Daimon«, verteidigte Tigris
ihren Leibwächter schniefend.
»So lieb jetzt aber auch wieder nicht. Immerhin werde ich
in der Daimonsion von der MDL gesucht. Ein Muster meines Shines fliegt
in allen größeren Planetensystemen zum Anfühlen herum«,
warf Engelbert mit stolz erhobenem Kinn ein.
»Na, wenn das so ist.« Ilvyn unterdrückte ein Grinsen.
All die Daimons in Shangri-La hatten sie anfänglich in Todesangst
versetzt. Doch sie waren überaus nett zu ihr, manche nahmen augenblicklich
die herrlichsten Engelsgestalten an und schlugen dabei die Leier, um sie
zu beruhigen. Und nie wurden sie müde, ihr geduldig zu erklären:
»Es gibt keine Engel oder Teufel, Herzchen. Nur Daimons. Nichts als
Daimons. Nette Daimons. Blöde Daimons. Psychisch gestörte Daimons.
Mitfühlende Daimons.«
Manchmal glaubte Ilvyn es sogar schon selber. Doch die Bewunderung
für die Erzengel konnte nichts und niemand ihr ausreden.
Ember und Tigris setzten sich zu ihren Freunden, wo der sanftmütige
Seher erzählen musste, wohin es ihn verschlagen hatte.
»Ich lebe nun auf Viti Levu, in Savannis Sippe. Ihr könnt
mich ja jetzt jederzeit besuchen kommen.«
»Viti Levu? Hört sich polnisch oder so an«, meinte
Bat Furan.
»Das ist eine der Fidschi-Inseln. Es ist traumhaft schön
dort.«
Bat Furans Augen wurden ganz groß. »Im Ernst? Hört
euch das an: Auf den Fidschi-Inseln! Ich glaube es nicht. Aber na klar
kommen wir dich besuchen. Jeden Tag.«
»Du bist unverschämt wie immer, Bat Furan«, sagte
Antigua gespielt streng. »Schließlich will Ember doch auch
einmal alleine mit Savanni sein.«
Ember lächelte gelassen. »Wenn wir euch satt haben, können
wir mit wenigen Schritten in die Mongolei entfliehen.«
»Dann bist du also jetzt in festen Händen, wie?«
Tigris strahlte Ember an und drückte ihn an sich. »Ich freue
mich so für dich. Wir alle freuen uns für dich.«
»Danke.«
»Aber vergesst niemals du weißt schon was«, zog
Antigua ihn auf. »Im Moment laufen genug überbegabte, psychisch
gestörte Xendii durch die Gegend.«
Jemand räusperte sich, dann kamen Aévon und Rosanjin
um die Ecke des Bootshauses herum.
Engelbert, der über Aévon nur das Schlechteste von den
anderen Daimons in Shangri-La gehört hatte, entschwand augenblicklich.
»Soll das eine Anspielung auf euren geliebten Trainingslehrer
sein?«
»Aév, welche Strafe gibt es eigentlich für das
Schwänzen des Unterrichts?«
Die beiden DiSMaster setzten sich ungefragt dazu. Embers Blick wanderte
erstaunt zwischen Aévon und Tigris hin und her.
»Ember, das ist mein Halbbruder Aévon, der Sohn von
Procyon Zimberdale. Meinem wahren Vater.«
»Das ist jetzt eine Überraschung für mich.«
Ember reichte den beiden die Hand.
»Und das ist der Schwager von Tigris. Mein heißgeliebter
Rosanjin«, verkündete Aévon daraufhin und legte den Arm
um seinen Geliebten, was Bat Furans Miene ein wenig verdrießlich
werden ließ. Er konnte sich immer noch nicht recht mit Aévon
und seiner sexuellen Orientierung anfreunden.
»Gut, dass wir uns nicht mehr auf dem Boden der Allianz befinden«,
erklärte Ember, nicht sonderlich überrascht über das schwule
Paar. »Ich habe noch nie verstanden, wieso man Leute nicht das Leben
führen lassen kann, das sie möchten.«
»Die Allianz, dieser Karnevalsverein, ist gerade dabei, sich
aufzulösen«, rief Aévon spöttisch. »Wobei
man natürlich nicht weiß, welche Theatergruppe ihr nachfolgen
wird. Hoffen wir einfach mal das Beste. Apropos Karneval und so: Netter
Pyjama, Tigris.«
»Ja, ich hoffe auch, diese ewigen Krisen gehen vorüber.
Vielleicht könnten wir uns dann ein bisschen mehr um die anderen Menschen
kümmern«, sagte Ember. »Ich habe jedenfalls vor, Psychologie
zu studieren und dann eine Praxis für die Neutralen zu eröffnen.«
»Das ist eine sehr gute Idee, Ember«, lobte Rosanjin
den jungen Seher. »Das war auch einmal mein Traum.« Er schaute
wehmütig hinaus auf den See.
»Es ist nie zu spät, seinen Traum Wirklichkeit werden
zu lassen.«
»Tja, für manche schon. Dank ihrer liebenden, verantwortungsbewussten
Eltern«, antwortete Aévon schroff und holte dann hastig seine
Zigaretten aus seiner Nordstaaten-Jacke.
Ember warf den beiden betroffene und betretene Blicke zu. Dann weiteten
sich seine Augen und blieben an Tigris hängen, die augenblicklich
das Gesicht abwandte.
»Aber was? Sterben muss jeder einmal. Darauf qualmen wir uns
eine, nicht wahr, Antigua?« Aévon bot der Ruferin, die ein
trotziges Lächeln aufgesetzt hatte, von seinen Zigaretten an.
»Von wegen Unterricht schwänzen!«, meinte Ras Algheti
zu Aévon. »Wenn die Lehrer lässig in der Gegend herumspazieren,
gilt das ja wohl nicht als Schwänzen. Wo sind die anderen denn?«
»Surfen auf Hawaii. Wir wollten euch eigentlich aufsammeln
und auch dorthin«, erklärte Rosanjin. »Aber ihr möchtet
ja lieber Schwänzen.«
»Ich bin dabei!«, rief Bat Furan daraufhin und sah in
die Runde.
»Ein bisschen am Strand herumliegen würde uns Mädchen
bestimmt gut tun«, stimmte Antigua zu und sah Ilvyn und Tigris fragend
an.
»Die Frage ist: Tut das wiederum unseren Augen gut?«,
neckte Aévon sie.
»Als ob du auf herumliegende Mädchen achtest.«
Bat Furan musste herzlich lachen.
»Schon alleine, um nicht drüber zu stolpern und aus Versehen
auf ihnen zu landen!«, gab Aévon grinsend zurück. »Wie
Rosanjin früher hin und wieder.«
»Interessant.« Antigua sah den Japaner mit betont erhobenen
Brauen an.
»Ich betone nochmals: Früher. Und mehr hin als wieder.«
Aévons Lächeln wurde merklich frostiger.
»Es tut ja so gut, zu wissen, wie begehrt man noch ist.«
Rosanjin schüttelte amüsiert den Kopf, erhob sich und tippte
seinem Geliebten auf die Schulter.
Dann standen sie alle auf und machten sich auf den Weg zurück
in die Stadt, um von dort aus über die Asiatische in die Pazifische
Node gehen zu können.
Den ganzen Weg durch den Park tollten Bat Furan, Ras Algheti und
Aévon umher, beschossen sich mit Dashes und Jets und wehrten die
gegnerischen Schüsse mit Frills und Cages ab, während die anderen
über die Allianz-Krise, gute Universitäten weltweit und die erstaunlichen
Dinge in Shangri-La redete.
»Man kann auch bei MyNiteSky Glückwünsche an den
Sternenhimmel hier schreiben lassen«, erzählte Rosanjin ihnen.
»Oder Glitzerregenbögen und so einen Schnickschnack. Wer selber
keine Ideen hat, wie man seine Lieben überraschen könnte, kann
sich von den Daimons von Think4U beraten lassen. Und Daimons sind wirklich
überaus kreativ, das muss man ihnen lassen.«
»Trotzdem sieht man die DiSMaster hier selten«, warf
Antigua ein.
»Gerade deswegen. Wir brauchen diesen Rummel nicht. Wir müssen
uns auf wichtigere Dinge konzentrieren. Die Wüste ist ein idealer
Ort ohne jegliche Ablenkungsmöglichkeiten.«
»Das Seminar in Guulin Kherem war anstrengend, aber effektiv«,
fand Tigris.
»Dann solltest du dich auch wieder aufs Training stürzen,
Tigris. Es hilft dir, mit allen möglichen Dingen fertig zu werden,
mit all der Wut und dem Gefühl der Hilflosigkeit.«
»Ja, vielleicht werde ich ab morgen auch wieder-« Tigris
blieb unvermittelt stehen.
Glitzernde Lichter einer Großstadt unter ihr. Es war Nacht.
»Tig?« Antigua beugte sich besorgt zu ihr vor.
Die kurze Vision war vorbei.
»Schon gut, nur ein kleiner Schwächeanfall.« Tigris
atmete tief durch und ging weiter.
Das schwache Geräusch von leisem Autohupen und Sirenen, aus
der Tiefe empor wehend, brandete erneut heran.
Und wieder Nacht.
Sie entschied sich, die Bilder zu ignorieren und marschierte weiter,
obwohl sie nichts mehr von Shangri-La sah oder hörte, sondern so klar
und deutlich wie nie zuvor in Häuserschluchten hinuntersehen konnte.
›Eine schöne Nacht zum Reisen, kleines Erdengeschöpf.
Wohin soll der Weg mich führen? Spanien? Da war ich schon. Island?
Zu öde. Wie wäre es mit Asien? Einmal den Himalaja sehen!‹
Das war zuviel!
Tigris fühlte, wie sie auf den Kiesweg stürzte. Erst abgehackt,
dann wieder laut und deutlich vernahm sie die Stimmen ihrer Freunde und
die Nacht verblasste.
»Meine Güte, es geht ihr gar nicht gut, sie ist ganz
bleich und zittert«, hörte sie Ember sagen.
»Tigris! Nein!« Das war Aévon, außer sich
vor Angst. Verschwommen sah sie ihn auf sich zuhasten und fühlte schon
seinen Arm um sich. Zusammen mit Bat Furan hievte er sie wieder empor und
stützte sie beim Gehen.
Dann entfernten sich ihre Stimmen erneut, und seine Stimme ertönte
dafür wieder klar und deutlich.
›Ich komme, ich eile, du dem Staub versprochenes Erdengeschöpf.
Tigris. Ja, ich komme nun zu dir, kleine Tigris.‹
»Nein ! Lass mich in Ruhe! Ich weiß gar nichts!«,
kreischte Tigris und versteifte sich in der Umarmung von Aévon und
Bat Furan wie unter einem Anfall.
»Schneller, wir müssen sie ins Krankenhaus schaffen!«,
keuchte Aévon und hob seine Schwester kurzerhand auf seine Arme,
ohne seinen von Panik beflügelten Schritt zu verlangsamen. Er hatte
es bei seiner verstorbenen Schwester Zaniah miterleiden müssen, diese
ersten spastischen Schübe, denen irgendwann, manchmal erst Wochen
später, ein letzter, aus unvorstellbarer Qual hervorberstender, schriller
Schrei folgte, dann der Geruch brennenden Fleisches und fauchendes Feuergebrüll.
›Wünsche mir eine gute Reise zu dir. Ich nehme übrigens
einen kleinen Umweg. Ich muss dir noch etwas zeigen. Eine Überraschung
sozusagen.‹
Und Seelenfresser sprang hinab in das Lichtermeer, um dann über
ihm hinwegzurasen, und über andere erleuchtete Städte, dunkle
Wälder und im Sternenlicht aufglitzernde Flussbänder.
»Nein, geh weg. Geh weg!«, schluchzte Tigris und begann
hemmungslos zu weinen, während Aévon sie, ohne dass sie es
bemerken konnte, in die Stadt trug.
Denn Bru’jaxxelon ließ nicht ab von ihrem Geist, nahm sie
mit auf die Reise zu ihr. Ein riesiger See glitt unter ihr dahin, auf dem
sich die Sterne spiegelten, um für einen kurzen Moment von einem blitzschnellen
Schatten vollkommen verdunkelt zu werden.
Während ihre Freunde mit ihr endlich das Krankenhaus erreicht
hatten und im Aufzug zur Notfallstation hochfuhren, schoss sie über
eine schier unendliche nächtliche Waldlandschaft dahin, während
sie wimmerte, und ihn abwechseln verfluchte und anflehte.
Als Mira herbeigerufen wurde, sie auf die Liege betten ließ
und sie zu beruhigen versuchte, tauchte er hinab in die Wälder und
raste dicht über aufwirbelndes Laub mit ihr durch endlose, nah beieinander
stehende Kiefern und Tannen.
In dem Moment, in dem Mira ihr gerade eine Beruhigungsspritze setzen
wollte, wurde der Flug schlagartig langsamer, denn ein dunkler, weitläufiger
Gebäudekomplex kam in Sicht.
›Willkommen in Excelsior‹, raunte Bru’jaxxelon und Tigris verstummte,
während sie mit offenem Mund ins Leere starrte.
»Er wird es vernichten. Er weiß seit langem, wo es zu
finden ist.«, stammelte sie tonlos.
»Ganz ruhig, Tigris. Niemand wird Shangri-La vernichten«,
versuchte Mira sie zu beruhigen, nicht ahnend, dass Tigris sie nicht hören
konnte, ebenso wenig wie ihre Mutter, die gefolgt von Procyon aufgelöst
ins Zimmer stürzte.
Eine gewaltige Explosion sprengte die Vorderfront des Gebäudekomplexes
von Excelsior auseinander. Sirenen schrillten, Menschen brüllten,
und Bru’jaxxelon donnerte ins Innere, wo er kopflos flüchtende Menschen
vor sich hertrieb, die sowohl davonrannten als auch immer wieder irre Blicke
hinter sich auf etwas Ungeheuerliches und Monströses warfen. Ihre
weißen Kittel flogen im Lauf, aber auch Gestalten mit kahlgeschorenen
Köpfen und grauen Kitteln schossen zwischen ihnen dahin, alle auf
der Flucht vor dem Ding, das Geräte, Tische, Stühle und Mauerteile
wie Spielzeug in die Luft warf und auf sie niederstürzen ließ,
um sie zu zerschmettern und unter sich zu begraben. Hundertfache schrille
Todesschreie gellten durch das dröhnende Tosen und Tigris schrie mit
ihnen, wollte mit ihnen flüchten und bäumte sich unter dem Griff
ihrer Mutter, Aévons und Miras auf, die sie zurück in die Liege
drücken wollten. Doch sie konnten gegen die übermenschliche Kraft,
die Tigris auf einmal durchströmte, nichts ausrichten. Sie sprang
von der Liege und torkelte wie blind im Raum umher, schrie, brüllte
wie ein verletztes Tier, wimmerte und schrie wieder, geschüttelt von
Wahnsinn.
Für kurze Sekunden blendete sich das Krankenzimmer in Tigris’
Bewusstsein, bekannte Gesichter leuchteten auf und verschwanden wieder.
Immer wieder versuchten die entsetzten Zuschauer dieses Tobsucht-Anfalls,
Tigris zu fangen, damit Mira ihr endlich die Spritze geben konnte, doch
sie schaffte es immer wieder, jeden von sich zu stoßen, der sie auch
nur berühren wollte.
Bru’jaxxelon wütete immer schlimmer und gewährte Tigris
dabei gleichzeitig schockierende Blicke auf Menschen, die mit unzähligen
Drähten an Maschinen angeschlossen waren, mehr tot als lebendig; auf
lange Regalreihen voller durchsichtiger Behälter, in den Gehirne und
andere Organe schwammen, auf dunkle Röhren, durch die Blitze fegten,
auf apathische Menschen in grauen Kitteln und winzigen Zellen, die nicht
fortrannten, während Feuerwalzen und Explosionen sich unaufhaltsam
ihren Weg zu ihnen bahnten.
Vor einem langen, dunklen Korridor voller schmaler Zellentüren
machte Seelenfresser halt, und ließ die Flammen ersterben, bevor
sie die Tür mit der Nummer 178 erreichen konnten.
›Und hier ist meine Überraschung. Habe ich dir nicht kürzlich
von einem bedrückenden Ort erzählt, an dem Gedanken umher flogen,
in denen deine Augen aufleuchteten? Wie eine Kerze im finstersten Verlies.
Und ich habe denjenigen näher kennen gelernt, der da oft an dich denkt.‹
Die Tür schwang langsam auf und zeigte Tigris eine magere,
zusammengekauerte Gestalt in einem grauen Kittel, kahlgeschoren und regungslos.
Wie auf Zehenspitzen schlich sich Bru’jaxxelon an die bemitleidenswerte
Gestalt heran, die ihre Stirn gegen die angezogenen Knie drückte.
›Er hat einige nette Erinnerungen an dich, als er noch seine Haare
lang trug und noch nicht in diesen Schlamassel geraten war. Er war eine
Kämpfernatur, aber Excelsior ist stärker, ein hoffnungsfressendes
Monstrum, erdacht von schlauen Gehirnen und kalten Herzen.‹
Tigris hielt in ihrer blinden Raserei inne und sank schluchzend
auf die Knie, vor den erschütterten Augen ihrer Eltern und Freunde.
Augenblicklich setzte Mira ihr die Spritze. Doch Tigris merkte es nicht
einmal.
»Oh nein. Darius...«
›Ja, Darius. Ein guter alter Freund von dir, nicht wahr, kleines
Erdengeschöpf.‹
Etwas absolut schwarzes, gleich einer matten, seidigen Flüssigkeit,
kroch an Darius’ Beinen empor.
Langsam hob er den Kopf und schien mit leeren, dunklen Augen geradewegs
Tigris anzusehen. Er stand unter Beruhigungsmittel und wehrte sich überhaupt
nicht, nicht einmal, als die Schwärze schon seine Beine und seinen
Oberkörper eingehüllt hatte.
»Nein ... Nein! Lass ihn in Ruhe!« schrie Tigris und
sprang wieder auf die Beine. Dann begann sie zu schreien - lange und gellend,
setzte wieder von neuem ein, sobald sie kurz nach Luft geschnappt hatte.
»Das ist alles nur deine Schuld!«, brüllte Aévon
Procyon an und stürzte sich hasserfüllt auf ihn und nur Rosanjin,
Bat Furan und Ras Algheti gemeinsam konnten das Schlimmste verhindern.
Procyon ließ sich mit starrem, schockiertem Gesichtsausdruck
gegen die Wand fallen und wischte sich mit beiden Händen langsam über
das Gesicht.
Und Tigris stieß immer noch ihre spitzen Schreie aus.
›Wenn man zu Besuch kommt, bringt man ein kleines Geschenk mit.
Ich bringe dir also etwas mit, wohlerzogen wie ich bin.‹
Bru’jaxxelon näherte sich Darius noch weiter, mehr und mehr,
bis Tigris nur noch schwarze Pupillen sah. Und noch näher und näher,
bis völlige Dunkelheit sie umfing.
In diesem Moment brach Seelenfresser die Verbindung zu ihr ab.
Tigris jappste mit weit aufgerissenen Augen nach Luft.
Plötzlich fühlte sie sich unendlich schwer und müde
- und fiel Aévon geradewegs in die Arme, der sie behutsam auf die
Liege hob und dann weinend sein Gesicht an ihrem Hals barg. »Deine
Schuld. Alles nur deine Schuld«, hörten die anderen ihn flüstern.
»Tigris' Zustand hat nichts mit dem Xendium zu tun«,
eröffnete Danubia ihnen mit einem Mal.
Sie hatte sich an die Kante der Liege gesetzt und streichelte Tigris
müde die fiebrige Stirn.
Die überlebenden Windwibbs wechselten kurze Blicke untereinander,
während Mira, Procyon und Rosanjin sie verwundert ansahen. Selbst
Aévon hob den Kopf.
»Mira, du erinnerst dich sicher an den Tag, an dem du mich
in Düsseldorf besucht hast und Tigris durchnässt nach Hause gekommen
ist...«
»Ja, natürlich.«
»Im Wald ist Raffael ihr begegnet.«
»Ein Zerrafin?« Procyons Augen wurden erst ganz schmal,
dann weiteten sie sich in plötzlicher schockierter Erkenntnis.
Mira schlug sich die Hände vor den Mund.
Danubia zog langsam das verfluchte Amulett aus Tigris’ Pyjama.
»Sie wollte es niemals haben, doch er hat es ihr einfach übergestreift.
Sie kann es nicht ohne weiteres ausziehen, und selbst wenn sie es auszieht,
erstickt sie innerhalb weniger Augenblicke. Und doch hat es sie vor dem
Tod bewahrt, als sie von zwei Daimons, Devney-Zwillingen, vom Kirchturm
herabgestürzt wurde. Wenn es nicht ihr Xendium wieder erweckt haben
sollte, so verleiht es ihr zumindest ähnliche Fähigkeiten wie
die eines Xendi. Es sieht aus wie ein Nodenschlüssel, doch es hat
keine Aura. Wahrscheinlich, weil darin etwas enthalten ist, dass PAGAN
Ultra-DiS nennt.«
»Von wegen Schussel«, entfuhr es Aévon. »Und
falls doch, können wir Omri jetzt beruhigen. Wir haben vielleicht
gefunden, was er angeblich verlegt hat.«
»Wenn das stimmt ... dann haben wir vielleicht die Möglichkeit,
sämtliche Noden zu schließen, ohne dass die Allianz etwas dagegen
unternehmen könnte.« Procyon sah das Amulett an, dann betrachtete
er seine schlafende Tochter.
Diesmal spürte sogar Aévon die Welle aus bitteren Schuldgefühlen
und unterschwelliger Furcht, die von seinem Vater zu Tigris herüberwehte.
»Ihr vergesst nur eine kleine, unbedeutsame Tatsache«,
sagte Mira. »Wir wissen nicht, wo dieses Oberste Portal zu finden
ist. Bisher konnte ich weder im DimensioNet noch in der Bibliothek etwas
darüber finden.«
»Wir werden es finden«, grummelte Aévon. »Und
wenn ich dafür alle Zerrafin höchstpersönlich erwürgen
müsste.«
© I.S.
Alaxa
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