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Xendium - Inkarnation von I.S. Alaxa
Teil 1 - DiSMaster vs. Daimons
Kapitel III

»Tja, einer von euch muss dran glauben. Und ich hoff, er is volljährig. Ein Brainstorm is nichts für Minderjährige«, sagte Dean Humperdinck, der Besitzer des rustikalen Humperdinck Inn, und grinste seine einzigen Gäste breit an. Er war stämmig, hatte einen kurzen, hellbraunen Vollbart und eine Glatze. Seine braungrünen Augen musterten belustigt nacheinander die jungen Mitglieder der Truppe, die gegen Mittag in seine Kneipe im Hafenviertel ›The Rocks‹ geschneit waren. Mit ihm stand sein langer, dünner Freund Danny hinter der Theke, der seine langen, dunklen Haare und seine zahlreichen Tatöwierungen erfolgreich durch die Jahrzehnte hinweg in das 21. Jahrhundert herüber gerettet hatte: Er wandelte als lebende Hommage an AC/DC, Deep Purple und Led Zeppelin durch Sydney.
 Die Aufgabe, die den jungen Xendii in Deans Bar gestellt wurde, schien denkbar einfach: Es galt drei der zwölf mit Orangensaft gefüllten Gläser auf der Theke auszutrinken und dabei zu beten und zu hoffen, dass man nicht das eine mit dem Brainstorm erwischte. Dieses Gebräu nämlich hatte es laut Dean in sich. Oder genauer gesagt, eine hochenergetische DiS-Mischung.
»Bat Furan, isch fürschte, nur du bist über a’tzehn«, meinte Cely ungewohnt entschuldigend und gönnte sich eine Zigarette. Mit elegant übereinander geschlagenen Beinen saß sie am Fenster des Lokals und genoss die Aussicht auf die Nachbildung des berühmten Schiffes, dessen Segel in den bewölkten Himmel ragten und von einer Reisetruppe begeisterter Asiaten eifrig geknipst wurde. Gedämpft drangen ihre Stimmen zu ihnen, so wie die Möwenschreie. Als ob die Vögel ahnten, dass Fotos gemacht würden, umkreisten sie lärmend die gesetzten Stoffbahnen, ließen sich in Gruppen auf die Masten nieder und flogen wieder kreischend auf.
»Sind Sie beide auch Xendii?«, erkundigte sich Tigris neugierig.
»Na, glücklicherweise nich«, lachte Dean. »Nur gute Freunde von Aévon.«
»Und welche Bedeutung soll man diesem ›gut‹ zumessen?«, fragte Darius belustigt.
»Jede, solange sie nichts mit Schlafzimmern und Duschen zutun hat«, erwiderte Dean ungerührt. Dann wandte er sich wieder Bat Furan zu. »Also, was is jetzt? Packst du das, Junge?«
Der Wandler musterte schweigend die lange Reihe Fruchtsaft vor sich.
»Komm schon, Bat Furan«, meinte Tigris ungeduldig, als Bat Furan immer noch unentschlossen die Gläser vor sich anstarrte. »Stell dich nicht wegen eines so kleinen Cocktails an. Die DiSMasters haben nicht vor, dich zu vergiften. Und außerdem hast du vielleicht Glück und erwischt dreimal puren Orangensaft.«
Doch Bat Furan misstraute deren Einfällen viel zu sehr. »Sie wollen mich reinlegen, das weiß ich ganz genau.«
»Quatsch. Woher sollten sie wissen, dass ausgerechnet unsere Gruppe nach Sydney kommt?«
»Sie sind gerissen. Sie können das alles im Nachhinein noch manipuliert haben. Wenn ich das trinke, passiert bestimmt irgendetwas Merkwürdiges mit mir, über das alle lachen und ich mich bis ans Ende meines Lebens ärgere.«
»Ohne drei leere Gläser kein Rätsel und kein Beweis«, erinnerte ihn Dean Humperdinck und sah unverkennbar gespannt aus. Die Vorfreude - auf was auch immer - stand in seinem gutmütigen Gesicht geschrieben.
»Wenn ich das Zeug getrunken habe, kriegen wir sofort den Beweis und das nächste Rätsel?«, hakte Bat Furan noch einmal nach.
»Sicher. Hier ist der Briefumschlag. Mit dem Beweis dran.« Dean holte unter der Theke den Umschlag hervor und wedelte damit.
»Da ist nichts dran«, widersprach Antigua.
»Sie meinen, der Beweis ist im Umschlag? Vielleicht ein Foto?« Ras Algheti sah die anderen fragend an.
»Nee, ich meine, dass euer Beweis am Umschlag dran ist.«
Bat Furan räusperte sich vernehmlich und sah seine Freunde mit entschlossener Miene an, die jedoch immer noch eingehend den Briefumschlag in Deans Hand beäugten.
»Okay, bringen wir es hinter uns«, seufzte der Wandler resigniert, riss das erste Glas hoch und stürzte das Gebräu mit zusammengekniffenen Augen hinunter. Dann knallte er es leergetrunken zurück auf die Theke und schloss die Augen, um genauestens in sich hinein zu horchen.
»Das ging ja schnell. Und, wie fühlst du dich?«, fragte Ras Algheti, der seinen Freund gespannt musterte und nach ersten ungewöhnlichen Anzeichen Ausschau hielt, vielleicht in Form von merkwürdigem, buntem Ausschlag oder nervösen Zuckungen. Den DiSMasters war so etwas durchaus zuzutrauen. Auch die anderen widmeten ihm endlich die ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Wie immer«, sagte Bat Furan erleichtert und öffnete lächelnd die Augen. »Das war nichts als O-Saft. Gut, dann das nächste. Was meint ihr? Welches Glas soll ich jetzt nehmen?«
»Keine Ahnung, alle sehen gleich aus«, fand Ras Algheti.
Doch Antigua hatte plötzlich eine zündende Idee. »Tigris, du bist Seher-Wandlerin wie Aévon. Kannst du irgendetwas erkennen? Versuch es doch mal!«
Tigris zuckte mit den Schultern und ließ ihren Blick über die elf vollen Gläser schweifen. Ja sicher, theoretisch gesehen besaß sie wie ihr Bruder ein seherisches Talent, doch dieses zog es seit dem Ausbruch vor, der Wandlergabe den Vortritt zu lassen und sich ansonsten nur hin und wieder für kurze Augenblicke in Erinnerung zu bringen. Im Moment allerdings schien es wie die meiste Zeit zu schlafen, denn sie konnte nichts Besonderes an einem der Gläser erkennen.
»Konzentrier dich!«, beschworen Antigua und Ras Algheti sie.
Tigris rollte die Augen, tat ihren Freunden aber den Gefallen und starrte angestrengt auf jedes einzelne Glas. »Das bringt doch nichts, ich kann nichts besonderes sehen«, brummte sie dabei. 
›Natürlich kannst du das‹, raunte eine weibliche Stimme durch ihren Geist. ›Das und noch weitaus mehr. Akzeptiere, dass du anders bist. Nimm dich endlich selber an!‹
Tigris seufzte leise. Oh ja, sie kannte die Stimme, die soeben telepathischen Kontakt aufgenommen hatte: Sie gehörte jener Kreatur, die sie in Windwibbenburg in der Nacht vor Equinox Veris in den Bäumen gesehen hatte, ein merkwürdig ätherisches Wesen, gehüllt in eine Art silbernen Umhang mit Kapuze.
Was hatte sie nun ausgerechnet am helllichten Tag in Sydney zu suchen? Tigris kämpfte den Drang nieder, sich umzudrehen und die Kreatur ausfindig zu machen.
Stattdessen verankerte sie trotzig ihren Blick in das satte Orange vor sich.
Das und noch weitaus mehr?
Eigentlich war da etwas Wahres dran ...
Wer hatte sich denn mit den beiden hässlichen Daimons in der Düsseldorfer Kirche angelegt? Wer hatte den Sturz vom Kirchturm überlebt, und wer hatte Anjul zurück ins Leben geholt?
Stark. Mächtig. Wunderschön.
Darin lag Wahrheit, oh ja.
Ja, das Amulett verlieh schließlich ungeahnte Kräfte.
Vielleicht musste man es einfach nur wirklich und aus tiefstem Herzen wollen.
Stark. Mächtig. Wunderschön. Und ganz konzentriert ...
Ha!
Sie sah, wie in einem der Gläser ein mikroskopisch kleiner, kurzer Blitz aufzuckte. Und noch einer. Winzige Lichtpunkte, die für Sekundenbruchteile aufglühten und sofort vergingen.
Soso, das dritte Glas von links also.
Sie verkniff sich ein Lächeln.
Was wohl passieren würde, wenn ...?
»Ich bin nicht sicher, aber je mehr es nach rechts geht, desto verdächtiger sehen die Gläser aus«, sagte sie so unschuldig wie möglich. »Nimm irgendeines von links, Bat Furan. Keine Ahnung, das hier. Oder das ...« Sie wies kurz auf den Brainstorm und registrierte aus den Augenwinkeln einen misstrauischen Blick von Darius, den sie jedoch trotzig ignorierte.
»Na bitte!«, knurrte Bat Furan. »Die DiSMaster wollen uns wohl hereinlegen. Es gibt mehr als einen Brainstorm in der Reihe.«
»Tja, wenn ihr meint ...«, sagte Dean und warf Tigris einen schnellen Blick zu. Nicht nur ihre Augen verrieten die Verwandtschaft zu Aévon, sondern auch ein soeben geoffenbarter Sinn für kleine, zuweilen gemeine Scherze. Gespannt beobachtete er dann Bat Furan.
Dieser ergriff entschlossen ein Glas von links.
Und zwar genau das richtige, ganz im Vertrauen auf Tigris.
Er wollte es schon an die Lippen setzen, als Darius ihn mit einem Mal zurückhielt.
»Das würde ich nicht trinken, mein Freund. Irgendetwas hat sich eben darin bewegt.« Er sah Bat Furan eindringlich an, und dieser stellte es augenblicklich erschrocken und mit angewidertem Gesicht zurück.
Er holte dann tief Luft und trank ein anderes in einem Zug aus, während alle bis auf Dean und Tigris ihn ängstlich dabei beobachteten.
»Ja, es geht mir immer noch prima!«, frohlockte er nach einigen Sekunden und brachte gleich das letzte Glas hinter sich.
Und da er immer noch äußerlich und von seinem Benehmen her der alte zu sein schien, jubelten sie alle erleichtert und fröhlich auf.
»So, den Umschlag und den Beweis, bitte!« Antigua streckte fordernd die Hand aus. Dean legte erst den Umschlag auf den Tisch, dann seine kräftige, behaarte Rechte gespielt geziert in Antiguas Hand.
»Der Beweis liegt in deiner Hand. Jedenfalls ein Teil davon.« Dean grinste wieder einmal breit.
»Sie sind der Beweis?«, entfuhr es Ras Algheti. »Aber wir können Sie doch nicht einfach so ... Sie sind doch kein ...«
»Kein Xendi, klar. Aber ich bin schon 'n paar Mal mit Aévon und den anderen durch eure geheimen Tore gegangen. Hier in Sydney gibt es einige davon, wie mir erzählt wurde. Und dank der DiSMasters ziemlich gut erzogene Daimons. Jedenfalls machen unsere nicht so Wellen wie woanders. Passen sich vernünftigerweise an. Sorgen zum Beispiel für gute Laune, wie dieser Rapper-Daimon, der im Moment überall in den Charts ist.«
»Rapper-Daimon?«, rief Tigris überrascht. Ihr kam da so ein Verdacht, dem sie allerdings nicht weiter nachgehen konnte, denn Antigua riss den Umschlag auf und las das nächste Rätsel vor.
»Der große Ben verrät euch dies:
sucht am Anfang von Samt, Opal
Hermelin, Organza allemal
Dort findet man
Wundervolle Wesen dann:
Lack und High Heels lieben die einen
In Geschmeide und Seide schreiten die Feinen
Doch wenn’s um Spaß geht, sind alle gleich
Und strömen in das glitzernde Reich
Der prachtvollen Mutter der Perlen«
»Was für ein blödes Rätsel, mal wieder«, stöhnte Tigris.
»Aber diesmal ist es leicht zu lösen, wage ich zu behaupten«, meinte Darius. »Der große Ben kann nur der Big Ben in London sein. Der Rest klingt nach einem Dessous-Geschäft für das schöne Geschlecht.«
»Das sähe Aévon und den anderen ähnlich!«, meinte Ras Algheti gänzlich unbegeistert. »Und jede Wette, dass wir dort die schönsten Stücke anziehen und damit durch die Straßen latschen müssen?«
»Also Atlantika?« Antigua sah sie der Reihe nach an. Dann wandte sie sich an Dean Humperdinck und seufzte. »Wenn die DiSMasters wollen, dass wir Sie mitbringen, dann werden wir das wohl tun müssen. Ich kann zwar den Sinn hinter den ganzen Aktionen immer noch nicht erkennen, aber mein Gefühl sagt mir, dass es ihn gibt.«
»London ist also als nächstes dran. Wie spät ist es dort jetzt eigentlich?« Bat Furan warf einen Blick auf seine Uhr.
»Ich denke, etwa zwei oder drei Uhr morgens«, antwortete Darius.
»Dann macht das mit dem Dessous-Geschäft aber keinen Sinn, oder?«, meinte Tigris spöttisch.
»Darüber können wir unterwegs nachdenken.«, entschied Antigua und bedeutete ihnen, ihr zur Tür zu folgen.
Nachdem Dean sich seine abgewetzte Lieblingslederjacke angezogen und seine Kneipe in Dannys Obhut übergeben hatte, gingen sie langsam die Hafenpromenade entlang, vorbei an der Reihe von zweistöckigen, historischen Häusern mit Spitzdach, die nun Cafés und kleine Läden beherbergten.
Tigris schaute sich währenddessen nach der silbrigen Kreatur um.
Sie war irgendwo in ihrer Nähe, dessen war sie sich sicher.
Schließlich wurde sie fündig, als ihr Blick die Takelage der ›Bounty‹ hinter ihnen erfasste.
»Alles in Ordnung, Tig?«, fragte Antigua und musterte Tigris besorgt.
Doch diese hatte anscheinend nur Augen für die ›Bounty‹ - warum auch immer, denn Antigua konnte außer den Möwen nichts Besonderes daran erkennen.
Tigris hingegen starrte wie hypnotisiert die silbrige Gestalt an, die auf einem Mast hockte.
Da war sie also wieder, diese merkwürdige Kreatur, die vorhin zu ihr gesprochen hatte.
Niemand außer ihr schien sie sehen zu können, weder die Touristen noch die Vögel, die das Schiff lärmend umkreisten.
»Tigris?« Antigua stubbste ihre Freundin sanft an, während die anderen schon einige Schritte vorausgegangen waren.
»Ach, es ist nichts«, antwortete Tigris geistesabwesend und wandte sich langsam um, um den Jungs, Cely und Dean zu folgen. Doch immer wieder ging ihr Blick zurück.
›Was willst du schon wieder von mir?‹, dachte sie missmutig, da die Gestalt keine Anstalten mehr machte, telepathischen Kontakt zu ihr aufzunehmen, sondern einfach auf dem Mast schwebte und ihr nachzusehen schien. Doch das konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, denn das Gesicht war von der Kapuze vollkommen überschattet.
›Dich warnen. Du wirst beobachtet, seitdem du Sydney betreten hast‹, antwortete die bekannte sanfte Frauenstimme.
›Ich weiß. Von dir.‹ Tigris wandte sich ab und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie gerade telepathisch mit einer Gestalt redete, die außer ihr niemand wahrnahm.
›Du hättest in Shangri-La bleiben sollen. Geh zurück!‹
›Du redest nichts als Unsinn, wie damals.‹
›Ich sage nichts als die Wahrheit. Es ist bestürzend, dass du Barujadiel nicht erkannt hast. Er dich allerdings auch nicht. Deine Amnesie hat anscheinend alles unter sich begraben. Das Schöne wie das Schreckliche.‹
Tigris blieb wie angewurzelt stehen. »Amnesie?«, keuchte sie entgeistert und fuhr herum.
Doch die silbrige Erscheinung war verschwunden.
Ein letzter Gedanke erreichte Tigris jedoch noch, nicht mehr als ein Flüstern.
›Du musst akzeptieren, dass du anders bist! Du musst dich an alles erinnern!‹
Tigris seufzte unglücklich auf, drehte sich wieder um - und fing Antiguas Blicke auf.
»Kleine Vision am Rande?«, erkundigte sich die Ruferin lächelnd.
»Ja, nichts besonderes«, wehrte Tigris ab. »Barujadiel und so ...«
In Wahrheit schwirrte ihr der Kopf. Was sollte das bedeuten, sie und Barujadiel hätten sich nicht erkannt? Ihr Blick fiel auf Darius, der sich blendend mit den beiden anderen Wandlern verstand. War er etwa Barujadiel? Nein, was für eine lächerliche Idee. Sie zweifelte sogar allmählich daran, ob sie mit ihrem Verdacht richtig lag, er könnte Bru’jaxxelon sein.
Dean lotste sie durch einige Seitenstraßen, bis sie wieder das zwanzigstöckige Bürogebäude erreichten, das zu PAGANs Immobilienbestand weltweit zählte.
Von dort aus ging es in die Node von Australia, wo eines der großen Tore im Erdgeschoß sie in das Herzstücks der Domén von Atlantika führte.

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Bei der letzten Renovierung und Umgestaltung der Node von Atlantika anno 1899 waren schier unendliche Mengen an schwarzlackiertem Gusseisen verwendet worden. Alleine der Aufgang zu den in den Berg getriebenen Korridoren mit den Toren bestand aus einem kühnen, riesigen Konstrukt: Eine gusseiserne Spirale hing an meterdicken Ketten von der Kuppel, zusätzlich mit riesigen blütenförmigen Nieten an den Felswänden im Inneren des Berges Fan Foel befestigt und für die Besucher mit hohen Gittern gesichert. Doch das nüchterne Metall war zu erstaunlich filigranen, schwungvollen Formen und Mustern verarbeitet worden, beeinflusst vom Jugendstil der damaligen Epoche.
Im Scheitelpunkt der Kuppel prangte noch das Logo der mittlerweile aufgelösten Rosenstern-Allianz, das Pentagramm aus Rosenblüten - offenbar war Procyon Zimberdale noch nicht dazu gekommen, den Auftrag zur Abänderung zu geben.
Atlantikas Node schien nicht viel größer zu sein als diejenige von Altai-Siberia, war jedoch ungleich besser besucht.
Die Passagen in den ersten beiden Windungen führten allesamt nach London, in jeden Stadtteil und zu fast allen wichtigen Gebäuden und Örtlichkeiten.
»Marylebone. Notting Hill, dort drüben ...« Antigua blieb stehen und sah sich ratlos um. Sie waren den Aufgang hinauf geschritten, in der Hoffnung, einen Hinweis zu erhalten.
»Vielleicht sollten wir erstmal zum Big Ben gehen, wie’s im Rätsel steht«, schlug Dean vor, der das ganze äußerst aufregend fand und begeistert die Eindrücke in sich aufsog.
Schließlich steckten sie die Köpfe zusammen und brüteten noch einmal über dem Rätsel.
Und diesmal war es Tigris, die sie der Lösung ein Stückchen näher brachte.
»Ha, die DiSMaster haben mal wieder ein Wortspiel ausgeheckt«, sagte sie lachend. »Am Anfang von Samt, Opal, Hermelin und Organza! Ganz klar, die Lösung ist SOHO. Und soweit ich weiß, ist das ein Stadtteil von London!«
»Ja, du hast Recht. Wenigstens wissen wir jetzt, welchen Korridor wir nehmen müssen«, meinte Antigua erleichtert.
»Soso, Soho.« Darius las sich still noch einmal den Text durch, wobei sein Lächeln immer schadenfreudiger wurde. »Einige seiner Straßen kenne ich. Vor einem Jahr hatte ich dort in einer wahren Spelunke einen Auftritt. Ich habe da so eine starke Vermutung, worum es geht.« Dann klopfte er Bat Furan auf die Schulter. »Ich glaube, ganz besonders du musst gleich ganz stark sein, mein Freund.« Er wandte sich um und ging voran zu dem Korridor mit den Passagen zu verschiedenen Orten in Soho.
Bat Furan sah ihm perplex nach. »Was soll das denn heißen? He, wieso gerade ich? Wieso nicht Antigua oder Ras Algheti?«
Doch Darius war schon zu dem Stadtplan am Ende des Korridors geschritten und studierte ihn genauestens. Dann entschied er sich für das Tor, neben dem auf einer Metalltafel ›Exit to Shaftsbury Av., Scirocco Restaurant and Cocktail Bar‹ stand.
»Wir schneien also gleich einfach so in ein Restaurant?«, erkundigte sich Ras Algheti erstaunt.
»Ja, zumindest in ein’Interzimmer oder einen Flur«, erklärte Cely amüsiert. »Wenn ein Tor zu einem so öffentlischen Ort führt, ist er im Besitz einer Xendii-Sippe.«
Wenn dem so war, wurde offensichtlich von jener sehr wenig Wert darauf gelegt, irgendwelchen Weltenbummlern einen freundlichen Empfang zu bereiten: Sie kamen im Erdgeschoß eines dunklen Treppenhauses an, wo Ras Algheti erst einmal über einige Fahrräder stolperte und sich fluchend aufrappelte.
Glücklicherweise war die Tür hinaus auf die Straße nicht abgeschlossen. Nacheinander schlüpften sie rasch hinaus.
Ein feiner Nieselregen sprühte ihnen in die Gesichter.
»Schon komisch, oder?«, meinte Dean grinsend. »Eben standen wir noch im hellsten Mittag herum, und hier ist es noch Nacht. Und das alles ganz ohne Jetlag.«
Sie sahen vorsichtig nach links und rechts.
Die Shaftsbury Avenue bestand aus langen Zeilen von gepflegten Altbauten, deren Erdgeschosse Läden beherbergten, aber auch Schauspielhäuser. Gleich zu ihrer Linken befand sich das Queens Theatre, über dessen dunklen Front die Werbung für 'Les Miserables' prangte, auf der anderen Straßenseite hingegen gab es Cafés, Boutiquen und Nightclubs, die meisten natürlich schon längst geschlossen. Bis auf wenige Nachtschwärmer, die tröpfelweise aus den Vergnügungstempeln kamen, sah die vor Nässe glitzernde Straße daher leer aus.
»Und nun, werter Herr?«, fragte Tigris neugierig. Sollte sich Bru’jaxxelon doch in Darius verbergen, war er ein raffinierteres Aas als gedacht. Aber sie würde es schon noch herausfinden.
»Ah, eine Telefonzelle. Genau das, was ich jetzt brauche«, erklärte Darius beim Anblick der roten Kabine an der Straßenecke. »Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege und das Telefonbuch nicht uralt ist, sind wir gleich am Ziel.«
Er schlenderte zusammen mit den beiden anderen Jungs los.
»Ich frage mich, wofür diese Schnitzeljagd gut ist«, sagte Antigua zu Celestine. »Gut, wir haben jetzt alle Noden gesehen, sind von einem Ende der Welt zum anderen gerannt. Aber wofür diese Beweise? Hätten Postkarten nicht gereicht?«
»Nein.« Cely grinste. »Jeder einzelne Beweis ‚at seinen Sinn. Ihr werdet se’en, es ist für einen guten Zweck.«
Nach einigen Minuten kamen die Jungs wieder aus der Telefonzelle heraus, Darius sah unverhohlen triumphierend aus. »Wie ich es mir gedacht habe. Das Mother of Pearls ist ein Nightclub in der D’Arblay Street. Wir fragen gleich in irgendeinem anderen Nachtclub nach dem Weg.«
»Und dort gibt es also diese Wesen mit High Heels. Dann nichts wie hin!«, rief Ras Algheti begeistert.
»Ja, genau.« Darius lächelte unschuldig. »Wesen in High Heels und tollen Kleidern.«

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Ein Geschöpf in perlenbesticktem, cremefarbenem Cocktailkleid, sehr blond und sehr groß, kam auf sie zugeschwebt, kaum, dass sie die schmale, reichverzierte Tür des Lokals durchschritten hatten. Lediglich eine goldene Muschel auf ihr deutete an, dass sich dahinter der Eingang zu einem Nachtclub befand.
»Na endlich!«, rief die Blonde ihnen ungehalten zur Begrüßung entgegen. »Wir wollten schon ohne euch anfangen! Willkommen, mes Chéres, in unserem bescheidenen Domizil!« Sie verteilte nacheinander Luftküsschen an sie und winkte sie hinter sich her.
»Na toll«, grummelte Bat Furan leise. »DAS war ja klar. Transvestiten ...«
»Nun, man hat uns Wesen in High Heels, Samt, Seide, Lack und Leder versprochen. Nicht mehr und nicht weniger«, antwortete Darius vergnügt.
»Ziemlich, äh, plüschig hier, nicht?«, sagte Tigris leise und meinte das Interieur der kleinen Eingangshalle. An die Wände waren goldene Säulen und Bögen gemalt, die den Eindruck eines im Meer versunkenen Tempels vermittelten. Die Leuchten an den Wänden hatten die Form von vergoldetem Seetang, von dem Kristallmuscheln an goldenen, feinen Ketten herunterhingen. Sitzgelegenheiten in der Gestalt von drei geöffneten schneeweißen Austern mit hellen Polstern aus Plüsch standen um einen kleinen Tisch, dessen Glasplatte ein zartrosa Krebs aus Gips trug.
Dies war jedoch noch nichts gegen den Hauptsaal, wo sich gleich mehrere der Austernsitzgruppen um eine Art Bühne gruppierten, ebenfalls einer geöffneten Muschel nachempfunden. Gemalte Fischschwärme, Korallenriffs und andere Meeresszenerien zierten die Wände und die Decke. Der Künstler hatte auch nicht davor zurückgeschreckt, umherschwimmende wunderschöne Nixen und Wassermänner mit kraftvollem Oberkörper in den ozeanischen Traum einzufügen.
Nicht weniger prachtvoll erschienen die Besucher des Mother of Pearls. Elegante Abendkleider oder aufreizende Lack-Ensembles waren offenbar ein Must für die Damen, egal ob ›echt‹ oder nicht, ganz zu schweigen von den Frisuren und dem Make-up. Die Herren hingegen trugen piekfeine, perfekt sitzende Anzüge.
Madame Charleen, wie sich die Dame vorgestellt hatte, die sie empfangen hatte, führte sie zu einer freien Muschelgruppe und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen zu ihnen.
»Kinder, möchtet ihr Champagner?«, fragte sie und hob sogleich die Hand, ohne ihre Antwort abzuwarten, um einem Kellner herbeizuwinken. Es eilte ein durchtrainierter junger Mann mit nacktem Oberkörper und goldenen, enganliegenden Hosen heran, der ihre Bestellung aufnahm.
Bat Furan sank bei seinem Anblick noch verkrampfter tiefer in seine Muschel, während alle anderen wesentlich entspannter aussahen.
»Wir haben nicht so viel Zeit«, begann Antigua und sah Madame Charleen entschuldigend an.
»Ah, Papperlapp«, winkte diese ab. »Spiel hin oder her, für ein Gläschen ist immer Zeit.«
»Was ist denn nun unsere Aufgabe?«, fragte Bat Furan und sah sichtlich unbehaglich aus.
»Nichts besonderes, mein Hübscher«, gurrte Madame Charleen und musterte den hochgewachsenen Jungen äußerst interessiert. »Es ist kinderleicht und überhaupt nicht anstrengend.« Sie nahm nacheinander die Champagnergläser von dem Silbertablett, das ihr der Kellner brachte und verteilte sie mit eleganten Bewegungen an ihre Gäste. »Lasst uns nun auf Volta anstoßen. Und auf seine Idee.«
»Voltas Idee? Na, dann kann es ja nicht so schlimm werden, oder?«, wisperte Ras Algheti Bat Furan zu.
»Oh, ich weiß genau, ihr drei hübschen Jünglinge werdet einfach großartig aussehen! Magnifique! Gegen euch werden wir alle verblassen!«, rief Madame Charleen begeistert und nahm einen kräftigen Schluck Champagner.
Ihre Worten ließen allerdings sogar Darius erbleichen, dem sein amüsiert-spöttisches Grinsen schlagartig verging.
»Wir ... werden großartig aussehen?«, wisperte Ras Algheti ohne große Hoffnung darauf, dass sich seine böse Vorahnung lediglich als ein großes Missverständnis herausstellte.
»Aber ja! Wir haben schließlich extra mit unserer Wahl zur Miss Beautiful Ocean gewartet«, erklärte Madame Charleen enthusiastisch, »nur damit ihr drei daran teilnehmen könnt. Betrachtet es als Ehre, denn eigentlich dürfen nur Mitglieder mitmachen.« Aufmunternd tätschelte sie Bat Furans Knie, der sie mit großen, entsetzten Augen ansah.
»Was für ein Himmelsblau! Vielleicht möchtest du meine neue Samtstola tragen? Sie hat die gleiche Farbe und würde dir vorzüglich stehen. Und wer weiß? Vielleicht wirst du die Schönste?«
Für Antigua, Tigris, Cely und Dean gab es daraufhin kein Halten mehr. Sie applaudierten den Dreien begeistert und lachten sich ansonsten schlapp, während die Jungs mit finsteren Mienen aufstanden und von Madame Charleen zu den Umkleidekabinen gebracht wurden.
»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du Bat Furan doch lieber den Brainstorm zugespielt hättest«, meinte Dean augenzwinkernd zu Tigris. »Dann wär er jetzt so besoffen wie nach vier Flaschen Wodka pur und würde sich später an nichts mehr erinnern.«
»Ich wusste ganz genau, dass du ihn reinlegen wolltest, Tig«, gestand auch Antigua grinsend. »Schade, dass Darius dazwischen gefunkt ist, dieser kleine Spielverderber.«
»Ach, wenn ich es recht bedenke, hat er nüchtern viel mehr von dieser Sache«, erklärte Tigris schmunzelnd.
Bei Sushi und kleinen belegten Pariser Brotscheiben warteten sie auf den Beginn der Miss-Wahl und die drei Jungs.
Und schließlich war es soweit.
Die Lichter auf der Bühne gingen an, alle Gäste erhoben sich und applaudierten begeistert, als Madame Charleen in einem prachtvollen schneeweißen Abendkleid aus Federn mit wiegenden Schritten herannahte.
»Meine Liebsten, seid ihr auch schon so aufgeregt wie ich?«, fragte sie und fächelte sich Luft zu. »Oh, es ist sehr heiß hier drin. Und ich frage mich wirklich, was wir tun sollen, wenn erst einmal unsere Kandidatinnen vor euch stehen. Denn sie sind wirklich hinreißend, einfach phänomenal. Scharf, sexy, elegant und betörend!«
Ein ohrenbetäubender Jubel kam auf, den Madame Charleen mit einem ergebenen Lächeln quittierte, bevor sie fortfuhr. »Ich fürchte, wir werden gleich die Nachbarschaft aus dem Schlaf klingeln müssen und um zusätzliche Ventilatoren bitten. Wer eine Waffe bei sich trägt, kann ruhig auf die Decke schießen und die Sprenkelanlage in Gang setzen. Denn hier sind sie! The Mother of Pearls proudly presents: Allegra! Vivienne! Toyah!«
Als die ersten Klänge von ›Freak like me‹ ertönten, kamen die ersten Kandidatinnen unter tosendem Beifall stolz auf die Bühne, um sie zu umrunden und sich nebeneinander auf der Treppe an ihrem Ende in Positur zu stellen. Mit jedem Namen, den Madame Charleen aufrief, betrat eine weitere Augenweide die Bühne.
»Rubina! Marian! Lucille De Sade!« Die Letztere trug eine knapp sitzende Uniformjacke, einen passenden Mini und schwarze Overknees.
»Algheta!«
Tigris, Cely und Antigua kreischten gleichzeitig auf, als ein farbiges Geschöpf in einem knallroten, pailletenübersäten Abendkleid etwas wackelig auf die Bühne kam. Man hatte Ras Algheti eine schwarze Perücke mit hochgesteckten Haaren verpasst, aus der einige reizende Korkenzieherlocken bis auf seine Schultern fielen und außerdem seine Lippen knallrot geschminkt. Wie es seine Art war, hatte er beschlossen, aus der misslichen Situation das Beste zu machen und lächelte seinen Freunden augenrollend zu.
»Jetzt weiß ich, wer mein mintgrünes Abendkleid zum nächsten Fest tragen wird«, lachte Antigua. »Sieht er nicht süß aus?«
»Oh ja«, rief Tigris und applaudierte heftig. »Hey, da ist doch-«
»Daria!«, verkündete Madame Charleen.
Im Gegensatz zu Ras Algheti schien sich Darius noch nicht ganz mit seinem neuen Outfit arrangiert zu haben und funkelte das Publikum mit eisigem Stolz an, was allerdings für noch frenetischeren Applaus sorgte. Er trug eine Perücke aus hüftlangen, glatten Haaren und ein blaues, wunderschönes Kleid im asiatischen Stil, das knapp über den Knien endete, passend dazu hohe blaue Sandaletten. Als er Tigris entdeckte, die ihn herausfordernd ansah und noch einmal extra für ihn dreimal klatschte, schleuderte er ihr den vernichtendsten Blick zu, den er im Repertoire hatte, drehte sich wütend um und schritt mit Todesverachtung zur Treppe.
»Darius sieht ja heiß aus«, fand Antigua.
»Oui, das Kleid ist ein Traum!«, schwärmte Cely, während Dean die Zähne zusammenbiss, um sein Grinsen zu zügeln. Er hatte ein wenig Mitleid mit den Jungs, die diese Show mitmachten. Allerdings nur ein kleines bisschen, dafür war das Ganze zu amüsant.
»Wo bleibt unser Großer?«, fragte sich Tigris. Die Treppe war inzwischen von gut zwanzig Mädels besetzt, doch Bat Furan ließ auf sich warten.
Nicht ohne Grund: Madame Charleen hatte ihn sich bis zum Schluss aufgehoben. »Und last but not least: La Furiana!«
»Ach du Schande! Neiiin!« Tigris schlug die Hände vor den Mund. War es witzig? War Bat Furan zu bemitleiden? Oder war es einfach nur faszinierend, wie mit Kleidern, Make-up und Perücken ein männliches Wesen in solch ein Geschöpf verwandelt werden konnte?
»Mon Dieu! DAS versteckt er also unter seinen schlabberigen Jeans. Was für ein perfekter, kleiner Arsch«, sagte Cely hochinteressiert und hob anerkennend die Braue.
Bat Furans Blick war noch mörderischer als der von Darius, passte allerdings vorzüglich zu seinem Kleid, einer hautengen Kreation aus glänzendem Latex. Es hatte an den Seiten durchgehend Nieten und Ösen, durch die Lederschnüre gezogen waren und das Gewand daran hinderten, vom Körper zu gleiten. Seine Schuhe mit Plateau-Absatz besaßen ebenfalls zahlreiche Nieten und Schnüren. Abgerundet wurde das Domina-Outfit durch eine wilde Mähne aus roten und schwarzen Haaren und dramatisch schwarz geschminkten Augen. Natürlich durfte die Peitsche nicht fehlen.
Und diese schwang Bat Furan und ließ sie dermaßen kraftvoll auf dem Marmor knallen, dass jeder schockiert zusammenfuhr. All seine Wut entlud sich darin und ließ ihn überaus gefährlich wirken.
»Ich würde sagen, jetzt sind die Drei Engel für Charleen komplett«, kicherte Dean.
Das Publikum war hin und weg nach dieser Darbietung. Es johlte und pfiff außer sich vor Begeisterung, war gar nicht mehr zu beruhigen.
Nur langsam kehrte wieder Ruhe ein, bis auf ein paar Unermüdliche, die anscheinend nicht genug von Bat Furan bekommen konnten.
Sie standen offenbar weit hinten, gleich vor der großen zweiflügeligen Tür zur Vorhalle.
Madame Charleen räusperte sich und lächelte sanft. »Nun, ich habe ja nicht zuviel versprochen, aber ich bitte die Herren dahinten, sich zu beruhigen. Sie werden noch genug Gelegenheit haben, unsere phänomenalen Kandidatinnen zu feiern.«
Waren es Ausländer, die kein Englisch verstanden? Vielleicht Gegner der Veranstaltung?
Da sie immer noch klatschten, als man ihnen bereits böse Blicke zuwarf, kam erstes ungeduldiges Getuschel auf.
»Oh, bitte! Stop! Finis! Finito! Tomare!«, rief Madame Charleen ärgerlich und tippte im Dauertakt wütend mit ihrem rechten Fuß auf den Boden, während Bat Furan die Hände in die Hüften gestemmt hatte und genervt durch den Raum sah.
Tigris versuchte zwischen den Leuten hinter ihr einen Blick auf die Dauerklatscher zu erhaschen, doch vergeblich.
Vier bullige Männer im Anzug - die Bodyguards des Clubs - bahnten sich währenddessen ihren Weg durch die Gäste zu den Störenfrieden, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Was dann geschah, konnten nur diejenigen bezeugen, die weiter hinten standen.
Es gab mehrere blendende Blitze, Schreie gellten durch den Saal und die Menge geriet in Panik. Von beiden Seiten wurden Tigris, Antigua und Dean plötzlich geschoben und gequetscht.
»Wir müssen sie beruhigen, sonst gibt es eine Katastrophe!«, rief Madame Charleen Bat Furan zu. Sie hob die rechte Hand, ließ eine blaue Sphäre daraus erwachsen und murmelte etwas. Dann schleuderte sie sie über die Köpfe der aufgebrachten Gäste hinweg, wo sie zerplatzte und einen blauen Nebel entließ, der sich rasch senkte und dabei verteilte.
Ras Algheti und Darius, sowie Lucille De Sade kamen zu Bat Furan an den Bühnenrand gerannt und verschossen ebenfalls beruhigende Karaoke Sprays. Dann halfen sie den Mädchen und Cely und Dean hinauf auf die Bühne.
»Verdammt, was ist passiert?«, fragte Cely und versuchte, sich einen Überblick über die Masse der Leute hinweg zu verschaffen, die aufgehört hatten, zu schreien und sich gegenseitig von sich weg zu schubsen oder zu boxen. Stattdessen standen sie ruhig da und sahen sich ratlos um.
Tigris betrachtete den Bereich um die Tür am anderen Ende des Saales. Wie feine grüne Spinnwebenfetzen hing DiS dort in der Luft. Dann verschwanden sie wieder, um Sekunden später erneut aufzutauchen. Offenbar war es ihr seherisches Talent noch nicht gewohnt, gleich zweimal innerhalb weniger Stunden genutzt zu werden. Dennoch war es eindeutig. Dann fiel ihr auch die Warnung des silbrigen Geschöpfs ein. ›Du wirst beobachtet, seitdem du Sydney betreten hast.‹
»Ich glaube, das waren Daimons«, sagte sie schließlich. »Dort drüben sind noch DiS-Spuren.«
»Oh mein Gott!«, hauchte Madame Charleen entsetzt. »Sam! Meine treuen Jungs ...«
»Wo sind die Daimonschweine hin?«, knurrte Bat Furan und sprang mit einem Mal von der Bühne. Trotz seiner hohen Plateauschuhe stampfte er dann erstaunlich sicher durch die leise miteinander murmelnden Menschen.
»Bat Furan!«, brüllte Cely und hüpfte ebenfalls von der Bühne. »Wir müssen zusammenbleiben! Keine Einzelaktionen, das ist Selbstmord!«
»Warte, Bat Furan!«, rief Ras Algheti und zog sich rasch die hinderlichen Pumps aus. »Sie könnten in der-«
Eine machtvolle Druckwelle aus Richtung der Eingangstür ließ sämtliche Menschen als auch Xendii rückwärts stolpern und übereinander fallen.
»Lucy, bring die Gäste nach hinten zum Lieferantenausgang, das wird anscheinend etwas unerfreulich werden!«, zischte Madame Charleen dem Transvestiten in dem Uniform-Kostüm zu. Keinen der jungen Windwibbs verwunderte es sonderlich, dass sie ausgerechnet in diesem Nachtclub auf Xendii stießen. Bei Aévons Bekannten weltweit konnte man damit getrost rechnen.
Lucille de Sade scheuchte als erstes die anderen Mädchen von der Bühne und begann dann damit, rasch die Gäste nacheinander durch die Tür zum Hinterausgang zu schleusen.
Währenddessen hatten sich Bat Furan, Cely und Ras Algheti aufgerappelt und sich schützende Cages gehüllt. Die feinen Gespinste aus blaugrünem DiS umwanderten ihre Körper, während sie sich langsam der Tür näherten.
Darius, Madame Charleen, Tigris und Antigua schlichen sich dicht an der Wand gedrückt heran, dieweil die Gäste immer weiter zurückwogten, hin zur rettenden Tür in die hinteren Räume.
Madame Charleens braune, geschminkte Augen füllten sich mit Tränen, als sie die grässliche Bescherung auf dem Boden vor der großen Eingangstür bemerkte: Dort lagen - zu feiner grauer Asche pulverisiert - die Überreste der vier Bodyguards.
»Ich dachte, PAGAN kontrolliert seine Doméns auf mörderischen Eindringlinge von der MDL!«, wisperte sie verbittert.
Bat Furan warf Darius einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln zu und machte hinter dem Rücken einige merkwürdige Bewegungen mit den Fingern seiner Rechten.
Falls sich die Daimons in dem Vorzimmer versteckten, konnten sie weder diese Zeichen bemerken noch Darius, der von seiner Position dicht an den Seitenwänden nicht aus dem Foyer gesehen werden konnte. Er kniete sich hin, und noch während in seinen beiden Handflächen zwei kleine blauglühende Kreise erschienen, drückte er seine beiden Hände auf den Boden.
»Wenn ich mich recht an unser damaliges Seminar bei Aévon erinnere, überrascht er das Foyer jetzt mit ein paar Gypsy Jets«, flüsterte Tigris Antigua zu. »Das sind Strahlen, die dort gleich kreuz und quer durch den Raum schießen und alles erledigen, was nicht schnell genug fliehen oder einen Abwehrschild hochziehen kann.«
Tatsächlich rumpelte und krachte es gleich darauf aus dem Foyer - offenbar waren dem Gypsy Jet einige Vasen und die Glasplatte des Tisches im Weg gewesen.
»Jetzt habt ihr uns aber auf eine sehr dumme Idee gebracht!«, tönte eine hämische Stimme aus dem Foyer.
»Lucy, Schutzschild für alle!«, kreischte Madame schrill auf, denn noch immer standen etliche Gäste in einer langen Reihe an, um von dem Transvestiten durch die Tür gelassen zu werden. Lucy hob die Hände und erzeugte einen schützenden Vorhang, der etwas größer und höher als sie selbst war. Aufmerksam wanderten ihre Augen im Saal umher, um sofort registrieren zu können, wenn ein gefährlicher, plötzlicher Schuss die Gäste bedrohen sollte.
Sekunden nervtötenden Wartens verstrichen, ohne dass sich etwas rührte. Dennoch blieben sie alle vollkommen wachsam und angespannt.
Dann schoben sich urplötzlich kleine, seifenblasenartige Sphären durch die Decke, in denen blaue Lichtfäden ungeduldig umeinander wuselten.
Bat Furan und Cely fluchten auf, stoben auseinander und hoben ihre Körperschilder auf, um die Blasen abzuschießen, die unermüdlich aus der Decke quollen und langsam hernieder schwebten.
Lucy trieb die letzten Gäste zur Eile an.
Und da passierte es: Eine der Blasen traf in ihrer Nähe auf den Boden und zerplatzte. Blitzschnell sprangen Strahlen nach allen Seiten heraus. Sie waren hohl und trugen einen mörderischen Nebel in sich, der hungrig drei der wehrlosen Menschen einhüllte und ihre Kleider und ihr Fleisch zerfraß, noch ehe Lucy sie mit dem Schild abwehren konnte.
Das war zuviel für die drei verkleideten Jungs und Cely: Sie stürmten wutentbrannt das Foyer, begleitet von den qualvollen Schreien der Opfer. Offenbar waren diese in der Lage, den Hypnose-Zustand der letzten Gäste zu durchbrechen, denn diese sprangen entsetzt zurück und rannten kopflos vor Panik durch den Saal, mitten hinein in die Armee der schillernden Sphären.
Das war Antiguas Stunde. Sie stürzte in die Mitte des Raumes, breitete die Arme aus und schloss konzentriert die Augen. Und mit einem Mal schwebten die Sphären zu ihr, ließen sich sanft überall auf ihrem Körper nieder, zerstoben zu kleinen blauen Fontänen aus DiS und verschwanden in ihr.
Erleichtert über diese Hilfe sammelte Lucy mit Tigris Hilfe die wenigen noch verbliebenen, panikerfüllten Gäste ein, beruhigten sie mit einem kleinen Amnesie-Spray und konnten endlich die Tür schließen.
»Oh nein, Dean!«, rief Tigris und sah zu dem Australier, der Schutz hinter einer der Muschelsitzgruppen gesucht hatte und nun schweißgebadet gegen die Rückseite einer solchen Austernschale gepresst dastand und wie hypnotisiert zwei der Sphären anstarrte, die nur wenige Zentimeter entfernt vor seiner Nase schwebten. Die noch im Saal umherwabernden Sphären hatten offenbar das Interesse an Antigua verloren und trudelten wieder der Erde entgegen.
»Ich muss mich entladen, ich kann kein weiteres DiS mehr aufnehmen!«, stieß die Ruferin hervor und marschierte geradewegs ins Foyer, von wo Schreie, Flüche, Klirren und Scheppern von einem heißen Gefecht kündeten.
Tigris rannte mit Kampfesgebrüll zu Dean und schubste ihn geradewegs in einen Sitz, dessen großes schalenförmiges Oberteil auch sogleich über ihm zusammenklappte.
»Mistviecher!«, zürnte Tigris und ging in Deckung, als weitere Sphären platzten und die Jets mit dem tödlichen Nebel entließen.
»Wir brauchen irgendetwas, was das Zeug wie Antigua anzieht!«, rief sie Lucy zu.
Diese schlug sich vor die Stirn. »Natürlich! Aévons Lieblingsmethode: der Pitbull Modus!«
Und schon schoss sie einen Pitbull Dash mitten in eine Gruppe der hinterlistigen Sphären. Geradezu vergnüglich war es anzusehen, wie Lucys Sphäre wild rotierend durch den Seifenblasen-Vorhang donnerte und die gefährlichen kleinen DiS-Ballons und den Nebel absorbierte, bis sie schließlich selber in einem grellblauen Licht zerstrahlte und sich mit einem Funkenregen verabschiedete.
»Die Putzkolonne war fleißig«, meinte Tigris zufrieden, nachdem nicht eine einzige Sphäre mehr übrig geblieben war. Sie stand mit Lucy in der Mitte des Raumes und schaute zum Foyer, als plötzlich schrille Schreie von dort erklangen. »Aber ein bisschen Abfall ist noch übrig! Komm!« Sie wollte gerade losrennen, als sich etwas um ihre Beine schlang, sie stolpern und dann mit voller Wucht auf den Boden schlagen ließ. Lucille de Sade war es nicht besser ergangen. Beide lagen sie platt auf dem Boden, während glühende Schlingen aus DiS ihre Beine und Arme fesselten.
Und dann kam ein paar Stiefel aus grüngrauem Schlangenleder in ihr Blickfeld, halb bedeckt von einem langem Mantel aus demselben Material.
Orangerote Reptilienaugen sahen kalt auf sie nieder.
»Man sieht sich zweimal im Leben wieder, nicht wahr? Und nun sind wir wieder glücklich vereint. Lass uns mein Lämmchen rufen. Ich habe ihn sehr vermisst.«

.
Währenddessen hatte Antiguas unerwartetes Auftauchen nicht nur die Xendii im Foyer überrascht. 
Die Daimons - Anhänger der traditionellen Terrorgruppen der MDL - waren als überaus hässliche Teufelsgestalten in Militär-Tarnanzügen inkarniert und hatten einen Teil der Decke des Vorraums heruntergeholt. Nun verschanzten sie sich hinter einem Berg aus Beton, Bruchstücken der Muschelsitzgruppe und Überresten eines altmodischen englischen Wohnzimmers aus der Wohnung über dem Nachtclub.
Im wahrsten Sinne des Wortes geladen bis zum Anschlag, stampfte die Ruferin seelenruhig an Bat Furan und den anderen vorbei zu dem Schutthaufen und drückte ihre Hände schweigend dagegen. Sogleich schoss eine atemberaubende, grelle Lichtwelle über die Halde und durch jede noch so kleine Lücke darin, um die Angreifer dahinter in einer Flut aus hochenergetischem DiS zu ertränken. Mehrere schrille Schreie gellten durch das Foyer, dann war alles still.
Erleichtert fuhren die Jungs und Cely augenblicklich ihre Schilder herunter und wischten sich den Schweiß von ihren Gesichtern.
»Rosanjin hat dir ja eine Menge beigebracht, Antigua«, sagte Bat Furan grinsend und betrachtete dann angewidert seine Finger, die schwarz von verwischtem Kajal waren.
»Ja, vor allem, dir vom DiS nicht die Frisur durcheinander bringen zu lassen«, stimmte Ras Algheti zu.
»Was ist mit Tigris? Und Lucy?«, fragte Darius.
»Sie haben alles im Griff. Die Gäste sind gerettet und -« Antigua brach unvermittelt ab, als plötzlich Discomusik aus dem Hauptsaal ertönte.
» ›Mr. Vain‹? Wer von den beiden hat denn so einen beknackten Musikgeschmack?«, grummelte Darius verächtlich und wollte nachschauen gehen, als die Musik leiser gedreht wurde und jemand etwas ins Mikrofon sprach.
»Eins zwei drei, Engel, Engel komm herbei ...«
Darius erstarrte und erbleichte.
»Vier, fünf, sechs und sieben: Wo ist mein Engel nur geblieben?«
Er schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und holte mehrmals hintereinander tief Luft.
»Acht, neun, zehn welch Grauen muss ich sehn?
Brennend fiel er in das Meer...
Und nun fürcht ich mich so sehr...«
»Von wegen. Das ist vorbei. Meine Angst vor dir oder überhaupt vor irgendetwas ist in Excelsior gestorben«, flüsterte Darius. Dann richtete er sich auf, ging langsam zum Haupteingang und blieb darin stehen.
»Hallo Lämmchen. Wie schön, dich wieder zu sehen«, sagte der Cherub in dem Schlangenledermantel. Sein Gesicht war flach, nicht ein Härchen wuchs auf der graugrünen Haut und seine Reptilienaugen blickten den jungen Xendi spöttisch an. »Du siehst gut aus. Besser als jemals zuvor. Ja, man sollte seine weibliche Seite nicht verleugnen.«
»Was willst du, Rudan? Und wo ist Reyk? Er wird doch nicht ...« Darius hob gespielt ängstlich die Braue.
»Ein schmerzlicher Verlust, fürwahr. Und nur wegen ihr!« Rudan trat Tigris in die Seite. Sie zuckte zusammen, verbiss sich jedoch ihren Schmerzensschrei und presste stattdessen die Kiefer zusammen, während Tränen in ihren Augen aufglitzerten.
»Was willst du?«, fragte Darius.
»Ich will, dass ihr verschwindet. Sofort. Alle. Bis auf dieses unartige Mädchen, das unnützerweise einen wichtigen Gegenstand mit sich herumträgt.«
»Du kannst es nicht haben«, stieß Tigris hervor. »Niemand kann es mir wegnehmen!«
»Vielleicht nicht ich oder ein anderer Cherub. Wahrscheinlich auch kein Melegon. Aber vielleicht jemand noch weiter oben? Ganz sicher einer von ihnen. Schließlich wurde das Kleinod seinerzeit eigens für einen Angoleah angefertigt. Wie auch all diese Noden und Tore!« Er wies mit einer abfälligen Geste um sich. »Omris Liebling sollte schließlich rasch über diese Welt huschen können, trotzdem ihn die Menge an freiem DiS in eine menschliche Gestalt gezwungen hatte. Aber er wollte es ja unbedingt so haben. Egal welcher Wunsch, Omri hat ihm jeden erfüllt. Kein Wunder, dass der Alte in Zorn geriet, als ihn sein Liebling hintergangen hat. Man sollte die Kinder eben nicht so sehr verwöhnen.«
»Barujadiel ist kein Verräter!«, schrie Tigris wütend auf.
Verächtlich sah der Daimon zu ihr herunter. »Barujadiel? Den gibt es schon lange nicht mehr. Aber aus der Sicht von Omrishah war er ein Verräter. Wie kann man auch freiwillig die Seite wechseln und zu den ärgsten Feinden überlaufen? Tja ...« Er betrachtete gelangweilt seine Fingernägel. »Und warum auch nicht? Bei uns gab es schon immer mehr Spaß statt widersinniger Regeln und Selbstkasteiung. Freie Fahrt für freie Daimons eben.«
Tigris biss sich auf die Lippen vor Wut. Nein, so war es nicht. Was Rudan erzählte, stimmte nicht, konnte nicht stimmen.
›Ich habe das Gesetz gebrochen. Nur für dich.‹, schoss eine Erinnerung durch sie hindurch und die Stimme, die sie trug, war sanft, traurig und zärtlich zugleich.
Hatte Rudan nicht doch Recht?
Nein. Etwas stimmte nicht.
›Das war nicht so. Das ist nicht die ganze Geschichte!‹, dachte sie. Aber was war die wahre, ganze Geschichte?
Das wahre, ganze Bild ... Davon hatte das Geschöpf in dem silbrigen Umhang gesprochen.
Verrat war im Spiel, ja. Aber Barujadiel hatte ihn nicht begangen.
Sie fühlte, wie das Amulett in ihr Fleisch schnitt, als der Daimon seinen Fuß auf ihren Rücken stellte und sie gegen den Boden presste.
War die Wahrheit in dem Amulett gespeichert und tanzte mit Gedankenfetzen und Visionen in ihrem Geist herum? War das womöglich ihre Aufgabe? Die Puzzelstücke schnappen, ineinander fügen und die Wahrheit enthüllen? Aber wieso? Warum jetzt? Und wieso ausgerechnet sie?
»Interessant, was du nicht alles weißt, Rudan«, meinte Darius spöttisch und hoffte, dass sich der Daimon in den nächsten Momenten nicht umdrehte.
Denn einige Meter schräg hinter ihm war eine geschlossene Muschel aufgegangen, Dean hatte kurz herausgelinst und sich dann vorsichtig eine leere Flasche vom Tisch neben ihm geangelt und versuchte in diesem Augenblick, so geräuschlos wie möglich die Schale über ihm emporzuheben, um besser zielen zu können.
»Und du denkst wirklich, wir verdrücken uns und lassen unsere Freundin einfach so zurück?«, knurrte Darius und sah Rudan herausfordernd an.
»Ja, in der Tat denke ich das. Und um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, töte ich nun den Staubgeweihten daneben.« Hämisch grinsend streckte Rudan die Hand nach Lucy aus.
Just in dem Moment warf Dean die Flasche mit voller Kraft nach dem Daimon.
Als sie an seinem hässlichen Reptilienkopf zerschellte, brachte ihn das für zwei Sekunden aus dem Konzept und ließ ihn vorwärts stolpern. Zeit genug für Darius und die anderen, um aus dem Foyer zu stürmen und den Daimon mit vereinten Kräften anzugreifen.
Dieser stieß zornige Verwünschungen aus und sprang hinter einen der Muschelsitzgruppen, von wo er blaurote Salven auf Bat Furan und Darius abfeuerte, die sogleich eine Dike Party errichteten, indem sie die vor ihnen aufgebauten Schutzschilde vereinigten. Cely und Ras Algheti befreiten Tigris und Lucy rasch von den Fesseln.
»Das ist ein Notfall«, verkündete die Französin entschlossen. »Wir müssen das Spiel abbrechen und sofort nach Guulin Kherem zurückkehren.« Sie zog aus ihrer Jackentasche die silberne Scheibe, die eine direkte Passage in die rettende Burg erschaffen würde.
»Ras Algheti, verstärke die Dike Party und komm mit den anderen näher zu der Seitenwand. Ich werde das Tor öffnen.«
Rudan hatte indes aufgehört zu feuern und redete stattdessen offenbar mit sich selber. Jedenfalls drang seine Stimme hektisch zu ihnen herüber.
»Quadrant 5864 ... DiSMaster haben meine Mannschaft vernichtet. Zielobjekt befindet sich in meiner Nähe. Brauche Verstärkung!«
»Schnell, Cely«, rief Antigua. »Er hat irgendwie Kontakt zu einer Art Zentrale aufgenommen, beeil dich. Gleich wimmelt es hier vor Daimons.«
Im Schutz des breiten Schildes drückte Celestine die Scheibe in Höhe ihres Kopfes an die bemalte Wand und aktivierte mit einem Jet nacheinander die einzelnen Buchstaben des Passwortes.
»Das nützt euch nichts!« höhnte Rudan. »Sie sind gleich hier. Und sie könnt ihr nicht so einfach besiegen!«
»Halt’s Maul!«, brüllte Bat Furan und setzte mit einem Dash die Sitzgruppe in Brand, hinter der sich Rudan verschanzte. Flinker als eine Ratte huschte er einfach zur nächsten.
Inzwischen hatte sich der Schatten um die Scheibe ausgeweitet und zu einem pechschwarzen Durchgang verdichtet.
»Los, Dean, du als erster!«, rief Cely und half dem Barkeeper dabei, aus der künstlichen Austernschale zu steigen.
»Wo komme ich an?«, fragte er.
»Wo du ohne’in letztendlisch gelandet wärst. Schnell! Und wenn irgendetwas schief geht, sag Aévon und den anderen Bescheid!«
Dean nickte und schritt davon in die Dunkelheit.
»Tigris, jetzt du!«
»Nein, Antigua! Sie sieht kaputt und erschöpft aus!«, widersprach Tigris.
»Mach kein Drama aus der Sache, geh!«, zischte die Ruferin. »Sie sind hinter dir her!«
Tigris nickte widerwillig und ging zu der Passage.
Sie trat in die absolute Finsternis ein und würde im nächsten Moment in Sicherheit bei Aévon und den anderen sein.
Doch dazu kam es nicht.
Unsichtbare Hände zogen sie zurück und schleuderten sie gegen einen Tisch.
Dann erfasste sie einer der rotierenden, riesigen Wirbel, die sich in dem Saal manifestiert hatten, und wehten sie mühelos in die Luft, so wie nacheinander sämtliche Sitze, Tische - Xendii.
Wie hilflose Puppen wurden sie alle im Kreis geschleudert, schrieen vor Panik und suchten mit rudernden Armen nach irgendetwas, an dem sie sich festhalten konnten.
Ras Algheti schaffte es als erster, ein glühendes Seil zu einer der Säulen neben der Bühne zu schießen, sein eines Ende darum zu wickeln und das andere an seinem Fuß zu befestigen. Für einige Sekunden glich er einem lebenden Drachen, den ein übermütiges Kind in einem Sturm hatte steigen lassen. Mit einem zweiten Strahl wiederholte er die Aktion, ließ diesen dann zusammenschrumpfen, wodurch er schnell hinab zur Säule gezogen wurde. Madame Charleen, Lucy, Cely und Bat Furan - mit Antigua im Schlepptau - landeten auf diese Weise irgendwo hinter der Bühne, während Darius versuchte, in dem Mahlstrom irgendwie an Tigris heranzukommen.
»Was ist das?«, brüllte er ihr zu.
»Etwas stärkeres als ein Cherub jedenfalls!«, schrie sie zurück.
Endlich gelang es ihm, ein Seil aus DiS um ihre Hüften zu wickeln und sie näher zu sich zu ziehen.
Daraufhin dröhnte Gelächter durch den tosenden Sturm und eine überlaute Stimme, die ihre Eingeweiden vibrieren ließ, höhnte: »Ihr Staubgeweihten seid immer so rührend selbstlos und lächerlich. Aber nun husch husch, fort mit dir!«
Ein Blitz sprang plötzlich aus dem Nichts hervor und kappte den Slave, der Tigris und Darius miteinander verband. Dann flog Darius mit entsetztem Gesicht davon, geradewegs auf die nächste Wand zu.
Tigris schrie auf und versuchte ihm einen Slave hinterherzuschicken, doch kaum schoss der Strahl ein Stück aus ihren Händen, hörte er auf zu wachsen, als ob jemand sich gegen ihn stemmte.
›Verdammt, mit was habe ich es nur zu tun?‹, schoss es ihr durch den Kopf.
Doch glücklicherweise reagierte Darius geistesgegenwärtig und konnte sich mit einem weiteren Slave an einen vorbeifliegenden Tisch hängen, der ihn wieder von der Wand fort trug.
Das brachte ihn auf eine gute Idee. Im Flug hangelte er sich mithilfe der DiS-Seile von einem Möbelbruchstück zum nächsten, von Plastik-Muschelschalen zu Tischbeinen, und von einem riesigen Seetang-Kerzenständer zum anderen, bis er der Erde und der Bühne so nah war, dass Bat Furan ihn mit seinem Slave an Land ziehen konnte.
Doch noch immer hielten die beiden Wirbel Tigris gefangen und absorbierten jeden Versuch eines Schusses von ihr.
»Genug der kurzweiligen Spielchen. Wir bringen dich nun in unser Hauptquartier. Und um die anderen mögen sich unsere Hunde kümmern«, dröhnte es aus den Wirbeln hervor.
Dann verstärkten sie ihre Kraft und bretterten mit Tigris zwischen sich in der Luft durch den Eingang zum Saal, wobei sie große Stücke der Wand mitnahmen, die zusammen mit den Türflügeln in einem ohrenbetäubenden Getöse auf den Boden aufschlugen und in einer riesigen Staubwolke versanken.
»Wir müssen hinterher!«, rief Bat Furan und wollte schon lospreschen, doch Cely hielt ihn zurück.
»Gleisch werden unsere Leute ier auftau’en«, sagte sie eindringlich zu ihm. » Wir brau’en die ganze Truppe! Das waren mindestens Melegonin, mon Dieu!«
»Ganz recht«, stimmte ihnen jemand vom Foyer her zu.
Rudan.
»Erst müsst ihr an uns vorbei«, kicherte er und sah kurz hinter sich. »Das heißt, an fünfzig Cherubim der MDL.«
Plötzlich wandte er nochmals irritiert den Kopf und schoss dann zu ihnen in den vollkommen verwüsteten Saal, hinter den nächstbesten Berg aus Schutt, Gips und Holz und hüllte sich in ein glühendes Gespinst.
Im nächsten Moment stürzte ein Heer an monströsen Gestalten nach ihm herein, abwechselnd hinter sich schießend und ihre Schilder hoch- und wieder hinunterfahrend.
»Wenn auf eines Verlass ist, dann auf unsere Leute«, grinste Cely und stürzte sich mit einem Juchzen ins Kampfesgetümmel.
Und tatsächlich:
Als letztes kamen sämtliche DiSMasters, allen voran Aévon, in den Saal gerannt, wild Dashes und Jets auf die Daimons feuernd.
»Ich hoffe, ihr habt eine gute Haftpflicht-Versicherung!«, knurrte Procyons Sohn und wies auf das Chaos um sich herum. Dann wirbelte er ein paar Mal um die eigene Achse und verschoss dabei einen Schwarm angriffslustiger Moskito Dashes, die etliche Daimons um ihn herum wie Eichen fällten.
Darius jedoch hatte noch eine uralte Rechnung offen, die er begleichen wollte.
Rudan gehörte ihm, nur ihm ganz allein.
Und er würde endlich für alle Alpträume bezahlen, in die er ihn, Darius, als damals noch hilflosen Teenager, gestürzt hatte.
All die langen Monate voller Furcht, die ihm unentwegt die Tränen in die Augen getrieben und ihn nicht mehr hatte schlafen lassen. All die gemeinen, sadistischen, schmerzhaften Spiele, die er hatte über sich ergehen lassen müssen.
Ja, Rudan würde bezahlen, und zwar gleich mit für Reyk, der hoffentlich schon in der tiefsten Hölle schmorte.
›Ich wünschte, du könntest mich sehen‹, dachte er voller Genugtuung. ›Ich wünschte, du könntest sehen, dass ich deine Ratschläge befolge und sogar noch besser geworden bin. Ich wünschte, ich könnte dich finden. Dich finden und dir danken. Danken für deine Strenge, die mich härter gemacht hat. Aber eines Tages finde ich dich wieder. Irgendwo werde ich dein Zeichen sehen und dort wirst du dann sein.‹

.

Die DiSMasters verpassten die beiden rotierenden Säulen mit Tigris dazwischen nur um wenige Sekunden. Doch dieser winzige Vorsprung reichte den beiden Melegonin, die rasch die Straßen Sohos hinter sich ließen und ihre Gestalt wandelten, ohne dass die Neutralen sie sehen konnten. Tigris fand sich im nächsten Moment in den Klauen eines urzeitlich wirkenden Flugsauriers wieder, neben dem ein Weiterer durch das frühe Zwielicht segelte.
Die beiden waren lediglich materialisiert, wie sie an dem unangenehmen Vibrieren bemerkte, das ihren Körper durchschüttelte und von den Melegonin ausging. Und sie schwebte wie in einem Käfig in den riesigen Krallen des Daimons, wurde von deren nichtmaterieller Substanz abgestoßen, sobald sie in ihre unmittelbarer Nähe geriet.
»Wohin bringt ihr mich?«, brüllte Tigris und musste dann husten, weil der scharfe, kalte Gegenwind, der mühelos die Daimonsubstanz durchdrang, ihr den Atem nahm.
»An ein lauschiges, ruhiges Plätzchen in der Sahara. Dort harren wir dann der Dinge, die bald kommen. Einem der Hohen Shinnn beispielsweise«, knurrte der Melegonin, in dessen Gewalt sie sich befand.
»Und dann gibt es hier endlich eine Shinnn-Party«, frohlockte seine Kumpane. »Diese Welt ist schon seit Jahrtausenden überfällig.«
»Die ... Zerrafin haben da aber auch noch ein Wörtchen mitzureden!«, keuchte sie.
Daraufhin lachten die beiden Flugsaurier sich schier schlapp.
»Die Zerrafin, jaja. Zufälligerweise sind sie ganz unserer Meinung. Diese Welt ist ihnen zu voll, zu dreckig, zu chaotisch und zu lasterhaft. Aber sie räumen gerne den Müll auf, der nach der Shinnn-Party übrig bleibt und fangen noch einmal von ganz vorne an.«
»Was sollte schon übrig bleiben, wenn die Welt vernichtet wird«, sagte Tigris leise und traurig. 
»Oooch, so schlimm wird es schon nicht werden. Na ja gut, weite Teile eures Planeten werden wie ausgestorben sein. Aber das kann man durchaus positiv sehen. Dann kann sich die Natur in Ruhe wieder von der Seuche Mensch erholen. Wie du siehst, ist die MDL in Wahrheit eine Vereinigung von radikalen Umweltschützern.« Und wieder lachten sie lauthals los.
Mit ihrer atemberaubenden Geschwindigkeit flogen sie der aufgehenden Sonne entgegen, die am Horizont den Himmel bereits rotgolden erglühen und das Meer unter ihm funkeln und glitzern ließ.
»Sicher. Umweltschutz. Worum geht es wirklich?«, rief Tigris, während sie gleichzeitig überlegte, wie sie sich aus den Klauen dieser Biester befreien konnte. Zumindest, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
»Um Spaß. Und um ganz viel Black DiS. Man kann zwar jetzt schon einiges davon in den paar Kriegen abschöpfen, in denen ihr euch wegen irgendwelcher Götter und Ideale gegenseitig zerfleischt. Aber das ist nichts im Gegensatz zu der Menge, die bei der Shinnn-Party frei wird.«
»Black DiS. Eine Droge. Dafür lohnt es sich wirklich«, schnaubte sie in Erinnerung an Engelberts Worte, damals, als sie noch nichts von ihrer wahren Herkunft oder den DiSMasters ahnte.
»Eine Droge? Mehr als das, Kindchen«, erklärte der neben ihr fliegende Melegon und kicherte. »Black DiS ist unser Gold, unser Mammon. Für eine Prise davon bringt so mancher Cherub seine gesamte Familie um. Wer viel davon hat, kriegt alles, was er will, und wer nichts davon hat, bleibt dort, wo er ist, auf seiner unbedeutenden Position in der Hierarchie.«
»Ihr Daimons seid uns wirklich sehr ähnlich ...«, brummte Tigris und spähte hinab ins Meer, das sich unruhig unter ihr bewegte wie ein lebender Organismus. Darüber glitten rasch die Schatten der beiden Melegonin.
Tigris seufzte mutlos. Gleich würden sie irgendwo in der Wüste landen, wo niemand sie jemals wieder finden würde.
Stark. Mutig. Wunderschön.
Von wegen.
Das Amulett ließ sie ausgerechnet jetzt im Stich, wo sie es am dringendsten benötigte.
Sie fischte es aus ihrem Sweatshirt, in der Hoffnung, sein Anblick würde ihr eine dringend benötigte Eingebung bescheren. Nun leuchteten vier Blütenblätter grün und der Schmetterling hatte sich wieder weiter nach links und in die Nähe des oberen Randes begeben.
›Ich könnte es gegen seinen Körper drücken. Vielleicht geht er in Flammen auf wie Rudans Zwilling‹, überlegte sie.
›Ja, das könntest du, wenn du tatsächlich den unüberwindbaren Drang verspürst, ein Bad im Atlantik zu nehmen‹, meldete sich urplötzlich Bru’jaxxelon in ihrem Geist barsch zu Wort.
›Ihr haltet mein Gehirn wohl alle für eine Funkzentrale, was?‹, dachte sie wütend. ›Was willst du? Ach, das Amulett natürlich, ich Dummchen.‹
›Ich kann es mir jederzeit holen, wenn ich benötige‹, erwiderte er kühl. ›Aber du wirst sterben, wenn tatsächlich einer der Angoleah hierher kommt und es dir fortnimmt.‹
›Wieso bist du so besorgt um mein Wohlergehen? Dein schlechter Ruf könnte leiden, wenn du mich zum zweiten Mal aus einer unangenehmen Situation rettest. Wenn ich an die Sache in der Node von Altai-Siberia denke ...‹
›Ach, du schuldest mir noch einige Antworten, du Dummchen. Du stirbst, wenn ich es will. Und ich will noch nicht. Außerdem stört es meine eigenen Pläne, wenn mein Amulett einem der Angoleah in die Hände fällt. Das werde ich mit allen Mitteln verhindern.‹
›Tröstlich.‹ Sie spähte umher und fühlte sich merkwürdigerweise wesentlich besser, nachdem der Daimon offensichtlich angekündigt hatte, sie aus den Klauen der Melegonin zu befreien. Was sehr ärgerlich war, aber leider der Wahrheit entsprach.
Aber was? Hauptsache, sie würde irgendwie zurück nach Shangri-La oder Guulin Kherem kommen. Und dann würde sie schon noch herausfinden, wie man Bru’jaxxelon besiegen konnte.
›Die Hoffnung stirbt zuletzt, nicht wahr?‹, kommentierte Bru’jaxxelon sarkastisch ihre letzten Gedanken. ›Aber wenn es dich so sehr beruhigt, bitte sehr. Es rührt mich, wieviel Hoffnung du in das Amulett legst.‹
›Du hast wohl auch nichts anderes zu tun, als mich ständig zu bespitzeln und zu retten, wie ich merke.‹
›Und du bist ziemlich sorglos für jemanden, der merkt, dass er von jemanden wie mir ständig bespitzelt und gerettet wird. Ich könnte dich augenblicklich töten. Hier und jetzt. Kommt dir das nicht ein klein wenig bedenklich vor?‹ Sie hörte ein leises, kehliges Lachen durch ihren Geist klingen.
›Ich verdränge es wohl hin und wieder.‹
›Genug geplauscht. Ich habe nicht viel Zeit und weitaus erfreulichere Dinge zu tun, die meine volle geistige und besonders körperliche Gegenwart in Anspruch nehmen.‹
Tigris hielt gespannt Ausschau. Bisher hatte Bru’jaxxelon nur telepathischen Kontakt zu ihr aufgenommen. Würde er jetzt tatsächlich persönlich erscheinen? Oder war seine Macht so groß, dass er auch aus der Ferne etwas bewirken konnte? Mit klopfendem Herzen suchte sie den morgendlichen Himmel ab. Doch bis auf ein paar hoch über ihnen fliegenden Vögeln war nichts zu sehen. Aber vielleicht näherte er sich ja auf diese Weise unauffällig?
»Irgendetwas ist komisch ...«, meinte plötzlich der Melegon, in dessen Klauen sie festsaß.
»Ja, ich spüre es auch. Irgendetwas kommt näher. Lass uns schneller fliegen!«
Tigris barg schützend ihren Kopf in den Händen, als der Wind noch stärker und schneidender wurde, linste jedoch ab und an durch die gespreizten Finger gen Himmel.
Doch Bru’jaxxelon kam nicht durch die Lüfte herangesaust.
»Das Meer!«, brüllte einer der Melegonin.
Sie schaute augenblicklich hinab in die Tiefe.
Und sie erkannte, was der Daimon meinte.

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Das Meer verdunkelte sich auf einer weiten Fläche zusehends.
Immer schwärzer verfärbte es sich, bis es schien, als flögen sie über einem nachtschwarzen Stoff, der das Sonnenlicht kaum reflektierte und sich vollkommen glatt unter ihnen ausbreitete.
Jetzt bekam sie es plötzlich mit der Angst zu tun. Dieses undurchdringliche Schwarz hatte sie in ihrer Vision von der Zerstörung Excelsiors gesehen. Es war auf Darius in seiner Zelle zugeglitten und hatte ihn wie eine zweite Haut eingehüllt.
»Deswegen hat er kaum einen Kratzer abbekommen«, keuchte sie. Vielleicht hatte Bru’jaxxelon Darius absichtlich vor den Flammen gerettet, aus welchem sicher finsteren Grund auch immer.
Die Schwärze erhob sich rasch aus dem Wasser und wurde zu einer riesigen Wand, auf die die Melegonin geradewegs zusteuerten. Sie versuchten, beizudrehen, doch die Dunkelheit bewegte sich mit ihnen und schnitt ihnen den Weg ab, glitt weiter um sie herum, bis es auf einmal stockfinster um sie geworden war.
Die Melegonin brüllten und kreischten ohrenbetäubend, während glühende Fetzen von ihren Leibern flogen: Langsam lösten sie sich auf, zerstrahlten in gleißendem Licht, schmolzen dahin.
Und Tigris stürzte hinab.
Oder schwebte sie schwerelos durch Bru’jaxxelons Substanz?
Es gab kein oben oder unten mehr.
Etwas Kaltes glitt ihre Beine hinauf. Es war, als tauchte sie mit den Beinen voran in eisigstes Wasser. Geschockt von der Kälte, schluchzte sie auf und fing an zu zittern.
»Was bin ich nur ein schlechter Gastgeber ... ich sollte dich ein wenig wärmen, sonst holst du dir noch einen Schnupfen und musst wie schon so oft das Bett hüten, während andere fröhlich feiern.«
Diesmal klang seine Stimme ganz nah und deutlich, geradezu körperlich.
Tigris versuchte, irgendetwas in der Finsternis zu erkennen, was sich jedoch als zweckloses Unterfangen herausstellte. Es gab nichts zu sehen, nicht die kleinste Lichtquelle.
Dann spürte sie plötzlich Wärme in ihrem Rücken. Etwas Samtiges glitt zart und vorsichtig über ihren Hals, über ihre Schultern und dann unter ihr Sweatshirt, um schließlich über die Rundungen ihrer Hüften zu streichen.
Tigris hielt die Luft an und ertarrte. Sie fühlte, wie ihr Herz immer schneller schlug, fürchtete sich - und doch sandte diese Berührung wohlige Wellen über ihren ganzen Körper, wie schon einmal zuvor.
»Ich könnte jetzt mit dir machen, was ich wollte«, flüsterte Bru’jaxxelon.
»Du willst nichts außer Tod und Zerstörung«, widersprach sie leise, hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Genuß.
»So seidig ... warm ... voller Leben«, wisperte er, und Tigris spürte seine Sehnsucht und sein Verlangen, ihre Wärme und ihre Lebendigkeit zu spüren, Anteil daran zu haben, darin aufzugehen.
Zum ersten Mal fühlte sie wirklich Mitleid mit ihm und für einen kurzen Moment glaubte sie seine wahre Natur zu verstehen.
Er war ein einsames Geschöpf, krank an Geist und Seele, verzweifelt, verloren; ein Geschöpf, das Zuflucht zu einer lange zurückliegenden Vergangenheit suchte und sich in seinen Erinnerungen eingemauert hatte. Ein Geschöpf, das keinen Platz in der Welt finden konnte - nicht mehr finden wollte.
Als er zärtlich über ihre Wange strich, schmiegte sie sich in seine Berührung. Und diesmal war er es, dieses körperlose Wesen, das erschauerte und erzitterte.
Doch dann brach er schlagartig den hautnahen Kontakt mit ihr ab und fuhr sie eisig an: »Genug geschmust. Ich habe Wichtigeres zu tun als meine Zeit mit einem so lächerlichen Geschöpf wie dir zu vertrödeln.«
Diese kalte Dusche vertrieb augenblicklich die kleine, wärmende Regung in ihrem Herzen. Wie konnte sie auch nur eine Sekunde geglaubt haben, dass dieses Monstrum im tiefsten Innersten ein Körnchen Gutes besaß?
Sie ärgerte sich über ihre Schwäche und ihre Naivität und überlegte, was sie ihm an den Kopf werfen konnte, als er barsch knurrte: »Wir sind da.«
Tigris fühlte, wie sich etwas Hartes gegen ihren Rücken drückte und wurde dann herumgewirbelt, so als ob sie in einem Teppich gesteckt hätte, den jemand mit mächtigem Schwung entrollte und sie unsanft in die Freiheit entließ.
Und zwar mitten auf das feuchte Pflaster eines dunklen Hinterhofes, auf dem mehrere überquellende Müllcontainer standen.
Benommen rappelte sie sich auf und sah sich um.
Bru’jaxxelon war offensichtlich fort.
Wo war sie?
›Na toll. Bestimmt hat er mich irgendwo in Reykjavik oder so abgesetzt und amüsiert sich darüber, wie ich gleich durch die Weltgeschichte irre. Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn er mich nach Shangri-La gebracht hätte‹, dachte sie mit einem Anflug von Panik.
Doch dann fiel ihr die Beschriftung auf einem der Container auf.
Mother of Pearls.
Bru’jaxxelon hatte sie zurück nach Soho gebracht. Und wenn sie genauer darüber nachdachte, erschien das durchaus vernünftig. Wie hätte sie etwa ihr plötzliches Erscheinen in Shangri-La erklären sollen?
»Ja, okay, ich habe dir Unrecht getan. Danke, du Monster«, zischte sie und überlegte kurz, wie sie stattdessen ihr plötzliches Erscheinen im Mother of Pearls erklären konnte. Aber da fiel ihr auch schon eine halbwegs vernünftige Antwort ein.
Sie fand den Hinterausgang in den Club und schlüpfte hinein.
Im Hauptsaal saßen Antigua und Madame Charleen auf einem kleineren Schutthaufen in dem ansonsten vollkommen demolierten Etablissement.
»Tigris! Wo ... wie ...?« Antigua war aufgesprungen und sah sie ungläubig an, schwankte zwischen Lachen und Weinen.
»Wenn zwei Melegonin sich streiten, freut sich der Xendi.« Tigris lächelte schief. »Sie haben plötzlich begonnen, um das Amulett zu kämpfen und ich konnte abhauen. Ich habe mich bis hierhin durchgefragt. Wo sind die anderen?«
»Sie suchen natürlich nach dir. Gott sei Dank! Aévon ist unerträglich und wie eine Furie. Er macht sich Vorwürfe, dich bei der Schnitzeljagd überhaupt mitmachen gelassen zu haben.«
Madame Charleen schien ebenfalls erleichtert und drückte sie überschwänglich an sich. »Wir dachten schon, wir sehen dich nie wieder! Ich rufe gleich Aévon an. Na, dann wird es ja erst recht eine tolle Feier.«
»Feier?«, fragte Tigris.
»Tja«, antwortete Antigua. »Überleg doch mal: Partystrohhalme, ein Barkeeper ... jede Gruppe bei der Schnitzeljagd hatte die Aufgabe, etwas für die Fete zu besorgen, die heute steigen soll. Der offizielle Staatsakt zur Gründung des Freistaats Guulin Kherem.«
»Hier ist übrigens der Beitrag des Mother of Pearls. Des ehemals hippsten Nightclubs in Soho.« Madame Charleen schluchzte und sah sich traurig um. Dann überreichte sie Tigris ein Kästchen voller CDs.
»Ich bin sicher, dass PAGAN euch ein paar Daimons schicken kann, um hier Ordnung zu schaffen und alles wieder zu reparieren«, tröstete sie Antigua.
»Oh, ich will bis auf Weiteres keinen Daimon mehr hier sehen«, erklärte Madame Charleen mit bebenden Lippen und wählte dann eine Nummer auf ihrem Handy. »Tigris ist zurück. Ja, vollkommen gesund und heile. Sie konnte den Melegonin entwischen.«
Es dauerte keine zehn Minuten, und Aévon stürmte mit Rosanjin, Volta und Hababai zum Haupteingang herein.
»Gott sei Dank!«, rief er und drückte sie dann derart fest an sich, dass es beinahe wehtat. Aber das war ihr egal, sie war nur froh, alles hinter sich zu haben und wieder bei denjenigen zu sein, die sie liebte. Und Aévon gehörte ganz und gar dazu, gleich nach ihrer Mutter. Immer wieder küsste er ihre Stirn und ihr Haar, während die anderen ihr auf die Schulter klopften. Hababai wischte sich gar verschämt ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
»Ab jetzt bleibst du hübsch in Shangri-La oder in unserer Nähe in Guulin Kherem, Kleines«, sagte Aévon schließlich und löste sich von ihr.
»Mann, da bist du ja! Wir haben ganz London nach dir abgesucht!«, rief Bat Furan, der mit Darius, Ras Algheti, Shirooka und Cely ebenfalls wieder ins Mother of Pearls zurückgekehrt war.
Sie hatten sich inzwischen umgezogen, jedoch noch keine Zeit gehabt, sich das Make-up gründlich vom Gesicht zu waschen.
»Tut mir leid, Bat Furan, dass ich dich in Sydney hereinlegen wollte«, gab Tigris kleinlaut und beschämt zu. Sie fühlte sich in der Stimmung, sämtliche Untaten ihres Lebens zu bereuen und nie wieder eigensinnige Aktionen zu starten, nie wieder unüberlegt zu handeln oder überhaupt jemals wieder den Schutz von Shangri-La oder Guulin Kherem zu verlassen.
»Hätte ich mir ja denken können. Aber diesmal wünschte ich, ich wäre besoffen gewesen. Wehe, jemand zwingt mich jemals wieder, komische Gummikleider anzuziehen und mich von Männern und Männern, die lieber Frauen sein wollen, anstarren zu lassen«, brummte er.
»Also, ich fand, du sahst einfach toll aus. Es hat deine Kurven vorteilhaft zur Geltung gebracht«, meinte Antigua grinsend. »Ihr saht alle drei hinreißend aus.«
»Vielen Dank für die Blumen«, grummelte auch Darius.
»Ach, das war eigentlich mal etwas in Richtung Selbsterfahrung«, bemerkte Ras Algheti. »Wann ist denn die nächste Miss Beautiful Ocean-Wahl? Vielleicht mache ich wieder mit.«
»Dann schläfst du aber nicht mehr in unserem Zimmer«, konterte Bat Furan.
»Na, ich bin nur froh, dass für heute niemand mehr verloren geht«, seufzte Shirooka. »Erst Tigris, dann fast auch du, Darius ...«
Tigris riss den Kopf herum und starrte Darius mit großen Augen an.
»Entschuldigung, meine Dame, aber ihr wart auf einmal alle weg«, verteidigte sich Darius. »Ich wollte nur diese kleine Seitenstrasse näher erkunden, in die sich einer der Cherubim geflüchtet hatte.«
Tigris schmiegte sich mit geschlossenen Augen wieder in Aévons Arme, während ihre Gedanken ratterten.
›Und er könnte doch Bru’jaxxelon sein‹, überlegte sie. ›Er hatte also zwischendurch Zeit, mich den Melegonin wegzuschnappen. Genau wie er angeblich auf Toilette war, als das in der Node von Altai-Siberia passiert ist.‹
»Los, lasst uns hinüber in die Burg gehen, wir haben noch einiges zu tun«, rief Aévon schließlich. »Wir lassen das Ganze nach einem Bombenanschlag aussehen, Charly. Sobald wir den Schlafwhisper für das Viertel aufgehoben haben, gibt es einen Riesenknall. Und hoffentlich Geld von der Versicherung.« Er nahm Madame Charleen in den anderen Arm und ging mit ihr und Tigris zu der Wand, wo Hababai mit seiner silbernen Scheibe schon eine direkte Passage errichtet hatte.
»Welche Aufgaben hätten wir eigentlich noch erledigen müssen, wenn uns die Daimons nicht dazwischen gefunkt hätten?«, erkundigte sich Bat Furan, nachdem sie hinüber in den Korridor der Tore innerhalb der Burg gegangen waren und in den Hauptsaal eintraten, wo schon viele zukünftige DiSMaster-Anwärter den Raum für die Party schmückten und vorbereiteten.
»Nach Atlantika wärt ihr in Afrika gelandet, in einem kleinen Dorf am Fluss Cuando im Westen«, erzählte Aévon. »Dort hättet ihr ein paar Freunde von uns aufgegabelt, die wunderbar trommeln und singen können. Die Mädchen hätten allerdings vorher erst einen Fruchtbarkeitstanz einstudieren und zum Besten geben müssen.«
»Ach, verdammte Daimons. Das wäre ein Spaß gewesen!«, meinte Ras Algheti, was auf ungeteilte Zustimmung seitens Bat Furans und Darius traf, die heftig nickten.
»Zu guter letzt hätte es euch auf die Malediven verschlagen«, fuhr Rosanjin fort, »wo ein paar Aussteiger-Xendii leben und Kokosnüsse züchten und ein sehr schönes Blütenöl herstellen. Ihr hättet Kokosmilch und zwei Flaschen dieses Massageöls besorgt und wärt dann zurück nach Guulin Kherem gekommen.«
»Was hat Massageöl mit dieser Party zu tun?«, erkundigte sich Bat Furan misstrauisch. Daraufhin räusperte sich Shirooka, sagte aber nichts weiter und auch Aévon und die anderen grinsten nur genüsslich.
»Eine Privatsa’e«, erläuterte Cely kurz.
»Ich schlage vor, ihr geht jetzt duschen«, begann Aévon.
»Duschen? Hier auf der Burg gibt es auch richtige Duschen?« Tigris hob erstaunt die Brauen.
»Kleines, wo Frauen und Schwule sind, da ist auch Kultur und Zivilisation, ergo selbstverständlich auch mindestens eine Dusche«, entgegnete Aévon amüsiert. »Danach ruht ihr euch etwas aus und helft noch ein wenig mit, damit wir pünktlich anfangen können. Die Nacht wird sehr lang und auch spannend.« Aévon nahm sich eines der belegten Brote auf dem Büffet und sah seine Schwester schelmisch an.
»Ach, der Tag war spannend genug«, seufzte Tigris und zupfte gedankenverloren die Petersilie von einigen Broten.
»Es gibt immer eine Steigerung. Heute wird in den Doméns der neue Präsident gewählt. Und ich müsste mich sehr irren, wenn das Haus Zimberdale in ein paar Stunden nicht einen Sieg feiern kann.«
»Ach ja, stimmt. Ich gehe mal schnell rüber nach Shangri-La, mal sehen, was meine Mutter und Ilvyn so machen.«
»Jaja, von wegen. Du willst doch nur einen Abstecher zu deinem Dornröschen machen, gib es zu«, zog Bat Furan sie auf, woraufhin Tigris zart errötete und sich ärgerlich von ihnen abwandte.
»Ah, dieser Typ, der ebenfalls Excelsior überlebt hat, nicht wahr? Und den du zurück ins Leben geholt hast«, sagte Aévon.
»Dieser Typ ist Rufer-Wandler«, bemerkte Antigua und erntete einen bösen Blick von Tigris.
Denn selbstverständlich reagierten die DiSMasters genauso, wie sie es vermutet hatte.
»Tatsächlich? Wieso weiß ich noch nichts davon?« Aévon verschränkte nachdenklich die Arme. »Wir sollten ihn mal unter die Lupe nehmen. Rufer-Wandler, das können wir uns nicht entgehen lassen.«
»Aber seid nicht gleich enttäuscht, wenn ihr ihn seht«, rief Ras Algheti mit halbvollem Mund. »Er ist nicht viel größer als Tig, dafür aber halb so breit. Ziemlich mickerig also.«
»Oh, auf die körperliche Größe kommt es bei Xendii überhaupt nicht an«, widersprach Rosanjin.
»Aber er ist doch noch gar nicht richtig gesund!«, protestierte Tigris, doch vergebens. Schon hatte sie Aévon in den Arm genommen und bedeutete Rosanjin und Hababai, ihnen zu folgen.
»Ich will ihn auch ausgepackt sehen«, rief Antigua und rannte ihnen hinterher.
»Wie heißt er denn eigentlich?«, erkundigte sich Aévon noch.
»Anjul«, grummelte Tigris.
»Na, dann bin ich mal gespannt auf Angelo.«

.

Sie waren in den Korridoren der Tore und passierten den Durchgang nach Shangri-La.
Für einen kleinen, verträumten Moment dachte sie an Anjuls Sommersprossen auf der Nase und an seinen schmolligen Gesichtsausdruck.
Je näher sie dem Krankenhaus kamen, desto heftiger begann ihr Herz zu schlagen. War er überhaupt vollkommen bei Bewusstsein gewesen, nachdem er dem Tod noch einmal entkommen war? Erinnerte er sich überhaupt wirklich an etwas? Oder würde er mit ihr nichts anzufangen wissen? Und - oh Gott - wenn er sich nun doch an all die lächerlichen Dinge erinnerte, die sie ihm erzählt hatte, während er im Koma gelegen hatte? Oder würde er sie anlächeln und daran denken, wie sie ihn geküsst hatte?
Als sie durch den Korridor der Intensivstation schritten, bekam sie ganz feuchte Hände und zitternde Beine.
Schwungvoll riss Aévon die Tür auf und rauschte ganz selbstverständlich in das Zimmer.
Anjul saß mit angezogenen Beinen in seinem Bett, hatte die Arme um seine Knie geschlungen und in diesem Nest seinen Kopf mit den widerspenstigen, dunkelblonden kurzen Haaren vergraben. Er sah so klein und verletzlich aus, dass Tigris’ Herz vor liebevoller Wärme zerfloss.
»Tja, Ras Algheti hatte leider recht«, meinte Aévon lachend. »Trotzdem willkommen, Angelo, in Shangri-La, dem DiSney-Land der Xendii.«
Erst jetzt hob Anjul langsam den Kopf und sah sie mit undeutbarer Miene an. War er insgeheim genervt? Neugierig? Auf jeden Fall betrachtete er jeden einzelnen von ihnen mit seinen dunkelblauen Augen ernst und aufmerksam.
Als sein Blick Tigris erfasste, verweilte er mehrere Sekunden in ihren Augen, als gelte es, dort ein Geheimnis auszuspüren. Ein Blick, so tief und blau wie ein Ozean, und genauso unermesslich. Welche Rätsel lagen auf seinem Grund verborgen? Es kostete sie erstaunliche Willenskraft, sich nicht einfach darin versinken zu lassen. Schließlich riss sie sich los und inspizierte das Zimmer, als sähe sie es zum ersten Mal.
»Süß. Er ist wirklich süß, Tig«, wisperte Antigua ihr ins Ohr. »Den muss man doch einfach abknutschen und bemuttern, dieses kleine Schnuckel.«
Tigris errötete und senkte den Kopf, weil ihr Anjul immer wieder Blicke zuwarf.
»Hm«, machte Aévon und trat näher ans Bett. »Soll das heißen, wir kommen mit Englisch hier nicht weiter? Oder müssen vielleicht sogar die Taubstummen-Sprache erlernen?«
Hababai kam ebenfalls näher. »Hababai«, sprach er betont langsam und wies dabei auf sich. »Ich-bin-Ha-ba-bai.«
Anjul hob seine leicht buschige Brauen in Anbetracht dieses verdienstvollen Versuchs aufmerksam in die Höhe.
»Oh nein ... er kann wirklich nicht sprechen«, hauchte Tigris voller Mitgefühl. Sie nahm all ihren Mut zusammen und drängte sich entschlossen zwischen ihren Bruder und Hababai, um sich an Anjuls Seite zu setzen und ihn zuversichtlich anzulächeln. »Wie schön, dass du aus dem Koma erwacht bist. Ich bin so froh, dass es dir wieder gut geht«, sprudelte sie ohne zu überlegen los, obwohl es vielleicht vergebene Liebesmüh war.
Da streckte er unvermittelt seine Hand aus und legte sie auf Tigris Wange, wobei er ihr Gesicht intensiv musterte.
Tigris durchfuhr es wie ein Blitzschlag.
Er zog langsam die Hand zurück und widmete sich wieder immer noch äußerst aufmerksam den anderen.
»Parle-tu Francaise?«, fragte Aévon indes, um einen weiteren Kommunikationsversuch zu starten. »Russkie? Espanol? La Italiana, eh Angelo?«
Und da auf einmal ...
»Nicht Angelo. Es heißt Anjul.«
Sie alle fuhren überrascht zusammen. Damit hatte nun wirklich keiner in Anbetracht dieser kleinen, harmlos wirkenden Gestalt gerechnet! Und Aévon nahm wieder einmal kein Blatt vor den Mund und brachte es gewohnt ironisch auf den Punkt: »Ach du Schande. Eine Stimme wie die eines schwer nikotinabhängigen, fünfzig Jahre alten Säufers. Und dabei höchstens so groß wie drei seiner Bierflaschen aufeinander gestapelt.«
»Sechs Flaschen, wenn schon«, sagte Anjul gelassen, ohne seinen intensiven, forschenden Blick von Aévon zu nehmen. Dieser brach in schallendes Gelächter aus und ließ sich auf der anderen Bettkante nieder.
»Und wie fühlst du dich? Weißt du überhaupt, wo du bist und vor allem: Was du bist?«
»Ich bin verdammt«, stellte Anjul nüchtern und seelenruhig fest. Er sprach Englisch mit fremdländischem Akzent und rollte das ›r‹ höchst beeindruckend.
»Tja, das sind alle wie du und ich. Aber jetzt ist es vorbei und du kannst ein ganz neues Leben anfangen. In Freiheit.«
»Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich auf diese Art weiterleben soll«, erwiderte Anjul sachlich.
Tigris erschrak bei diesen Worten. »Ich weiß, du hast Furchtbares erlebt«, begann sie leise.
Anjul riss den Kopf herum und entgegnete scharf: »Ich denke nicht, dass du das weißt.«
»Hey, sei nicht so streng zu Tigris, immerhin hat sie jeden Tag eisern an deiner Seite gewacht und nett mit dir geredet«, meinte Aévon beschwichtigend.
»Ich habe sie nicht darum gebeten«, entgegnete Anjul kalt.
In Tigris’ Herz knirschte es bei diesen Worten sehr hässlich. Ungläubig sah sie Anjul an, der es noch nicht einmal für nötig hielt, seinen direkten, ernsten Blick von ihr zu nehmen. Doch dann überkam sie Wut über diese Frechheit.
»Keine Sorge. Jetzt, wo du ja wieder gesund bist, ist mein nerviger Pflegedienst beendet. Ich habe besseres zu tun als Kranke zu hüten«, erklärte sie schnippisch und erhob sich beleidigt.
»Wie weit ist deine Genesung eigentlich vorangeschritten? Kannst du gehen?«, erkundigte sich Aévon, der entschlossen war, den frechen Neuling für die DiSMasters zu gewinnen.
»Ich denke schon. Ich habe es hier bis jetzt noch nicht ausprobiert.«
»Na, das wird schon. Und wie steht es um deine übernatürlichen Fähigkeiten?«
»Ich habe damit dreimal den Todestunnel kaputtgemacht. Ist das übernatürlich genug?«
»Todestunnel?« Tigris sah ihn entsetzt an, und auch die anderen erstarrten.
»Sie haben Blitze aus Starkstrom durch diese riesige Röhre gejagt, um herauszufinden, wer in der Lage ist, die Einschläge zu überleben«, erklärte Anjul gelassen. »Die meisten Menschen, die man hineingeschickt hat, konnten das allerdings nicht.«
Er sagte es so ohne jegliche erkennbare Gefühlsregung, dass Tigris nicht wusste, ob dies nicht schrecklicher war als das, worüber er gesprochen hatte.
»Oh mein Gott ...«, flüsterte Antigua schockiert.
Selbst Aévon verlor seine gewohnte Lässigkeit. »Diese ... Bestien«, keuchte er mit harter, wutgetränkter Stimme. »Friede den Seelen, die unschuldig in Excelsior umkamen. Und falls es eine Hölle gibt, sollen die Wärter dieses Todeslagers ewig darin schmoren.«
»Die einzige Hölle ist das Leben«, meinte Anjul leise und sah zum Fenster. Sein Blick verlor sich in dem strahlendblauen Himmel mit den zierlichen Federwolken, die doch tatsächlich wie Daunen aussahen. Aber das schien er gar nicht wahrzunehmen.
Er wirkte stattdessen wieder derart verletzlich und schutzbedürftig, dass Tigris’ Zorn auf ihn augenblicklich verrauchte und sie am liebsten an seine Seite gesprungen wäre, um ihn ganz fest in ihre Arme zu nehmen.
»Nun, es wird Zeit für unsere Feier«, befand Aévon schließlich. »Bestimmt bist du müde, wir lassen dich jetzt in Ruhe. Bis dann, Angelo. Und wenn du Lust auf ein wenig Training hast, sag Bescheid.«
»Training?« Anjul sah hoch interessiert aus.
»Ja, ein effektives Training, mit dem man sich Dämonen aller Art vom Hals halten kann. Auch die der Gattung Mensch. Wenn du Interesse hast, kannst du jederzeit bei uns mitmachen.« Aévons Miene sah wie die eines Fuchses aus, auf den gerade ein schmackhaftes Karnickel zuhoppelte. »Aber erzähl nicht gerade jedem davon. Die DiSMaster erfreuen sich nicht überall großer Beliebtheit. Du kannst Tigris Bescheid sagen, sie sieht ja hin und wieder nach dir.«
Die blauen Augen nahmen Tigris wieder mit durchdringender Gründlichkeit ins Visier.
»Wenn es sich nicht vermeiden lässt, meinetwegen.«
»Aber bitte mach vorher einen Termin mit meiner Sekretärin aus«, entgegnete Tigris. »Ich habe nicht immer Zeit für schwerkranke, traumatisierte Xendii.«
Doch Anjul zog es offenbar vor, nicht mehr weiter mit ihr zu streiten und starrte wieder aus dem Fenster.
»Tschau, und Kopf hoch! Viele von uns haben auf ihre Art ihre persönliche Hölle durchgemacht, aber wir sind erst recht entschlossen, zu leben«, rief Hababai zum Abschied und ging als erster wieder aus dem Krankenzimmer.
Tigris, die das Schlusslicht bildete, blieb jedoch in der Tür stehen und wandte sich um, als sie Blicke im Rücken zu spüren glaubte. Tatsächlich schaute Anjul ihr hinterher. Zum ersten Mal deutete sich dabei ein winziges Lächeln um seine Mundwinkel an und Grübchen erschienen in seinen Wangen unter den Augen.
Wie einfach dieses Kerlchen ihre Angriffslust ins Nichts verpuffen lassen konnte!
Er sah ihr noch nach, als sie aufmunternd lächelnd die Türe schloss und hinter den anderen her eilte - oder vielmehr schwebte, den ganzen Tag noch und auch die Nacht. Und alle noch folgenden Tage und Nächte.
Dieses erstaunliche, starke, wunderschöne, kuscheligwarme, elektrisierende Gefühl konnte nur eines bedeuten: Sie hatte sich unsterblich in Anjul verliebt.
 

© I.S. Alaxa
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