Als Get wieder erwachte, dröhnte ihm der Kopf. Er versuchte
sich zu orientieren und erkannte bald, dass er in einen Käfig gesperrt
war.
Neben ihm hockten Zizam, Pret und Jorin, der Matrose, der ihn in
der Schenke verteidigt hatte.
"Schön, dass du auch endlich wach bist", stellte Zizam trocken
fest. Get war unwohl zumute. Er wusste, dass er einen gewaltigen Fehler
begangen hatte. Einen Fehler, der sich vermutlich nicht mehr ausbügeln
lassen könnte. Wie hatte er nur seine Identität und seinen Auftrag
einfach so preisgeben können?
"Ich muss dir wohl keine Standpauke halten. Ich denke, du weißt
selbst, dass du vielleicht ganz Zappon durch deine Unachtsamkeit dem Untergang
ausgeliefert hast."
Get schlug die Augen nieder und so herrschte einige Minuten lang
betroffenes Schweigen.
Get stellte währenddessen fest, dass sie sich im Inneren eines
Schiffes befanden.
Es war ein recht großes Schiff, das vermutlich zur Kriegsmarine
gehörte. Er sah vielerlei Waffen und Kriegsgerät, das ihn eindeutig
darauf schließen ließ.
Die Armee war eines der letzten Überbleibsel des Kaiserreiches
der vergangenen Tage. Vor der großen Schlacht war sie Schild und
Schwert des Kaiserreiches gewesen.
Jeder König im Reich, egal welcher Art er angehörte, hatte
seine Soldaten in den Dienst der Armee gestellt, sodass sie direkt dem
Kaiser untergeordnet waren. Unablässig hatten ihre Legionen die Zugänge
durch den Worin versperrt und hatten für Ruhe im Reich gesorgt.
Heute gab es keine einheitliche Armee mehr. Die Völker waren
zu zerstritten über die Nachfolge des Kaisers, um ihre Soldaten einem
fremden General anzuvertrauen.
Die Streitkräfte der Menschen waren zu diesem Zeitpunkt der
Geschichte auf ihren Tiefpunkt angelangt. Die einzigen Teile ihrer Armee,
die noch von den glorreichen alten Tagen zeugten, waren die Garnisonen
von Golg, Ir und der einstigen Haupstadt Kent.
"Wo ist eigentlich Arai?" fragte Get.
"Wir wissen es nicht. Er flog davon, als die Garnison den Turpusmarkt
stürmte", antwortete Pret.
"Was ist mit meinem Splitter?" entsetzt fasste sich der junge Held
an die Brust und merkte zu seiner Erleichterung, dass sein Anhänger
noch vorhanden war.
"Sie haben ihn versucht dir wegzunehmen, Meister. Doch jeder, der
ihn berührte, wurde von einem Schlag durchzogen und erlitt schwere
Verbrennungen", gab Jorin rasch von sich.
"Und wo werden wir nun hingebracht?"
"Nach Kent. Zu Fomier, dem Statthalter. Er wird sicherlich versuchen,
dich für seine Pläne einzunehmen, also sei wachsam vor ihm und
seinem Ränkelspiel", warnte Zizam.
"Ist Fomier nicht der Vater von Areon und Lupus, den beiden Prinzen
des Reiches?" fragte Pret neugierig in die Runde.
"Ja, das ist er. Zwei wahre Prachtkerle, sage ich euch." In Jorins
Stimme schwang Bewunderung mit.
Dazu hatte er auch allen Grund, denn Areon und Lupus waren die rechtmäßigen
Erben des Kaiserreiches. Ihre Mutter war die Enkelin von Andrien, dem Sohn
des letzten Mondkaisers.
Da es sonst keinerlei weitere Verwandte gab und Frauen den Thron
des Kaisers nach alter Sitte nicht besteigen durften, waren die beiden
die Erben des Reiches.
Ihre Mutter hatte den als Gecken und schwach geltenen Fomier nur
geheiratet, da die Familie des Kaisers mit der Zeit verarmte und immer
mehr an Einfluss verlor.
Die meisten wussten, dass sie ihn nicht leiden konnte, doch das
war ihm egal, denn Cecilia galt als die schönste Frau der damaligen
Zeit. Und auch ihre Söhne waren von ganz wunderbarer Natur.
Areon war der ältere. Er war gerade 23 und galt als der Frauenschwarm
schlechthin. Kaum ein Mädchen fand sich in Zappon, das nicht gerne
einmal für eine Nacht mit ihm das Bett geteilt hätte.
Doch er war viel mehr als nur einer der gutaussehendsten Männer
der Welt. Er war einer der fähigsten Truppenführer und ein großartiger
Kämpfer.
Sein Charisma konnte die Lebenseinstellung vieler Menschen mit nur
wenigen Worten um 180 Grad drehen, und seinen Worten zu lauschen war auf
Grund seiner Ausstrahlung Grund genug ihm alles zu glauben, was er sagte.
Daher war er von seinem Vater auch in den südlichen Worin geschickt
worden, da dieser befürchtete, sein eigener Sohn könnte ihm bald
den Platz als Statthalter streitig machen, wenn er ihm weiterhin die Gelegenheit
böte seine Macht bei Hofe auszudehnen.
Damals war ein Aufschrei durch die Stadt gegangen, denn die Verlegung
eines Soldaten in den südlichen Worin glich einem Todesurteil. Die
Soldaten in diesem Gebiet hatten nämlich die Aufgabe, die Landbevölkerung
vor den wilden Drachen zu schützen.
Diese geflügelten, mehrere Meter großen, Feuer speienden
Echsen hatten sich in den letzten hundert Jahren zu einer wahren Plage
entwickelt, da sie immer wieder die Ernten und Dörfer der Bauern in
Brand steckten.
So war der junge Prinz mit hundert seiner getreuesten, tapfersten
und besten Krieger ausgezogen, um dem Treiben endlich Einhalt zu gebieten.
Niemand hatte mit ihrer Rückkehr gerechnet, doch wenige Wochen
später war ein Schiff mit den Köpfen von drei Drachen in den
Hafen von Kent eingelaufen.
So hatte Fomier anstatt die Macht seines Sohnes einzuschränken
ihn zu einem Volkshelden gemacht.
Der jüngere der beiden war Lupus. Auch er war ein geachteter
Krieger, der das Schwert seines Urgroßvaters in den Kampf führte.
Viele Menschen behaupteten, dass er sogar ein noch besserer Fechter wäre
als sein Bruder.
Dennoch stand er im Schatten seines Bruders, da er zwar nicht über
seine Ausstrahlung, dafür aber über ein ungewöhnliches Maß
an Intelligenz und Weisheit verfügte. Er wählte seine Worte stets
weise und galt als ein erstaunlicher Rhetoriker.
Doch wofür er beim Volk am meisten verehrt wurde, war seine
Reitkunst. Es hießt, dass er mit fünf Jahren das erste Mal ein
Pferd bestiegen habe und seitdem nicht ein einziges Mal aus dem Sattel
gefallen sei.
Aufgrund seines Geschicks im Umgang mit den stolzen Tieren, war
er von seinem Vater, obwohl gerade einmal neunzehn Jahre alt, zum Oberkommandierenden
der gesamten Kavallerie Kents ernannt worden.
Doch das war wiederum nur ein geschickter Plan von Fomier, auch
den anderen Sohn vom Hofe zu vertreiben, denn Lupus musste fast ständig
mit seinen untergebenen Soldaten Truppenübungen auf den weiten Ebenen
von Eriador abhalten oder dafür sorgen, dass aufsässige Bauern
wieder zur Ruhe gebracht wurden.
Doch auch Lupus wurde so zu einem Volkshelden, als er vor einem
halben Jahr fast im Alleingang eine Bande von Räubern, die das umliegende
Land terrorisiert hatten, auseinander nahm.
So war es gekommen, dass die beiden Prinzen sich als würdige
Nachfolger der Kaiser zu erkennen gegeben hatten, und heute vermuten viele,
dass erst dadurch der Splitter Karhirs Get zum Aufbruch bewogen hätte.
Die Tage an Bord des Schiffes vergingen nun mit erdrückender
Langeweile. Die vier Gefangenen vertrieben sich die Zeit, indem sie versuchten
sich Spiele auszudenken, die sie bei Laune halten konnten. Über die
nahe Zukunft machten sie sich kaum Gedanken, da sie nicht einschätzen
konnten, in was für einer Lage sie am Ende der Schiffsreise sein würden.
Jorin stellte sich während der langen Gespräche als ein
guter treuer Freund heraus. Er war ein einfacher Seemann von einfachem
Gemüt und einem gesegneten tiefen Schlaf. Schon am ersten Tag der
Gefangenschaft hatte er betont, dass er seinem Meister folgen würde,
wenn es sein müsste bis in den Tod. Get mochte zwar nicht, dass er
Meister gerufen wurde, doch er fand es nützlich, einen weiteren Gefährten
zu haben.
So kam es dann eines Tages, dass ein fetter ungewaschener Mann ihr
Gefängnis betrat und anordnete, die Käfige zu verdecken, damit
niemand sähe, wer drin saß. Da erkannten die Gefangenen
zweierlei. Erstens, dass sie in Kent angekommen waren, und zweitens, dass
sie nicht die einzigen Gefangenen waren, denn im Heck des Schiffes schienen
sich noch weitere Gefangene zu befinden, die sie allerdings bisher nicht
bemerkt hatten.
So wurde ihr Käfig in Dunkel gehüllt und sie bekamen nicht
mit, was ab da an vor sich ging. Sie konnten nur erahnen, dass sie von
einem Kran aus dem Schiff heraus gehoben und auf einen Karren verfrachtet
wurden, der dann durch die Stadt zog.
"Wenn wir bei Fomier sind, überlasst allein mir das Reden.
Und wenn er euch etwas fragt, so antwortet ihm die Wahrheit, in den heiligen
Hallen des Kaisers zu lügen ist wohl die schlimmste Sünde, die
ein ehrenhafter Mensch begehen kann."
Alsbald machte der Karren halt und der Vorhang des Käfigs wurde
weggezerrt.
Sie befanden sich nunmehr in einer großen steinernen Halle.
Mit vier Säulen an jedem Ende aus blauem Marmor und von feinsten Intarsien
geschmückt. An den Wänden hingen kostbare Teppiche, die Szenen
und Heldentaten aus der langen Geschichte des Reiches darstellten.
Doch all diese Pracht wurde überstrahlt von einer aus blutrotem
Holz geschnitzten Tür. Es war eigentlich mehr ein Tor, verziert mit
dem Wappen des Reiches: einem Mond umgeben von zwölf Sternen und unterlegt
mit zwei Schwertern und dem Abbild des Schlosses Karhirs.
Die Tür wurde von zwei Soldaten in voller Rüstung und
mit langen Piken bewaffnet bewacht.
Während die Gefährten angewiesen wurden durch die Tür
zu treten, bemerkte Get, dass die anderen Gefangenen ebenfalls hier waren
und er jeden von ihnen als einen derjenigen erkannte, die mit ihm zum Turpusmarkt
marschiert waren.
Das riesige Tor des Thronsaals wurde von den Wachen aufgeschwungen
und Sonne flutete die Vorhalle.
Als sich Get an das gleißende Licht gewöhnt hatte, begann
der Saal langsam Konturen anzunehmen. Er war ganz in weißem Marmor
ausgekleidet, was seine unnatürliche Helligkeit erklärte. An
den Wänden hingen riesige Porträts der vergangenen Kaiser. Die
Säulen, die einen Kreis um ein gigantisches zapponisches Wappen bildeten,
welches sowohl in die Decke als auch in den Boden gemeißelt war,
strotzten nur so vor Verzierungen und kleinen Anekdoten aus der Geschichte
des Reiches.
Doch das imposanteste war der Thron des Kaisers, der sich wie ein
großer Hügel am Ende des Saals auftürmte. Man musste an
die 30 Stufen erklimmen, bevor man die Sitzfläche, die mit rotem Samt
ausgelegt war, erreicht hatte.
Von ihm aus konnte der Kaiser einst all seine Untertanen überblicken
und ihnen Befehle erteilen. Hinter ihm fiel blaues Licht in den Saal, das
dem ganzen einen mystischen Glanz gab.
"Mein Herr, wir bringen euch die Aufständischen, nach denen
ihr verlangt hattet."
Der Wärter sprach zu einer kleinen unscheinbaren Gestalt, die
auf einem schlichten Lehnstuhl am Fuße des Throns saß.
Der Statthalter war ein kleiner Mann mittleren Alters. Mit fettigen
langen Haaren und einer grimmigen Miene. Er war recht unauffällig
und die meisten hätten ihn für einen dummen Schwachkopf gehalten,
wenn seine intelligenten Augen nicht etwas von Verschlagen- und Gerissenheit
preisgegeben hätten.
Fomier erhob sich. Er war nicht gerade klein, doch im Schatten seiner
hühnenhaften Leibgarde wirkte er verschwindend winzig.
"Seid willkommen, meine hoch verehrten Gäste!" begann Fomier
seine, der Situation unangemessene, Rede.
"Ihr wagt eine solche Anrede?!" fiel Zizam ihm ins Wort, um seine
Taktik sofort zu durchkreuzen und seine Argumente ins Spiel zu bringen.
"Ihr wagt eine solche Anrede, nachdem ihr uns hier ohne jeglichen Grund
hierher verschlepptet und uns nun festhaltet."
"Ohne Grund? Nun, Herr Zizam, meinen Informationen zu folge haben
sie und ihrer Kumpanen einen Aufruhr in Golg erprobt, der das Kaiserreich
auf Grund von geschwächter Verteidigungskraft unserer Festungen in
ernsthafte Gefahr bringen können."
Darauf nahm sich Zizam eine kurze Denkpause. "Dennoch bestand kein
Grund uns hierhin zu bringen, da die Städte Kent und Golg unabhängig
voneinander sind und somit in Golg begangene Straftaten nicht in Kent bestraft
werden können. Daher gedenken wir nun zu gehen."
Als sich Zizam umdrehen wollte, wurden die Tore des Thronsaals verschlossen
und die Leibwache des Statthalters umstellten die kleine Gruppe.
"Unter einer Bedingung!" gab Fomier dramatisch bekannt.
"Ihr, Zizam, und euer Freund Get, dürfen die Stadt nicht verlassen,
bis ich es erlaube."
Zizam nickte ihm kurz zu, drehte sich auf der Stelle herum und verließ
den Thronsaal an der Spitze seiner verdutzten Gefährten.
"Hätte nicht gedacht, dass wir dort so schnell hinauskommen."
"Das war zu erwarten, Fomier weiß, was er tut."
Ein Diener bat die Gruppe in einen kleinen Nebenraum der Vorhalle,
wo sie ihre Wertsachen vorfanden und sich ihnen nahmen, was ihnen zustand.
"Kapitän Elsmer?" fragte der Diener in die Runde.
"Der bin ich", gab der Seebär als Antwort.
"Euer Schiff liegt gut vertäut und sicher im Stadthafen." Er
überreichte ihm einen kleinen Zettel. "Zeigt dies vor und ihr werdet
es zurückerhalten.
Wenig später traten sie aus dem Palast heraus auf einen großen
Vorhof. Unter ihnen erstreckte sich ein Meer aus Häusern. Es reichte
bis an den Horizont und noch weit darüber hinaus. Es war ein Gewirr
aus Gebäuden, Gassen, Hauptstraßen, das keinerlei Ordnung zu
folgen schien sondern einfach nur nach unbestimmten Regeln die Ebene überwucherte.
Get fragte sich wie viele Menschen hier wohl leben mochten. Er hatte
nicht erwartet, dass überhaupt so viele existierten.
"Seht nur, so sehen 15 Millionen Menschen aus", sagte Zizam sichtlich
beeindruckt.
"Immer wieder ein beeindruckender Anblick, nicht wahr?" träumte
Kapitän Elsmer vor sich hin. Hinter ihnen erklang ein Rufen.
"Halt, wartet!" Ein Gesandeter des Statthalters kam zu ihnen auf
den Hof gelaufen.
"Beim Bart von Baal! Es wäre auch zu schön gewesen, wenn
wir einfach so davongekommen wären", murrte Pret vor sich hin.
Der Bote kam über den glatten Marmorboden des Hofes schlitternd
zum Stehen und gab mit einer Verbeugung einhergehend kurzerhand bekannt,
dass die Herren Zizam Machthand und Get Uniton, samt Begleitung, am nächsten
Abend zu einer kleinen Feier anlässlich des achtzehnten Geburtstages
seines jüngeren Sohnes Lupus Eludo eingeladen seien und ihr Kommen
ausdrücklich erwünscht sei.
"Richtet Fomier aus, dass es uns eine große Ehre sein wird,
an seiner Feier teil zu haben."
Ohne weitere Worte rannte der Bote eilends über den Hof zurück
durch den riesigen Palasteingang, um Bericht zu erstatten.
Die Gruppe durchschritt darauf das Tor der Mauer, die den
Palast vor möglichen Angriffen aus der Stadt heraus schützen
sollte, und wandte sich sicher von Zizam geführt einer Hauptstraße
zu.
"Ich wurde nicht namentlich erwähnt" gab Pret betrübt
von sich.
"Mach dir keine Sorgen, Pret. Auch dein Name wird bald bei Hofe
und im ganzen Volk in aller Munde sein. Verlass dich drauf", sprach Zizam
aufmunternd.
"So, und wie sieht dein Plan aus? Hoffentlich beinhaltet er eine
ordentliche Tracht Prügel für diesen schleimigen Fomier! Richtig
widerlich, der Kerl", feixte Pret.
"Nein!" lachte Zizam laut aus. "Zumindestens nicht direkt. Aber
vielleicht ergibt sich ja eine Gelegnheit für dich."
"Sehr gut, darauf freue ich mich schon. Nur, was gedenkst du denn
stattdessen zu tun?"
"Nun, zunächst sollten wir Gets Onkel besuchen."
Die beiden jungen Gefährten blickten sich verdutzt an, während
Zizam und die Schiffscrew unbeirrt ihren Weg Richtung Stadtzentrum nahmen.
© Adlers
Auge
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