Das Geheimnis des Zeng von Beate Sass und Dagmar Scheider
Brief 3: Der Alb

Mein lieber, guter Nando!

Was sind das für Dinge, die ich lesen muß! Ich wähnte Dich bei einem beschaulichen Leben auf dem Gut Deiner Familie, gemäß den Plänen, die Du bei unserem Abschied geschmiedet hast. Ist denn gar nichts von dem, was Du Dir gewünscht hast, Wirklichkeit geworden? Gleichzeitig regt sich in mir die Scham, daß ich über viele Mondläufe nichts von mir hören ließ und viel zu gefangen war in meinen eigenen Träumen und Sehnsüchten. Sag, lieber Freund, kann ich Dir irgendwie zur Seite stehen? Dein Brief macht mir wenig Hoffnung, daß es irgendeinen Sinn hat, Deinem Ohub den Preis anzubieten, für den Dein Onkel Dich gezwungen hat geradezustehen. Es muß doch ein Gesetz geben, das es Dir erlaubt, Dich freizukaufen! Das Geld ließe sich schon auftreiben! Warum nur hast Du nicht schon früher geschrieben? Bei Beligar, Du hättest....!!! - Ach, lassen wir das! Es hat keinen Sinn, über vergossene Milch zu klagen, wie das Sprichwort sagt. Ich will mich jetzt nicht aufregen; nicht darüber. Du hattest bestimmt Deine Gründe.

Wie lange weilst Du schon auf  Burg Minck? Mein lieber Freund, Du hattest Glück im Unglück! Burg Minck dürfte wohl einer der interessantesten Orte der Welt sein, ein Hort des Wissens. Es gibt wenig verläßliche Informationen darüber. Nur wenigen ist es vergönnt, die Burg zu betreten und noch wenigeren, anschließend darüber zu berichten. Die Umstände, wie Du dorthin gelangt bist, mögen arg und sehr demütigend für Dich gewesen sein, doch Du erhältst dafür mehr als Du es Dir jetzt vorzustellen vermagst. Ich beneide Dich. 

Rhadun Rhadamus ist mir durchaus ein Begriff. Vor etwa elf  Jahren, als ich noch ein Studiosus im letzten Jahr am Rekall-Kolleg war, und er an der altehrwürdigen Elorys-Akademie, sind wir in einem heftigen Disput über das Wesen der Magie aneinander geraten und hatten uns seither nicht mehr viel zu sagen. Im Gegensatz zu ihm kann ich nicht glauben, daß es allein Magie  sein soll, die das innere Wesen dieser Welt bildet. Wie sollte sonst das Erste Königreich zu so beeindruckender Größe aufgestiegen sein? Er wird weder mich noch meine Ansichten sonderlich mögen. Die despektierliche Bezeichnung "Neuweltscolare" für unser Kolleg spricht Bände. Es gibt nicht viel, was ich Dir über ihn erzählen kann. 

Er gilt als ein Anhänger der "alten Schule". Über Jahrhunderte fließt die Magie in den Adern seiner Familie, von Generation zu Generation mächtiger durch kluge Zuchtauswahl; Wissen, weitergegeben im Geheimen. In seinen Augen ist Wissen, jede Art von Wissen ein Privileg, das nur den Magiern als den wahren Weisen zusteht. Eine Ansicht, die ich nicht teilen kann. Seit vier Generationen fließt die Magie in meiner Familie und ich bin zurecht stolz auf diese Blutlinie. Doch es waren andere Eigenschaften, die meine Vorfahren auszeichneten. Krieger und Schriftgelehrte, Musiker und Priester  waren unter ihnen - gute, wertvolle Menschen, jedoch ohne magisches Verständnis, die allzu oft im Schatten weniger talentierter Magier bleiben mußten. Der edle Rhadamus hätte sie nicht einmal angeschaut. Doch er scheint sich sehr geändert zu haben, seit jener Zeit, da ich ihn zuletzt sah. Was schreibst Du da über die seltsamen Neigungen Deines Ohub? Er jagt Elfen? Und behält ihre Ohren als Trophäe? Das ist entsetzlich, schockierend! Diese Barbarei sieht dem stolzen, so auf seine Abstammung und seine Kunst bedachten Mann, mit dem ich mich einst gestritten habe, gar nicht ähnlich! Diese scheuen Geschöpfe des Zwielichts sind so selten geworden in unseren Landen! - Fast möchte man meinen, dass sich die magisch begabten anderen Rassen (auch ohne diese Gefahr) um so weiter zurückziehen, je stärker die Magie in den Adern der Menschen fließt.

O ja, mir ist durchaus bewußt, daß meine Worte - und mein Fund - schon an Ketzerei grenzen. Ja, mein werter Freund, ich bin mir der Gefahr bewußt, aber ich werde ihr mutig entgegen treten... müssen. Unser Fund hat viele Leute auf den Plan gerufen, die ebenso neugierig wie störend unsere Arbeit beobachten. Diese Gaffer verfolgen mich bis in den Schlaf, ständig habe ich das Gefühl, dass mir irgendwer über die Schulter schaut.

Vielen Dank für die Kopien, die Du mir geschickt hast, ich bin noch damit beschäftigt, sie in Ruhe zu studieren. Die Informationen sind seltsam widersprüchlich. Vermutlich beziehen sich die Verfasser auf sagen- oder märchenhafte Überlieferungen. Kaum etwas scheint wirklich fundiert zu sein. Zu dumm, daß kaum ein geschriebenes Wort die Zeiten seit dem Untergang des Ersten Königreiches überdauert hat. Das wenige, was uns überliefert ist, wurde immer wieder kopiert und auf diesem Wege oftmals verändert. Dinge wurden hinzugefügt, andere weggelassen, wieder anderes wurde mißverstanden und verfälscht weitergegeben. Ähnliches mag mit den Zeilen geschehen sein, die Du in Deinem Brief mitgeteilt hast. Es ist höchst interessant, daß sie aus der Sprache der Akiba stammen. Dieses Volk hat viele Gelehrte hervorgebracht. Kennst Du den Namen des Verfassers und den Titel der Schrift? Auch bin ich mir über die Bedeutung des Wortes "Zeng" nicht sicher. Ein ungewöhnlicher Begriff! Aber vielleicht hilft er, das Wesen unvoreingenommen zu betrachten, losgelöst von dem Bild, das wir gewöhnlich mit dem Wort "Drachen" verbinden. Ich werde ihn fortan bei diesem Namen nennen.

Im Gegensatz zu Dir glaube ich nicht, daß  in diesem Text ein Drachenheiler beschrieben wird. Vielmehr kommt es mir vor, wie eine Passage aus einem religiösen Text, einer Art Schöpfungsmythos. Der Welterschaffer bedingt einen Weltzerstörer, der die Schöpfung von der Krankheit des Bösen befreit und das auserwählte Volk rettet. Sollten die Drachen (oder Zeng) einst so etwas wie Götter gewesen sein - oder den Göttern beigeordnet? Eine merkwürdige Vorstellung, einen Gott auszugraben! Obwohl... diese Knochen sind eines Gottes würdig.

Wir haben das Skelett jetzt vollständig frei gelegt. In seiner gesamten Länge mißt es fünfzig Schritte, wobei die letzten Schwanzwirbel nicht erhalten sind. Ich habe einen Zaun um die Grabung errichten lassen, um die Neugierigen auf Abstand zu halten. Trotzdem vergeht kein Tag, an dem nicht irgendeine mehr oder weniger wichtige Persönlichkeit auftaucht und eine Führung verlangt. Wenn ich von jedem ein Entgelt von nur einem Dirnim verlangen würde, wäre ich bereits ein wohlhabender Mann. Selbst der Fürst hat sich hierher begeben und die riesigen Knochen einer genauen Inspektion unterzogen und  spekuliert nun, wie er sie in die Hauptstadt schaffen kann, um sie dort auszustellen. Seit gestern schleicht hier Bela Avenarius, der zur Zeit begehrteste Bildhauer des Landes, über das Gelände und überlegt im Auftrag unseres Herrn, wie er das Skelett in ansprechender Weise wieder herrichten kann. Ist es nicht entsetzlich? Alles woran Fürst Geren angesichts dieses Wunders denken kann, ist, wie am besten Gewinn daraus schlagen werden kann!

Sogar wenn ich dies schreibe, sträubt sich mir förmlich die Feder! Allein der Gedanke, ein solches Wesen zur Schau zu stellen, zum Vergnügen und Kurzweil jedes ignoranten Gaffers, der bereit ist, ein paar Münzen dafür auszugeben! Dieses Wesen war so unvorstellbar gewesen, so mächtig, gewaltig, so göttlich - und dann das! Ob diese Zeng beseelt waren? Hatten sie einen Geist, der vielleicht noch immer irgendwo unter uns weilt und Zorn empfindet, weil wir sein Gebein aus dem Erdreich gekratzt haben? Manchmal glaube ich es fast. Nachts!

Es widerstrebt mir, IHN allein zu lassen. Wie viele Tunichtgute, die sich ein kleines Andenken unter den Nagel reißen wollten, habe ich schon davon gejagt! Am Rande der Grabung habe ich ein Zelt errichten lassen, in dem ich arbeite und auch schlafe. Es ist bescheiden unter den hängenden Zweigen einer hundertjährigen Weide plaziert, etwa dreißig Schritte von dem Zeng entfernt, dessen gehörnter Schädel mir freundlich zugeneigt zu sein scheint. Mein getreuer Bursche und Adlatus Grimal sorgt auch hier für mein körperliches Wohl. Er kennt mich nur zu gut und weiß, daß ich die lästigen, kleinen Dinge des Lebens, wie ausreichendes Essen und Trinken leicht vergesse, wenn mich die wissenschaftliche Begeisterung in ihren brennenden Klauen hält. Ohne ihn würde ich wahrscheinlich verhungern ohne es zu merken und würde - schlimmer noch - meine zahlreichen Niederschriften und Notizen ohne einen Findezauber niemals wiedersehen. Leider gibt es auch Dinge, in denen er mir kaum eine Hilfe sein kann. Er ist ein Mensch dessen Ahnenreihe von Magie nicht einmal gestreift wurde. Alles was mit dieser Kunst zusammenhängt bleibt ein tiefes Geheimnis für ihn. Aber er ist ein aufgeweckter Bursche, den ich um nichts in der Welt missen möchte.

In letzter Zeit schlafe ich sehr schlecht und das ist nicht allein diesem gräßlichen Feldbett zuzuschreiben. Manchmal kommt es mir vor, als täte ich kaum die Augen zu. Verstörende Träume fallen über mich her, kaum daß ich mich niedergelegt habe, und lassen mich aufschrecken und nach Luft schnappen. Wer es ist, der mich Nacht für Nacht heimsucht, weiß ich nicht zu sagen. Als ich zum ersten Mal den Verdacht hatte, daß diese Träume nicht natürlichen Ursprungs seien, habe ich magische Spiegelfallen um mein Zelt herum aufgestellt. Gestern habe ich sie routinemäßig wieder geprüft, wie jeden Morgen. Mir lief es eisig durch die Adern: Zwei der Spiegel waren in tausend Scherben zersprungen. Im dritten zappelte ein wütender Schatten. Neugierig betrachtete ich den Spiegel. Ein vielarmiges, haariges Geschöpf tobte hinter dem Glas. Als es mich entdeckte, wurde es nahezu rasend. Mit weit aufgerissenen, feurigen Augen und gefletschten Zähnen warf es sich mir entgegen und trommelte in einem Wirbel von schwarzen Haaren, Armen und Klauen gegen das Glas. Der Spiegel läßt keinen Laut nach außen dringen. Gerade die Lautlosigkeit machte diesen Ausbruch so entsetzlich. Bis zu diesem Tag habe ich noch nie einen lebenden Nachtalb gesehen. Es hat mich doch sehr erschüttert. Wer kann ein solches Interesse an mir haben, daß er mir diesen kleinen Dämon auf den Hals hetzt. An sich ist so ein Alb keine große Gefahr. Er nähert sich dem Schlafenden, stört seine Träume und nährt sich von seiner Seelenenergie. Aber beschworen und von einem anderen Willen gesteuert kehrt er immer wieder zu derselben Person zurück und kann durch ein Übermaß an Entzug der Seelenkraft und den Ausdünstungen seiner Anwesenheit seinem Opfer ernsthaft gefährlich werden, es sogar töten. Den Spiegel mit dem gefangenen Alb habe ich sorgfältig weggeschlossen. Ich weiß noch nicht recht, was ich mit ihm anfangen soll. Wahrscheinlich werde ich ihn unserem Magister Daemonis am Kolleg übergeben.

Wenn die Arbeiter nach Hause oder in ihre Baracken gegangen sind, besuche ich IHN, um... nun ja... um so etwas wie stumme Zwiesprache mit IHM zu halten.

Das Licht ist fast zur Gänze geschwunden. Die Knochen scheinen dem Tag nach zu glimmen. Der gehörnte, unförmige Schädel liegt etwas zur Seite, wie bei einem schlafenden Tier. Schatten kriechen über die Höhlungen und Wölbungen, sammeln sich in den Trichtern der Augen und erfüllen das tote Gebilde mit einer Art Scheinleben. Die gekrümmten Stangen des Brustkorbes erheben sich wie ein Hain junger Birken. Die Gliedmaßen, die in ihrer Gestalt an die Klauen von Adlern erinnern und in sichelförmigen, gekrümmten blauschwarzen Krallen so lang wie mein halber Arm enden, wecken die Vorstellung, daß sie sich jeden Moment bewegen könnten, bewegt hätten, mit jeder Änderung der Schatten. In der Stille des vergehenden Tages fühle ich mich dem Zeng besonders eng verbunden.

Im Mondlicht haben diese riesigen Knochen etwas Geheimnisvolles. Der Mond hatte sich während unserer Arbeiten von  einer dünnen Sichel zum fast perfekten Kreis gerundet, der die Nacht mit silbrigem Licht erfüllt. Die Knochen scheinen dieses Licht geradezu aufzusaugen. Wie ein zartes Glimmen liegt es auf dem Gebein. Lockend... Verführerisch... Etwas sehr Seltsames ist hier im Gange, Nando... Es kommt mir vor, als hebe sich dieses Schimmern jede Nacht etwas höher von seinem knöchernen Ursprung und forme langsam einen schemenhaften Körper, so luftig leicht, daß ein Wimpernschlag ihn zerreißt.

In zwei Tagen werden wir Vollmond haben. Ich wage kaum zu hoffen... ob die volle Kraft des Mondes die vollständige Ahnung seines Körpers hervorbringen kann? Oder wird nichts geschehen und die Dinge, die ich wahrzunehmen glaube, sind nur Vorboten eines Wahnsinns? Hat das Gift, das dieser schreckliche Alb in meine Träume geträufelt hat, bereits begonnen, seine Wirkung zu entfalten?

Ich bin müde, mein Freund. Die Tage sind anstrengend, die Nächte zum großen Teil durchwacht und der Schlaf nicht erquickend. Bevor ich mich niederlege werde ich IHM noch einen Gutenachtbesuch abstatten. Die Bewegung und die Luft werden mir guttun.

Schreibe mir bald wieder, Nando. Ich möchte wissen, wie es Dir geht, ob es eine Möglichkeit gibt, Dir zu helfen. Hab Vertrauen in die Zukunft, mein Freund.

Mit den besten Wünschen grüßt und umarmt Dich

Verus di Sagittarius
 

© Beate Sass
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
Und schon geht's hier weiter zum 4. Brief

.
www.drachental.de