Das Geheimnis des Zeng von Dagmar Scheider und Beate Sass 
Brief 2: Verraten und verkauft

Verehrter vermisster Verus!

Wie habe ich mich gefreut, als mir der Bote Deinen Brief überbrachte. Ich hatte in meiner momentanen Lage nicht gewagt, auf so einen Lichtschimmer zu hoffen.

Was Du schreibst ist unglaublich. Zuerst dachte ich, Du erlaubst Dir mit mir einen Deiner ausgeklügelten Scherze. Nachdem ich Deinen Bericht nun aber mehrmals gelesen habe, glaube ich Dir, Hast Du die Folgen Deiner Entdeckung bedacht? Bei allen verehrungswürdigen Ahnen, mir schwirrt der Kopf - eine ganz neue Sicht auf unsere  Vergangenheit! Höre, das wird einigen Gelehrten und Priestern nicht gefallen. Sei also, um aller guten Geister Willen, ganz vorsichtig. Halte Deine Arbeiter zu Stillschweigen an. Es wäre mir gar nicht recht, wenn der verehrungswürdige Herr Sagittarius – wie durch Zauberhand – urplötzlich vom Erdboden verschwunden wäre.

Am liebsten würde ich meine Sachen packen und zu Dir reisen. Doch leider hält mich das Schicksal auf Burg Minck fest. Ja, Du hast richtig gelesen. Ich weile derzeit an diesem sagenhaften Ort. Jetzt willst Du sicher wissen, wie ich hierherkomme.

Nun, ich habe Dir ja schon öfters von meinem Oheim erzählt, diesem lebensuntüchtigen Vorstand unserer einstmals mächtigen Familie! In einem Anfall von Tatendrang  (weniger Schaden richtet er an, wenn er lethargisch ist und unsere letzten Ersparnisse vertrinkt) - wollte er unsere Finanzen aufbessern, ausgerechnet mit Glücksspiel! Ich törichter Tropf  begleitete ihn in das Haus der Spiele, um das Schlimmste zu verhindern.  Ich hätte es besser wissen müssen! Zunächst gewann der Oheim. Dann wurde er leichtsinnig und verlor so nach und nach unseren Stammsitz, sämtliche Ländereien und setzte zum Schluss noch den Schmuck meiner Mutter ein! Inzwischen hatten alle anderen Mitspieler aufgegeben, bis auf einen, der sich von den immer höheren Einsätzen nicht schrecken ließ. Dieser Spieler war in schwarzes Tuch gekleidet, das seine hagere Gestalt fast vollständig verhüllte. Das schmale Gesicht wurde von brennend-schwarzen Augen beherrscht. Seine Blicke, die er mir hin und wieder zuwarf, ängstigten mich. Dennoch, ich konnte meinen Oheim nicht  zurückhalten. Ich flehte ihn an, mit mir zu gehen. Wir hatten nichts mehr zu verlieren. Da mischte sich der Fremde ein: "Ist der Jüngling Euer?"  Mein Oheim nickte so fleißig, dass ich ihn am liebsten erwürgt hätte. Wie konnte er es wagen?  "Nun, setzt ihn! Ihr könnt Euren gesamten Besitz zurückgewinnen:  Ich setze das alles, gegen den Jüngling da." Ich bekam vor Empörung kein Wort heraus. So stand ich ungläubig hinter dem Stuhl meines Oheims, sah gebannt auf die Karten die er bekam – er hatte wirklich gute Karten – und musste dann zusehen, wie der unheimliche Fremde  jede einzelne Karte überbot. Ich kann Dir mein fassungsloses Entsetzen nicht beschreiben! Wir verloren! Viel zu schnell lag die letzte Karte auf dem Tisch und die grausame Wahrheit wurde offenbar. Mein Oheim hatte mich verspielt!

In den ersten bangen Sekunden hoffte ich, dass der Fremde mich großzügig frei geben würde,  sagen würde, das Ganze sei ein Scherz gewesen. Da kannte ich ihn noch nicht. Nicht so wie jetzt. Er ließ den Oheim in seiner Verzweiflung einfach am Spieltisch sitzen , und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Was dann geschah weiß ich nicht richtig zu beschreiben. Rhadun Rhadamus Ohub ark Norkam, so lautet sein Name, bedeutete mir, mich in ein kutschenähnliches Gefährt zu setzen. Das "Ding" setzte sich ohne sichtbare Zugtiere in Bewegung, und erreichte eine atemberaubende Geschwindigkeit. Ich sah die Landschaft nur so meinem Auge vorbeifliegen. - Nach einer, wie mir schien, endlosen Fahrt, erreichten wir Burg Minck. Wir allekennen die Beschreibungen, die es von diesem sagenumwobenen Gemäuer gibt. So einzigartig in seiner Schönheit, musste ich es  natürlich erkennen. Das Gefährt wurde langsamer, rumpelte mit einem hohlen Gepolter über die Zugbrücke und kam zum Stillstand. Vor meinen Augen eröffnete sich der Burghof. Mir schien es beinahe so, als ob wir erwartet würden, denn der Hof war gedrängt voll mit Menschen. Aus der Menge löste sich ein großer, kräftiger Mann, dessen Gesichtszüge unter einem mächtigen Bart verborgen waren. Er verneigte sich ehrerbietig. "Seid willkommen, Ohub, Herr über alles was wir lieben!" Neugierig hefteten sich seine schlammfarbenen Augen auf mich.

"Brenhid, Hüter alles Bewahrenswerten, geleite den Bohud von Doun in seine Gemächer." Inzwischen glotzten mich alle mit mehr oder weniger Gier in den Augen an. Am liebsten hätte ich mich unsichtbar gemacht. Ich folgte Brenhid in das Haupthaus. Nun bekam ich einen kleinen Teil der Burg zu sehen. Hohe, riesige Hallen, mit Kaminen in denen ganze Ochsen gebraten werden könnten, Treppenfluchten, die scheinbar ins Unendliche führen, gemütliche Erker mit Fenstern, die einen Blick auf unser wunderschönes Land eröffnen. Ich musste mich sehr zusammennehmen, um nicht wie ein Bauernbursche mit offenem Mund alles anzugaffen.

Jeder der Räume, selbst die Flure sind über die Maßen üppig ausgestattet.  Endlich gelangten wir in einen separaten Bereich. Inzwischen weiß ich, dass es einer der vier Türme der Burg ist. Darin habe ich meine Räume. Du liest richtig - der arme Studiosus, der zu Mittag überlegen musste, ob er sich einen Becher Wein zum Essen leisten kann, oder doch lieber nur Wasser bestellt, um die Miete für sein kleines Zimmerchen bezahlen zu können, hat nun ein Schlaf-, ein Studier- und - das größte Wunder von allen - ein Badezimmer. Du weißt ja, wie ich es genieße zu baden, allein bei dem Gedanken daran fange ich an zu "schnurren", wie Du meine Laute des Wohlgefallens zu bezeichnen pflegst.

Kaum war Brenhid verschwunden, als der Ankleidespiegel plötzlich zu flimmern begann und Rhaduns Bild erschien, das zu mir sprach: "Das ist Dein Reich. Hier kannst Du schalten und walten wie Du willst. Was Du brauchst werde ich Dir bringen lassen. Du musst es nur sagen." Er sah mich durchdringend an. "Ach und zieh diese Fetzen aus. Wenn Du gebadet hast, wird Dir der Diener anständige Gewänder bringen." Zu meinem Ärger lief ich rot an. Ich bin mir durchaus meiner abgetragenen Kleidung bewusst gewesen.  Erst recht in dieser prächtigen Umgebung. Und es grämte mich, dass ich mich dafür schämte. "Wenn Du fertig bist, komm in mein Studierzimmer. Hadrian zeigt Dir den Weg." Wie aus dem Boden gewachsen, stand auf einmal ein Herr mittleren Alters im Raum, sehr distinguiert aussehend. Das sollte mein Diener sein? Meine Güte, der wirkte weit vornehmer, als ich es je sein könnte. Inzwischen weiß ich, dass Hadrian eine Seele von Mensch ist, noch nie habe ich einen freundlicheren Mann kennen gelernt. Er hat mir sehr geholfen mich hier einzuleben.

Nach meinem ersten Bad - welch Luxus, mit Duftölen! - wurde ich, eingehüllt in einen bodenlangen samtig roten Hausmantel, mit feinen Lederpantoffeln an den Füßen, in Rhaduns "Allerheiligstes" geführt. Dieser Raum wäre sicher ganz nach Deinem Geschmack. An sämtlichen Wänden, bis unter die hohen Decken, Bücher, Bücher, Bücher! In der Zimmermitte ein Arbeitstisch, der überquillt von Destillierkolben, Glasphiolen und Mörsern. Von der Decke hängen getrocknete Kräuter, vor dem Fenster steht ein Fernglas, mit dem man des Nachts die Sterne betrachten kann. Und das ist längst nicht alles. Tief in einen Ohrensessel vergraben saß Rhadun, und starrte in die Flammen, die im Kamin loderten. Der Raum war dadurch gemütlich warm. "Da bist Du ja. Erzähl mir von Dir!"  Schwarze Augen, Augen wie Kohlen durchbohrten mich. Tasteten meine schlanke Gestalt ab, glitten über mein langes Haar. Trotz meines Mantels fühlte ich mich nackt und unwohl. Abrupt wandte er den Blick ab. Der Bann war gebrochen. Auf einen Fingerzeig hin, ließ ich mich ihm gegenüber nieder und begann zu reden. Auch von meinen Studien in Skaridien - meiner Liebe zur Natur, Heilkunde und der Kunst, - da unterbrach er mich, und fragte nach Dir!! Er kenne einen Verus di Sagittarius, einen Gelehrten, der auch in dieser "Neuweltscolare" (so sagte er) studierte und  lehrte. Hoffentlich habe ich keinen Fehler begangen., als ich ihm von dir vorschwärmte. Mich beruhigt der Gedanke, dass Du mit Deinen Fähigkeiten durchaus in der Lage bist, selber auf dich  acht zu geben.

Ganz nüchtern betrachtet geht es mir so gut wie es mir seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr gegangen ist. Aber ich fürchte mich, Verus. Ich fürchte mich entsetzlich. Zunächst stürmten die vielfältigen Eindrücke dieser mit Reichtümern vollgestopften Burg auf mich ein. Inzwischen konnte ich mir meine Umgebung genauer ansehen. Hadrian begleitet mich des öfteren. Ob er zu meiner Bewachung oder zu meinem Schutz nicht von meiner Seite weicht, kann ich nicht sagen. Auf kunstvoll gefertigten Wandteppichen sind Szenen von höfischem Leben, der Jagd und rauschenden Bällen dargestellt. Auf fast jedem Bild ist Rhadun zu sehen. Mir ging erst nach einer ganzen Weile der Betrachtung auf, was Rhadun da jagte. Es waren Elfen! Dieselben Elfen tauchten als Gefangene am Rande eines Balls auf, grausam an ein eigenartiges Gestell gefesselt und dem Spott der Gäste ausgesetzt. Mir taten die wunderschönen Geschöpfe Leid. Das muss Hadrian bemerkt haben. Er versuchte, mich schnell aus dem Saal zu lotsen. Aber da hatte ich ES schon entdeckt. Einen prächtigen Kerzenhalter in Form eines blühenden Strauchs. Ich trat näher, um zu sehen, wie die tulpenförmigen Blüten gemacht waren. Je genauer ich hinsah, desto mehr weigerte sich mein Verstand, zu erkennen, was ich da sah! Jedes einzelne Blütenblatt war ein Elfenohr!! Mir drehte sich der Magen um. Tränen traten mir in die Augen. Behutsam nahm mich Hadrian am Arm. Er brachte mich in Meine Räume. Er erzählte mir, dass Rhadun nicht immer so grausam gewesen sei. Aber in den letzten Jahren schien sein Hass auf alles Leben außerhalb der Burg stetig gewachsen zu sein.

Aber - auch ich komme doch aus der anderen Welt!

Was will Rhadun von mir? Keinen Moment vergesse ich, dass ich sein Eigentum bin. Und doch... Ich lebe jetzt schon einige Mondläufe in dieser Burg, und sein Verhalten mir gegenüber ist immer gleich freundlich.

Für Dich habe ich ein wenig in den Bücherschätzen gestöbert, und einiges kopiert, was ich zum Thema Drachen finden konnte. Das Gedicht, dessen Fragment Dir im Gedächtnis geblieben ist, konnte ich zwar nicht entdecken, dafür aber etwas anderes. Ein Auszug der mir besonders gefallen hat, will ich gleich hier wiedergeben, denn er zeigt ein ganz anderes Bild der Drachen. Es ist eine freie Übersetzung von mir aus der Akibasprache. Aber ich denke, ich habe den Sinn herausgearbeitet:

Das Wunder kam in Gestalt eines schillernd geschuppten, flügelschlagenden Zeng (ich würde das Zeng übersetzen, und denke damit ist "Drache" gemeint) über uns. Mit feurigem Atem löschte er Seuche und Unrat von der gequälten Erde, auf dass Neues und Gutes gedeihen konnte. So wurde das "Alte Volk"  zum zweiten Mal errettet.

Na, was hältst  Du davon? Ein Drachenheiler!

Oh, mein Lieber,  ich bin traurig. Ich hatte meinen ganzen Mut zusammengenommen und habe den Ohub darum gebeten, mich für einige Tage zu Dir reisen zu lassen. Zu gerne wäre ich bei der Grabung dabei. Kannst Du Dir vorstellen, dass man das schlichte Wort "NEIN" mit solcher Intensität aussprechen kann, dass der Abgewiesene sich fühlt, als ob ein Flammensturm über ihn hinwegfegen würde? Zwar hatte ich mir schon gedacht, dass mein Wunsch nicht gerade Begeisterung auslösen würde, aber diese wütende Leidenschaft! "Die Straßen sind im Moment nicht sicher. Du bleibst hier." (Wann sind die Straßen je sicher?) Zu mehr Erklärung ließ sich der "Herrscher über alles Liebenswerte" nicht herab. Nun, zumindest ist mir nicht verboten, Dir zu schreiben. Und dieses Privileg will ich nutzen, so gut ich kann. Schreib mir, was sich bei Dir ereignet hat. Ich bin so sehr gespannt darauf.

Ich hoffe, meine Zeilen erreichen Dich bei guter Gesundheit.

Es grüßt Dich, nach Neuigkeiten gierend, immer noch Dein "Nando"

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Nandorian Bohud von Doun, ark Norkam  (Das muß jetzt dazu "dank" meines Oheims.)
 

© Dagmar Scheider
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Und schon geht's hier weiter zum 3. Brief

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