Die Welt von Zappon von Adlers Auge
4. Kapitel: Das Herz von Zappon

Als Get wieder erwachte, dröhnte ihm der Kopf. Er versuchte sich zu orientieren und erkannte bald, dass er in einen Käfig gesperrt war.
Neben ihm hockten Zizam, Pret und Jorin, der Matrose, der ihn in der Schenke verteidigt hatte.
"Schön, dass du auch endlich wach bist", stellte Zizam trocken fest. Get war unwohl zumute. Er wusste, dass er einen gewaltigen Fehler begangen hatte. Einen Fehler, der sich vermutlich nicht mehr ausbügeln lassen könnte. Wie hatte er nur seine Identität und seinen Auftrag einfach so preisgeben können?
"Ich muss dir wohl keine Standpauke halten. Ich denke, du weißt selbst, dass du vielleicht ganz Zappon durch deine Unachtsamkeit dem Untergang ausgeliefert hast."
Get schlug die Augen nieder und so herrschte einige Minuten lang betroffenes Schweigen.
Get stellte währenddessen fest, dass sie sich im Inneren eines Schiffes befanden.
Es war ein recht großes Schiff, das vermutlich zur Kriegsmarine gehörte. Er sah vielerlei Waffen und Kriegsgerät, das ihn eindeutig darauf schließen ließ.
Die Armee war eines der letzten Überbleibsel des Kaiserreiches der vergangenen Tage. Vor der großen Schlacht war sie Schild und Schwert des Kaiserreiches gewesen.
Jeder König im Reich, egal welcher Art er angehörte, hatte seine Soldaten in den Dienst der Armee gestellt, sodass sie direkt dem Kaiser untergeordnet waren. Unablässig hatten ihre Legionen die Zugänge durch den Worin versperrt und hatten für Ruhe im Reich gesorgt.
Heute gab es keine einheitliche Armee mehr. Die Völker waren zu zerstritten über die Nachfolge des Kaisers, um ihre Soldaten einem fremden General anzuvertrauen.
Die Streitkräfte der Menschen waren zu diesem Zeitpunkt der Geschichte auf ihren Tiefpunkt angelangt. Die einzigen Teile ihrer Armee, die noch von den glorreichen alten Tagen zeugten, waren die Garnisonen von Golg, Ir und der einstigen Haupstadt Kent.
"Wo ist eigentlich Arai?" fragte Get.
"Wir wissen es nicht. Er flog davon, als die Garnison den Turpusmarkt stürmte", antwortete Pret.
"Was ist mit meinem Splitter?" entsetzt fasste sich der junge Held an die Brust und merkte zu seiner Erleichterung, dass sein Anhänger noch vorhanden war.
"Sie haben ihn versucht dir wegzunehmen, Meister. Doch jeder, der ihn berührte, wurde von einem Schlag durchzogen und erlitt schwere Verbrennungen", gab Jorin rasch von sich.
"Und wo werden wir nun hingebracht?"
"Nach Kent. Zu Fomier, dem Statthalter. Er wird sicherlich versuchen, dich für seine Pläne einzunehmen, also sei wachsam vor ihm und seinem Ränkelspiel", warnte Zizam.
"Ist Fomier nicht der Vater von Areon und Lupus, den beiden Prinzen des Reiches?" fragte Pret neugierig in die Runde.
"Ja, das ist er. Zwei wahre Prachtkerle, sage ich euch." In Jorins Stimme schwang Bewunderung mit.

Dazu hatte er auch allen Grund, denn Areon und Lupus waren die rechtmäßigen Erben des Kaiserreiches. Ihre Mutter war die Enkelin von Andrien, dem Sohn des letzten Mondkaisers.
Da es sonst keinerlei weitere Verwandte gab und Frauen den Thron des Kaisers nach alter Sitte nicht besteigen durften, waren die beiden die Erben des Reiches.
Ihre Mutter hatte den als Gecken und schwach geltenen Fomier nur geheiratet, da die Familie des Kaisers mit der Zeit verarmte und immer mehr an Einfluss verlor.
Die meisten wussten, dass sie ihn nicht leiden konnte, doch das war ihm egal, denn Cecilia galt als die schönste Frau der damaligen Zeit. Und auch ihre Söhne waren von ganz wunderbarer Natur.
Areon war der ältere. Er war gerade 23 und galt als der Frauenschwarm schlechthin. Kaum ein Mädchen fand sich in Zappon, das nicht gerne einmal für eine Nacht mit ihm das Bett geteilt hätte.
Doch er war viel mehr als nur einer der gutaussehendsten Männer der Welt. Er war einer der fähigsten Truppenführer und ein großartiger Kämpfer.
Sein Charisma konnte die Lebenseinstellung vieler Menschen mit nur wenigen Worten um 180 Grad drehen, und seinen Worten zu lauschen war auf Grund seiner Ausstrahlung Grund genug ihm alles zu glauben, was er sagte.
Daher war er von seinem Vater auch in den südlichen Worin geschickt worden, da dieser befürchtete, sein eigener Sohn könnte ihm bald den Platz als Statthalter streitig machen, wenn er ihm weiterhin die Gelegenheit böte seine Macht bei Hofe auszudehnen.
Damals war ein Aufschrei durch die Stadt gegangen, denn die Verlegung eines Soldaten in den südlichen Worin glich einem Todesurteil. Die Soldaten in diesem Gebiet hatten nämlich die Aufgabe, die Landbevölkerung vor den wilden Drachen zu schützen.
Diese geflügelten, mehrere Meter großen, Feuer speienden Echsen hatten sich in den letzten hundert Jahren zu einer wahren Plage entwickelt, da sie immer wieder die Ernten und Dörfer der Bauern in Brand steckten.
So war der junge Prinz mit hundert seiner getreuesten, tapfersten und besten Krieger ausgezogen, um dem Treiben endlich Einhalt zu gebieten.
Niemand hatte mit ihrer Rückkehr gerechnet, doch wenige Wochen später war ein Schiff mit den Köpfen von drei Drachen in den Hafen von Kent eingelaufen.
So hatte Fomier anstatt die Macht seines Sohnes einzuschränken ihn zu einem Volkshelden gemacht.
Der jüngere der beiden war Lupus. Auch er war ein geachteter Krieger, der das Schwert seines Urgroßvaters in den Kampf führte. Viele Menschen behaupteten, dass er sogar ein noch besserer Fechter wäre als sein Bruder.
Dennoch stand er im Schatten seines Bruders, da er zwar nicht über seine Ausstrahlung, dafür aber über ein ungewöhnliches Maß an Intelligenz und Weisheit verfügte. Er wählte seine Worte stets weise und galt als ein erstaunlicher Rhetoriker.
Doch wofür er beim Volk am meisten verehrt wurde, war seine Reitkunst. Es hießt, dass er mit fünf Jahren das erste Mal ein Pferd bestiegen habe und seitdem nicht ein einziges Mal aus dem Sattel gefallen sei.
Aufgrund seines Geschicks im Umgang mit den stolzen Tieren, war er von seinem Vater, obwohl gerade einmal neunzehn Jahre alt, zum Oberkommandierenden der gesamten Kavallerie Kents ernannt worden.
Doch das war wiederum nur ein geschickter Plan von Fomier, auch den anderen Sohn vom Hofe zu vertreiben, denn Lupus musste fast ständig mit seinen untergebenen Soldaten Truppenübungen auf den weiten Ebenen von Eriador abhalten oder dafür sorgen, dass aufsässige Bauern wieder zur Ruhe gebracht wurden.
Doch auch Lupus wurde so zu einem Volkshelden, als er vor einem halben Jahr fast im Alleingang eine Bande von Räubern, die das umliegende Land terrorisiert hatten, auseinander nahm.
So war es gekommen, dass die beiden Prinzen sich als würdige Nachfolger der Kaiser zu erkennen gegeben hatten, und heute vermuten viele, dass erst dadurch der Splitter Karhirs Get zum Aufbruch bewogen hätte.

Die Tage an Bord des Schiffes vergingen nun mit erdrückender Langeweile. Die vier Gefangenen vertrieben sich die Zeit, indem sie versuchten sich Spiele auszudenken, die sie bei Laune halten konnten. Über die nahe Zukunft machten sie sich kaum Gedanken, da sie nicht einschätzen konnten, in was für einer Lage sie am Ende der Schiffsreise sein würden.
Jorin stellte sich während der langen Gespräche als ein guter treuer Freund heraus. Er war ein einfacher Seemann von einfachem Gemüt und einem gesegneten tiefen Schlaf. Schon am ersten Tag der Gefangenschaft hatte er betont, dass er seinem Meister folgen würde, wenn es sein müsste bis in den Tod. Get mochte zwar nicht, dass er Meister gerufen wurde, doch er fand es nützlich, einen weiteren Gefährten zu haben.
So kam es dann eines Tages, dass ein fetter ungewaschener Mann ihr Gefängnis betrat und anordnete, die Käfige zu verdecken, damit niemand sähe, wer drin saß. Da erkannten  die Gefangenen zweierlei. Erstens, dass sie in Kent angekommen waren, und zweitens, dass sie nicht die einzigen Gefangenen waren, denn im Heck des Schiffes schienen sich noch weitere Gefangene zu befinden, die sie allerdings bisher nicht bemerkt hatten.
So wurde ihr Käfig in Dunkel gehüllt und sie bekamen nicht mit, was ab da an vor sich ging. Sie konnten nur erahnen, dass sie von einem Kran aus dem Schiff heraus gehoben und auf einen Karren verfrachtet wurden, der dann durch die Stadt zog.
"Wenn wir bei Fomier sind, überlasst allein mir das Reden. Und wenn er euch etwas fragt, so antwortet ihm die Wahrheit, in den heiligen Hallen des Kaisers zu lügen ist wohl die schlimmste Sünde, die ein ehrenhafter Mensch begehen kann."
Alsbald machte der Karren halt und der Vorhang des Käfigs wurde weggezerrt.
Sie befanden sich nunmehr in einer großen steinernen Halle. Mit vier Säulen an jedem Ende aus blauem Marmor und von feinsten Intarsien geschmückt. An den Wänden hingen kostbare Teppiche, die Szenen und Heldentaten aus der langen Geschichte des Reiches darstellten.
Doch all diese Pracht wurde überstrahlt von einer aus blutrotem Holz geschnitzten Tür. Es war eigentlich mehr ein Tor, verziert mit dem Wappen des Reiches: einem Mond umgeben von zwölf Sternen und unterlegt mit zwei Schwertern und dem Abbild des Schlosses Karhirs.
Die Tür wurde von zwei Soldaten in voller Rüstung und mit langen Piken bewaffnet bewacht.
Während die Gefährten angewiesen wurden durch die Tür zu treten, bemerkte Get, dass die anderen Gefangenen ebenfalls hier waren und er jeden von ihnen als einen derjenigen erkannte, die mit ihm zum Turpusmarkt marschiert waren. 
Das riesige Tor des Thronsaals wurde von den Wachen aufgeschwungen und Sonne flutete die Vorhalle.
Als sich Get an das gleißende Licht gewöhnt hatte, begann der Saal langsam Konturen anzunehmen. Er war ganz in weißem Marmor ausgekleidet, was seine unnatürliche Helligkeit erklärte. An den Wänden hingen riesige Porträts der vergangenen Kaiser. Die Säulen, die einen Kreis um ein gigantisches zapponisches Wappen bildeten, welches sowohl in die Decke als auch in den Boden gemeißelt war, strotzten nur so vor Verzierungen und kleinen Anekdoten aus der Geschichte des Reiches.
Doch das imposanteste war der Thron des Kaisers, der sich wie ein großer Hügel am Ende des Saals auftürmte. Man musste an die 30 Stufen erklimmen, bevor man die Sitzfläche, die mit rotem Samt ausgelegt war, erreicht hatte.
Von ihm aus konnte der Kaiser einst all seine Untertanen überblicken und ihnen Befehle erteilen. Hinter ihm fiel blaues Licht in den Saal, das dem ganzen einen mystischen Glanz gab.
"Mein Herr, wir bringen euch die Aufständischen, nach denen ihr verlangt hattet."
Der Wärter sprach zu einer kleinen unscheinbaren Gestalt, die auf einem schlichten Lehnstuhl am Fuße des Throns saß.
Der Statthalter war ein kleiner Mann mittleren Alters. Mit fettigen langen Haaren und einer grimmigen Miene. Er war recht unauffällig und die meisten hätten ihn für einen dummen Schwachkopf gehalten, wenn seine intelligenten Augen nicht etwas von Verschlagen- und Gerissenheit preisgegeben hätten.
Fomier erhob sich. Er war nicht gerade klein, doch im Schatten seiner hühnenhaften Leibgarde wirkte er verschwindend winzig.
"Seid willkommen, meine hoch verehrten Gäste!" begann Fomier seine, der Situation unangemessene, Rede.
"Ihr wagt eine solche Anrede?!" fiel Zizam ihm ins Wort, um seine Taktik sofort zu durchkreuzen und seine Argumente ins Spiel zu bringen. "Ihr wagt eine solche Anrede, nachdem ihr uns hier ohne jeglichen Grund hierher verschlepptet und uns nun festhaltet."
"Ohne Grund? Nun, Herr Zizam, meinen Informationen zu folge haben sie und ihrer Kumpanen einen Aufruhr in Golg erprobt, der das Kaiserreich auf Grund von geschwächter Verteidigungskraft unserer Festungen in ernsthafte Gefahr bringen können."
Darauf nahm sich Zizam eine kurze Denkpause. "Dennoch bestand kein Grund uns hierhin zu bringen, da die Städte Kent und Golg unabhängig voneinander sind und somit in Golg begangene Straftaten nicht in Kent bestraft werden können. Daher gedenken wir nun zu gehen."
Als sich Zizam umdrehen wollte, wurden die Tore des Thronsaals verschlossen und die Leibwache des Statthalters umstellten die kleine Gruppe.
"Unter einer Bedingung!" gab Fomier dramatisch bekannt.
"Ihr, Zizam, und euer Freund Get, dürfen die Stadt nicht verlassen, bis ich es erlaube."
Zizam nickte ihm kurz zu, drehte sich auf der Stelle herum und verließ den Thronsaal an der Spitze seiner verdutzten Gefährten.

"Hätte nicht gedacht, dass wir dort so schnell hinauskommen."
"Das war zu erwarten, Fomier weiß, was er tut."
Ein Diener bat die Gruppe in einen kleinen Nebenraum der Vorhalle, wo sie ihre Wertsachen vorfanden und sich ihnen nahmen, was ihnen zustand.
"Kapitän Elsmer?" fragte der Diener in die Runde.
"Der bin ich", gab der Seebär als Antwort.
"Euer Schiff liegt gut vertäut und sicher im Stadthafen." Er überreichte ihm einen kleinen Zettel. "Zeigt dies vor und ihr werdet es zurückerhalten.

Wenig später traten sie aus dem Palast heraus auf einen großen Vorhof. Unter ihnen erstreckte sich ein Meer aus Häusern. Es reichte bis an den Horizont und noch weit darüber hinaus. Es war ein Gewirr aus Gebäuden, Gassen, Hauptstraßen, das keinerlei Ordnung zu folgen schien sondern einfach nur nach unbestimmten Regeln die Ebene überwucherte.
Get fragte sich wie viele Menschen hier wohl leben mochten. Er hatte nicht erwartet, dass überhaupt so viele existierten.
"Seht nur, so sehen 15 Millionen Menschen aus", sagte Zizam sichtlich beeindruckt.
"Immer wieder ein beeindruckender Anblick, nicht wahr?" träumte Kapitän Elsmer vor sich hin. Hinter ihnen erklang ein Rufen.
"Halt, wartet!" Ein Gesandeter des Statthalters kam zu ihnen auf den Hof gelaufen.
"Beim Bart von Baal! Es wäre auch zu schön gewesen, wenn wir einfach so davongekommen wären", murrte Pret vor sich hin.
Der Bote kam über den glatten Marmorboden des Hofes schlitternd zum Stehen und gab mit einer Verbeugung einhergehend kurzerhand bekannt, dass die Herren Zizam Machthand und Get Uniton, samt Begleitung, am nächsten Abend zu einer kleinen Feier anlässlich des achtzehnten Geburtstages seines jüngeren Sohnes Lupus Eludo eingeladen seien und ihr Kommen ausdrücklich erwünscht sei.
"Richtet Fomier aus, dass es uns eine große Ehre sein wird, an seiner Feier teil zu haben."
Ohne weitere Worte rannte der Bote eilends über den Hof zurück durch den riesigen Palasteingang, um Bericht zu erstatten.
Die  Gruppe durchschritt darauf das Tor der Mauer, die den Palast vor möglichen Angriffen aus der Stadt heraus schützen sollte, und wandte sich sicher von Zizam geführt einer Hauptstraße zu.
"Ich wurde nicht namentlich erwähnt" gab Pret betrübt von sich.
"Mach dir keine Sorgen, Pret. Auch dein Name wird bald bei Hofe und im ganzen Volk in aller Munde sein. Verlass dich drauf", sprach Zizam aufmunternd.
"So, und wie sieht dein Plan aus? Hoffentlich beinhaltet er eine ordentliche Tracht Prügel für diesen schleimigen Fomier! Richtig widerlich, der Kerl", feixte Pret.
"Nein!" lachte Zizam laut aus. "Zumindestens nicht direkt. Aber vielleicht ergibt sich ja eine Gelegnheit für dich."
"Sehr gut, darauf freue ich mich schon. Nur, was gedenkst du denn stattdessen zu tun?"
"Nun, zunächst sollten wir Gets Onkel besuchen."
Die beiden jungen Gefährten blickten sich verdutzt an, während Zizam und die Schiffscrew unbeirrt ihren Weg Richtung Stadtzentrum nahmen.
 

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