»Spätzchen, steh’ auf, das Frühstück ist gleich
fertig!«
Tigris hob müde den Kopf und erblickte ihre Mutter, die am
Bettrand saß und ihr liebevoll über den halb aufgelösten,
dicken Zopf strich.
»Er hat gewonnen«, sagte sie und konnte nicht verhindern,
dass es sich ein wenig traurig anhörte.
»Ja, das hat er«, antwortete Danubia leise. Dann holte
sie tief Luft und sah Tigris mit einem geradezu trotzigen Ausdruck in ihren
grünen Augen an. »Was hältst du davon, wenn wir ihm gratulieren
gehen?«
Tigris verschlug es vor Überraschung zunächst die Sprache.
»Einfach ... so?« vergewisserte sie sich dann zögernd.
»Ja. Gleich nach dem Frühstück. Einfach so.«
Danubia bemühte sich um einen heiteren Tonfall, aber Tigris konnte
deutlich wahrnehmen, dass sie angespannt und sogar etwas zornig war. Das
wiederum bemerkte ihre Mutter, verwuschelte ihr noch kurz die Haare und
floh dann in die Küche, wo Tigris sie gleich darauf hektisch werkeln
hörte.
Tatsächlich ließ Danubia ihre sorgsam zurückgehaltene
Wut auf Procyon an den Tomaten aus, die sie gedankenverloren in kleinste
Stücke zerhieb statt wie sonst in appetitliche Scheiben.
Anfangs hatte sie ihm noch geglaubt, verliebt wie sie war, und sich
mit der Erklärung zufrieden gegeben, dass er zuviel um die Ohren hatte.
Doch auf die Dauer konnte sie das Gefühl nicht mehr abschütteln,
dass er es nicht wollte.
Nein, sie konnte nicht mehr die Augen davor verschließen,
dass er es absichtlich vermied, Tigris zu sehen.
Und das nagte an ihrem Herzen und trieb ihr die Tränen in die
Augen, wenn sie zudem noch an das Telefonat vor wenigen Minuten dachte.
Schon wieder hatte er eine Ausrede parat.
›Er erwartet seinen Beraterstab in Elms Hall, der Herr. Zwar erst
gegen Nachmittag, aber er muss vorab noch so viele Dokumente und Nachrichten
bearbeiten, der Herr. Warum? Was hat sie dir getan? Sie ist unsere Tochter,
dein Fleisch und Blut. Für Aévon hingegen würdest du dich
umbringen lassen ...‹ Sie wischte sich mit den Handrücken über
die Augen und schämte sich zutiefst, dass sie auch gleich mit wütend
auf Aévon geworden war. Denn der Zorn auf Procyons Sohn verrauchte
schlagartig, als sie daran dachte, wie gut er und Tigris miteinander auskamen.
Er schien sie geradezu zu vergöttern.
›Wieso kannst du sie nicht so unvoreingenommen lieben?‹, dachte
sie und rief sich schon wieder Procyons Bedrückung in Erinnerung,
die er verspürte, wenn es um die Rettung ihres gemeinsamen Kindes
ging.
War ihr an jenem Abend etwas entgangen? Damals, als die Tür
oben im Kinderzimmer in Elms Hall aufgegangen war und sie nur noch diesen
einen Satz aus seinem Munde vernommen hatte, den schönsten, den jemand
jemals zu ihr gesagt hatte: »Sie lebt. Es ist überstanden.«
Sie war damals zu aufgeregt und glücklich gewesen, um noch
irgendetwas anderes um sie herum wahrzunehmen.
›Bin ich zu streng zu ihm? Vielleicht hat er Schuldgefühle
und weiß nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll. Er
hat ihr das Leben gerettet, und dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.
Trotzdem hat Tigris das Recht, ihn zu sehen. Ja. Wir haben das Recht dazu.‹
Sie wischte die letzten Bedenken in dem Moment hinweg, als Tigris
die Küche betrat, unübersehbar aufgeregt und fröhlich zugleich.
Sie hatte sich ihr Jeanskleid angezogen, die Lockenfülle zu einer
hübschen Frisur hochgesteckt und sah einfach bezaubernd aus.
Viel bekam sie ohnehin nicht hinunter, weswegen Danubia schon nach
zehn Minuten aufstand, sich anzog und ihre Tochter ganz fest in den Arm
nahm, stolz, nervös und ängstlich zugleich.
Über die Node von Asia und Atlantika ging es direkt in einen
Anbau in Elms Hall, der von einer zehnköpfigen Xendii-Schar streng
bewacht wurde. Sie kannten Danubia bereits und ließen die beiden
anstandslos in das Herrenhaus eintreten.
Tigris sah sich neugierig in der hellen Eingangshalle um, als ein
hochnäsig aussehender Butler aus einer der vielen reich verschnitzten
Türen trat.
»Mrs. Windwibb, welche Freude, Sie zu sehen. Das kann man
nicht von allen behaupten, die hier ständig ein- und ausgehen«,
näselte er und musterte dann Tigris verblüfft, die dem schrecklichen
Sohn seines Herrn überaus stark ähnelte.
»Danke, Bloomsworth«, entgegnete Danubia leise. Warum
zitterte ihre Stimme nur? Es war doch die normalste Sache der Welt, dass
ein Kind seinen Vater besuchte. Sie straffte die Schultern, als ob sie
dadurch ihre Anspannung abschütteln könnte. »Bitte sagen
Sie Procyon - Mr. Zimberdale, dass wir hier sind und ihm gerne zu seinem
Wahlsieg gratulieren würden. Wir warten in der Bibliothek.«
Bloomsworth nickte höflich und verschwand, während Danubia
Tigris in das einzige nicht renovierte Zimmer des Hauses brachte.
Tigris trat sogleich neugierig an die hohen Kristallsäulen
in der Mitte des stillen Raumes.
»Ist das nicht ein so genanntes Dämonenauge? Ich habe
es einmal in einem Buch in Windwibbenburg gesehen. Es scheint uralt zu
sein. Bei 18% DiS tauchen ›Die Sieben Furchtbaren Fürsten der Hölle‹
auf, ›welche verbreyten Pest und Feuersbrünste und verkündigen
das Ende der Zeyten‹. Klingt ja fast poetisch.«
»Spätzchen, erwähne sie nicht«, bat Danubia,
die auf der orientalisch angehauchten Couch saß und nervös ihre
Hände knetete. »Mir wird schlecht vor Angst, wenn ich daran
denke, dass wir kaum weniger als acht Prozentpunkte davon entfernt sind,
ihr Erscheinen zu ermöglichen. Wir können uns gar nicht vorstellen,
wie es dann sein wird. Sie sind grausam, böse und gnadenlos. Und nur
die Zerrafin können sie besiegen.«
»Die Zerrafin ...« Tigris biss sich auf die Lippen.
Selbst in den Doméns von PAGAN setzten viele Xendii großes
Vertrauen in diejenigen der Angoleah, die die Free Daimons unterstützten.
War es gerechtfertigt? Die beiden Melegonin der Shinnn, die sie entführt
hatten, schienen da ganz anderer Meinung gewesen zu sein.
›Barujadiel ist ein Angoleah. Vielleicht hat Omrishah ihn geschickt,
um uns zu helfen‹, dachte sie und spann diese Theorie weiter. ›Diese silbrige
Kreatur hat doch gesagt, dass er mir den mächtigsten Beschützer
geschickt hat, den man sich vorstellen kann. Und er ist schon in meiner
Nähe, wir haben uns nur noch nicht erkannt. Bru’jaxxelon behauptet,
ihn getötet zu haben. Andererseits konnte er Anjul nichts anhaben.
Er konnte ihn nicht töten. Er ...‹
Und plötzlich durchzuckte sie eine ungeheuerliche Idee.
›Er konnte ihn schon damals nicht töten ... und er hat es auch
vor kurzem nicht wieder geschafft!‹
Ihr wurde richtig schwindelig, je weiter sie den Gedanken verfolgte.
Konnte es wahr sein? War jene Person, die sie im Verdacht hatte, etwa jenes
machtvolle Wesen, der ihr versprochene Beschützer? Aber was war ihre
eigene Rolle in dem ganzen Drama?
›Vielleicht erinnert er sich nicht daran, wer er wirklich ist. Vielleicht
... vielleicht besitze ich mit dem Amulett ein Mittel, ihn wieder daran
zu erinnern. Und dann haben wir einen starken Verbündeten gegen die
MDL und Bru’jaxxelon.‹
Die Berührung einer Hand, die fest ihre Schulter umgriff, riss
sie aus ihren Gedanken.
Ihre Mutter war an ihre Seite getreten und starrte zur Tür.
Tigris wandte den Kopf und fühlte ihr Herz losrasen.
Procyon Zimberdale stand in der Tür, und in seinem Gesicht
waren sowohl Überraschung als auch Anspannung zu lesen.
Ja, das war ihr und Aévons Vater. Von ihm hatten sie beide
die großen Bernstein-Augen und den breiten, vollen Mund. Er war groß,
gutaussehend, beeindruckend und noch viel toller als vor wenigen Stunden
im Fernsehen. Ein mächtiger Mann. Der Präsident von PAGAN.
Und als er seine Tochter ansah, schimmerten Tränen in seinen
Augen.
Tigris fühlte ihr Herz ganz weich werden, als schmölze
es im Zeitraffer dahin, und ihre Impulsivität erledigte spielend jegliche
gebotene Zurückhaltung. Sie rannte zu ihm und umarmte ihn einfach,
während die Tränen ihr nur so über die Wangen liefen.
Im ersten Moment rührte der Anblick Danubias Herz: Vater und
Tochter endlich wiedervereint und vor Freude weinend.
Aber dann sah sie Procyons Gesichtsausdruck und seine Gefühlsenergie
sprang quer durch den Raum in sie: Pure, nackte Angst, schwere Schuldgefühle
- und Widerwillen.
Erst als er bemerkte, dass Danubia ihn entgeistert anstarrte, schloss
er vorsichtig die Arme um Tigris und senkte den Blick.
Endlich löste sich Tigris von ihm und strahlte ihn an. »Ich
und Aévon - ach was, ganz Guulin Kherem hat dir alle Daumen und
Zehen gedrückt! Herzlichen Glückwunsch!«
Procyon sah aus, als ob er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stünde
und musterte Tigris fassungslos. Ein schmerzlicher Zug ließ seine
Mundwinkel zucken. Doch sie schien das im Überschwang ihrer Gefühle
überhaupt nicht wahrzunehmen - ganz anders als Danubia.
»Danke, Melisande. Tigris, meinte ich«, antwortete er
mit brüchiger Stimme.
Tigris konnte gar nicht genug von seinem Anblick kriegen. »Wenn
dir der Name so gefällt, bleib dabei«, lachte sie.
Allmählich gewann PAGANs neuer Präsident seine Beherrschung
zurück - nicht zuletzt wegen Danubia, die zu ihnen gekommen war und
Procyons Miene nicht aus ihrem wachsamen Blick ließ. Immer noch angespannt
hatte sie ihre Arme verschränkt und spielte mit ihrem Bernstein-Anhänger.
»Unverkennbar eine Zimberdale, äußerlich jedenfalls«,
sagte er, und das Lächeln, das er Tigris schenkte, wurde sofort glücklich
erwiedert. Er strich ihr über die Wangen, unbeholfen, wie es schien.
Doch nicht nur Danubia merkte, dass es kein frohes, von Herzen kommendes
Lächeln war.
Schritte hallten im eleganten Foyer wider.
Aévon kam ihnen entgegengeschlendert, die Hände tief
in seiner Cargo-Hose vergraben, zu der er ein seidigschimmerndes, feines
Hemd trug.
»Seit wann lässt man in diesem Haus seine liebsten Gäste
zwischen Tür und Angel stehen, Vater?«, fragte er Procyon scherzhaft,
aber Danubia hörte mühelos die darin liegende Missbilligung heraus.
Er schüttelte ihre Hand, drückte Tigris fest an sich und küsste
ihr Haar.
Procyon atmete tief durch, als Tigris sich strahlend von Aévon
löste und ihn wieder fasziniert anlächelte, mit einem unfassbar
wundervollen, warmen Strahlen in den Augen.
›Hätte ich doch damals nicht darauf bestanden, dabei zu sein.
Manchmal ist Unwissenheit ein wahrer Segen‹, dachte er verzweifelt.
Dann legte er unsicher seinen Arm um sie, um mit ihr voranzugehen.
»Ich bin immer noch etwas durcheinander, verzeiht«,
murmelte er. »Lasst uns in den Wintergarten gehen und einen Tee trinken.«
Danubia war dabei, ihnen zu folgen, hielt jedoch inne, als sie Aévons
ernsten, fast feindseligen Blick bemerkte, den er seinem Vater hinterher
sandte, und spürte Verwirrung, Unverständnis und einen schon
lange Zeit gehegten Zorn von ihm ausgehen. Als Aévon sich dessen
bewusst wurde, kehrte seine gewohnte, schützenden Ironie wieder. »Treffen
sich zwei Seher. Fragt der eine: Hallo, wie geht es mir? Sagt der andere:
Oh, ganz gut. Und mir?«
»Manchmal wünscht man sich, man würde nicht die
Gefühle anderer spüren. Besonders, wenn sie negativer Art sind«,
seufzte Danubia.
»Ja, man wird nicht gerne daran erinnert, dass man selber
Zorn gegen eine bestimmte Person hegt. Mir kannst du nichts vormachen.
Und er kann uns beiden nichts vormachen«, behauptete Aévon
leise. Procyon war mit Tigris noch weiter vorgegangen, anscheinend plauderten
die beiden angeregt miteinander, doch Aévons übernatürlichem
Blick entging nicht, dass sein Vater immer noch furchtsam das Gesicht seiner
Schwester musterte, als ob sie sich gleich in etwas Schreckliches verwandeln
könnte.
»Wir tun ihm wahrscheinlich Unrecht«, meinte Danubia
hilflos. »Ja, ich war zornig, weil er diesen Moment so lange hinausgeschoben
hat. Aber jetzt, wo ich ihn vor vollendete Tatsachen gestellt habe, sollte
ich ihm Zeit geben, sich langsam an Tigris zu gewöhnen.«
»Er hatte Wochen lang Zeit dafür, zog es jedoch vor,
zu flüchten. Ich wusste nicht, wie radikal du sein kannst, Danubia.«
Aévon sah sie amüsiert an.
»Ich habe das Richtige getan«, verteidigte sie sich.
»Dir werfe ich doch gar nichts vor. Wahrscheinlich hätte
ich an deiner Stelle genauso gehandelt. Aber aufgrund deiner Fähigkeit
dürfte auch dir eine besorgniserregende Tatsache nicht entgangen sein.«
»Und die wäre?«
»In meinen lässigen Worten ausgedrückt, würde
ich sagen, dass er richtiggehend Schiss vor einem jungen Mädchen hat.«
Er sah Danubia ins Gesicht und fand darin die gleiche Verwirrung und dasselbe
Unverständnis, die auch in ihm durch Procyons Verhalten ausgelöst
wurden. »Seine Gefühle, die eben über mich geschwappt sind,
sind voller Furcht, Misstrauen und vor allem nagender Schuld«, fuhr
Aévon fort. »Eine sehr bedenkliche, rätselhafte Mischung,
die er einem so wundervollen, unschuldigen Geschöpf wie meiner Schwester
entgegenbringt.«
Danubia wusste nicht mehr weiter. »Vielleicht macht er sich
Vorwürfe, dass er nicht schon viel früher Kontakt zu ihr aufgenommen
hat. Vielleicht hatte er Angst, zurückgewiesen zu werden.« Sie
setzte sich endlich in Bewegung, um diesem schmerzlichen Gespräch
zu entfliehen, doch Aévon wich nicht von ihrer Seite.
»Ich bitte dich, Danubia. Schau sie dir doch einmal an, wie
sie ihn anhimmelt. Spätestens beim Anblick dieser strahlenden Honigaugen
wäre einem normalen Menschen ganz warm und kuschelweich ums Herz geworden.«
»Aévon, sei nicht so streng zu ihm. Vielleicht überlagern
deine eigenen negativen Gefühle diejenigen, die du an ihm wahrzunehmen
glaubst. Er ist ein wundervoller Mensch. Er hat ihr das Leben gerettet.«
»Ja, von dieser Geschichte habe ich gehört. Und ich werde
den Eindruck nicht los, dass hierin der Schlüssel zu seinem Verhalten
liegt. Aber das finde ich schon noch heraus. Irgendetwas frisst an ihm,
das spüre ich. Wenn der innere Druck groß genug ist, explodiert
irgendwann jeder Kessel voller großer, unerfreulicher Geheimnisse.«
Mittlerweile waren Procyon und Tigris stehen geblieben und warteten
vor dem Säulengang, an dessen Ende der Wintergarten lag, auf die beiden
Nachzügler. Als Aévon sie erreichte, hakte sie sich an seinem
und Procyons Arm unter und bemerkte zufrieden, dass Danubia sich lächelnd
von ihrem Vater in den Arm nehmen ließ.
Zusammen gingen sie weiter, wie eine glückliche Familie auf
ihrem Sonntagsspaziergang.
Und Danubia zwang sich entschlossen, in Procyons festen, um Halt
flehenden Druck auf ihren Schultern nichts Besorgnis erregendes hinein
zu interpretieren.
.
Pünktlich wie immer kam Ilvyn um neun Uhr morgens im obersten
Stockwerk des Aquariums an, wo sie im Vorzimmer von Miras Büro einen
von zwei gegenüberliegenden Schreibtischen belegte. Sie war hundemüde,
denn sie hatte zusammen mit einigen jungen Xendii unten in den Seminarhäusern
die Präsidentschaftswahl bis zwei Uhr morgens verfolgt und mit Miras
Anhängern den Ergebnissen entgegengefiebert. Ein wenig waren ihr die
Wahlen in PAGANs Doméns wie der Grand Prix de la Chanson in Europa
vorgekommen, den sie einige Male auf dem alten Schwarzweiß-Fernseher
in Rosenhag 3 mitverfolgt hatte. Die Kontinentalräte waren live zugeschaltet
worden und hatten die Ergebnisse in ihren Distrikten verlesen; vorab waren
die interessantesten Sehenswürdigkeiten und Traditionen des betreffenden
Kontinents gezeigt und Interviews mit Anhängern der verschiedenen
Fraktionen übertragen worden.
Zur Wahl hatten neben vier anderen, wenig aussichtsreichen Kandidaten
Procyon Zimberdale und Mira Szelwyczinski gestanden.
Ilvyn verehrte die idealistische Wandlerin über alle Maße
und niemand fühlte sich enttäuschter als die junge Seherin, als
Procyon Zimberdale nach einem langen Kopf-an-Kopf-Rennen schließlich
doch mehr Stimmen auf sich vereinigen konnte. Immerhin bot er in dem ersten
Interview nach seinem Sieg an, dass Mira weiterhin Vize-Präsidentin
bleiben sollte, was diese sich noch überlegen wollte. Denn es gab
einige Sachen, bei denen beide völlig entgegen gesetzter Ansichten
waren. Procyon wollte einen härteren Kurs gegen Umbriel fahren, Mira
hingegen zählte auf die Unterstützung der Free Daimons und eine
vorsichtige Vorgehensweise. Sie fürchtete nichts mehr als eine weitere
Erhöhung des weltweiten DiS-Levels. Auch in der Daimonfrage gingen
beide ein wenig auseinander. Mira wollte unbedingt die Zusammenarbeit mit
den Free Daimons vertiefen, Procyon war der Meinung, dass sich Daimons
so wenig wie möglich in die Belange der Menschen einmischen sollten.
Und nicht zu vergessen, das Ärgernis namens DiSMasters ... Procyon
hatte klipp und klar erklärt, dass der Staat Guulin Kherem ein freiwilliger,
demokratischer Zusammenschluss von Xendii war, die Autonomie beanspruchten,
sich eigene Gesetze gegeben hatten und daher nicht mehr der Gerichtsbarkeit
PAGANs unterstanden. Er begrüßte jedoch Guulin Kherems Vorschlag,
PAGAN militärisch zu unterstützen und bot ihnen im Gegenzug einen
beratenden Sitz im Parlament an. Dies verwunderte wahrscheinlich nicht
nur Ilvyn wenig, da doch Procyons heißgeliebter Sohn, dieser schreckliche
Aévon, der Anführer dieser Anarchisten war.
Am anderen Schreibtisch in Miras Büro saß bereits Goovinndah
in einem glitzernden indischen Kaftan grellster Färbung und frischte
sein Make-up auf. Ilvyn war jeden Tag aufs Neue darüber erstaunt,
dass ein Geschöpf mit vier Händen mindestens doppelt so lange
dafür brauchte wie das eitelste Frauenzimmer auf Erden. Aber Goovinndah
war überkritisch und penibel, was sein Aussehen anging, denn noch
immer geschah es hin und wieder (und ganz besonders in Indien), dass sich
Menschen in Ehrfurcht vor ihm niederwarfen und da wollte er schließlich
nicht wie ein verquollener, übernächtigter und versoffener Junkie
aussehen. Divinité oblige!
»Guten Morgen, Goovinndah. Du bist jetzt schön genug,
findest du nicht?«, bemerkte Ilvyn spitz und schaltete ihren Computer
ein.
Der blaue Daimon, der in der Gestalt einer vierarmigen hinduistischen
Gottheit inkarniert war, senkte ein wenig den Handspiegel aus schimmerndem
Schildpatt, wodurch ein großes, kajalumrandetes, dunkles Auge mit
einer ebenso pechschwarzen, akkurat gezupften Braue darüber zum Vorschein
kam.
Diese hob sich nun spöttisch. »Natürlich sehe ich
umwerfend aus. Schon seit fast tausend Jahren. Aber du bist nicht schön
genug, findest du nicht?«
Ilvyn blieb trotz seines provozierend lieblichen Tonfalls gelassen.
»Ich lege keinen ausgeprägten Wert auf Äußerlichkeiten,
das müsstest selbst du inzwischen begriffen haben. Gibt es irgendetwas
Neues heute Morgen?« Ilvyn schaute zu der zweiflügeligen, dunkelblauen
Tür, durch die gedämpft Miras Stimme sowie einige andere klangen.
»Procyon Zimberdale ist Präsident. Ich habe es dir doch
gesagt. Er sieht einfach zu gut aus.«
»Und deswegen werden ihm sämtliche Daimonherzen der MDL
zufliegen, ich weiß. Wie geht es ihr?« Sie wies mit dem Kopf
zur verschlossenen Tür.
»Sie hat sich sofort wieder in die Arbeit gestürzt, besser
gesagt, in eine Telefonkonferenz mit der FD. Seit sechs Uhr früh.
In den nächsten Tagen soll in Shangri-La eine sehr wichtige Versammlung
mit den Free Daimons stattfinden«, erklärte Goovinndah und warf
einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel: Nun gut, die schwarzen
Locken lagen in ölig glänzenden, artigen Spiralen auf seinen
wohlgeformten Schultern und der dumme lila Pickel auf seinen zartblauen
Wangen war dank des nahezu gleichfarbigen blauen Lidschattens von Margret
Astor so gut wie nicht mehr zu sehen. Mit einem kleinen Seufzer verwandelte
Goovinndah den Spiegel schließlich in eine kleine, pinke Vase samt
künstlicher Orchidee und stellte sie in einem akkuraten 90°-Winkel
zu der Lavendel-Duftkerze auf seinem Schreibtisch; genauso wie er es kürzlich
in der neuesten Ausgabe seiner Lieblings-Frauenzeitschrift unter der Rubrik
›Feng-Shui fürs Vorzimmer‹ gelesen hatte.
»Oh, nein, was ist das denn? Ich habe ungefähr dreitausenddreißig
merkwürdige d-mails bekommen! Wieso funktioniert der Spam-Filter nicht?«,
grummelte Ilvyn und stöhnte entnervt auf, während sie einzelne
Nachrichten anklickte. »Alles Werbung aus der Daimonsion, verflucht.
Nein, ich brauche kein aufblasbare Fliegende Untertasse mit Jericho-Trompeten.
Und auch kein Religions- & Sekten-Konstruktions-Set. Empfohlen von
ShinnNation, pah!«
»Tja, das kommt davon, wenn man sein Programm nicht auf ›alle
3 Minuten updaten‹ eingestellt hat«, erheiterte sich Goovinndah und
machte aus seiner Schadenfreude überhaupt keinen Hehl.
Ein Jubelschrei aus dem Büro der Vizepräsidentin ließ
sowohl die junge Seherin als auch den blauen Daimon zu dessen Tür
sehen. Schon im nächsten Augenblick eilte Mira aufgeregt daraus hervor;
ihr mintfarbener Lieblingsschal aus Seide wehte dabei wie eine Fahne hinter
ihr her.
»Ich ... oh meine Güte! Das ist ja ... ich kann es kaum
glauben!« Sie stürzte zu Ilvyns Schreibtisch, atemlos vor Aufregung
und mit wunderlichen, roten Hektikflecken auf den Wangen. Eindringlich
und begeistert sah sie ihre Assistentin an. »Ilvyn, ER kommt auch!
ER! Es ist zu schön, um wahr zu sein! Ach, jetzt wird alles gut!«
Sie schlug noch einmal ungläubig die Hände vor den Mund, sah
mit feuchtglänzenden Augen zur Decke und eilte dann beschwingt aus
dem Vorzimmer zurück in ihr Büro.
»ER kommt? Wer denn?«, fragte Ilvyn verwundert.
»Als ob man sich DAS nicht denken könnte. Omrishah natürlich.
Für ihn würde sie sogar Robert de Niro, ihren Lieblingsschauspieler,
von der Bettkante schubsen.«
Ilvyn zuckte zusammen und hatte das Gefühl, dass ihr Herz sich
ebenso schockiert einmal kurz verkrampfte und auf ein Zeichen wartete,
von der Leine gelassen zu werden.
»Omrishah? Omrishah!«, krächzte sie. Und schon
raste auch ihr Herz vor Aufregung los. »Oh mein Gott!«
»Ist er nicht«, widersprach Goovinndah ärgerlich.
»Ob ich ihn auch zu sehen kriege?«, fragte sich Ilvyn,
die vollkommen aus dem Häuschen war, was nicht sehr oft vorkam. »Dass
ich das vielleicht erleben darf! Omrishah!«
Goovinndah rollte entnervt seine großen, dunklen Augen. »So
toll ist er nun auch wieder nicht. Er ist doch bloß ein Daimon wie
wir alle.«
»Ich bin kein Daimon. Aber Omrishah! ER kommt! Wann?!«
»Jedenfalls wird er nicht mit Trara und Himmelszeichen und
dergleichen auftauchen, das ist ja so etwas von passé«, winkte
Goovinndah ab. »Und da er am liebsten inkognito reist, wird ihn sowieso
niemand erkennen, selbst wenn er gleich neben einem steht. Immerhin kann
er als einziger Daimon seinen Shine verändern oder gleich ganz löschen,
wenn ich dich erinnern dürfte, ganz zu schweigen von seiner Gestalt.«
»Egal.« Ilvyn lächelte verträumt. Die besorgniserregenden
Zustände in der Welt traten völlig hinter der Tatsache zurück,
dass Der Einzigmächtige Eloyah PAGAN einen Besuch abstatten würde.
Und sie konnte ihn vielleicht treffen oder zumindest sehen!
Nur noch beiläufig nahm sie wahr, wie in Windeseile sämtliche
d-mails mit Spam-Adressen automatisch gelöscht wurden, nachdem sie
das Nachrichtenprogramm auf den neuesten Stand gebracht hatte.
Halbherzig überflog sie dann weitere e- und d-mails und müllte
fröhlich alle, die noch Werbung oder Schmähungen von fanatischen
Umbriel-Anhängern und MDL-Aktivisten enthielten.
Fast hätte sie auch eine Nachricht gelöscht, die in höchsten
Tönen die CD eines sensationellen neuen Rappers namens Engelbert anpries.
»Wie bitte?« Ilvyns Finger zuckte im letzten Moment
zurück. Sie traute ihren Augen kaum.
»›Kein Dämon wie jeder andere: Engelbert, das Phänomen‹
Ist er jetzt vollkommen durchgedreht?
›Erlebe Engelbert live im Talk bei MTV Japan!‹
›Von 0 auf 1 in den Asia-Charts: Swing like a Daimon‹, ha!
›Bleibt cool, es gibt keine Engel oder Teufel, nur D.A.I.M.O.N.s,
das ist Engelberts Botschaft an die Welt!‹.«
»Engelbert? Aaah!« Goovinndah tippte etwas in seinen
Computer ein, woraufhin in Zimmerlautstärke unverkennbar Engelberts
Stimme zu einem schnellen Beat rappte, der durch schmissige Samples von
›In the Mood‹ aufgelockert wurde.
»DER Chartbreaker in der Daimonsion! Jeder Daimon kennt es
und selbst Gabiriyell von den Zerrafin soll letztens dabei ertappt worden
sein, wie er mitrappte.«
»Ich kenne dieses Lied jedenfalls nicht, nur den Sänger.
Wir haben ja auch keine anderen Probleme als einen Superhit zu landen.
Dann wird alles gut, was?« Ilvyn zog missbilligend ihre Brauen zusammen,
die zartflaumig über der Nasenwurzel ineinander übergingen.
»Nun, immerhin mögen ihn junge Menschen und überlegen
sich nun, ob nicht etwas dran sein könnte an seiner Message, dass
Engelsflügel und Teufelsschwänzchen nichts als Show sind. Und
schon immer waren.«
»Und was ist mit blauer Haut und vier Armen?«
»Ich habe IMMER zu den Menschen gesagt: Hört zu, ich
seh' nur zufällig so aus wie einer eurer Götter. Aber ehe ich
mich verguckte, wurde ich jedes Mal auf eine prunkvolle Sänfte voller
duftender Blumen genötigt, durch die Städte getragen und angebetet.
Irgendwann gibt man halt dem Druck der Straße nach.« Goovinndah
schlug melancholisch die Augen nieder und klimperte mit seinen seidigschwarzen,
übertrieben langen Wimpern.
»Zufällig, soso.« Ilvyn musste schmunzeln. Goovinndah,
diese kleine Diva im Vorzimmer von Mira, schaffte es trotz seiner Allüren
immer wieder, sie aufzuheitern, wenn auch meist unbeabsichtigt.
Sie las kopfschüttelnd die Lobeshymnen über Engelbert
weiter, bis sie merkte, dass nach all den einkopierten Werbebotschaften
ganz unten ein paar Zeilen an sie persönlich gerichtet standen.
›Liebste Ilvyn, mir geht es fantastisch!!!! Das Showbiz ist wie
geschaffen für mich, und ich für das Showbiz.
Und weißt du, wo ich gerade bin? Ich sitze am Pool meines
Bungalows im ›Lemuria Resort‹, des teuersten Hotels auf den Seychellen
und seychille ein wenig, bevor ich live bei MTV auftrete (am dritten Juni,
genauer gesagt).
Hoffe, es geht euch allen gut. Was macht Tigris, diese Nervensäge?
Hier ist meine Handynummer, ruft mich doch mal an, ich würde mich
sehr freuen. Ich will es kaum wahrhaben, doch ich vermisse euch tatsächlich
allmählich. Euer Engelbert.
P.S. Ich konnte es nicht lassen, ein bisschen anzugeben, wie du
oben siehst. Wie doof, ich weiß. Aber ich kann meinen Erfolg selber
kaum glauben.‹
»Dich anrufen?«, rief Ilvyn erzürnt und schmiss
beinahe ihren Stuhl um, als sie aus dem Sitz schnellte. »Oh, das
werde ich, Engelbert, das werde ich. Und dann kriegst du etwas zu hören!«
Goovinndah fluchte auf indisch auf, denn er hatte sich gerade noch
einmal den Lidstrich nachgezogen und war bei Ilvyns Gefühlsausbruch
derart überrascht zusammengezuckt, dass der Kajalstift quer über
das Oberlid zur Schläfe abdriftete.
»Spielt den Superstar, während wir so kleine, nichtige
Probleme wie die MDL haben...«
Entschlossen kramte sie ihr Handy, ein Geschenk von Mira, aus ihrer
Minirucksack. Schnell tippte sie die Nummer aus der E-Mail ein und stürmte
dann mit dem Handy am Ohr aus dem Büro.
.
Wenige Stunden später trafen Tigris und Danubia Ilvyn in der
Asiatischen Node, als die junge Seherin gerade aus dem Tor von Shangri-La
eilte.
»Hallo, wohin?«, rief Tigris verwundert, blieb stehen
und bedeutete ihrer Mutter, schon voraus nach Shangri-La zu gehen.
Ilvyn war regelrecht an ihr vorbeigehastet, ohne sich nach links
oder rechts umzuschauen und riss erst beim Klang ihrer Stimme den Kopf
herum.
»Entschuldige, Tigris, ich war in Gedanken. Wohin ich gehe?
Das glaubst du mir nicht, wenn ich es dir erzähle«, sagte Ilvyn
grimmig. »Hast du eigentlich in letzter Zeit mal in einen Musiksender
geguckt, die Top 10 Japans zum Beispiel?«
»Nein, ich gucke kaum noch Fernsehen, mein Leben ist aufregend
genug. Außer gestern natürlich. Hast du auch die Wahlen mitverfolgt?«
Tigris hatte ein derart verträumtes Lächeln und einen
so strahlenden Blick in den Augen, dass Ilvyn es nicht über das Herz
brachte, ihr den Wahlerfolg ihres Vaters mit einem kritischen Kommentar
zu vermiesen. »Ja, sicher. Hm. Herzlichen Glückwunsch. Du bist
jetzt die Tochter des Präsidenten von PAGAN ...«
»Das ist mir sowas von egal. Ich habe endlich meinen Vater
gesehen. Er ist einfach toll, süßer und lieber, als ich es mir
vorgestellt hatte«, erklärte Tigris glückselig.
»Das freut mich wirklich für dich, Tigris.« Ilvyn
streichelte lächelnd über die Schulter ihrer Freundin. Dann sagte
sie: »Schöne Grüße von Engelbert, übrigens.
Darauf können wir uns etwas einbilden, er ist jetzt ein Superstar
mit einem No.1-Hit, wie er per E-Mail mitteilen lässt.«
»Ach wirklich?« Tigris lächelte breit. »Dann
lag ich doch richtig mit meiner Vermutung. Wo ist er jetzt eigentlich?«
»Auf den Seychellen. Und ich gehe jetzt dahin und sag’ ihm
meine Meinung persönlich. Dann kann er nicht mehr einfach auflegen
wie vorhin«, knurrte Ilvyn unüberhörbar zornig. »Bleibt
wochenlang weg, lässt uns hängen und dreht Videos mit halbnackten
Frauen!«
»Ich fürchte, er wird seine Bodyguards anweisen, dich
nicht in seine Nähe zu lassen, wenn du so wütend bist«,
erwiderte Tigris amüsiert. »Ich kann ja mitkommen. Dann schläfern
wir jeden um ihn herum für ein paar Minuten ein. Davonmaterialisieren
kann er sich momentan nicht mehr.«
»Das ist eine sehr gute Idee!«, rief Ilvyn hocherfreut.
»Mit einer Wandlerin in meiner Nähe würde ich mich auch
gleich sehr viel sicherer fühlen.«
In diesem Moment kam auch Bat Furan aus Shangri-La herüber.
Als er die beiden Mädchen sah, rannte er sogleich zu ihnen.
»Ich habe dich schon überall gesucht, Tig! Was wollt
ihr hier in der Node?«, erkundigte er sich streng mit besorgtem Blick
auf Tigris, die bereits genervt die Augen verdrehte.
»Ja, was denn?«, verteidigte er sich. »Aévon
will nicht, dass du in der Weltgeschichte herumspazierst. Zumindest nicht
ohne jemand, der dich beschützt. Und du hast doch selber versprochen,
nur noch in Shangri-La zu bleiben.«
»Wir wollten-«, begann Tigris und hielt dann schnuppernd
inne. Jemand roch nach Blüten und Kokosnuss, und zwar ziemlich penetrant;
als ob man ihn kopfüber in ein Fass davon hineingetunkt und darin
tagelang hatte ziehen lassen. »Ah, hat Shirooka ihr Massageöl
doch noch bekommen?«, fragte sie dann unschuldig, doch die Bemerkung
erzielte ihre Wirkung: Bat Furan lief knallrot an und sah verlegen durch
die Gegend. Dann fiel ihm gottlob wieder ein, wer eigentlich eine Erklärung
schuldig war: »Also, wohin wolltet ihr?«
»Wir wollten nur auf die Seychellen, wo Engel The Bert zurzeit
residiert. Er ist nämlich jetzt sehr berühmt«, antwortete
Tigris und probierte, Bat Furan möglichst süß anzulächeln,
was diesen jedoch noch im Geringsten beeindruckte : »Ha, siehst du!
Schon wieder wolltest du einen Alleingang starten. Dabei weiß doch
jeder von uns, was dabei herauskommt. Die MDL ist hinter dir her, schon
vergessen?«
»Also, ich bitte dich! Die Seychellen. Winzige Inseln im Indischen
Ozean. Was soll dort schon passieren?«
»Egal. Ich komme mit«, entschied er energisch und verschränkte
die Arme. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf. »Engelbert
und berühmt? Ah, sag bloß, er ist DER Engelbert. ›Swing like
a Daimon‹. Irgend so ein Lied hat doch Shirooka auf ihrem MP3-Player. Es
klang wirklich gut.«
»Meinetwegen, komm mit, oh du mein BodyXendi.« Tigris
lachte und ließ den Blick hinüber zu den elf Toren der anderen
Noden schweifen, von denen immer noch fünf verschlossen waren. Dann
sah sie in die Mitte der monumentalen Node. Irgendwo dort befand sich das
Nodenschloss für die Passagen, die aus der Daimonsion auf die Erde
führte. Und sie dachte wieder daran, dass sie die Jenseits-Tore mit
dem Bernstein-Amulett einfach öffnen konnte. Jedes einzelne der Zwölf.
Eine unerhörte Tatsache, die sie bisher weder Mira noch Aévon
mitgeteilt hatte, obwohl Antigua ihr unaufhörlich ins Gewissen redete.
›Dann schnappen alle endgültig über und ich kann keinen
Schritt mehr tun, ohne dass mir eine Armee von Xendii im Nacken sitzt.
Toller Gedanke...‹, dachte sie voller Widerwillen.
Mit einem Mal bemerkte sie eine schmächtige, kleine Gestalt
inmitten der vorbeiziehenden Xendii und ihr Herz legte einen Kavalierstart
hin.
Anjul war dort, gekleidet in einen Trainingsanzug mit der japanischen
Fahne hinten drauf, der etwas zu groß für ihn zu sein schien.
Er betrachtete hochinteressiert die hochmoderne, imposante Node.
Was wollte er hier, wieso war er nicht im Krankenhaus, wo er hingehörte?
»He, Tig, was träumst du schon wieder so vor dich hin?
Lass uns gehen«, sagte Bat Furan und stubbste sie sanft an.
Eine größere Truppe verdeckte nun die ungestörte
Aussicht auf Anjul, dem Gebaren nach Neulinge, denn sie schauten sich ebenso
neugierig und staunend um wie der Junge hinter ihnen.
»Ach, wisst ihr ... eigentlich ist es doch besser, wenn ich
nicht mitkomme«, meinte Tigris zögernd. Es würde sicher
schön sein, Engelbert wieder zu sehen, doch gegen die Möglichkeit,
in diese wundervollen, tiefblauen Augen zu schauen und der rauen, akzentreichen
Stimme zuzuhören, kam er eindeutig nicht an. »Die MDL könnte
überall sein. Vielleicht können sie mein Amulett wittern oder
so. Aber, Bat Furan, du solltest Ilvyn besser begleiten, für alle
Fälle.«
»Das ich das noch erleben darf: Tigris macht, was man ihr
sagt«, wunderte sich Bat Furan. »Lass uns schnell gehen, Ilvyn,
bevor sie es sich anders überlegt.«
Die beiden verabschiedeten sich und eilten zum Tor nach Pazifica.
Tigris atmete indes tief durch und sann hektisch über eine
kluge und vor allem unauffällige Annäherungsstrategie nach.
Ihr Handy, die Rettung!
Sie zog es aus ihrer Jacke, tat, als ob sie eine ungemein wichtige,
erfreuliche SMS erhalten hätte und schlenderte dann scheinbar gedankenverloren
an Anjul vorbei, wobei sie ihn leicht streifte. »Oh, hallo! Entschuldige,
ich habe dich gar nicht gesehen«, sagte sie, um einen möglichst
überraschten Gesichtsausdruck bemüht.
Ohne aufzusehen, entgegnete Anjul darauf: »Aber Tigris ...
Du brauchst dich doch nicht für etwas zu entschuldigen, was gar nicht
stimmt.«
Tigris war zu baff, um sich eine schlagfertige Antwort darauf einfallen
zu lassen. Und Anjul setzte sogar noch eins drauf und meinte nach einem
kleinen Seufzer: »Dich wird man wohl nicht mehr los, wenn man einmal
mit dir kurz geschmust hat.«
»Geschmust! Jetzt übertreibst du aber, es war nicht mehr
als eine Art Mund-zu-Mund-Beatmung, und du sowieso im Koma«, erwiderte
sie empört. »Und wenn ich gewusst hätte, was für ein
undankbares Gör du bist, dann-«
Anjul musterte sie gelassen. »Dann was?«
Tigris biss sich auf die Lippen. In diesem Moment fiel ihr ihre
Theorie ein, die sie vorhin im Hause ihres Vaters entwickelt hatte und
die ihr nun unsäglich albern vorkam.
»Ach nichts. Ich muss nach Hause«, murmelte sie hastig.
Es prickelte nämlich in ihrer Nase - ein lästiges Vorzeichen
für dumme Tränen, die Anjul garantiert nicht verdiente.
Sie wollte sich schon abwenden und endlich aus der peinlichen Situation
flüchten, da erschienen wieder diese Grübchen unter Anjuls Augen,
diesen intensiv schauenden Augen, denen nichts entging und die so wirkten,
als könnten sie selbst Gedanken in sich einsaugen, die hinter anderen
Augen lagen.
Er hob die Hand und berührte eine Locke, die sich aus ihrer
Hochsteckfrisur befreit hatte.
Wie elektrisiert blieb Tigris stehen. Erst machte er sich lustig
über sie und nun das ...
»Kannst du mich zu Aévon bringen?«, fragte er
mit seiner rauen Stimme sanft, während er die widerspenstige Strähne
befühlte und inspizierte, als hätte er noch nie im Leben Locken
gesehen.
»Du willst bei den DiSMasters mitmachen? Aber du solltest
doch eigentlich im Krankenhaus sein, oder?«, meinte sie leise und
erschauerte unter der Berührung. Was wohl passierte, wenn sie sich
ihm einfach so in die Arme werfen würde?
›Wahrscheinlich würde er unter meinem Gewicht zusammenbrechen‹,
dachte sie sarkastisch, ›er ist wirklich ein ziemlicher Hänfling.
Aber er ist so süß.‹
»Es geht mir gut«, sagte er sehr bestimmt. »Ich
habe den ganzen Morgen wie ein Verrückter das Lauftraining absolviert.
Und jetzt habe ich keine Lust und keinen Grund mehr, dort zu sein.«
»Bei den DiSMasters zu sein, ist lebensgefährlich. Und
du musst außerdem zuvor Bürger von Guulin Kherem werden, um
bei ihnen mitmachen zu können.«
»Warum?«
»Um zu zeigen, wie ernst es dir ist.«
»Womit?«
»Mit der Bekämpfung von üblen Daimons.«
»Das ist schon lange mein Lebensinhalt.«
»Dann müssen wir jetzt zurück nach Shangri-La, die
Passage nach Guulin Kherem ist im Untergeschoß des Aquariums.«
Tigris setzte sich in Bewegung und Anjul ging neben ihr her, wobei er sie
unverhohlen von Kopf bis Fuß betrachtete. Immer wieder verfing sich
sein Blick in ihrem Gesicht, vor allem in ihren Augen, was sie vollends
nervös machte.
»Warst du lange ... dort?«, erkundigte sie sich vorsichtig
in Erinnerung an Miras Ratschlag, ihn bezüglich Excelsior mit Samthandschuhen
anzufassen.
»Lange genug.«
»Und davor?«
»Mal hier, mal da.«
»Du kennst dich aber schon mit Xendii, Daimons und all dem
aus?«
»Bestens. Mein Zimmer im Krankenhaus hatte Anschluss ans Inter-
und DimensioNet.«
Na, sehr auskunftsfreudig war er ja nicht. Dennoch genoss Tigris
jede Sekunde mit ihm und hätte noch stundenlang ziellos mit ihm herumwandern
können.
Doch der Spaziergang endete, nachdem sie in das Kellergeschoß
des blauen Gebäudes hinabgestiegen waren, wo es viele Korridore mit
Direktdurchgängen zu verschiedenen Orten gab, darunter auch in die
mongolische Burg der DiSMasters. Vor dem Tor war im Schichtwechsel ein
Mitglied - oder eher gesagt, ein Bürger des neugegründeten Xendii-Staates
postiert, allerdings kannte jeder Aévons Schwester und daher ließ
man sie und Anjul anstandslos passieren.
.
Augenscheinlich genoss Engelbert das Leben eines vielumschwärmten
Superstars wohl in vollen Zügen.
Wer lag nicht gerne an einem riesigen Pool mit herrlich blauem Wasser
herum, während beständig dunkelhäutige Bedienstete heranschwirrten,
um ihm jedem Wunsch von den Augen abzulesen? Wäre Engelbert zudem
wirklich ein Mensch - und vor allem ein Mann - gewesen, hätte er sich
ganz und gar wie im Paradies gefühlt, denn die Tänzerinnen, die
sich in seinem nächsten Video wieder einmal halbnackt herumräkeln
und durchs Bild wackeln durften, planschten vor seinen Augen ausgelassen
oben ohne in seinem Pool. Dabei bespritzten sie Engelbert in seinem Liegestuhl
hin und wieder mit kühlem Nass oder warfen ihm verführerische
Blicke zu. Engelbert wusste allerdings, dass sie auf diese Weise nur darum
buhlten, wer sich bei den bald beginnenden Aufnahmen an vorderster Front
neben ihm in voller Pracht und Schönheit präsentieren durfte.
Zwar ließen ihn diese Allüren kalt, nicht jedoch die
Tatsache, dass sie sich insgeheim über sein wenig attraktives Äußeres
lustig machten.
Dabei hatte er durchaus die Möglichkeit, jede einzelne von
ihnen unwiderruflich in glühendster Liebe zu ihm entbrennen, sie schmachten,
vor Sehnsucht vergehen zu lassen - ach was - sie von Kopf bis in die Spitzen
ihrer pedikürten Zehen ihm hörig zu machen.
Ein anheimelnder, verlockender Gedanke, bei dem man einfach breit
grinsen musste ...
Allerdings würde ein verantwortungsbewusster, gereifter Daimon
(und für so einen hielt er sich im Großen und Ganzen) natürlich
nicht einmal im Traum daran denken, zudem es unter Todesstrafe verboten
war. Und daher lohnte es sich ganz und gar nicht, die eigene Seele mit
derjenigen irgendeines dahergelaufenen Menschen zu verschmelzen.
Er seufzte und nippte an seinem Caipirinha. Nein, zu so etwas würde
er sich niemals hinreißen lassen, dafür hatte er nicht seine
Bedenken und Ängste in den Wind geschlagen und dafür hatte er
nicht diese Chance genutzt, die sich ihm in jenem Moment geboten hatte,
da er in dem Tokioter Tonstudio inkarniert war.
Bei dem Gedanken an seinen großartigen Plan nahm er sein Handy
vom Beistelltischchen und warf einen Blick darauf. Er hatte es erst vor
wenigen Tagen von einem Mittelsmann bekommen und bislang nur wenige der
unzähligen Funktionen entdeckt, denn es handelte sich selbstverständlich
nicht um ein gewöhnliches Mobiltelefon. Dafür bürgte schon
allein der holografische Schriftzug auf dem superflachen, metallicvioletten
Gerät: DiSfunx L.
Ein vielversprechender Name und eng verbunden mit seinen Plänen.
Wenn seinen Mitverschwörern die Flucht hierher auf die Erde
gelang, würden sich einige Dinge ändern.
Wenn ...
Doch bisher hatten sie sich nicht blicken lassen.
Nichts. Kein Anruf, keine Nachricht, kein Ankunftssignal.
Allmählich wurde er unruhig. Wo blieben diese Typen nur?
Er setzte sich an den Pool und ließ seine Füße
darin baumeln.
Dann senkte er den Kopf mit den strubbeligen, mitternachtsblauen
Haaren und betrachtete nachdenklich das Wasser. Dort spiegelte sich sein
breites Gesicht mit den dunkelblauen Sommersprossen und den leuchtend violetten
Augen. Seine Inkarnation war ja wirklich nicht gerade sehr hübsch
und imposant, wenn er’s recht bedachte. Harmlos und vertrauenserweckend,
komisch, sympathisch eben. Wieso auch hatte er die letzten Tage vor der
9%-Wendemarke nicht irgendeine andere Gestalt angenommen, vielleicht eine
Mischung aus Enrique Iglesias und The Rock?
Das hätte bestimmte weibliche Personen sicherlich tief beeindruckt
und sie womöglich veranlasst, ihm nicht mehr böse zu sein, sondern
vielleicht eher entzückt in seine Arme zu sinken oder so.
Aber ob es auch Ilvyn beeindruckt hätte?
So wie es aussah, war sie eher enttäuscht von ihm, hielt ihn
für übergeschnappt und oberflächlich ... ihm wurde ganz
schlecht bei dem Gedanken an ihr Telefonat vorhin, nicht zuletzt wegen
dieses einen Satzes, den sie einmal zu ihm gesagt hatte und der seitdem
in einer Art Endlos-Schleife durch seine Gedanken hallte:
›Ich wünschte, du wärst mein Schutzengel, Engelbert.‹
Für einen kleinen, verträumten Moment wurde ihm ganz warm
und weich zumute, geradezu seidig in der Magengegend.
Doch dann schüttelte er lächelnd den Kopf über die
merkwürdigen Gedanken, denen er sich hingegeben hatte. Als ob irgendeine
materielle Form jemals etwas anderes aus ihm machen konnte als Engelbert,
der Daimon der Cherubim-Klasse, ewiger Student der Takran-Uni, Ex-MDL-Aktivist,
Noch-FreeDaimon-Anhänger, Asylant, Neuzugang am irdischen VIP-Firmament
und nun auch noch Initiator einer jungen, kühnen Widerstandsbewegung,
die zurzeit mehr Pläne als Aktivitäten vorweisen konnte.
In diesem Moment summte das Handy auf und zeigte eine SMS, gesandt
von einer wohlbekannten, irdischen Nummer. Engelbert stöhnte verdrießlich
auf.
Ilvyn.
Der Inhalt der Nachricht war allerdings noch katastrophaler:
›Danke, dass du vorhin so nett und vor allem abrupt aufgelegt hast.
Dann sage ich dir eben persönlich, was ich von dir halte. Bin schon
auf Mahé. Bis gleich.‹
»Oh nein! Kleines, du wirst es garantiert missverstehen!«,
murmelte er beim Anblick der badenden, halbnackten Tänzerinnen.
Also sprang er auf und hechtete in seinen Bungalow, das wie eine
luxuriöse Miniatur-Villa aussah und somit die teuerste Behausung war,
die das Lemuria Resort zu bieten hatte.
Drinnen im eleganten, hellen Wohnzimmer spielten fünf bullige
Männer in bunten Bermudas Poker.
»Ich habe gerade erfahren, dass ein Fan unbedingt zu mir will-«,
begann er, woraufhin seine Bodyguards wissend grinsten.
»Sollen wir sie nach oben in dein Schlafzimmer bringen?«
»Nein, natürlich nicht! Sie ist noch minderjährig
und ich erst am Anfang meiner Karriere, Mensch!«, sagte Engelbert
und versuchte so lässig und arrogant auszusehen, wie es nötig
war, um überzeugend zu wirken. »Also, Leutz: Die kommt hier
net rein, klar?«
»Klar, Berty. Nervt dich wohl allmählich, dieses junge
Gemüse, das sich bei deinem Anblick die Seele aus dem Leib kreischt
und zwischendrin in Ohnmacht fällt, hehe.«
Engelbert nickte gequält lächelnd und trottete dann übelgelaunt
wieder zum Pool, um Ilvyn eine Nachricht zu schreiben und sie um einen
anderen Treffpunkt zu bitten, was sie höchstwahrscheinlich ebenfalls
missverstehen würde.
›Wundervoll, einfach sagenhaft, Engelbert. Du bist ein wahrer Freund‹,
schalt er sich selber. In Wahrheit hätte er Ilvyn nur zu gerne wieder
gesehen, aber schon alleine ihre Schimpftirade vorhin am Telefon zeigte
deutlich, dass sie das alles hier nicht verstehen und ihm natürlich
auch nicht glauben würde, wenn er von seinen Plänen anfinge.
Vielleicht hätte er der kleinen Seherin doch besser keine E-Mail zukommen
lassen sollen, nachdem er beim zufälligen Besuch auf PAGANs verschlüsselter
Homepage ihren Namen unter ›Kontakt‹ entdeckt hatte.
Aber er vermisste sie (nein, quatsch, selbstverständlich die
Windwibb-Bande als Ganzes) blöderweise unsäglich; ein Gefühl,
das viele Daimons ergriff, wenn sie sich zulange mit bestimmten Menschen
abgaben.
Er ließ gedankenverloren einen Schwarm bunt schillernder Blasen
aus DiS auf die juchzenden jungen Mädchen im Pool los, die kleine,
duftende Blüten auf ihre Köpfe rieseln ließen, sobald sie
mit dem Klingeln von Glöckchen zerplatzten.
Die fröhlichen Nixen lachten entzückt - und dann zog eine
von ihnen Engelbert ins Wasser, um engumschlungen mit ihm wieder aufzutauchen.
»Schau an. Der Very Important Daimon nimmt ein Bad in der
Menge, Ilvyn.«
Verdattert schaute Engelbert aus dem Pool auf - in ein braungebranntes
Jungengesicht mit strahlend blauen Augen.
»Oh, Bat Furan ... h-hallo, lang nicht mehr gesehen ...«,
stammelte er verlegen, während zwei Mädchen ihn von hinten umarmten
und ihre Wangen an seine schmiegten.
»Das kann man wohl sagen, du treulose Tomate«, lachte
der Wandler und warf den hübschen Badenixen anerkennende Blicke zu.
Er sah überaus fröhlich und gutgelaunt aus - was man von Ilvyn,
die etwas abseits des Pools auf der Terrasse stand, ganz und gar nicht
behaupten konnte.
Innerlich fluchend entwandt sich Engelbert rasch den berechnenden
Liebkosungen und kletterte aus dem Pool. Bat Furan schüttelte amüsiert
den Kopf, als er den nassen, blassen und vor allem kleinen Cherub musterte,
der ein Bäuchlein vor sich her schob.
»Allerdings würde ich für einen Tag gerne mit dir
tauschen. Das ist ja die reinste Testosteron-Teststrecke hier«, gestand
er dann grinsend.
Engelbert sah Ilvyn kurz verschwörerisch die Augen rollen -
dann bombardierte sie ihn wieder mit ernsten, verletzten Blicken.
Doch Engelbert hatte sich entschieden, den Coolen zu geben, um die
peinlichen Posen im Pool mit Anstand überspielen zu können. »Ich
hätte mir denken können, dass du jemanden mitbringst, der meine
Bodyguards schachmatt setzt, Kleines. Was habt ihr mit ihnen angestellt,
hm?«
»Sie machen ein bisschen Yoga, genauer gesagt Kopfstand«,
antwortete Ilvyn bissig. »Dann werden endlich mal die Körperteile
durchblutet, die sonst ewig bei Männern zu kurz kommen.«
»Ja, die Ohrläppchen werden immer so stiefmütterlich
behandelt. Na ja, was soll ich sagen: Macht’s euch gemütlich.«
Er wies auf die freien Liegestühle.
Endlich kam auch Ilvyn näher, wenn auch mit trotzig verschränkten
Armen und in den Augen eine Mordswut, die sie großzügig über
die neugierig glubschenden Badenixen ausgoss.
»Das muss wirklich wie eine 6 im Lotto für dich sein,
Engelbert«, zischte sie. »Kaum inkarniert und schon ein Star.
Was man sich nicht alles für Geld kaufen kann ...« Sie ließ
ihren Blick ironisch über die Schönheiten im Pool gleiten.
»Ich bin da eher so zufällig hineingerutscht-«,
verteidigte sich Engelbert schwach, doch Ilvyn lief bereits zur Hochform
auf und schimpfte los: »Wir haben 10,5 %, mein Lieber. Aber was soll’s,
nicht wahr: nach dir die Sintflut. Hauptsache, einmal für zehn Minuten
berühmt sein. Und ich dachte, du bist auf unserer Seite und kämpfst
mit uns!«
»Nur weil ich einen Song in den Charts-«
»Und überhaupt, ich dachte, dein Job ist es, Tigris zu
beschützen. Stattdessen gehörst du jetzt auf einmal zu diesen
Möchtegern-Rappern, die nur deswegen andauernd im Fernsehen laufen,
weil um sie herum jede Menge nackter Brüste auf dem Bildschirm hin-
und herwackeln! Ich habe dein Video gesehen, es ist absolut blöd und
sexistisch!«
»Nja, es war nicht meine-«
»Wir haben solche Probleme mit Umbriel! PAGAN hat noch nicht
einmal genug Leute, um all jene zu evakuieren, die in den ehemaligen RSA-Gebieten
verfolgt werden!« Mittlerweile funkelten Ilvyns Augen schon zornig
zurückgehaltenen Tränen. »Du warst doch dabei, als Windwibbenburg
massakriert wurde. Wie kannst du uns so hängen lassen wegen ... wegen
diesem Scheiß hier?«
Bat Furan wunderte sich nur, wieso Ilvyn derart überreagierte.
Letztendlich war Engelbert Tigris’ BodyDaimon gewesen und wenn jemand sich
darüber hätte aufregen können, dann doch wohl sie. »Du
vergisst, dass ein inkarnierter Daimon sich nicht eben mal wieder nach
Shangri-La beamen kann, wenn er woanders festsitzt«, meinte er beschwichtigend
und umarmte Ilvyn tröstend.
Engelbert warf dem Wandler einen dankbaren Blick zu und ergänzte:
»Außerdem hat es doch einen Vorteil, wenn ich berühmt
bin, Kleines: Ich kann den Leuten die Wahrheit über Engel und Teufel
erzählen. Dann hören sie mal etwas anderes als dieses Jüngste-Gericht-Gesülze
von Umbriel. Und ich lasse euch gar nicht hängen. Würde mir nicht
mal im Traum einfallen, ihr Nervensägen. Hey, ich mag euch doch.«
Er war im Begriff, Ilvyn einen freundschaftlichen Knuff zu verpassen, überlegte
es sich jedoch beim Anblick ihrer säuerlichen Miene im letzten Moment
anders und machte stattdessen ein paar nicht sehr sportlich wirkende Gymnastikübungen
mit seinen Armen.
»Jaja«, grummelte Ilvyn, kein bisschen beschwichtigt.
»Wenn du uns wirklich mögen würdest, wärst du bei
uns, nicht bei MTV Asia. Am dritten Juni, pah!« Trotzig drehte sie
den Kopf weg und starrte Löcher in die gepflegte Blumenbeete vor der
Terrasse.
Währenddessen war eine kurvenreiche Blondine leise aus dem
Pool gekommen, um sich an Engelbert anzupirschen und sich wieder einmal
hinterrücks an seinen Hals zu werfen.
Der Daimon war zu perplex, um angemessen reagieren zu können
und entschied sich für ein leutseliges Grinsen.
»Bertischatzi, wieso stellst du uns deine Fans nicht vor?«,
lachte das Mädchen und bedeckte Engelberts Wange mit kleinen Küssen.
»Lass doch bitte Bertischatzis Ohr noch dran«, giftete
Ilvyn sie an, »damit er hören kann, was seine ›Fans‹ wirklich
von ihm denken!«
»Also, ich denke, er ist ein echter Glückspilz«,
bemerkte Bat Furan amüsiert, der inzwischen intensiv mit einer dunkelhäutigen
Tänzerin im Pool äugelte.
Ȇberlass das Denken Menschen mit einem Hirn an der richtigen
Stelle, Bat Furan«, zischte Ilvyn ihm zu.
»Wisst ihr was? Ich lade euch in das hoteleigene Restaurant
ein! Dann können wir ungestört über alles reden«,
rief Engelbert, erleichtert über die plötzliche Eingebung, die
ihn endlich aus der peinlichen Lage befreien würde.
Ilvyn schaute immer noch ärgerlich drein, protestierte jedoch
auch nicht gegen diesen Vorschlag. Engelbert schnappte sich sein Handy,
um einen Tisch zu reservieren - und blieb erschrocken wie versteinert stehen.
Irgendeine ihm noch unbekannte Funktion war angesprungen, und eine
Botschaft blinkte unentwegt in giftigstem Grün auf:
Incoming Daimonic Subject 1: FUNATIC
Detected Daimonic Subjects 2-5: UNKNOWN CHERUBIM
»Verdammt, was soll das bedeuten?«, entfuhr es Engelbert.
Zur Antwort hub ein tiefes Rauschen an, als ob ein Sturm durch die
gepflegten Hecken und Bäume des Gartens fegte, doch nicht ein einziger
Zweig oder gar ein einzelnes Blatt rührte sich in der Hitze des wolkenlosen
Nachmittags über den Seychellen.
Dafür wurde jeder am und vor allem im Pool Zeuge eines unvergesslichen,
sensationellen Schauspiels: Als erstes schossen aus dem Nichts dicht an
Engelberts rechtem Ohr schwarze Turnschuhe vorbei, gefolgt von ein Paar
Jeans mit modischen Rissen und Flicken und einem weißen Sweatshirt,
auf dem in grellorangen Buchstaben ›PRADANOID‹ stand. Den Abschluss bildete
ein junges, asiatisches Gesicht mit pechschwarzen kunstvoll geflochtenen
Cornrows und leuchtend grauen Augen. Strahlendweiße, übergroße
Zähne blitzen unter schmalen Lippen hervor, denn das Geschöpf
schrie im Flug.
Dann landete es auch schon mit einem Riesenplatscher zielsicher
im Pool, was die Badenixen aufkreischen ließ und sie zum Beckenrand
scheuchte.
Der Überraschungsgast tauchte prustend wieder auf. Zu seinem
Glück war er im vorderen Bereich des Pools gelandet, wo das Wasser
kaum mehr als einen Meter hoch stand.
»Ha, Engelbert! Ist irgendwo mein-« Der Rest ging in
einem Schmerzensstöhner unter, denn ein Boomerang war herangesaust
und traf ihn am Kopf.
»BoomeRAM.« Er seufzte, sah zu Engelbert und den beiden
Windwibbs hinauf und rieb sich lächelnd die Stirn. »Ist ein
Docteur anwesend? Inkarnierte Cherubim sind so sensibel. Creminell empfindliche
Geschöpfchen.« Langsam watete er zur Leiter und kletterte aus
dem Pool.
»Was ist das denn für ein Spinner?«, fragte Bat
Furan Engelbert erstaunt. »Und wieso kann er sich einfach in deinen
Pool beamen? Wo kommt er überhaupt her?«
»Drei massiv bewegende Fragen zum Zeitgeschehen«, sagte
der klatschnasse Daimon, trat dicht an den Wandler heran und zückte
ein Handy, ebenfalls superflach und metallicviolett wie jenes von Engelbert.
Es klickte: Er hatte ein Foto von sich und Bat Furan geschossen. »Die
Antwort ist pathologisch, ergo oskarverdächtig: DiSfunctional Laboratories,
kurz DiSfunx L. genannt. Mein Name ist Funatic und somit schon vergeben,
tut mir Leid.«
»Du kannst jedenfalls nicht aus unseren Doméns stammen.
Unsere Noden sind alle für Besucher aus der Daimonsion geschlossen«,
bemerkte Ilvyn misstrauisch.
»Aus frühjahrsputzigen Gründen, ich weiß.
Aber der moderne Daimon von heute ist gerne mobiliert und unabhängig,
weswegen er nur noch mit seinem BoomeRAM reist.« Funatic holte stolz
das mattsilberne Gerät aus seinem triefenden Hemd.
»Weißt du, Funatic, das interessiert Xendii jetzt nicht
so sehr«, schaltete sich Engelbert hastig ein und versuchte vergebens,
den Daimon Richtung Bungalow zu schieben. »Wieso gehst du nicht schon
einmal ins Haus und machst es dir bequem?«
»Ja, wieso wohl?« Funatic sah mit Unschuldsmiene in
die drei Gesichter. »Vielleicht, weil acht anhängliche Agenten
der MDL an meine Achillesfersen geheftet waren, just als ich mich aus der
Daimonsion verflüchtete?«
Mit großen Augen starrten ihn Engelbert und die beiden Xendii
an.
»Aber keine Sorge«, lachte Funatic, wobei seine besonders
langen Vorderzähne gut zur Geltung kamen. »Ich habe vor dem
Sprung in eure Welt noch ein PseudoRAM hinter mich geschmissen und sie
abgehängt.«
Plötzlich ertönte Gepoltere und Schreie aus dem Bungalow.
Die beiden Daimons und die beiden Windwibbs sahen sich schweigend an, unfähig
sich zu rühren. Ilvyn fühlte einen Schauer über ihren Rücken
prickeln.
»Was habe ich gesagt? Ich konnte sie für vier Minuten
abhängen. Was mich ärgert, weil LogaShoccs Rekord bei viereinhalb
liegt«, sagte Funatic verdrießlich. »Und jetzt ... WEG
VON HIER!«
Doch es war schon zu spät.
In dem Moment, als sich endlich die Schockstarre bei ihnen gelöst
hatte, platzte die Glasfront des Bungalows mit einem ohrenbetäubenden
Knall und schleuderte die Scherben und Splitter zu ihnen herüber.
Engelbert reagierte geistesgegenwärtig, packte Ilvyn an der
Hand und sprang mit ihr in den Pool, um dem Schauer aus scharfen Glasteilchen
unter Wasser zu entgehen, ebenso wie einige kreischenden Tänzerinnen,
die es noch geschafft hatten, unterzutauchen.
Für drei Mädchen hingegen, die sich auf der ans Haus angrenzenden
Wiese gesonnt hatten, kam jede Rettung zu spät. Die messerscharfen
Bruchstücke bohrten sich mit ungeheurer Wucht in ihre ungeschützten
Körper. Blutüberströmt und gespickt mit funkelnden Scherben
fielen sie zu Boden.
Bat Furan war hinter einen Liegestuhl gesprungen, gehüllt in
einen schützenden blauen Cage, der die Splitter abprallen ließ.
Dann sah er die fünf schwarzrot uniformierten Gestalten aus dem Bungalow
stürmen, geradewegs auf Funatic zu. Der Cherub, ebenfalls von einem
Cage umgeben, fuchtelte an einer kleinen, schwarzen Kugel herum.
»Ihr zwingt mich zum Linksäußersten!«, rief
er und warf die Kugel auf sie. Diese traf einen der Daimons und blieb wie
ein Klettball an ihm hängen, was ihn entsetzt erstarren ließ.
Der Elan der Angreifer verpuffte. Unsicher blieben sie stehen, die Augen
furchtsam auf die ominöse Kugel geheftet.
Bat Furan nutzte diese Gelegenheit, hob seinen Schutz auf und feuerte
eine Moskito Party auf den nächststehenden Daimon ab. Der tiefrote
Schwarm landete in seinem Gesicht und fraß sich wie Säure hinein.
Wie von Sinnen schreiend sank er auf die Knie.
Immer noch stand Funatic in seinem Cage da, allerdings stampfte
er ärgerlich auf, da die Kugel offenbar nicht die erhoffte Wirkung
zeigte. Er ging langsam rückwärts Richtung Wiese, wo die toten
Mädchen lagen.
»Eure Spielzeuge funktionieren wohl nicht immer, was, Funatic?«,
sagte der Daimon hämisch, an dessen Hosenbein die Kugel hing. Das
machte auch den anderen Dreien wieder Mut. Sie verteilten sich und rückten
in Cages gehüllt näher.
Einer von ihnen sah spöttisch in den Pool, wo sich in einer
Ecke zitternd und weinend die ganze Schar der Tänzerinnen zusammengedrängt
hatte und angstvoll zu den Daimons emporstarrte. Auf der gegenüberliegenden
Seite stand Engelbert im Wasser, beschützend vor Ilvyn postiert, die
sich bibbernd mit zusammengekniffenen Augen gegen die Kacheln drückte.
»Und was haben wir da? Einen Xendii-Wandler ...«, fuhr
er fort und schaute zu den Liegestühlen, wo Bat Furan in seinem Cage
hasserfüllt herüberstarrte. »Wenn du dich nicht sofort
ergibst, Funatic, töten wir zuerst alles, was hier kreucht und fleucht.
Vor deinen Augen. Also versuch bloß nicht, wieder abzuhauen.«
»Soll das heißen, ich bin wirklich am Ende?«,
seufzte Funatic betrübt. Dann stöhnte er auf, schlug sich die
Hand vor die Stirn und erklärte fröhlich: »Nein, natürlich
nicht! Ich habe doch den Zeitschalter betätigt!«
Das hämische Grinsen auf den Gesichtern der MDL-Agenten erlosch
schlagartig.
Vor allem jener mit der Kugel am Bein verfiel erneut in Panik und
versuchte noch einmal hektisch, das lästige Ding loszuwerden. Dieses
zerfiel jedoch plötzlich in vier Segmente, und entließ einen
schmetternden Sopran. Und unter den Klängen von ›Goodby, my love,
goodbye‹ begann sich das Knie des Daimon in Nichts aufzulösen. Als
ob er tatsächlich bloß eine Zeichentrickfigur wäre, fraß
ein funkelnder, kleiner Wirbel ohne jegliches Blutvergießen seinen
Körper in Zeitraffertempo auf. Es ging so schnell, dass er nicht einmal
mehr die Zeit zu schreien fand. Und dann war auch schon alles vorbei; der
Wirbel sank zurück in die geöffnete Kugel, die sich mit einem
leisen Klick schloss. Noch bevor die Agenten rechtzeitig reagieren konnten,
angelte sich Funatic das Gerät mit einer Peitsche aus DiS. Zufrieden
lächelnd wog er es in der Hand. »Eine tragbare Mini-0-DiS-Zone.
Tolle, kleine Erfindung von uns, oder? Kommt schon, gebt es zu.«
Der Zwischenfall kam Bat Furan gerade recht. Er nutzte den Überraschungsmoment,
hob seine Deckung auf und beschoss den wenige Schritte von ihm entfernt
stehenden MDL-Cherub mit einem hungrigen Pitbull. Fluchend taumelte der
Agent umher, während der Pitbull seinen Cage verschlang. Bat Furan
indes schnappte sich eine leere Limonadenflasche von einem nahe stehenden
Beistelltischchen und wandelte sie in einen Dreschflegel um. So bewaffnet,
sprang er aus seinem Versteck, schwang das tödliche Instrument - und
enthauptete den Daimon mit einem einzigen, sauberen Hieb.
Allerdings hatte Bat Furans Pitbull einen entscheidenden Nachteil:
Er war immer noch hungrig, weshalb sowohl Daimons als auch Xendii ihre
Cages herunterfuhren und regungslos beobachteten, wie die blauglühende
Sphäre wie eine riesige Seifenblase umherschwebte. Sobald jemand auch
nur einen winzigen Schuss wagen sollte, würde sie sich darauf stürzen.
Sie schwebte anmutig zur Wiese, begleitet von allen Blicken, die
immer wieder kurz misstrauisch zum jeweiligen Feind schnellten.
In dieser unfreiwilligen Atempause kam endlich Engelbert zum Zuge,
der zusammen mit Ilvyn in seiner Ecke im Pool gar nicht beachtet wurde.
Blitzschnell sprang er in die Höhe und verschoss einen Strahl, der
zwar einen der beiden übrig gebliebenen MDL-Agenten knapp verfehlte,
jedoch den Pitbull magnetisch anzog wie ein Stöckchen, das man für
einen Hund warf. Wütend schoss der feindliche Daimon im Reflex einen
blauen Strahl in den Pool, der Engelberts Schulter traf, wurde aber seinerseits
sofort wieder von Bat Furan angegriffen. Da kam der immer noch hungrige
Pitbull herahngeschossen und stürzte sich auf Bat Furans Jet, kurz
bevor er in den Körper des Daimons einschlagen wollte. Der feindliche
Agent grinste - dann zerstrahlte der Pitbull in grellem Licht, gefolgt
von einer tiefroten Sphäre, die Bat Furan gleich nach dem Jet losgelassen
hatte.
Nun war nur noch ein MDL-Daimon übrig. Er hüllte sich
mit wutverzerrtem Gesicht in seinen Cage und trat den Rückzug ins
Haus an.
Kaum war er von der Bildfläche verschwunden, kletterten die
Tänzerinnen hastig aus dem Pool und flohen über die Wiese und
die Hecken, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Ihr müsst sofort weg von hier«, erklärte
Funatic, der in seinem Cage zum Pool zurückgeeilt war. »Er kommt
garantiert mit Verstärkung zurück.«
»Ich frage mich, wie diese MDL-Stinker an unseren Wachen in
den Noden vorbei kommen«, knurrte Bat Furan. »Oder haben sie
auch solche RAMs, mit denen sie fröhlich dort auftauchen können,
wo immer es ihnen passt?« Er sah Funatic böse an.
»Jeder Dummon weiß doch, dass drei Noden inzwischen
von den Melegonin der Zerrafin und Shinnn überwacht werden«,
antwortete Funatic. »Dort herrscht freier Durchzug. Dieser Planet
hat überdies so viele inaktive, alte Passagen wie ein Schweizer Käse
Aromaporen. Die Zerrafin besitzen Karten, auf denen selbst Tore verzeichnet
sind, die zuletzt vor Jahrtausenden benutzt wurden. Wenn man die Passworte
für diese Durchgänge kennt, kann man sie sogar mit einem altmodischen
RAM wieder aktivieren.«
»Hilfe, Bat Furan! Engelbert ist verletzt!«, ertönte
auf einmal Ilvyns verzweifelte Stimme.
Der Wandler und der Daimon stürzten zum Pool und halfen Ilvyn,
den ohnmächtigen kleinen Cherub aus dem Wasser zu hieven. Der Streifschuss
des MDL-Agenten hatte eine böse aussehende Wunde an Engelberts Hals
hinterlassen.
»Oh nein! Ist das etwa echtes Blut?«, hauchte Ilvyn
besorgt.
»Oh nein! Ist er etwa inkarniert?«, rief Funatic theatralisch
und raufte sich die Haare. »Blöderweise hat LogaShocc den größten
Teil unseres Krams dabei, auch den Erste-Hilfe-Kasten für Inkarnationsunfälle.
Aber nicht verzagen, ihr Blagen: Ich weiß alles über diesen
Planeten, die Flora, Frauen und anderes Kroppzeug.« Er zog sein Sweatshirt
aus, presste es auf die blutende Wunde und fixierte den provisorischen
Verband mit seinem Gürtel, den er Engelbert um den Hals schnallte.
»Er braucht dringend einen Arzt«, wisperte Ilvyn und
streichelte die dunklen, tropfnassen Haare des Verletzten.
Funatic holte indes das BoomeRAM und sein Handy hervor, die in der
Gesäßtasche seiner Hose steckten. »Und ich brauche dringend
Koordinaten. Wohin wollt ihr?«
»Am besten Shangri-La, dort gibt es ein Krankenhaus«,
sagte Ilvyn.
Funatic tippte an seinem Handy herum. »Gut. Dann Abmarsch.«
Wie sich zeigte, besaß der silberne BoomeRAM eine Art Tastenfeld
aus leuchtenden blauen Buchstaben, und dort gab Funatic die Daten ein,
die sein Handy ausgespuckt hatte.
»Ilvyn, du gehst vor. Ich und Funatic tragen Engelbert«,
entschied Bat Furan.
Doch zunächst warf Funatic sein BoomeRAM mit viel Schwung von
sich. Nach etwa zehn Metern ertönte das tiefe Rauschen und mitten
in der Luft erblühte ein großer, bunter Fleck, so als ob sich
eine Leinwand entrollt hätte, auf der ein unscharf eingestellter Film
abgespielt wurde. Der BoomeRAM indes flog weiter davon.
»Er geht gleich in die Kurve und kommt zurück, um mir
durch die Passage zu folgen. Los, wir haben nicht viel Zeit!«, rief
Funatic und hob zusammen mit Bat Furan den ohnmächtigen Cherub auf.
Beide trugen ihn hinter Ilvyn in Richtung der Passage. Plötzlich fluchte
Funatic auf und wandte den Kopf: »Moment! Dort drüben unter
dem Liegestuhl liegt sein Handy, das wir ihm geschickt haben. Die MDL darf
es nicht in die Finger bekommen, ich muss es holen!«
»Das mache ich schon!« Ilvyn machte ohne zu zögern
kehrt. »Geht vor, schnell, er verblutet sonst!«
»Ohne dich mache ich keinen Schritt!«, widersprach Bat
Furan und blieb stehen. Er setzte sich erst in Bewegung, nachdem Ilvyn
das Gerät in ihrer Jeans verstaut hatte und wieder auf dem Weg zu
ihnen war. Funatic, der Engelberts Füße trug, ging als erster
hinüber.
Bat Furan hatte das Bungalow im Rücken, genau wie Ilvyn.
Daher bemerkte niemand von ihnen rechtzeitig, wie sechs uniformierte
Gestalten von verschiedenen Seiten heranschlichen.
Erst als ein rotglühender Strahl auf Bat Furans Kopf zuraste,
reagierte Ilvyn, schubste den Wandler, der den Rest von Engelbert trug,
in die Passage hinein und ließ sich selber auf den Boden fallen,
um dem Geschoß auszuweichen.
Sie sah noch, wie der BoomeRAM zurückgesaust kam und dann die
Passage förmlich einzusaugen schien, bis nur noch ein winziger Spalt
übrig war. In diesem verschwand er und nahm das letzte Stückchen
Tor mit sich.
Ungläubig starrte Ilvyn auf die Stelle, an der sich zuvor noch
der rettende Durchgang befunden hatte.
»Verdammt, DiSfunx L. hat uns wieder hereingelegt!«,
zischte der MDL-Agent hasserfüllt und ließ eine rotglühende
Kugel in seiner Hand entstehen, wobei er Ilvyn bedrohlich ansah.
»Lass das«, befahl ein anderer Daimon und schlug seinen
Arm weg. Ilvyn erkannte den Agenten, der wenige Minuten zuvor ins Haus
zurück geflohen war. »Lebend ist sie nützlicher. Und jetzt
weg hier. Oder glaubst du, sie kommen ohne Verstärkung zurück,
um ihre kleine Freundin zu befreien?«
Ilvyn schloss die Augen, bemüht, wieder ruhig zu atmen. Ihre
Gedanken zuckten wild durch ihren Geist, doch die Angst hielt sie davon
ab, sich zu ordnen und sinnvolle Bilder oder Ideen zu formen.
»Aaah!« Das Gesicht des Cherubs, der Ilvyn bedroht hatte,
hellte sich auf. »Wir werden DiSfunx erpressen?«
»Genau. Wer liebt denn all die kleinen Würmchen auf diesem
Planeten so sehr? Wir bieten ihnen einen Tausch an: dieses erbärmliche
Geschöpf gegen Funatic. Ach was. Am besten gleich gegen alle Mitglieder
von DiSfunx L. Viele sind es ja nicht mehr.«
»Dank der trotteligen Melegonin, obwohl die Hohen Shinnn ihnen
eingebläut haben, sie lebendig gefangen zu nehmen.«
Sie fesselten Ilvyn und verschwanden mit ihr in die Büsche.
.
In Guulin Kherem halfen alle, die schon vom Training zurück
waren, gerade dabei, das Abendbrot im Gemeinschaftssaal aufzutischen. Tigris
lotste Anjul geradewegs zu dem niedrigen Tischchen, an dem Antigua und
Ras Algheti sich gerade niedergelassen hatten, vorbei an abschätzenden,
aber auch neugierigen Augenpaaren. Doch Anjul machte das überhaupt
nichts aus, er hielt jedem der Blicke stand, fing sie auf und gab sie niemals
als erster wieder frei.
»So früh habe ich dich nicht hier bei uns erwartet«,
meinte Antigua erstaunt zu ihm.
»Mit dem Laufen ging es besser als die Ärzte erwartet
haben«, antwortete dieser schlicht.
Tigris legte ihm fürsorglich schon eine Schnitte Vollkornbrot
auf den Teller.
Langsam und sorgfältig schnitt er sich Käse ab und belegte
seine Brotscheibe damit. Dann biss er hinein - und schloss dabei mit der
winzigsten Andeutung eines Lächelns genießerisch die Augen.
Tigris’ Herz zog vor Mitleid - sicher hatte es nur schlimmen Fraß
in Excelsior gegeben, wenn er hier so hingebungsvoll an einem einfachen
Butterbrot kaute.
Einen Apfel betrachtete er sogar regelrecht entzückt, bevor
er hinein biss.
Durch das Essen schien er sehr guter Laune zu sein, was Tigris ermutigte,
sich wieder ein Stückchen näher an ihn heran zu tasten.
»Was ist eigentlich mit deiner Familie? Vermisst du sie nicht?«
»Familie ...« Er hörte zu kauen auf und schien
ernsthaft zu überlegen. »Ich habe mich von ihr getrennt. Ich
hasse sie.«
»Warum das denn?« Mit großen Augen sah sie Anjul
an.
»Sie sind Lügner, Egoisten, Mörder. Alle von ihnen«,
knurrte er und es klang durch und durch ernst gemeint.
»Oh ... das tut mir leid.«
»Das braucht es nicht. Wenn du sie kennen würdest, würdest
du mich vielleicht verstehen. Möchtest du auch etwas von diesem wundervollen
Apfel?« Er streckte ihr die angebissene Frucht entgegen.
Tigris lächelte überrascht. »Nein, iss du nur. Du
scheinst schon lange kein frisches Obst mehr gegessen zu haben.«
»Das ist wahr«, lachte er.
»Möchtest du immer noch hier bleiben?«
»Das kommt darauf an. Wohnst du auch hier?«
»Ich? Oh ... nein. Ich wohne in Shangri-La. Mit meiner Mutter.«
Tigris errötete und senkte den Blick.
»Wie schade«, meinte Anjul daraufhin. Er erhob sich,
als ein Trupp ziemlich verdreckter Gestalten in zerrissenen und ramponierten
Kleidern hereinschneite, angeführt von Hababai.
»Ah, schau an, unsere Champions für das Rennen«,
meinte Ras Algheti. »Ich hoffe, die Motorräder sehen nicht so
aus wie sie. Ich würde später gerne noch mit einem davon durch
die Gegend fahren.«
Darius war unverkennbar in Hochstimmung, er glühte vor Energie
und Lebensfreude. Offenbar hatte er ein weiteres Hobby gefunden, das ihn
voll und ganz befriedigte.
Er strahlte sogar Tigris an und kam zu ihnen.
Doch in dem Moment, als er Anjul sah, blieb er irritiert stehen.
Tigris hielt unwillkürlich den Atem an.
›Er hat ihn erkannt‹, schoss es ihr durch den Kopf und sie sah ängstlich
zu Anjul.
Auch er begutachtete Darius mit ernster, unbewegter Miene.
Die beiden gingen dicht aneinander vorbei, die Blicke ineinander
gehakt.
Erst als Hababai dazukam, zog Anjul seine Aufmerksamkeit schlagartig
von ihm ab und konzentrierte sich auf den farbigen Hünen, der ihn
lachend begrüßte und dann gestenreich etwas erklärte. Zu
Tigris’ Ärger forderte Hababai dann vier junge DiSMaster-Anwärterinnen
auf, Anjul die Burg zu zeigen.
Die Mädchen kicherten entzückt - Tigris kochte.
Eine Japanerin und eine Farbige waren sogar unverschämt genug,
sich bei Anjul einfach unterzuhaken und ihn mit sich zu schleifen. Viel
Widerstand setzte er dieser nach Tigris’ Meinung plumpen Anmache allerdings
nicht entgegen. Im Gegenteil, es schien ihm sogar zu gefallen, er ließ
seine Finger durch die langen, glatten Haare der Japanerin an seiner Seite
gleiten, spazierte schamlos mit seinen Blicken über ihre Körper,
versenkte seine Augen in die ihren.
»Tja, Tig«, begann Antigua mit bedauernder Miene. »Man
kann nicht alles haben.«
»Man muss nicht alles haben. Das meiste entpuppt sich sowieso
als Mogelpackung«, entgegnete Tigris schnippisch, obwohl die Eifersucht
wie Säure ihr Herz verbrannte.
»Ich hoffe, du meinst nicht meine Wenigkeit«, sagte
Darius und ließ sich neben ihr nieder. Tigris musterte ihn, wie so
oft auf der Suche nach einem winzigen Anzeichen, das ihr verriet, ob er
es tatsächlich war oder...
»Im Moment siehst du mehr aus wie Ramschware, aber das ließe
sich mit einer ausgiebigen Dusche leicht ändern«, sagte sie
dann spöttisch.
»Danke für diesen wertvollen Ratschlag, Milady«,
antwortete Darius grinsend.
»Wieso hast du eigentlich diesen Strohhalm eben so komisch
angesehen?«, wollte Ras Algheti von seinem Zimmergenossen wissen,
und Tigris spitzte die Ohren, während sie das schamlose Geturtele
von Anjul observierte.
»Ich kenne ihn von irgendwoher, kann mich aber nicht entsinnen,
wo ich ihn schon einmal gesehen habe.«
»Anjul hat wie du Excelsior überlebt«, sagte Tigris,
gespannt auf Darius’ Reaktion.
Doch dieser zuckte nur mit den Schultern. »Möglich, dass
es dort war. Ach, Anjul heißt er? Klingt nach einem Mädchen.
Na, dann passt es ja.«
Statt einer Antwort funkelte ihn Tigris zornig an.
»Also, ich finde ihn auch merkwürdig«, meinte Ras
Algheti und senkte besorgt die Stimme. »Er erinnert mich an diese
Viecher aus einem alten Film. Erst ganz niedlich und kuschelig, und wenn
man sie nach Mitternacht füttert, mutieren sie zu bissigen, kleinen
Monstern.«
»Du spinnst ja wohl. Er hat schlimme Dinge durchgemacht, und
du vergleichst ihn mit einem Monster!«, fauchte Tigris ihn an und
auch Antigua warf ihm einen vernichtend strengen Blick zu, woraufhin Ras
Algheti den Mund zusammenkniff, um nicht in Gelächter auszubrechen.
»Oh, ich würde ihn keinesfalls unterschätzen«,
erklärte Darius belustigt, »auch wenn er für euch Vertreterinnen
des schwachen Geschlechts offensichtlich so aussieht, als müsste man
ihn in den Arm nehmen, ganz doll liebhaben und vor der bösen Welt
da draußen beschützen.«
Tigris beschloss daraufhin, die Beleidigungen gegen Anjul einfach
zu ignorieren und sah ihm hinterher. Er war im Begriff, mit den Mädchen
durch einen der Durchgänge des Saales in die Wohnbereiche der Burg
zu gehen. Doch seine Augen nahmen die von Tigris dabei mit.
Sie seufzte resigniert. Konnte man als normaler Mensch aus diesem
Verhalten schlau werden?
Mochte er sie? Spielte er nur mit ihren Gefühlen, die sie wohl
ärgerlicherweise nicht gut vor ihm verbergen konnte?
»Tigris!«
Alle im Saal wandten den Kopf, als Bat Furan plötzlich schweißgebadet
am Durchgang zu den Toren stand und vollkommen außer sich zu seiner
Freundin herüberschaute.
Schon alleine an dem verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht wusste
Tigris, dass etwas auf den Seychellen vorgefallen war.
»Ilvyn ist von MDL-Agenten entführt worden!«
Für einige Augenblicke wurde es schlagartig leiser, durchsetzt
von vereinzeltem Getuschel.
Tigris, Ras Algheti und Antigua starrten ihn ungläubig an.
Dann tauchte eine weitere Gestalt im Durchgang auf, dem Anschein
nach ein Asiate.
»Das ist ein Daimon!«, schrie jemand mit seherischer
Begabung bei seinem Anblick.
»Ist das etwa ein Problem für euch?«, fragte dieser
erstaunt.
Wie auf Kommando sprangen alle auf und redeten wild durcheinander.
Die meisten regten sich über Bat Furan auf. Wieso brachte er einen
Feind mit, wo sich doch kein Daimon in Guulin Kherem blicken lassen durfte?
Rosanjin kam mit verschränkten Armen auf die beiden zu, gefolgt
von Tigris, die keinen klaren Gedanken fassen konnte und immer wieder den
Kopf schüttelte. »Aber ... wieso sie ... das ergibt doch keinen
Sinn...«
»Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für seine
Anwesenheit«, sagte Rosanjin zu Bat Furan, und an den Daimon gewandt:
»Sei froh, dass Aévon nicht hier ist. Er hätte dich schon
längst ausgelöscht.«
»Wir haben Engelbert besucht. Und dann ist die MDL aufgetaucht.
Und sie hat es nicht mehr geschafft ... und ... und -« Bat Furan
suchte mit gesenktem Kopf verzweifelt nach Worten.
Der Daimon, der die feindlichen Blicke konsequent ignorierte, meinte
daraufhin im fröhlichsten Plaudertonfall: »Na, das wird schon
wieder. Sie werden sie garantiert gegen mich oder alle von uns austauschen
wollen. Oh, Moment, mein Handy vibriert.« Er zog ein metallicfarbenes
Gerät aus der Tasche und inspizierte seelenruhig das Display.
Bat Furan sah ihn zunächst entgeistert an, so wie die anderen
Windwibbs und Xendii im Saal.
»›Bitte helft mir! Ilvyn‹. Das kommt von Engelberts Handy.
Was sich seit ... zwei Minuten in ... Moment ... in der Nähe der aztekischen
Node befindet.«
»Das ist nur eine Falle. Sie haben es ihr doch garantiert
schon längst abgenommen«, wandte Bat Furan ein und schloss die
geröteten Augen.
»Ach, das kann man ja leicht heraussimsen. Ich könnte
im Gegenzug eine Frage stellen, auf die nur Ilvyn antworten kann. Irgendwelche
Vorschläge?« Die grauen Augen des Daimons wanderten an der Front
der nicht gerade Freude versprühenden Xendii entlang.
»Das ist übrigens Funatic, ein Freund von Engelbert«,
sagte Bat Furan müde und wies auf den Daimon, der allen Xendii im
Saal kurz zuwinkte und sie angrinste.
»Frag, mit wem sie vorhin in der Node von Asia zusammengestanden
hat«, rief Tigris daraufhin schnell.
Der Daimon nickte und bearbeitete mit unglaublicher Geschwindigkeit
sein Handy.
»Warum ist die MDL hinter euch her?«, bohrte Rosanjin
weiter.
»Weil wir ihnen kreuz und queer kommen. Wir haben keine Lust
auf Angoleah, weder Zerrafin noch Shinnn ... oh, die Antwort ist da: ›mit
Tigris und Bat Furan. Geht es Engelbert gut? Ich mache mir solche Sorgen.‹«
»Die hat vielleicht Nerven«, brummte Bat Furan. »Wir
kommen um vor Sorge und alles, was sie interessiert, ist Engelbert. Der
liegt gemütlich in seinem Bett im Krankenhaus von Shangri-La und kriegt
von all dem nichts mit.«
»Ich muss sofort nach Azteca!«, sagte Tigris mit zitternder
Stimme. »Es ist alles meine Schuld. Ich hätte doch lieber mit
auf die Seychellen kommen sollen.«
»Du gehst nirgendwohin!«, entschied Rosanjin mit ungewohnt
strenger Stimme, weswegen alle bis auf Antigua und drei andere Rufer überrascht
zusammenzuckten. »Wir warten auf Aévon und beraten uns dann
alle.«
»Bald müssten meine Freunde auf dieser Welt einschlagen«,
sagte Funatic jedoch unbekümmert. »Dann helfen wir euch gerne.
Das wird lustig, wir könnten alle unsere Erfindungen auf einmal ausprobieren.«
»Die DiSMasters mögen keine Daimons«, widersprach
Rosanjin. »Wir arbeiten alleine. Und jetzt geh besser, bevor Aévon
zurückkommt und dich in die Luft sprengt.«
»Aber wir -«, begann Funatic irritiert, doch da packte
ihn Tigris am Ärmel und schob ihn zurück in den Gang.
»Tu besser, was er dir sagt«, zischte sie. »Ich
muss ohnehin unbedingt nach Shangri-La, Engelbert im Krankenhaus besuchen.
Wenn du noch etwas weißt, was uns helfen könnte, sag es mir,
ich bringe es dann bei den DiSMasters ein.«
Funatic trottete daraufhin artig neben ihr her, bis sie die Passage
nach Shangri-La erreichten.
»Na, dann machen wir eben ein Befreiungs-Battle daraus. Wer
die Kleine zuerst rettet, hat gewonnen«, meinte er unbekümmert.
»Meine Freunde müssten bald hier sein. Das wird ein Spaß.«
»Wie viele seid ihr eigentlich?«, fragte Tigris mit
neuer Hoffnung im Herzen.
»Vor unserer Flucht waren wir fünf.«
»Na toll«, stöhnte Tigris enttäuscht. »Fünf
Daimons gegen die MDL.«
»Ja, aber was für Daimons, Kleines. Surf mal im DimensioNet
nach DiSfunctional Laboratories. Zuletzt hatten die Zerrafin und Shinnn
keine andere Wahl als uns die Befreiung dieses Irren namens Bru’jaxxelon
in die Schuhe zu schieben. Wir sind eben zu populativ in der Daimonsion.«
.
In der Nacht darauf konnte Tigris keinen Schlaf finden.
Das Gefühl, Ilvyn nur wegen Anjul im Stich gelassen zu haben,
vereinte sich mit der Wut über die eigene Hilflosigkeit zu einem tonnenschweren
Block, der sie niederdrückte und unentwegt Tränen aus ihr herauspresste.
Engelbert hatte dieses Gefühlsgemisch schon zu spüren
bekommen, ungerechterweise, denn er sorgte sich nun ebenfalls und bedrängte
Funatic, sich etwas einfallen zu lassen. Er hatte Funatic sogar angeschrieen
und gefordert, dass er und seine Freunde sich unverzüglich zum Tausch
gegen Ilvyn anbieten sollten, was Funatic jedoch höflich, aber bestimmt
abgelehnt hatte.
Rosanjin hatte sie zu trösten versucht und versprochen, dass
die DiSMasters so schnell wie möglich eine Strategie zur Rettung Ilvyns
entwickeln würden.
Doch es gab da ein Problem, zumindest für die DiSMasters ...
Stunde um Stunde verging mit ruhelosem Hin- und Herwälzen,
Weinen, ergebnislosem Denken und wieder Weinen.
Bis ER plötzlich auftauchte.
Tigris setzte sich auf und sah auf die Uhr: Viertel nach vier, morgens.
Und die Schatten in ihrem Zimmer sahen schwarz und undurchdringlich
aus, wie seine Substanz. War er persönlich hier, oder spürte
sie nur seine Gedanken?
Entschlossen knipste sie die Lampe auf ihrem Beistelltisch an.
Es war nichts zu sehen, und dennoch vibrierte der Raum unmerklich,
nur spürbar für sie.
»Ich weiß, dass du hier bist«, sagte sie und sah
sich noch einmal um.
Sein leises Lachen kam direkt von hinten, nah an ihre Körper.
Aus den Augenwinkel beobachtete sie, wie ein pechschwarzer, länglicher
Schleier, einem spitz zulaufendem Schal gleich, über den Beistelltisch
glitt und vor einem Zedernkästchen mit eingeschnitzten Ornamenten
innehielt. Es war eine Spieluhr, und eines der zahlreichen Geschenke Aévons.
Der schwarze Fortsatz tippte sanft gegen das Holz, das gleich darauf aufsprang
und eine orientalische Melodie in das Zimmer ließ.
Entnervt seufzte sie. »Was willst du? Ich bin nicht in der
Stimmung, deine Gesellschaft zu ertragen.«
»Ja, ich sehe, dass du niedergeschlagen bist, Tigris. Was
bedrückt denn dein kleines, sterbliches Herz?«
»Spiel nicht den Seelsorger. Und außerdem weißt
du doch ganz genau, was passiert ist.« Sie schniefte und wischte
sich über die Augen.
»Entgegen deiner Auffassung beobachtete ich dich nicht ständig
auf Schritt und Tritt.«
»Warum sollte ich es dir sagen? Was interessiert dich, wie
ich mich fühle? Damit du noch mehr Spaß daran hast, mich leiden
zu sehen?«, stieß sie verzweifelt und wütend zugleich
hervor.
»Dazu müsste ich ja wissen, um was es geht. Ob ich es
dann spaßig finde, entscheide ich.«
»Meine Freundin Ilvyn ist von der MDL entführt worden.
Jetzt wird sie irgendwo in der Nähe der aztecischen Node gefangen
gehalten, nur weil die MDL hinter ein paar Daimons her ist, die sie gegen
sie austauschen wollen.«
»Dann tauscht sie doch aus. Daimons gibt es wie Sand am Meer.«
»Ach, aber sie wollen ungern ausgetauscht werden, obwohl wir
sie ganz lieb und nett darum gebeten haben. Sie wollen uns angeblich gerne
bei Ilvyns Befreiung helfen. Aber selbst wenn das stimmt, gibt es ein großes
Problem.«
Bru’jaxxelon knipste inzwischen mehrmals die Nachtischlampe aus
und ein. Verwirrenderweise spürte Tigris ein spielerisches Interesse
bei ihm.
»Ihr wisst nicht, wie ihr dorthin kommt. Azteca hat nicht
sehr viele alte oder illegale Tore, die ihr nutzen könntet«,
sagte er leichthin.
»Ja«, bekannte sie leise.
»Siehst du, es war doch gut, dass wir drüber geredet
haben.«
»Sehr witzig.«
»Ich kann dir genau sagen, wie ihr dorthin gelangt. Und wie
ihr mit einer heldenmütigen Tat gleich für soviel Verwirrung
sorgt, um in Ruhe aus der Node zu verschwinden.«
»Warum solltest du das tun?«
»Weil es mir so beliebt.«
»Und was schlägst du vor?«
Der forschende, dunkle Arm des Daimons zog sich von den Dingen auf
dem Tischchen zurück und legte sich stattdessen sachte auf ihre Schulter.
»Erinnerst du dich noch an dein kleines Malheur in der Node
von Altai-Siberia? Als du dort das Tor zur Daimonsion beinahe geöffnet
hast?«
»Ja. Und weiter?«, grummelte sie.
»Du kannst mit dem Amulett eine Node natürlich auch wieder
verschließen. Du kannst jede Node damit öffnen oder schließen.
Jedes Tor, jede Passage, jeden Durchgang auf diesem Planeten.«
»Selbst wenn ich die Node wieder schließe, kommt jemand
mit dem Nodenschlüssel und öffnet sie wieder«, meinte Tigris
langsam, während sie erst allmählich anfing, sich über die
Dimension seiner Behauptung klar zu werden.
»So schnell geht das nun nicht, nachdem sie mit dem Meisterschlüssel
gesperrt worden ist. Genauer gesagt, dauert es einen Monddurchgang, bis
der aztecische Nodenschlüssel wieder Wirkung zeigen kann.«
»Du weißt ziemlich gut Bescheid über das Amulett«,
wunderte sich Tigris.
»Nun ja. Ich stand demjenigen überaus nah, dem das begehrte
kleine Ding einst gehört hat. Ein Herz und eine Seele, könnte
man sagen.«
»Das ... das ist Barujadiels Amulett!«, entfuhr es ihr.
»Es wurde eigens für ihn angefertigt, ja. Wie die Noden
und das Torsystem.«
Vor Aufregung hatte sie zu zittern und schwer zu atmen begonnen.
Und wieder fiel ihr ihre Theorie ein. »Was wäre eigentlich,
wenn Barujadiel doch noch lebte? Das würde deine Pläne ziemlich
durcheinander bringen, oder?«
»Ah, diese Leier wieder. Es würde mich überraschen,
wenn er noch existiert, das gebe ich zu. Aber eigentlich bin ich ziemlich
sicher, dass es ihn nicht mehr gibt. Denn, ja, es würde mich aus dem
Konzept bringen. Er wäre in der Tat sehr hinderlich. Er war einfach
viel zu lieb und naiv. Eigenschaften, mit denen man nicht sonderlich weit
kommt.«
»Entweder lügst du oder du weißt es in Wahrheit
nicht hundertprozentig.«
»Ich lüge niemals, kleines Erdengeschöpf«,
versetzte Bru’jaxxelon daraufhin scharf und zog sie einmal kräftig
an ihrem Zopf. »Ich leiste mir den Luxus, ehrlich zu sein. Nun gut,
vielleicht erzähle ich nicht alles auf einmal oder schweige in Ehren,
wenn die Sprache auf ein bestimmtes Thema kommt. Doch eines verspreche
ich dir: Niemals werde ich lügen. Und nun leg dich schlafen. Nachdem
ich dir einiges über das Amulett verraten habe, sieht doch alles gleich
viel besser aus, oder nicht?«
Die Bettdecke wurde hochgewirbelt und senkte sich über sie.
Als sie sie zurückschlug, war Bru’jaxxelon verschwunden.
›Und wenn er mich in eine Falle locken will? Oder ... uns alle?
Alle DiSMasters?‹, dachte sie gequält. Doch was, wenn es stimmte?
›Es führt kein Weg mehr daran vorbei. Ich werde Aévon
gleich morgen früh alles über das Amulett sagen. Und dann befreien
wir Ilvyn.‹
Sie löschte das Licht, rollte sich ein und versuchte, wenigstens
ein paar Stunden zu schlafen. Stattdessen aber zermarterte sie ihr Gehirn
erst einmal über Bru’jaxxelons rätselhaftes Verhalten und das,
was er über sich und Barujadiel gesagt hatte, bis sie dann doch noch
in einen traumlosen Schlaf fiel.
© I.S.
Alaxa
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
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