Am nächsten Morgen erwachte er, entglitt den wattigen Schichten
des Schlafes und fand sich in der vollkommenen Dunkelheit der Kemenate
wieder. Einzig das fahle Dämmerlicht, das durch die windgebauschten
Vorhänge sickerte, verriet ihm, dass der nächste Tag bereits
begonnen hatte.
Flüchtig warf er einen Blick auf Larannah. Das Mädchen,
das schon fast eine Frau war, schlief noch. Diesmal war er sich sicher.
Sie atmete flach und gleichzeitig, ihre Brüste hoben und senkten sich
unter der dünnen Decke. In dieser Nacht hatte er ihren Körper
liebkost, den Nektar ihrer Süße gekostet, hatte sie geliebt
und mit sanften Fingern gestreichelt. Ihr nussbraunes Haar war fein und
duftete nach Ölen. In einer Ecke des Zimmers brannte noch immer eine
Kerze, die sie letzte Nacht in ihrer Zweisamkeit entzündet hatten.
Vorsichtig erhob er sich, ließ seine Blicke erneut durch den
Raum gleiten, bevor er ihn ohne ein Wort verließ. Er stieg die noch
kühlen Stufen in das Dachgeschoss des Herrenhauses hinauf. Die hölzernen
Stiege knarrten unter seinen Schritten, und hier und da schaute eine Wache
auf und wünschte ihm einen guten Morgen.
Oben angekommen stand er eine Weile im Flur und wartete. Schließlich
hörte er, wie sich einer der Elfen näherte. Arion hatte nicht
gewusst, warum er sich hierher begeben hatte. Irgendetwas hatte ihn gerufen,
ein stilles Flüstern, das nur er vernehmen konnte.
Jetzt wandte er sich dem Boten zu. Der Mann war sehr schlank, beinahe
hager, und trotz seiner Jugend wirkte sein Gesicht eingefallen und ausgezehrt.
Narbengewebe zeichnete seine nackten Arme und Beine. Er trug nur einen
dünnen Lederharnisch und darunter eine waldgrüne Tunika mit dem
Emblem von Andor.
"Was gibt es?", fragte er ohne zu zögern.
"Mylord, die Vyrn", begann er, "haben uns eine Nachricht überbracht!"
Der Bote reichte Arion ein zusammengefaltetes Stück Tierhaut, in das
man mit dem Messer blutumrandete Lettern geritzt hatte. Der Elfenkönig
überflog die Worte. Abwesend fragte er sich, wann die Vyrn endlich
lernen würden, richtiges Pergament herzustellen. Auf der Rückseite
des überbrachten Fetzens wucherte sogar noch der Pelz des Tieres.
Wolf,
schätzte Arion. In den Sichelkämmen gab es viele Wölfe,
und immer wieder trieb es Kojoten aus der Kalrek-Wüste heran.
Schließlich schloss er die Hand ganz um den Lederstreifen.
Er musste sofort mit Larannah darüber sprechen. Und danach würde
er einen Rat einberufen. Das Volk musste umgehend von diesen Neuigkeiten
in Kenntnis gesetzt werden. Das war er den Andorianern schuldig.
Er bedankte sich kurz bei dem Boten und schickte ihn dann davon.
In der Kemenate herrschte noch immer tiefste Stille. Larannah war
erwacht und hatte sich bereits angekleidet. Sie trug ein einfaches Gewand,
das hauptsächlich aus Linnen bestand und hatte sich einen breiten
Ledergürtel um die Hüfte geschnallt. Eine Zofe flocht das Haar
der Königin gerade zu einem Zopf. Es war, als hätte sich Larannah
auf etwas vorbereitet.
Er trat nah an sie heran, ergriff sie sacht am Arm und machte sie
so auf sich aufmerksam. Als sie sich zu ihm herumdrehte, leuchteten ihre
Augen. "Ich hatte einen Traum", flüsterte sie. Dann neigte sie den
Blick. "Sie kommen..."
Einen Moment lang wusste Arion nicht, was er sagen sollte. Indem
er den Kopf schüttelte, versuchte er sich Klarheit zu verschaffen.
"Wer kommt?", fragte er endlich.
Sie packte ihn an den Schultern wie einen ungestümen Jungen.
"Sie!", zischte sie atemlos. Dann sank sie zu Boden, entglitt seinen
starken Armen.
Sofort kniete er sich neben sie. Er war verwirrt. Mehrmals fragte
er sich, was mit ihr geschehen war. "Larannah?" Keine Antwort.
Arion seufzte, warf der Zofe einen fragenden Blick zu. Die junge
Elfe riss die Augen auf, errötete, und verschwand schließlich
raschen Schrittes. Der Elfenkönig wollte ihr soeben hinterher rufen,
stehen zu bleiben, doch da war sie bereits verschwunden.
Erneut wandte er seine Aufmerksamkeit Larannah zu. Unsicheren Blickes
beäugte er ihre Gestalt. In seinem Inneren keimte Angst auf. Hatte
er sie verloren? Hektisch untersuchte er sie, öffnete schließlich
sogar ihre Bluse. In diesen Minuten achtete er nicht auf ihre Brüste,
die neckisch hervorstanden oder ihren Bauchnabel, der verführerisch
lockte. Er suchte nach Schnitten, Wunden, irgendwelchen Verletzungen. Und
als er nichts gefunden hatte, bedeckte er ihre Blöße. Zwar atmete
sie noch...
Auf einmal schlug sie die Augen auf. Der tiefe Glanz war verschwunden,
die aufgeregte Blässe aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Wangen waren
wieder rosig. Ihre Muskeln spannten sich, und sie schob sich wortlos in
die Höhe.
Dann suchten ihre Augen die seinen. "Was...?"
"Du bist ohnmächtig geworden", erläuterte er, noch immer
besorgt um ihr Wohl. "Wie..."
Diesmal war es an ihr, ihn durch energisches Kopfschütteln
zu unterbrechen. "Ich hatte einen Traum", wiederholte sie. "Ich träumte,
ich wäre eine Kriegerin. Ich hörte das Rauschen meines Atems
und das beständige Pochen meines Herzens. In meinen Ohren waren es
Trommeln, die von Heeren aus fernen Ländern geschlagen wurden. Ich
glaubte, Pauken und Trompeten erschallen zu hören, Stiefel, die über
die Ebene trampelten, das Klirren von Eisen, und ich roch den Geruch verschwitzten
Leders. Auf einmal befand ich mich mitten auf dem Schlachtfeld. Ich trug
einen schweren, goldenen Harnisch und schwang ein glänzendes, zweischneidiges
Schwert, dessen Griff mit Edelsteinen und eingearbeitetem Silber verziert
war. Der Schweiß lief mir in Strömen über das Gesicht.
Ich hörte mich wie von Sinnen brüllen und sah mich die Klinge
über den Kopf heben..." Augenblicklich verstummte sie, wirkte nun
verunsicherter denn zuvor. "Glaubst du, ich hatte das Zweite Gesicht?",
fragte sie dann mit heiserer Stimme.
Er zauderte. "Ich werde einen Rat einberufen", verkündete er
dann. "Ich möchte, dass du dabei bist! Ich will nicht, dass so etwas
noch einmal passiert!" Bei seinen letzten Worten wurde seine Stimme brüchig.
Er hatte Angst um sie. Große Angst. Und sie schien nicht zu begreifen,
wie er sich eben noch gefühlt hatte - zerrissen von bitterer Furcht,
sie für immer verloren zu haben.
"Aber was..."
Er gebot ihr zu schweigen, fuhr ihr durch das Haar und löste
die Flechten mit den Fingern auf. Was ging in diesem Kopf vor, fragte er
sich. "Ich will gar nicht wissen, was es war", flüsterte er und presste
ihren Körper fest an den seinen, wurde sich ihrer Wärme gewahr.
"Ich will nur, dass es nie wieder passiert!"
"Aber..."
"Nein!", sagte er abermals, während er darum rang, nicht gänzlich
in Tränen auszubrechen. An seiner Schulter spürte er ihr Nicken.
Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und hielt es auf Armeslänge
von sich. Als nächstes erzählte er ihr, was es wirklich mit dem
Pakt auf sich hatte.
Karren, beladen mit Spitzhacken und Schaufeln, rumpelten über
staubige Straßen des Westens. Die Ponys trabten gemächlich dahin,
während ein Zwerg auf der Deichsel saß und seine Pfeife schmauchte.
Alles hatte sich für die Fahrt nach Irion gerüstet, und letztendlich
befanden sich nicht nur des Königs zwanzig Pioniere auf Wanderschaft,
sondern auch deren Familien. Man versprach sich Reichtum und Wohlstand,
ein neues Leben und neues Glück. Hirten trieben ihre Rinder und Schafe,
während Mägde und Knechte die Hühner und Gänse in ihren
Käfigen transportieren.
Instinktiv lenkte Devin seinen Schritt neben den Menschen, der trotz
allem noch nicht den Überblick über diese Reise verloren hatte.
Er ging mit der Hand auf dem Schwertknauf, lässig, während sein
Rappe neben ihm hertrabte. "Wollt Ihr mir Gesellschaft leisten?", erkundigte
er sich, als der Zwerg näher trat, und trug derweil sein spezielles
Lächeln zur Schau.
Devin wusste nichts zu erwidern. Er hatte nicht zu Hathorns Pionieren
gehört, doch sein Leben lang hatte er Erfahrungen im Bergbau gesammelt.
Vor fünf Jahren hatte er geholfen, den Wall zu errichten, jene
monströse Festung aus Lehm und Stein, die sich im Osten oberhalb des
Flusses erhob.
Darns Augen fixierten ihn, lösten sich jedoch rasch, als keine
Antwort erfolgte. Stattdessen schürzte er die Lippen und wirkte etwas
verstört, während er ihre Umgebung begutachtete. So weit das
Auge reichte erstreckte sich der Glothir Wald um sie. Doch er war lichte
und ab und an von kleineren Tümpeln durchsetzt, nichts im Vergleich
zu dem dunklen Dickicht, der das Land im Nordteil der Haine regierte.
Schließlich stellte der Bote mit kühler Stimme fest:
"Ihr seid nicht sehr gesprächig, oder?"
Der Zwerg grunzte belustigt. "In der Tat, Ihr versteht es, zu verwirren!"
Nun lächelte Darn wieder. "Ich tue mein Bestes", verkündete
er und legte den Kopf in den Nacken, ließ die Sonne seine Nase kitzeln.
Devin lachte glucksend. Es klang wie das Brummen eines Bären,
und sein recht behaarter Körper verstärkte diesen Eindruck. "Wer
hat Euch eigentlich nach Arathel geschickt?", erkundigte er sich schließlich.
Der Läufer zuckte die Achseln. "Ich führte die Aufsicht
über die Handelsbeziehungen zwischen Thoronor und eurer kleinen Stadt.
Ich bin mehr aus persönlichen Gründen hier als aus dienstlichen."
Er kniff die Augen zusammen, grinste verschlagen.
Devins Augen wurden groß. "Aber Ihr sagtet dem König..."
Darn seufzte und verharrte mitten im Schritt. Er ergriff den Zwerg
bei der Schulter und machte mit der anderen eine erklärende Geste.
"Mein lieber Herr Zwerg, was ich eurem König gesagt habe, spielt keine
Rolle! Fest steht, dass kein Irioner um das nötige Wissen verfügt,
die Ausgrabungen fortzusetzen!"
"Ich heiße Devin", warf der erregt dazwischen.
Corna seufzte erneut. "Wie allen Kindern haben auch meine Eltern
mir Geschichten erzählt! Ich habe ein persönliches Ansinnen,
herauszufinden, was es mit dieser verschollenen Stadt des Goldes auf sich
hat. Ich will die Legenden ergründen, sodass sie nicht länger
nur Legenden, sondern Realität sind!" Seine Augen funkelten wie die
Glimmsteine, die von den Zwergen in den tiefsten Bergwerken eingesetzt
wurden, um selbst in der schwärzesten Finsternis einen Lichtschimmer
als Begleiter zu wissen.
Devin entwand sich dem Griff des Menschen. "Wir werden sehen..."
"Sehen, ob ich nichts als ein schäbiger Lügner ohne jeden
Funken Anstand bin?"
Der Zwerg wandte sich ab. Dieser Herausforderung war er nicht gewachsen.
Er war noch nie besonders gut darin gewesen, seinen Gedanken Ausdruck zu
verleihen. Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen. Es erschien
ihm jedes Mal wie ein kleines Wunder, etwas, das ihn stärkte, so komisch
es auch klang. "Das seid Ihr ganz gewiss nicht", sagte er schnell, um seinen
Gegenüber nicht zu erzürnen. Er wollte keinen Streit anfangen.
Es war bereits Mittag, als sich der Wald vor ihnen zu einer Wiese
auftat. Sie überquerten die Weide und erblickten bald das von Hügeln
umgebene Plateau, auf dem Irion erbaut war. Rauch kringelte sich über
der kleinen Stadt, kündete von wärmenden Kaminen - eine willkommene
Abwechslung von den feuchten Pfaden der Wildnis. Zwei Tage lang hatte es
geregnet. Jetzt schienen dem Land sonnigere Tage entgegen zu blicken. Ein
Wandel der Jahreszeiten stand dem Tal der Dämmerung bevor. Der Sommer
würde einziehen, die Dächer erhitzen und den Nebel verdampfen
lassen, den Dunst zwischen die Bäume vertreiben.
Darn saß hoch zu Ross und starrte erwartungsvoll in die Ferne.
Bald
ist es soweit. Die Pioniere aus Arathel werden tiefer schürfen als
die Buddler Irions!
Devin streichelte den Hals des Pferdes und versuchte, Cornas Gedanken
zu ergründen. Sie hatten Freundschaft geschlossen, und nichts erinnerte
mehr an die hitzige Unterhaltung vor geraumer Zeit.
Als sie sich der Stadt näherten, näherten sie sich ebenfalls
der Schlucht, durch die sich der Goldgräberfluss wälzte. Jahrtausende
lang hatte er den Stein zermalen und so diese Schneise geschlagen. Einzig
eine breite Holzkonstruktion ließ zu, dass man Irion aus östlicher
Richtung betrat. Erst als die Gesellschaft von mindestens vierzig Mann
Bauernhöfe und Farmen passiert hatten, erreichten sie die Brücke.
Durch das Erdbeben war ein Teil von ihr zerstört und inzwischen wiedererrichtet
worden.
Der Mensch warf einen prüfenden Blick in die Schlucht hinab.
Unten tummelten sich Zwerge im kniehohen Wasser, durchwühlten den
Kies an den seichten Uferstellen oder nahmen ihre Mahlzeiten an Kochfeuern
ein. Es duftete nach gebratenem Fisch und Devin verspürte bereits
die ersten Hungergefühle. Durch die ganze Klamm hallte das Schlagen
von Eisen auf Stein, und die Pioniere wurden von Unruhe ergriffen. Etwas
stimmte nicht. Dennoch vermochte keiner von ihnen genau zu sagen, was sie
so beunruhigte.
Schließlich begannen sie mit dem Abstieg in die Schlucht,
und sofort erwachten die Lebensgeister der Zwerge von neuem. Auch Devin
juckte es in den Fingern. Er ergriff Schaufel und Pickel und brachte in
aller Eile die ersten Stufen hinter sich. Hier und da hatte man Gerüste
errichtet und gut an Felskeilen vertäut. Die Zwerge eilten über
die knarrenden Bohlen. In ihnen war ein befremdliches Feuer erwacht.
Darn biss sich auf die Finger. Er hatte es befürchtet. Nicht
nur die Irioner waren von dieser Krankheit - vom Goldfieber, wie er glaubte
- gepackt worden. Im Bruchteil einer Sekunde waren auch die Neuankömmlinge
infiziert worden. Er fragte sich, wie tief sie wohl in diesem Sumpf versinken
würden. Und gleichzeitig fürchtete er um Devin.
Die Ältesten nahmen Platz. Unter ihnen auch Dragan, Glindir
und Horon, die sich - gewandet in bodenlange, feuerrote und schwarze Roben
- an der linken Seite des Tisches niederließen. Rechts sanken Pinn,
Quen und Meldarána, Abgesandte der königlichen Leibwache, auf
ihre Stühle, während Arion und Larannah sich an das Kopfende
der Tafel setzten. Palan und Gwend kauerten am Rand der Versammelten und
verhielten sich unauffällig, waren jedoch bereit, das Wort auch zu
ergreifen, sollte es an sie gerichtet werden, außerdem hoffte Arion
inständig auf ihre Unterstützung. Über ihnen wölbte
sich die gewaltige Krone der Eiche, die sie vor Wind und Wetter schützte.
Rings um sie in den Bäumen warteten die anderen Elfen geduldig auf
den Beginn des Rates. Jeder, der etwas auf sich hielt, hatte sich zu diesem
denkwürdigen Moment zusammengefunden, die meisten nur, um den politischen
Unterredungen ihrer Anführer zu lauschen. Tatsächlich gab es
auch in Andor eine Art Parlament. Wann immer der König wichtige Entscheidung
zu treffen hatte, musste er sich vor dem Ältestenrat verantworten.
Dragan war ein hart gesottener General aus dem Felde. Er hatte die
letzten sechzig Jahre damit verbracht, den Feind bei Minath Noth
in Schach zu halten. Der Krieg hatte ihn gezeichnet und verbittert. Narben
zierten das staubfarbene Gesicht mit den ausdruckslosen Augen und dem skalpierten
Schädel. Arion betrachtete ihn eingehend, legte sich bereits seine
Argumente gegen diesen angesehenen Befehlshaber zurecht und begutachtete
den nächsten Kandidaten.
Während Dragan ein Leben in erster Reihe hinter sich hatte,
war Glindir das Privileg inne gewesen, der Schlacht mit einem Feldstecher
von einem weit entfernten Hügel beizuwohnen. Er hatte das bleiche,
sonnenscheue Gesicht eines Monarchen, und obgleich das tiefe Schwarz seiner
schulterlangen Haare bereits dem Grau des Alters gewichen war, zeigte sich
nicht eine Falte auf seiner hohen Stirn. Im Großen Krieg der Rassen
war er so etwas wie ein Kommandant gewesen, ein Taktiker, der Karten studiert
hatte und Vor- und Nachteile abgewogen hatte. Er war ein brillanter Denker
und fantastischer Stratege, der nichts so sehr liebte wie das Schachspiel.
Im Gegensatz zum General trug er ein leicht amüsiertes Lächeln
zur Schau.
Die einzige Ausnahme unter diesen schlachterprobten Feldherren schien
Horon zu sein. Ebenfalls bereits ergrautes, lockiges Haar umrahmte das
scharf geschnittene Gesicht eines Raubvogels. Er besaß Augen, die
so stechend waren, dass man unweigerlich den Blick abwenden musste. Eben
jene Augen genossen es, über die alten Folianten zu schweifen, die
der Schriftgelehrte in seiner Bibliothek hortete.
Pinn war blond und befand sich in den besten Jahren. Er trug die
einfache braungrüne Ledertunika der Leibgarde, und an seiner Seite
baumelte ein blank polierter Einhänder. Neben ihm hockte Quen, sein
Cousin, ein lebhafter Bursche mit strahlenden Augen, der verbissen die
Lippen aufeinander presste. Offenbar hatte er Schwierigkeiten angesichts
einer solch würdevollen Runde nicht einfach drauflos zu plappern.
Arion spürte, dass dieser Junge heute Abend nur die weisesten Entschlüsse
nach außen dringen lassen würde.
Meldarána, die Herrin der Leibwache, war die einzige Frau
in der Versammlung. Schlank und hoch gewachsen präsentierte sie sich
als Kämpfernatur, die es wie keine anderer verstand mit dem Langbogen
umzugehen.
"Welchen Grund hat die heutige Versammlung, Mylord?", erkundigte
sich Dragan, als eine Minute angespannten Schweigens vorübergegangen
war.
Arion war dankbar, dass der General das Eis gebrochen hatte. Jetzt
oblag es ihm, dem Rat die neusten Entwicklungen ihres Bündnisses mitzuteilen.
"Vor zwei Tagen trafen meine Männer und ich uns bei Tirvar mit einem
Abgesandten der Vyrn. Wir überbrachten ihm die Botschaft, dass wir
dem Bündnis zustimmen, welches vor nicht allzu langer Zeit ausgehandelt
wurde."
"Wir erinnern uns an diese Verhandlung", tat Glindir kund und die
anderen beiden Ältesten nickten zustimmend.
Arion sprach weiter: "Der Vyrn versicherte uns, dass alles nach
dem Willen des Meisters - wer diese ominöse Gestalt, welche die Vyrn
so verehren, auch immer ist - geschah. Kurz darauf verließen wir
ihn. Wir hatten uns auf eine mehr oder weniger harte Auseinandersetzung
vorbereitet, doch der Vyrn war gänzlich allein und schon mit unserer
einfachen Zustimmung zufrieden."
"Reichlich seltsam", bekannte Pinn.
"Nicht unbedingt", murmelte Horon, wobei er es vermied, aufzusehen.
"Er kam ohne jegliche Begleitung, richtig?" Er zuckte die Achseln. "Nun,
dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass er sich eher zurückhaltend
gab. Vermutlich kannte er selbst nur ein Quäntchen der gesamten Wahrheit
und diente seinem Meister nur als Mittel zum Zweck."
Pinn riss die Augen auf. Offensichtlich verstand er weniger von
Politik, als Arion ihm zugetraut hätte. "Ihr meint, er wusste nur
das Nötigste und hatte keine Ahnung davon, was sein Meister mit diesem
Bündnis bezwecken wollte?"
"Ja, so in etwa", bejahte Horon stirnrunzelnd. Man konnte förmlich
hören,
wie der Denkapparat hinter seiner Stirn auf Hochtouren lief.
"Aber erzählt weiter, mein König, denn dies ist offensichtlich
nicht die ganze Geschichte", drängte Dragan ungeduldig.
Arion erklärte sich einverstanden und fuhr fort: "Heute Morgen
brachte mir eine Brieftaube Post aus den Dunklen Landen. Man fordert uns
auf, die Truppen zusammenzuziehen und nach Kal Charag - das ist ein Pass,
der uns durch die Sichelkämme führen soll..." Er kam nicht weiter,
denn urplötzlich hatte sich der General erhoben und zu sprechen begonnen:
"Kal Charag..." Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen.
"Oder vielmehr Kar Kal, der blutige Pass." Er machte eine Pause. "Einige
werden sich noch daran erinnern, wie wir seinerzeit dort von den Zwergen
in eine Falle gelockt wurden. Unser Heer wurde vernichtend geschlagen.
Die Hochländer drangen in die Tieflande vor, brandschatzten und mordeten.
Frauen und Kinder starben, während der Rest unserer Truppen sich in
den Bergen verschanzen musste."
"Dieser Krieg hat uns einen hohen Blutzoll gekostet", schaltete
sich Palan ein und ballte wutentbrannt die Hand zur Faust. Schatten verhüllten
ihn und nur wenige - unter ihnen auch Arion - erkannten ihn an der Stimme.
"Dies entspricht der Wahrheit", untermauerte Horon die Feststellung
des Hauptmanns.
"Natürlich tut es das!", schnaubte Gwend. Er hatte die Arme
vor der Brust verschränkt und lehnte eher gelangweilt am knorrigen
Stamm der Eiche. "Fahrt endlich fort!"
Zwar erntete er so einige missachtende Blicke von Seiten der Ältesten,
doch Arion stellte sich zwischen sie. "Er hat Recht. Wenn wir weiter in
der Vergangenheit kramen, werden wir nie die richtige Entscheidung für
die Zukunft treffen können!"
Horon unterdrückte eine bissige Bemerkung und über Glindirs
Lippen huschte ein überhebliches Lächeln.
Meldarána warf Arion auffordernde Blicke zu. "Dann fahrt
fort, Mylord!"
Arion nickte ihr dankend zu. Wenn er die Herrin der Leibwache auf
seine Seite ziehen konnte, würden sich Neider und Unentschlossene
fügen müssen, denn sie besaß einiges an Macht in den inneren
Kreisen. "Wir sollen uns dort in einem befestigten Tal namens Thrudlock
bereithalten. Bei Morgengrauen greifen wir an."
"Irion?", hakte Palan nach.
"Irion", bestätigte Arion.
Dragan verschränkte die starken Arme vor der Brust. "Wissen
wir, wie gut ihre Verteidigung ist?"
© Benedikt
Julian Behnke
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bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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