Zwergengold von Benedikt Julian Behnke
Drittes Kapitel
Nachricht

Am nächsten Morgen erwachte er, entglitt den wattigen Schichten des Schlafes und fand sich in der vollkommenen Dunkelheit der Kemenate wieder. Einzig das fahle Dämmerlicht, das durch die windgebauschten Vorhänge sickerte, verriet ihm, dass der nächste Tag bereits begonnen hatte.
Flüchtig warf er einen Blick auf Larannah. Das Mädchen, das schon fast eine Frau war, schlief noch. Diesmal war er sich sicher. Sie atmete flach und gleichzeitig, ihre Brüste hoben und senkten sich unter der dünnen Decke. In dieser Nacht hatte er ihren Körper liebkost, den Nektar ihrer Süße gekostet, hatte sie geliebt und mit sanften Fingern gestreichelt. Ihr nussbraunes Haar war fein und duftete nach Ölen. In einer Ecke des Zimmers brannte noch immer eine Kerze, die sie letzte Nacht in ihrer Zweisamkeit entzündet  hatten.
Vorsichtig erhob er sich, ließ seine Blicke erneut durch den Raum gleiten, bevor er ihn ohne ein Wort verließ. Er stieg die noch kühlen Stufen in das Dachgeschoss des Herrenhauses hinauf. Die hölzernen Stiege knarrten unter seinen Schritten, und hier und da schaute eine Wache auf und wünschte ihm einen guten Morgen.
Oben angekommen stand er eine Weile im Flur und wartete. Schließlich hörte er, wie sich einer der Elfen näherte. Arion hatte nicht gewusst, warum er sich hierher begeben hatte. Irgendetwas hatte ihn gerufen, ein stilles Flüstern, das nur er vernehmen konnte.
Jetzt wandte er sich dem Boten zu. Der Mann war sehr schlank, beinahe hager, und trotz seiner Jugend wirkte sein Gesicht eingefallen und ausgezehrt. Narbengewebe zeichnete seine nackten Arme und Beine. Er trug nur einen dünnen Lederharnisch und darunter eine waldgrüne Tunika mit dem Emblem von Andor.
"Was gibt es?", fragte er ohne zu zögern.
"Mylord, die Vyrn", begann er, "haben uns eine Nachricht überbracht!" Der Bote reichte Arion ein zusammengefaltetes Stück Tierhaut, in das man mit dem Messer blutumrandete Lettern geritzt hatte. Der Elfenkönig überflog die Worte. Abwesend fragte er sich, wann die Vyrn endlich lernen würden, richtiges Pergament herzustellen. Auf der Rückseite des überbrachten Fetzens wucherte sogar noch der Pelz des Tieres. Wolf, schätzte Arion. In den Sichelkämmen gab es viele Wölfe, und immer wieder trieb es Kojoten aus der Kalrek-Wüste heran.
Schließlich schloss er die Hand ganz um den Lederstreifen. Er musste sofort mit Larannah darüber sprechen. Und danach würde er einen Rat einberufen. Das Volk musste umgehend von diesen Neuigkeiten in Kenntnis gesetzt werden. Das war er den Andorianern schuldig.
Er bedankte sich kurz bei dem Boten und schickte ihn dann davon.
In der Kemenate herrschte noch immer tiefste Stille. Larannah war erwacht und hatte sich bereits angekleidet. Sie trug ein einfaches Gewand, das hauptsächlich aus Linnen bestand und hatte sich einen breiten Ledergürtel um die Hüfte geschnallt. Eine Zofe flocht das Haar der Königin gerade zu einem Zopf. Es war, als hätte sich Larannah auf etwas vorbereitet.
Er trat nah an sie heran, ergriff sie sacht am Arm und machte sie so auf sich aufmerksam. Als sie sich zu ihm herumdrehte, leuchteten ihre Augen. "Ich hatte einen Traum", flüsterte sie. Dann neigte sie den Blick. "Sie kommen..."
Einen Moment lang wusste Arion nicht, was er sagen sollte. Indem er den Kopf schüttelte, versuchte er sich Klarheit zu verschaffen. "Wer kommt?", fragte er endlich.
Sie packte ihn an den Schultern wie einen ungestümen Jungen. "Sie!", zischte sie atemlos. Dann sank sie zu Boden, entglitt seinen starken Armen.
Sofort kniete er sich neben sie. Er war verwirrt. Mehrmals fragte er sich, was mit ihr geschehen war. "Larannah?" Keine Antwort.
Arion seufzte, warf der Zofe einen fragenden Blick zu. Die junge Elfe riss die Augen auf, errötete, und verschwand schließlich raschen Schrittes. Der Elfenkönig wollte ihr soeben hinterher rufen, stehen zu bleiben, doch da war sie bereits verschwunden.
Erneut wandte er seine Aufmerksamkeit Larannah zu. Unsicheren Blickes beäugte er ihre Gestalt. In seinem Inneren keimte Angst auf. Hatte er sie verloren? Hektisch untersuchte er sie, öffnete schließlich sogar ihre Bluse. In diesen Minuten achtete er nicht auf ihre Brüste, die neckisch hervorstanden oder ihren Bauchnabel, der verführerisch lockte. Er suchte nach Schnitten, Wunden, irgendwelchen Verletzungen. Und als er nichts gefunden hatte, bedeckte er ihre Blöße. Zwar atmete sie noch...
Auf einmal schlug sie die Augen auf. Der tiefe Glanz war verschwunden, die aufgeregte Blässe aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Wangen waren wieder rosig. Ihre Muskeln spannten sich, und sie schob sich wortlos in die Höhe. 
Dann suchten ihre Augen die seinen. "Was...?"
"Du bist ohnmächtig geworden", erläuterte er, noch immer besorgt um ihr Wohl. "Wie..."
Diesmal war es an ihr, ihn durch energisches Kopfschütteln zu unterbrechen. "Ich hatte einen Traum", wiederholte sie. "Ich träumte, ich wäre eine Kriegerin. Ich hörte das Rauschen meines Atems und das beständige Pochen meines Herzens. In meinen Ohren waren es Trommeln, die von Heeren aus fernen Ländern geschlagen wurden. Ich glaubte, Pauken und Trompeten erschallen zu hören, Stiefel, die über die Ebene trampelten, das Klirren von Eisen, und ich roch den Geruch verschwitzten Leders. Auf einmal befand ich mich mitten auf dem Schlachtfeld. Ich trug einen schweren, goldenen Harnisch und schwang ein glänzendes, zweischneidiges Schwert, dessen Griff mit Edelsteinen und eingearbeitetem Silber verziert war. Der Schweiß lief mir in Strömen über das Gesicht. Ich hörte mich wie von Sinnen brüllen und sah mich die Klinge über den Kopf heben..." Augenblicklich verstummte sie, wirkte nun verunsicherter denn zuvor. "Glaubst du, ich hatte das Zweite Gesicht?", fragte sie dann mit heiserer Stimme.
Er zauderte. "Ich werde einen Rat einberufen", verkündete er dann. "Ich möchte, dass du dabei bist! Ich will nicht, dass so etwas noch einmal passiert!" Bei seinen letzten Worten wurde seine Stimme brüchig. Er hatte Angst um sie. Große Angst. Und sie schien nicht zu begreifen, wie er sich eben noch gefühlt hatte - zerrissen von bitterer Furcht, sie für immer verloren zu haben.
"Aber was..."
Er gebot ihr zu schweigen, fuhr ihr durch das Haar und löste die Flechten mit den Fingern auf. Was ging in diesem Kopf vor, fragte er sich. "Ich will gar nicht wissen, was es war", flüsterte er und presste ihren Körper fest an den seinen, wurde sich ihrer Wärme gewahr. "Ich will nur, dass es nie wieder passiert!"
"Aber..."
"Nein!", sagte er abermals, während er darum rang, nicht gänzlich in Tränen auszubrechen. An seiner Schulter spürte er ihr Nicken.
Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und hielt es auf Armeslänge von sich. Als nächstes erzählte er ihr, was es wirklich mit dem Pakt auf sich hatte.

Karren, beladen mit Spitzhacken und Schaufeln, rumpelten über staubige Straßen des Westens. Die Ponys trabten gemächlich dahin, während ein Zwerg auf der Deichsel saß und seine Pfeife schmauchte. Alles hatte sich für die Fahrt nach Irion gerüstet, und letztendlich befanden sich nicht nur des Königs zwanzig Pioniere auf Wanderschaft, sondern auch deren Familien. Man versprach sich Reichtum und Wohlstand, ein neues Leben und neues Glück. Hirten trieben ihre Rinder und Schafe, während Mägde und Knechte die Hühner und Gänse in ihren Käfigen transportieren.
Instinktiv lenkte Devin seinen Schritt neben den Menschen, der trotz allem noch nicht den Überblick über diese Reise verloren hatte. Er ging mit der Hand auf dem Schwertknauf, lässig, während sein Rappe neben ihm hertrabte. "Wollt Ihr mir Gesellschaft leisten?", erkundigte er sich, als der Zwerg näher trat, und trug derweil sein spezielles Lächeln zur Schau.
Devin wusste nichts zu erwidern. Er hatte nicht zu Hathorns Pionieren gehört, doch sein Leben lang hatte er Erfahrungen im Bergbau gesammelt. Vor fünf Jahren hatte er geholfen, den Wall zu errichten, jene monströse Festung aus Lehm und Stein, die sich im Osten oberhalb des Flusses erhob.
Darns Augen fixierten ihn, lösten sich jedoch rasch, als keine Antwort erfolgte. Stattdessen schürzte er die Lippen und wirkte etwas verstört, während er ihre Umgebung begutachtete. So weit das Auge reichte erstreckte sich der Glothir Wald um sie. Doch er war lichte und ab und an von kleineren Tümpeln durchsetzt, nichts im Vergleich zu dem dunklen Dickicht, der das Land im Nordteil der Haine regierte.
Schließlich stellte der Bote mit kühler Stimme fest: "Ihr seid nicht sehr gesprächig, oder?"
Der Zwerg grunzte belustigt. "In der Tat, Ihr versteht es, zu verwirren!"
Nun lächelte Darn wieder. "Ich tue mein Bestes", verkündete er und legte den Kopf in den Nacken, ließ die Sonne seine Nase kitzeln.
Devin lachte glucksend. Es klang wie das Brummen eines Bären, und sein recht behaarter Körper verstärkte diesen Eindruck. "Wer hat Euch eigentlich nach Arathel geschickt?", erkundigte er sich schließlich.
Der Läufer zuckte die Achseln. "Ich führte die Aufsicht über die Handelsbeziehungen zwischen Thoronor und eurer kleinen Stadt. Ich bin mehr aus persönlichen Gründen hier als aus dienstlichen." Er kniff die Augen zusammen, grinste verschlagen.
Devins Augen wurden groß. "Aber Ihr sagtet dem König..."
Darn seufzte und verharrte mitten im Schritt. Er ergriff den Zwerg bei der Schulter und machte mit der anderen eine erklärende Geste. "Mein lieber Herr Zwerg, was ich eurem König gesagt habe, spielt keine Rolle! Fest steht, dass kein Irioner um das nötige Wissen verfügt, die Ausgrabungen fortzusetzen!"
"Ich heiße Devin", warf der erregt dazwischen.
Corna seufzte erneut. "Wie allen Kindern haben auch meine Eltern mir Geschichten erzählt! Ich habe ein persönliches Ansinnen, herauszufinden, was es mit dieser verschollenen Stadt des Goldes auf sich hat. Ich will die Legenden ergründen, sodass sie nicht länger nur Legenden, sondern Realität sind!" Seine Augen funkelten wie die Glimmsteine, die von den Zwergen in den tiefsten Bergwerken eingesetzt wurden, um selbst in der schwärzesten Finsternis einen Lichtschimmer als Begleiter zu wissen.
Devin entwand sich dem Griff des Menschen. "Wir werden sehen..."
"Sehen, ob ich nichts als ein schäbiger Lügner ohne jeden Funken Anstand bin?"
Der Zwerg wandte sich ab. Dieser Herausforderung war er nicht gewachsen. Er war noch nie besonders gut darin gewesen, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen. Es erschien ihm jedes Mal wie ein kleines Wunder, etwas, das ihn stärkte, so komisch es auch klang. "Das seid Ihr ganz gewiss nicht", sagte er schnell, um seinen Gegenüber nicht zu erzürnen. Er wollte keinen Streit anfangen.

Es war bereits Mittag, als sich der Wald vor ihnen zu einer Wiese auftat. Sie überquerten die Weide und erblickten bald das von Hügeln umgebene Plateau, auf dem Irion erbaut war. Rauch kringelte sich über der kleinen Stadt, kündete von wärmenden Kaminen - eine willkommene Abwechslung von den feuchten Pfaden der Wildnis. Zwei Tage lang hatte es geregnet. Jetzt schienen dem Land sonnigere Tage entgegen zu blicken. Ein Wandel der Jahreszeiten stand dem Tal der Dämmerung bevor. Der Sommer würde einziehen, die Dächer erhitzen und den Nebel verdampfen lassen, den Dunst zwischen die Bäume vertreiben.
Darn saß hoch zu Ross und starrte erwartungsvoll in die Ferne. Bald ist es soweit. Die Pioniere aus Arathel werden tiefer schürfen als die Buddler Irions!
Devin streichelte den Hals des Pferdes und versuchte, Cornas Gedanken zu ergründen. Sie hatten Freundschaft geschlossen, und nichts erinnerte mehr an die hitzige Unterhaltung vor geraumer Zeit.
Als sie sich der Stadt näherten, näherten sie sich ebenfalls der Schlucht, durch die sich der Goldgräberfluss wälzte. Jahrtausende lang hatte er den Stein zermalen und so diese Schneise geschlagen. Einzig eine breite Holzkonstruktion ließ zu, dass man Irion aus östlicher Richtung betrat. Erst als die Gesellschaft von mindestens vierzig Mann Bauernhöfe und Farmen passiert hatten, erreichten sie die Brücke. Durch das Erdbeben war ein Teil von ihr zerstört und inzwischen wiedererrichtet worden.
Der Mensch warf einen prüfenden Blick in die Schlucht hinab. Unten tummelten sich Zwerge im kniehohen Wasser, durchwühlten den Kies an den seichten Uferstellen oder nahmen ihre Mahlzeiten an Kochfeuern ein. Es duftete nach gebratenem Fisch und Devin verspürte bereits die ersten Hungergefühle. Durch die ganze Klamm hallte das Schlagen von Eisen auf Stein, und die Pioniere wurden von Unruhe ergriffen. Etwas stimmte nicht. Dennoch vermochte keiner von ihnen genau zu sagen, was sie so beunruhigte.
Schließlich begannen sie mit dem Abstieg in die Schlucht, und sofort erwachten die Lebensgeister der Zwerge von neuem. Auch Devin juckte es in den Fingern. Er ergriff Schaufel und Pickel und brachte in aller Eile die ersten Stufen hinter sich. Hier und da hatte man Gerüste errichtet und gut an Felskeilen vertäut. Die Zwerge eilten über die knarrenden Bohlen. In ihnen war ein befremdliches Feuer erwacht.
Darn biss sich auf die Finger. Er hatte es befürchtet. Nicht nur die Irioner waren von dieser Krankheit - vom Goldfieber, wie er glaubte - gepackt worden. Im Bruchteil einer Sekunde waren auch die Neuankömmlinge infiziert worden. Er fragte sich, wie tief sie wohl in diesem Sumpf versinken würden. Und gleichzeitig fürchtete er um Devin.

Die Ältesten nahmen Platz. Unter ihnen auch Dragan, Glindir und Horon, die sich - gewandet in bodenlange, feuerrote und schwarze Roben - an der linken Seite des Tisches niederließen. Rechts sanken Pinn, Quen und Meldarána, Abgesandte der königlichen Leibwache, auf ihre Stühle, während Arion und Larannah sich an das Kopfende der Tafel setzten. Palan und Gwend kauerten am Rand der Versammelten und verhielten sich unauffällig, waren jedoch bereit, das Wort auch zu ergreifen, sollte es an sie gerichtet werden, außerdem hoffte Arion inständig auf ihre Unterstützung. Über ihnen wölbte sich die gewaltige Krone der Eiche, die sie vor Wind und Wetter schützte. Rings um sie in den Bäumen warteten die anderen Elfen geduldig auf den Beginn des Rates. Jeder, der etwas auf sich hielt, hatte sich zu diesem denkwürdigen Moment zusammengefunden, die meisten nur, um den politischen Unterredungen ihrer Anführer zu lauschen. Tatsächlich gab es auch in Andor eine Art Parlament. Wann immer der König wichtige Entscheidung zu treffen hatte, musste er sich vor dem Ältestenrat verantworten.
Dragan war ein hart gesottener General aus dem Felde. Er hatte die letzten sechzig Jahre damit verbracht, den Feind bei Minath Noth  in Schach zu halten. Der Krieg hatte ihn gezeichnet und verbittert. Narben zierten das staubfarbene Gesicht mit den ausdruckslosen Augen und dem skalpierten Schädel. Arion betrachtete ihn eingehend, legte sich bereits seine Argumente gegen diesen angesehenen Befehlshaber zurecht und begutachtete den nächsten Kandidaten.
Während Dragan ein Leben in erster Reihe hinter sich hatte, war Glindir das Privileg inne gewesen, der Schlacht mit einem Feldstecher von einem weit entfernten Hügel beizuwohnen. Er hatte das bleiche, sonnenscheue Gesicht eines Monarchen, und obgleich das tiefe Schwarz seiner schulterlangen Haare bereits dem Grau des Alters gewichen war, zeigte sich nicht eine Falte auf seiner hohen Stirn. Im Großen Krieg der Rassen war er so etwas wie ein Kommandant gewesen, ein Taktiker, der Karten studiert hatte und Vor- und Nachteile abgewogen hatte. Er war ein brillanter Denker und fantastischer Stratege, der nichts so sehr liebte wie das Schachspiel. Im Gegensatz zum General trug er ein leicht amüsiertes Lächeln zur Schau.
Die einzige Ausnahme unter diesen schlachterprobten Feldherren schien Horon zu sein. Ebenfalls bereits ergrautes, lockiges Haar umrahmte das scharf geschnittene Gesicht eines Raubvogels. Er besaß Augen, die so stechend waren, dass man unweigerlich den Blick abwenden musste. Eben jene Augen genossen es, über die alten Folianten zu schweifen, die der Schriftgelehrte in seiner Bibliothek hortete.
Pinn war blond und befand sich in den besten Jahren. Er trug die einfache braungrüne Ledertunika der Leibgarde, und an seiner Seite baumelte ein blank polierter Einhänder. Neben ihm hockte Quen, sein Cousin, ein lebhafter Bursche mit strahlenden Augen, der verbissen die Lippen aufeinander presste. Offenbar hatte er Schwierigkeiten angesichts einer solch würdevollen Runde nicht einfach drauflos zu plappern. Arion spürte, dass dieser Junge heute Abend nur die weisesten Entschlüsse nach außen dringen lassen würde.
Meldarána, die Herrin der Leibwache, war die einzige Frau in der Versammlung. Schlank und hoch gewachsen präsentierte sie sich als Kämpfernatur, die es wie keine anderer verstand mit dem Langbogen umzugehen.
"Welchen Grund hat die heutige Versammlung, Mylord?", erkundigte sich Dragan, als eine Minute angespannten Schweigens vorübergegangen war.
Arion war dankbar, dass der General das Eis gebrochen hatte. Jetzt oblag es ihm, dem Rat die neusten Entwicklungen ihres Bündnisses mitzuteilen. "Vor zwei Tagen trafen meine Männer und ich uns bei Tirvar mit einem Abgesandten der Vyrn. Wir überbrachten ihm die Botschaft, dass wir dem Bündnis zustimmen, welches vor nicht allzu langer Zeit ausgehandelt wurde."
"Wir erinnern uns an diese Verhandlung", tat Glindir kund und die anderen beiden Ältesten nickten zustimmend.
Arion sprach weiter: "Der Vyrn versicherte uns, dass alles nach dem Willen des Meisters - wer diese ominöse Gestalt, welche die Vyrn so verehren, auch immer ist - geschah. Kurz darauf verließen wir ihn. Wir hatten uns auf eine mehr oder weniger harte Auseinandersetzung vorbereitet, doch der Vyrn war gänzlich allein und schon mit unserer einfachen Zustimmung zufrieden."
"Reichlich seltsam", bekannte Pinn.
"Nicht unbedingt", murmelte Horon, wobei er es vermied, aufzusehen. "Er kam ohne jegliche Begleitung, richtig?" Er zuckte die Achseln. "Nun, dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass er sich eher zurückhaltend gab. Vermutlich kannte er selbst nur ein Quäntchen der gesamten Wahrheit und diente seinem Meister nur als Mittel zum Zweck."
Pinn riss die Augen auf. Offensichtlich verstand er weniger von Politik, als Arion ihm zugetraut hätte. "Ihr meint, er wusste nur das Nötigste und hatte keine Ahnung davon, was sein Meister mit diesem Bündnis bezwecken wollte?"
"Ja, so in etwa", bejahte Horon stirnrunzelnd. Man konnte förmlich hören, wie der Denkapparat hinter seiner Stirn auf Hochtouren lief.
"Aber erzählt weiter, mein König, denn dies ist offensichtlich nicht die ganze Geschichte", drängte Dragan ungeduldig.
Arion erklärte sich einverstanden und fuhr fort: "Heute Morgen brachte mir eine Brieftaube Post aus den Dunklen Landen. Man fordert uns auf, die Truppen zusammenzuziehen und nach Kal Charag - das ist ein Pass, der uns durch die Sichelkämme führen soll..." Er kam nicht weiter, denn urplötzlich hatte sich der General erhoben und zu sprechen begonnen:
"Kal Charag..." Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. "Oder vielmehr Kar Kal, der blutige Pass." Er machte eine Pause. "Einige werden sich noch daran erinnern, wie wir seinerzeit dort von den Zwergen in eine Falle gelockt wurden. Unser Heer wurde vernichtend geschlagen. Die Hochländer drangen in die Tieflande vor, brandschatzten und mordeten. Frauen und Kinder starben, während der Rest unserer Truppen sich in den Bergen verschanzen musste."
"Dieser Krieg hat uns einen hohen Blutzoll gekostet", schaltete sich Palan ein und ballte wutentbrannt die Hand zur Faust. Schatten verhüllten ihn und nur wenige - unter ihnen auch Arion - erkannten ihn an der Stimme.
"Dies entspricht der Wahrheit", untermauerte Horon die Feststellung des Hauptmanns.
"Natürlich tut es das!", schnaubte Gwend. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lehnte eher gelangweilt am knorrigen Stamm der Eiche. "Fahrt endlich fort!"
Zwar erntete er so einige missachtende Blicke von Seiten der Ältesten, doch Arion stellte sich zwischen sie. "Er hat Recht. Wenn wir weiter in der Vergangenheit kramen, werden wir nie die richtige Entscheidung für die Zukunft treffen können!"
Horon unterdrückte eine bissige Bemerkung und über Glindirs Lippen huschte ein überhebliches Lächeln.
Meldarána warf Arion auffordernde Blicke zu. "Dann fahrt fort, Mylord!"
Arion nickte ihr dankend zu. Wenn er die Herrin der Leibwache auf seine Seite ziehen konnte, würden sich Neider und Unentschlossene fügen müssen, denn sie besaß einiges an Macht in den inneren Kreisen. "Wir sollen uns dort in einem befestigten Tal namens Thrudlock bereithalten. Bei Morgengrauen greifen wir an."
"Irion?", hakte Palan nach.
"Irion", bestätigte Arion.
Dragan verschränkte die starken Arme vor der Brust. "Wissen wir, wie gut ihre Verteidigung ist?"
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 4. Kapitel: "Entschluss"

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