Das
Geheimnis des Zeng
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Brief 1: Ein Relikt aus alter Zeit |
Werter Freund, lieber Nando, mir zittern vor Aufregung die Hände, so unglaublich ist die Entdeckung, die ich gemacht habe! Meine Gedanken schwirren und stürzen durcheinander. Wie soll ich nur diesen Brief zu Papier bringen, wo ich kaum die einzelnen Buchstaben aneinander reihen kann? Am besten, ich beginne am Anfang. So kann ich während ich schreibe meine Gedanken ordnen und sehe vielleicht selbst etwas klarer. Doch wo beginnen? Wo ist der Anfang? Es sind viele Mondläufe vergangen, seit Du unsere Scolare verlassen hast, um auf dem Gut Deiner Familie zu leben. Vielleicht haben sich Deine Interessen bereits ganz anderen Dingen zugewandt, der Landwirtschaft oder der Pflanzenkunde, die Du schon in Deiner Zeit am Rekall-Kolleg so geliebt hast, daß in Deinem Geist gar kein Platz mehr ist, für die merkwürdigen Dinge, von denen ich Dir erzählen muß. Du erinnerst Dich doch an unsere zahllosen Gespräche über das Dunkle Zeitalter? Einzig Sagen und Legenden künden von dieser Epoche, von dem Ersten Königreich, das bereits vor Anbeginn unserer Zeitrechnung unterging. Doch nicht ohne stumme Zeugen zu hinterlassen. Aus Steinen gefügte Straßen in der Wildnis, Ruinen, von Wäldern überwuchert, Reste einstmals gewaltiger Mauern auf den Rücken mancher Berge. Wie großartig muß ein Volk gewesen sein, das – ohne über Magie zu verfügen - solche mächtigen Bauwerke schuf, die selbst nach zweitausend Jahren Verfall so eindrucksvoll aussehen! Mit den herkömmlichen, magischen Mitteln der Forschung - der Geisterbeschwörung, dem Kristallsehen oder dergleichen – lassen sich die Rätsel dieser fernen Vergangenheit nur unvollkommen oder gar nicht lösen. Aber es gibt dennoch Mittel und Wege... Die Relikte der Altvorderenzeit faszinieren mich schon seit Kindertagen. Es gibt in der Nähe meines Heimatortes einen großen, fast kreisrunden See mit trübem, braunschwarzem Wasser, der von einem nicht minder düsterem Turm aus der alten Zeit beherrscht wird. Er ragt in beeindruckender Höhe aus den Fluten und übte auf uns Knaben eine gewaltige, wenn auch von Furcht beherrschte Anziehungskraft aus. Eines Tages bin ich mit drei Freunden zum Beweis unseres Mutes und unserer Kühnheit zu diesem Turm gerudert. Durch eine schartenartige Maueröffnung stiegen wir hinein. Wir standen auf einer Treppe, die in die schwarzen Fluten des Sees hinabführte. An den Wänden zogen sich Algen, Moos und Schimmel empor. Unter dem grünlichen Schleim blitzten hin und wieder Farben alter Wandmalereien hindurch, Reste von Darstellungen hochgewachsener Menschen, Pferden und monströser Wesen. Die Stufen waren glitschig und führten nach oben zu einer undurchdringlichen Barriere aus herabgefallenen Steinen. Wir bezahlten diesen abenteuerlichen Ausflug mit einer gehörigen Tracht Prügel unserer Eltern und mit zwei Tage bettlägrigem Unwohlseins, von der schlechten Luft, die wir dort eingeatmet hatten - und er brachte uns Monate langen, bewundernden Respekt unserer Spielgefährten ein. Seit dieser Zeit jedoch ließ mich die Sucht, mehr über die Menschen, die einstens dieses Bauwerk errichteten und mit geheimnisvollen Darstellungen ihrer Welt schmückten, nie wieder los. Seit Jahren studiere ich die alten Sagen und Legenden, die Mythen, jeden Bericht in den Bibliotheken der Akademien, der sich mit dieser vergessenen Zeit beschäftigt, Reiseberichte von Diplomaten und Handelsfahrern, Kriegstagebücher von Offizieren und alle Karten, derer ich habhaft werden konnte. (Wie hast du diesen meinen Eifer so oft belächelt und als "Spinnerei" abgetan!) In all diesen Dokumenten suchte ich nach Hinweisen über die Relikte aus dem Ersten Königreich. Viele davon sind in unserer Zeit bereits verschwunden. Ich trug sie in eine Landkarte ein und verschaffte mir so eine schwache Vorstellung davon, wie unser Land im Dunklen Zeitalter wohl ausgesehen haben mag. Der Zufall bescherte mir eine Erkenntnis ganz anderer Art und eröffnete mir den Blick für eine völlig neue Methode, dem Geheimnis des Ersten Königreiches auf die Spur zu kommen. Als ich in Keryan den Arbeitern beim Ausschachten eines Fundamentes für einen neuen Valis-Tempel zuschaute, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Männer wühlten sich am Grunde der Baugrube durch eine fast einen Fuß dicke schwarze Schicht. Ist Dir schon einmal aufgefallen, dass es diese Schicht überall gibt? In jeder tiefen Baugrube, in jedem Schacht, in jedem Brunnen? Manchmal ist sie kaum einen Fingerbreit stark, manchmal bis zu drei Fuß. Diese schwarze Erde sieht nicht nur aus, wie Asche, es ist Asche. Die Asche jenes unfassbaren Feuers, in dem das Alte Reich unterging! Eigentlich ist es logisch. In der Nähe von Keryan vermutete ich eine Siedlung der Alten, in der Gemarkung Berrhysia. Es dauerte ein dreiviertel Jahr bis unser Fürst mir die Erlaubnis gab, dort meinen Forschungen nachzugehen und nach den Resten dieses Ortes zu graben. Wir begannen unsere Arbeit bei einem Hügel, den die Bauern hier als Geisterort verschreien. Vier lange Monate wühlten wir uns durch den Boden und förderten außer der allgegenwärtigen Asche nur Steine, Scherben und verrottete Metallteile zu Tage, mit denen niemand etwas anzufangen wußte. Es war ernüchternd! Doch dann stießen wir auf IHN. Zuerst war ER nur ein blaß gelbliches Hindernis, wie ein glatter, großer Stein, an dem ein Arbeiter seine Schaufel zerbrach. In dem Bemühen, dieses Ärgernis zu beseitigen, versuchten wir, es auszugraben. Der "Stein" nahm kein Ende. Er wuchs beständig, je mehr wir freilegten; bekam Auswüchse, Beulen, Grate, Dornen, und Höhlungen und dann längte er sich um fünf Ellen und wir fanden Zähne, die in der Länge zwischen der meiner Hand und meines Unterarmes variierten. Es war der Schädel eines riesigen Tieres! Fieberhaft arbeiteten wir weiter. Nach und nach kam ein Teil des gigantischen Wesens ans Licht. An den Schädel, der - jetzt vollständig freigelegt - in etwa die Größe eines kräftigen Pferdes hat, schließen sich mit Dornen gespickte Wirbel an, jeder so groß wie ein zehnjähriger Junge, Rippen, die bequem als Türeinfassung dienen könnten, säulenförmige Gliedmaßen und Klauen wie Säbelklingen. Dazwischen lagen Schuppen, gut doppelt so groß wie meine Hand, die farblos waren, aber mit irisierendem Glanz schimmerten. Das merkwürdigste aber waren die gewaltigen Schulterblätter, die jeweils zwei Gelenkpfannen aufwiesen. Dieses Ungeheuer mußte sechs Gliedmaßen gehabt haben, vermutlich war es mit Flügeln ausgestattet. Gefunden haben wir diese Knochen nicht. Nie habe ich ein ähnliches Geschöpf gesehen! Nie habe ich in einem der vielen Reiseberichte von etwas derartigem gelesen! Was meinst Du, könnte es sich bei diesem Wesen um einen dieser sagenhaften Drachen handeln? Wie heißt es doch in diesem alten Lied? ...Schwingen der Nacht
Den genauen Text weiß ich nicht mehr. Ich müßte in den verstaubten Regalen der Bibliothek auf die Suche gehen und die Bibliothek steht mir hier nicht zur Verfügung. Die Büchersammlung, die hier in Keryan diese hochtrabende Bezeichnung trägt, ist dieses Namens nicht wert. Wenn mein Gedächtnis doch nur nicht so eine elende Rumpelkammer wäre! Viel Hilfreiches zur Beschreibung eines Drachens bietet dieser Erinnerungsfetzen auch nicht, außer, dass er geflügelt ist. Ich bin gespannt, wie das Skelett aussieht, wenn wir es ganz frei gelegt haben. Wenn es tatsächlich ein Drache ist, den wir gefunden haben... Wenn die alten Sagen, die so verlachten Kindermärchen, mehr Wahrheit enthalten, als sich die klügsten Gelehrten je träumen ließen... Unsere Geschichte müßte völlig neu geschrieben werden! Wie gut, dass ich Dir davon schreiben kann. Du wirst dieses Wissen nicht mißbrauchen, nicht wahr? Von allen Personen, die ich kenne, bist Du der einzige, der selbstlos genug ist, sich meine Geschichte anzuhören, ohne meine Schlußfolgerungen manipulieren oder daraus seinen persönlichen Vorteil ziehen zu wollen. Es ist mir wichtig, meine Entdeckung zu teilen. Falls etwas geschieht... falls mir etwas zustoßen sollte... nun ja, ich möchte, dass diese Erkenntnisse nicht verloren gehen. Ich kann jetzt nicht weiter schreiben. Meine Gedanken beginnen wieder, durcheinander zu wirbeln. Es ist Zeit, mich zur Ruhe zu begeben. Vielleicht noch nicht gleich. Ich werde noch einen Spaziergang unternehmen. Die Nachtluft wird mir gut tun. Die Sichel des zunehmenden Mondes und ein prachtvoller Sternenhimmel tauchen das ganze Gelände in ein silbriges, unwirkliches Licht. Ich möchte dem Drachen noch einen Besuch abstatten. Es grüßt innerlich aufgewühlt und in der Hoffnung auf baldige Antwort Dein Verus di Sagittarius
© Beate
Sass
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