"Von welcher Seite werden wir angreifen?", fragte Glindir, der bereits
in Gedanken an einem Plan arbeitete.
Der Elfenkönig betrachtete nacheinander eingehend die beiden
Gesichter der Ältesten - das eine eingefallen und verhärmt, das
andere glatt und schön. Er wusste, Glindir hatte noch nie Blut geschmeckt.
In manchen Augen mochte er als unwürdig erscheinen. Doch er war der
Einzige, der bei einem Gefecht noch objektiv bleiben könnte. Jedenfalls
hoffte er das. "Das entscheiden wir vor Ort", erklärte er.
Und dann schnitt Quen einen sehr viel wichtigeren Aspekt an: "Was
ist, wenn sie den Pakt brechen?" Sein Gesicht und seine Augen leuchteten
vor Aufregung. Es waren die ersten Worte, die er gesagt hatte, und genauso,
wie Arion vermutet hatte, betrafen sie die wichtigste Angelegenheit dieses
Vorhabens.
"Das ist eine berechtigte Frage", erklärte er. Er sah zu Palan,
und der Kundschafter, der im letzten Krieg der Rassen als Spitzel gedient
hatte, spannte sich. "Was meint Ihr dazu, Palan?"
"Früher oder später kommt der Augenblick des Verrats",
sagte er mit brüchiger Stimme, "und dann werden wir die Unterlegenen
sein!"
Plötzlich lachte Dragan glucksend auf, doch die Augen blieben
kalt wie Eis. "Solch ein Vorhaben ist Irrsinn!" Er sprach die Worte mit
Abscheu aus.
Darauf hatte Arion gewartet. Jetzt machte sich das erste Missfallen
deutlich. Jahrelang hatten sie mit den Vyrn blutige Kriege ausgefochten.
Und plötzlich sprach man von einem Bündnis. Manche dachten, es
sei von einer Union die Rede - auch wenn das reine Fiktion darstellte.
Palan hatte Recht gehabt. Irgendwann kam der Moment des Verrats. Und dann
würden die Elfen unterliegen. Aufgrund ihrer Waffen? Aufgrund ihrer
Rüstungen? Schon eher. Oder einfach aufgrund ihrer Dummheit, die Vyrn
so nahe an sich heran zu lassen? Unwillkürlich musste er an folgende
Worte denken: Meine Freunde halte ich mir nah; doch meine Feinde noch
näher!
Larannahs Hand drückte die seine.
"Es ist nicht weniger Irrsinn als ein Kampf gegen vier Feinde gleichzeitig!"
Meldarána war aufgesprungen, eine Geste, mit der man normalerweise
den Zauber einer Kollekte brach. In diesem Fall aber verdichtete sich die
Präsenz der Versammelten. Sie begannen ihre Hüllen fallen zu
lassen, zeigten ihre wahren Gesichter.
Horon erhob sich, und sein stechender Blick fuhr wie mit Messern
unter die Anwesenden. "Wo Krieg ist, da ist auch Irrsinn! Beendet den Krieg!
Beendet den Irrsinn!"
"Dann müssen wir uns mit den Vyrn verbünden!", rief Meldarána
aufgebracht.
"Wer sagt uns, dass sie ihr Wort halten?", fuhr Palan sie an.
Dragan machte eine wegwischende Handbewegung. "Sie werden ihr Wort
nicht halten!" Für den Bruchteil einer Sekunde glomm ein irres Feuer
in seinen Augen. Er hasste die Vyrn. Hasste sie mit jeder Faser seines
Körpers.
"Und wenn doch?" Jetzt war es an Arion aufzustehen. Doch im Gegensatz
zu den protestierenden Rufen der anderen war seine Stimme ruhig und gefasst.
Schlagartig verstummte der Rest. "Was geschieht, wenn sie den Pakt nicht
brechen? Was, wenn es uns mit ihrer Hilfe gelingt, die Streitkräfte
der Zwerge zu zerschmettern? Was, wenn wir nur gemeinsam obsiegen können?"
Er sah sie eindringlich an. "Sollten sie den Pakt brechen, werden wir darauf
vorbereitet sein. Doch solange die Zwerge im Besitz des Zaubergoldes sind,
werden sie uns schaden, wo sie nur können!"
Kalte Augen fixierten ihn. "Was ist Euer Plan?"
Ein Lächeln huschte über Arions kühne Züge.
"Mein Plan? Nun, der ist eigentlich recht einfach!" Ein kindliches Grinsen
trat auf seine Lippen. Ein wenig zierte er sich, das zu sagen, was er sagen
wollte. Es war eine Art Scham, die ihm die Röte in die Wangen trieb,
doch genoss er es, derjenige zu sein, der letztendlich die Fäden in
Händen hielt. Langsam ließ er den Blick von einem zum anderen
wandern, prüfte sie, und wurde jedes Mal bestätigt. Dann holte
er tief Luft und sagte den einen Satz, der für ihre Zukunft so wichtig
war: "Wir müssen das Zaubergold nur vor ihnen in die Finger kriegen!"
Es war also beschlossene Sache. Die Elfen zogen in den Krieg.
Noch am gleichen Tag wurden alle nötigen Vorbereitungen getroffen,
und obwohl Palan anfangs eifrig protestierte, stimmte er letztendlich doch
mit Arion überein. Es gab nur diese eine Möglichkeit. Ansonsten
würde es in kürze kein Morgen mehr für die Andorianer geben.
Es dunkelte bereits, als Palan sich erneut mit Larannah traf. In
den letzten Tagen waren sie häufiger als beabsichtig zusammengekommen,
und er hatte ihr das Bogenschießen wie auch das Fechten beigebracht.
Mittlerweile verstand sie es so gut wie Quen mit den Waffen eines Jägers
umzugehen. Es war nicht viel, aber es war genug, um bei den ersten harschen
Attacken eines Vyrn nicht gleich zu Boden geschmettert zu werden.
Jetzt betrachtete er ihr Gesicht im Licht der Sterne, strich über
ihre Wange - zwar in freundschaftlicher Absicht, aber mit einem augenscheinlich
tieferen Sinn. Einen Moment lang hatte er Angst, sie würde zu viel
in diese Geste hineininterpretieren, doch dann entspannte er sich. Ihr
Gemahl liebte sie über alles, und egal, was zwischen Palan und der
hübschen Elfe passierte, sie würde sich ihrer wahren Aufgabe
erinnern. Solange Arion noch lebte, würde sie nur ihm gehören.
Nichts könnte sich zwischen dieses äußerlich perfekte Paar
drängen.
"Wir werden morgen in aller Frühe aufbrechen", erklärte
er.
Sie erfasste seine Hand, nickte, während die Wärme ihres
Gesichtes in seine Finger zu sickern schien. Er spürte die glühende
Hitze ihrer Wange, ihr Erröten, ihre Sanftheit. Und im selben Moment
musste er sich eingestehen, dass er sie liebte.
Erschrocken entzog er sich ihrer Nähe, machte einen Schritt
zurück. Er wartete, bis das Prickeln verschwand, dann straffte er
sich. Mit einem Mal verwandelte er sich zu einer maskierten Kreatur des
Schattenreichs. Seine weichen Züge wurden hart, steinern. "Mylady",
flüsterte er, verbeugte sich leicht und wandte sich zum Gehen.
Devin fuhr schweißgebadet aus seinem Schlaf hoch.
Die Wirklichkeit empfing ihn mit eisiger Kälte, streichelte
ihn mit ihren ernüchternden Fingern und hielt ihn einen Moment lang
völlig gefangen. Sein Herz jagte, und er fühlte sich an die Trommelwirbel
der Musikanten erinnert, die an Festtagen in den Hallen von Arathel spielten.
Doch nicht die Fröhlichkeit einer Feier regierte sein Denken - es
wurde getrieben von Sucht und irrationalen Empfindungen. Aber waren Empfindungen
nicht immer irrational? Oder war es vielmehr erst der Zufall, der sie rational
wirken ließ? Warum verlieben sich Menschen ineinander? Zufall
oder Irrationalität? Auslese? Oder war doch alles Teil eines großen
Spiels, gespielt von den Göttern, welche die Schicksale ganzer Nationen
wie Schachfiguren auf ihrem Brett bewegten?
"Schatten!", fluchte er und setzte sich auf.
Er befand sich in einer der zahlreichen Baracken von Irion. Damals
mochte die heutige Stadt die Größe eines kleinen Dorfes besessen
haben. Nun hatte man weitere Gebäude, Werkstätten und Gaststuben
errichtet. Jeden Tag kamen zirka vierdutzend neue Arbeiter und Schürfer
aus den umliegenden Weilern hinzu, und sogar Zwerge aus Tharion gesellten
sich zu ihnen. Zwar hatte es weiterhin Unruhen an den Fronten gegeben und
die Truppenbewegung der Elfen wurde immer undurchschaubarer, dennoch schien
es keinen Zwerg Irions zu beunruhigen. Obgleich diese Stadt näher
als alle anderen an den Grenzen errichtet worden war. Keiner scherte sich
oder machte sich auch nur den geringsten Gedanken um etwaige Feinde. Jeder
suchte das Gold.
Devin machte da keine Ausnahme.
Während Darn stundenlang Pläne der Minenschächte
studierte und verzweifelt nach einem System suchte, ließen sich die
anderen Zwerge einfach treiben. Sie waren bereits tief in dem Mahlstrom
versunken, der sie zum Graben antrieb. Und sogar Corna konnte eine gewisse
Neugierde nicht abstreiten. Wie gesagt, er liebte Märchen und Geschichten.
Warum sollte nicht endlich die Zeit gekommen sein, einer von ihnen auf
den Grund zu gehen?
Darn hatte seinen Freund beobachtet, als dieser so brutal seinen
Träumen entrissen wurde. Träume, aus denen man nur durch einen
verzweifelten Schrei gerettet werden konnte. Jetzt saß der Zwerg
mit gramzerfurchtem Gesicht auf seiner Pritsche und starrte in die Leere.
Der Mensch spürte, dass etwas nicht in Ordnung war - es würde
bald wieder losgehen.
"Du hattest einen Traum, stimmts?"
Devin musterte ihn - in seinen Augen lauerte etwas Dunkles und Geheimnisvolles.
Es hing eine gefährliche Stille im Raum, eine Stille, der es möglich
schien, ganze Welten zu verschlingen. Gähnende Leere. Einfach nur
dieser Blick, durchbohrend, als wiese der Zwerg Darn an, über glühende
Kohlen zu laufen.
Schließlich nickte der Zwerg. Es war ein lang gezogenes, gequältes
Nicken, das Resignation verkünden sollte, es aber nicht tat. Stattdessen
loderte weiterhin die treibende Flamme in seinen Augen. Es war nicht das
erste Mal, dass Darn seinen Freund ohne Helm gesehen hatte. Devin besaß
rötlichbraunes Haar, das einer Tonsur gleich nur an den Seiten wuchs
und den größten Teil des Schädels - der traditioneller
Weise mit dem Helm bedeckt wurde - ausließ. Seine Züge waren
irgendwie knorrig, verschroben, doch dies haftete allen Zwergen an.
Darn wusste, was jetzt kommen würde. Devin würde sich
erheben, nach der Schaufel greifen und sich zu den Höhlen begeben.
Wortlos. Der Traum mochte ihm vielleicht Bilder des Schreckens vorgegaukelt
haben. Doch jetzt, da der Zwerg vollends erwacht war, hatten sich jene
Fetzen, an die er sich noch erinnern konnte, zu einer Illusion gewandelt.
Sie waren zu einer Vision geworden, einer Illusion, die über die Wirklichkeit
hinausging und dennoch in der Wirklichkeit bestehen mochte. Devin würde
graben. Der Schlaf hatte seine Muskeln beruhigt und ihm wenigstens teilweise
Ruhe gegönnt.
Und so geschah es.
Der Zwerg erhob sich, schlurfte über die knarrenden Holzbohlen
der Kate und nahm dabei Schaufel und Helm an sich. Er machte sich nicht
die Mühe, Kettenhemd und Lederwams überzustreifen - die Anstrengung
würde ihn so oder so bald schwitzen lassen - und dann wäre es
unter der Rüstung mehr als unerträglich. Zusätzlich behinderte
sie ihn beim Graben. Und das war es, was Devin vorhatte. Ein Hosenträger
war ihm von der Schulter gerutscht und die Hose drohte in die Kniekehlen
zu rutschen, und dennoch bemerkte der Zwerg es nicht. Er ging weiter seinen
torkelnden Gang, schlaftrunken, glich einem Besoffenen, der seinen Weg
nach Hause sucht.
Corna machte Anstalten, sich von seinem Platz zu erheben. Bis gerade
eben hatte er noch Papiere durchgeblättert, Pläne betrachtet
und im Lichte einer Laterne Notizen verfasst. Doch jetzt war ihm das Befinden
seines Freundes wichtiger als die Arbeit, die jener so verzweifelt zu verrichten
suchte. "Du musst dich ausruhen", rief er ihm hinterher, während er
stolpernd seinen Platz verließ. Von den anderen Schlafstätten
erklangen angesichts seiner lauten Äußerung schnaubende Proteste.
Sie waren nicht allein - zusammen mit ihnen verbrachten noch ungefähr
fünf weitere Zwerge die Nacht in jener Baracke.
Devin wies ihn mit einer harschen Geste zurück. "Ich komme
schon klar", murmelte er, doch seine Stimme verriet, dass er dies nicht
tun würde. In den letzten Tagen hatte er hart gearbeitet und seine
schwieligen Hände wirkten aufgequollen. Ebenso hatten sich Bauch und
Wangen verändert - schienen sie vorher noch fett und wohlgenährt,
so waren seine Körperformen nunmehr ausgezehrt. Die Arbeit untertage
hatte seine Haut vergessen lassen, wie die Sonne aussah. Sie war beinahe
gänzlich weiß und der Zwerg wirkte wie ein Schreckgespenst.
Darn fühlte sich bestätigt - dieser Mann war nicht zur
Arbeit bereit.
Dennoch versuchte dieser unwiderruflich etwas zu tun, das ihn vielleicht
für sehr viele Jahre zeichnen könnte. Ein falscher Schritt in
den Gängen oder auch nur eine kleine Unachtsamkeit konnten Tod oder
Verstümmelung nach sich ziehen. Die Decke mochte herunterkommen -
der Schrecken eines jeden Bergarbeiters. Oder man wurde eingeschlossen,
durch ein Erdbeben verschüttet und erlitt einen langsamen, qualvollen
Tod.
Corna ergriff Devin am Arm. "Du kannst nicht. Das ist zu gefährlich!"
Erneut protestierendes Schnarchen.
Für einen Sekundenbruchteil erlag Darn dem Glauben, dieses
durch einen scharfen Blick zu ersticken, dann wandte er sich wieder Devin
zu, der ihn seinerseits musterte. In seinen Augen schienen Irrlichter wild
zu tanzen, eine Verrücktheit, die beständig zunahm, und bevor
Corna ihn freigeben konnte, riss sich der Zwerg los. "Ich kann auf mich
selbst aufpassen!", erwiderte er trotzig.
Darn wurde wütend. "Dieses Gold verändert dich!" Er war
lauter als beabsichtigt; sein Gesicht verzerrte sich zu einer geröteten
Grimasse.
Der Zwerg schnaubte wie ein Schlachtross, schürzte die Lippen,
und ein wildes Gefecht aus Blicken folgte. Devin focht mit Hass, Darn machte
sich Entschlossenheit aufgrund von Sorge zueigen. Gegen Ende hin schien
der Mensch das Duell zu gewinnen, doch bevor es soweit kam, wirbelte der
Zwerg herum. Seine rostrote Mähne flog, und stürmischen Schrittes
verließ er den Raum, trat hinaus in das Dunkel der Nacht und wurde
von ihr verschluckt.
Corna ließ sich erschöpft auf sein Bett sinken. Er fühlte
nichts, wusste jedoch, dass er bald von Gefühlen überschwemmt
werden würde, Gefühle der Angst und Resignation, tiefes Bedauern
und all das, was ihn an seinem Handeln hätte zweifeln lassen können.
Prüfend ballte er die Hand zur Faust, registrierte Sehnen, die sich
spannten und hervortraten. Narben zierten seinen Arm - er hatte mehr als
einmal auf dem Schlachtfeld bereit gestanden. Thoronor war schon lange
der Schmelztiegel zwischen den Völkern gewesen. In Thoronor wartete
sein Herr und Meister auf ihn, doch solange er keine eindeutigen Befehle
erhielt, war es ihm möglich, noch eine Weile in Irion zu bleiben.
Wenigstens so lange, bis er befriedigt und seine Bedürfnisse gestillt
waren. Außerdem musste er ein waches Auge auf Devin haben. Der Zwerg,
der ihm eines Nachts auf den Straßen von Arathel begegnet war, war
ihm schnell ans Herz gewachsen. Doch nun schien eine Veränderung mit
ihm vorzugehen, ein Wandel, der seine ruhige Art und seine Gutmütigkeiten
verschwinden ließ und stattdessen seine rachsüchtigen Züge
ans Licht brachte.
Wie erwartet schwappte das Meer der Resignation über ihm zusammen.
Er brach zusammen, krümmte sich über seine Knie und presste die
Hände vors Gesicht. Was anfangs eine abenteuerliche Entdeckungsreise
hatte werden sollen, war zu einem Ausflug ins Grauen geworden.
Rasch fing er sich wieder, wischte die Tränen beiseite und
verschloss Angst und Zweifel sicher hinter seiner Stirn.
Stumm nickte er, bekräftigte seine Entschlossenheit und seinen
guten Willen und breitete sich auf der Pritsche aus. Während er mit
einer Hand das Licht löschte - und die Dunkelheit ihn einholte -,
befand er sich bereits mit einem Bein im Land der Träume. Doch seine
Träume kündeten nicht von versteckten Stollen oder Bergen von
Gold, dessen gleißendes Funkeln in den Augen brannte. Seine Träume
waren schwarz und ruhig - ein nächtlicher Palast der Stille.
Das Land unter ihren Füßen lag brach, war unwirtlich und
von Geröllbrocken übersät. Die einst fruchtbare Erde war
verbrannt und tiefe Risse und Spalten zogen sich durch bleiche Gipfel,
die wie Totenschädel aus dem rußigen Boden ragten.
Der Kar Kal bildete einen imposanten Spalt zwischen zwei hoch aufragenden
Gebirgsketten und wirkte wie von Krallen und Zähnen aus dem Stein
gerissen. Unzählige Furchen durchzogen die Wände, und teilweise
war es so dunkel, dass man schwerlich die Hand vor Augen erkennen konnte.
Der Pass lag versteckt zwischen Steilwänden und Felstrümmern,
und Arion war sich sicher, ohne die Weisungen seiner Gefährten hätte
er nie den Pfad zu diesem grotesken Ort gefunden.
Hier und da zeigten sich klaffende Wunden im Berg, als hätten
schartige Schwerter versucht, ihn in mehrere Teile zu schneiden, wären
dabei selbst zerschellt und als schartige Sicheln im Gestein stecken geblieben.
Alles war gezeichnet von Schrecken. Knochen und zerbrochene Schwerter säumten
den Weg zwischen rasiermesserscharfen Kanten, Überbleibsel aus vergangenen
Schlachten, von denen Dragan berichtet hatte. Er selbst hatte sich mit
rund zwei Dutzend Kriegern nach Eleval aufgemacht, wo er Gleichgesinnte
zu treffen hoffte. Denn immer öfter waren im Norden Waldläufer
gesichtet worden, die unerlaubter Weise in den Heiligen Wäldern Jagd
machten.
Larannah war ebenfalls nicht mitgekommen. Zusammen mit Pinn und
Quen erwartete sie seine Rückkehr, während Meldarána,
Glindir, Palan und Gwend nicht von Arions Seite wichen. Die vier Elfen
hatten einen lebenden Schild um ihn gebildet, so dass er vor Angriffen
aus allen Himmelsrichtungen gefeit war.
Die Sonne sank gerade hinter die zackigen Gebirgskämme, als
sie drei Meilen westlich des Thrudlock Tals ihr Nachtlager aufschlugen.
Bald standen die ersten Sterne am Firmament, glichen Diamanten, die willkürlich
auf eine dunkelblaue Samtdecke platziert worden waren. Arion genoss den
Anblick, inhalierte die Stille und den Duft gebratenen Fisches. Morgen
würden sie sich mit den Vyrn treffen und gemeinsam Irion erstürmen.
Einmal mehr zweifelte er an seiner Entscheidung, doch dann rief er sich
hastig zur Räson. Gegenüber seinen Truppen - er marschierte mit
zirka sechstausend Mann, was eine ganze Legion ausmachte - musste er standhaft
bleiben und durfte sich nicht von Gespenstern in Form seiner beklemmenden
Gedanken ins Bockshorn jagen lassen. Sie waren ausgerüstet mit Schwert
und Bogen, und einige schwangen Banner an langen Stahlspitzen. Unter ihren
waldfarbenen Tuniken trugen sei filigran gearbeitete Kettenhemden, die
den Hieben der Zwerge die Wucht nehmen sollten.
Zwerge zogen es vor, mit Keulen und Streitkolben in den Kampf zu
ziehen, schwangen Knüppel oder kurze Schwerter, deren Klingen jedoch
breiter als gewöhnlich waren. Auch der Hammer war ein beliebtes Werkzeug
wie auch Schlachtinstrument. Mit bereits einem Schlag konnte man das Knie
eines erwachsenen Mannes zerschmettern oder seinen Schädel zertrümmern.
Während die Elfen Langbogen benutzten, bevorzugten die Zwerge Schleudern
und Kurzbogen, mit denen sie jedoch nicht minder geschickt umzugehen wussten.
Arion rückte etwas näher an die Flammen, da es inzwischen
doch schon recht kalt geworden war. Zwar hatte er sich seinen schweren
perlenbestickten Reitumhang um die Schultern gelegt, doch das vermochte
die Kälte in seinem Herzen nicht zu vertreiben. Er hoffte darauf,
dass die Hitze der Glut ein Gefühl von Heimeligkeit in ihm auslöste.
Doch diesen Abend wartete er vergebens.
Sie erzählten sich Geschichten, tranken Wein aus Anbaugebieten
in der Nähe der südlichen Berge oder hockten einfach nur stumm
da und starrten in die Dunkelheit. Manchmal glaubte einer, er hätte
etwas zwischen den Felskeilen blinken sehen, und sie erklärten sich
diese Entdeckung mit den Worten, es würde ein übrig gebliebenes
Metallstück aus den Großen Kriegen sein. Doch keiner wagte seine
wahren Gedanken auszusprechen, denn alle wussten, dass ein nächtlicher
Überfall auf jeden Fall möglich war. Unwahrscheinlich, aber durchaus
nicht undenkbar. Was war, wenn das Blinken im Dunkeln ein zum Angriff erhobenes
Schwert war, auf dem sich Sternenlicht spiegelte? Man malte sich die wildesten
Phantasien aus.
Plötzlich erklang ein unheilvolles Scheppern aus der Ferne:
metallene Waffen, die an Rüstungen schlugen.
Sofort waren alle auf den Beinen. Schwerter wurden gezogen und Pfeile
auf Sehnen gelegt. Ein leises Knarren ging durch die Reihen, als sich das
Bogenholz spannte. Auch Arion hatte die von Soldaten kündenden Geräusche
vernommen.
Schnellen Schrittes eilte er zwischen den Wachposten hindurch versuchte
die Schatten in den Niederungen des Tals zu durchdringen. Anfangs fiel
es ihm schwer, auch nur die gekühlte Lava vom dichten Tann zu unterscheiden,
doch dann wurde er sich winziger Lichtpunkte gewahr, die wie Geister zwischen
den Bäumen auftauchten und wieder verschwanden.
Die Neuankömmlinge hatten einen Pfad benutzt, der den Elfen
bisher verborgen geblieben war. Irgendwo zwischen den aufragenden Felssäulen
musste es einen weiteren Durchgang geben. Arion ließ seine Augen
über die bewaldete Senke schweifen. Hier wuchsen ausschließlich
Nadelbäume und Dornenhecken. Gestrüpp überwucherte den geröllübersäten
Boden und die verkümmerten Reste längst vertrockneter Zypressen
ragten aus diesem Teppich der Tücke. Direkt unterhalb von Arion fiel
eine Wand steil nach unten ab. Für die ungebeteten Besucher durfte
es äußert mühsam werden, diese Mauer aus natürlichem
Gestein zu überwinden, denn sie war glatt und mochte gut fünf
Meter hoch sein.
Erneut fragte sich Arion, was diese fremden Soldaten hier zu suchen
kann. In der allgegenwärtigen Dunkelheit konnte er nicht einmal erkennen,
welcher Rasse sie angehörten. Es konnten ebenso gut Menschen wie Zwerge
oder Trolle sein.
Augenblicklich tauchte Palan neben ihm auf, und seine geschulten
Augen durchdrangen die Düsternis mit Leichtigkeit. "Vyrn", erkannte
er.
Arion warf seinem Freund einen fragenden Blick zu.
Dieser erwiderte mit einem Achselzucken. "Vielleicht gibt es mehrere
Pfade, die zum selben Ziel führen", schlug er vor, nicht ohne seinem
Zweifeln Ausdruck zu verleihen. Er zog die Brauen hoch. Dann stierte er
weiter in die Nacht und begutachtete das näher rückende Heer
durch die Baumskelette.
"Dragan?"
Der grimmig dreinschauende General stand hinter ihm.
"Glaubt Ihr, dass sie uns überraschen wollen?"
Dragan schürzte die Lippen, deutete eine nachdenkliche Miene
an, doch seine eisblauen Augen blieben kalt. "Möglich", gestand er
nach einigem Zögern. "Aber ich halte es für wahrscheinlicher,
dass sie sich mit uns treffen wollen!"
Arion atmete erleichtert auf und zog sich von seinem Aussichtspunkt
zurück. Im Moment der Gefahr war ihm der eben erst geschlossene Pakt
völlig entgangen. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass sie sich ja im Thrudlock
Tal hatten treffen wollen.
Er war gerade dabei, wieder ins Lager zurückzukehren, als ein
Surren ertönte. Palan stieß einen Fluch aus und ging in Deckung,
während Dragan weiterhin still dastand. Unmittelbar neben ihnen war
ein Pfeil gegen die Felswand geprallt.
Rasch bückte sich Arion, hob das Geschoss, dessen eiserne Spitze
beim Aufprall einfach abgebrochen war, auf und blickte einige Sekunden
völlig gebannt darauf hinab. Als er den Kopf hob, leuchteten seine
Augen in jenem Feuer, das tiefste Entschlossenheit ausdrückte.
"Sie sind weg", sagte Dragan ruhig, der sich noch immer um keinen
Millimeter gerührt zu haben schien. Seine breitschultrige Gestalt
wirkte imposant in ihrem roten Lederharnisch. Auf seinen Rücken war
ein gewaltiges Breitschwert geschnallt, und er trug Handschuhe, die ihm
beinahe bis zu den Ellbogen reichten.
Tatsächlich waren die Vyrn wieder zwischen den Bäumen
verschwunden. Nicht einmal die glühenden Reste einer heruntergebrannten,
weggeworfenen Fackel zeugten von ihrer einstigen Anwesenheit. Es war, als
wären sie nie da gewesen.
Zögerlich erhob sich Palan aus seiner geduckten Haltung und
richtete seine Aufmerksamkeit nun auf Arion, der ein kleines Stück
Pergament in Händen hielt. Er hatte es vom hölzernen Schaft des
Pfeils gelöst und bereits mehrere Male durchgelesen. Doch die krakelig
geschriebene Nachricht verunsicherte ihn mehr als der halbherzig ausgeführte
Anschlag, den einzig der General nicht als solchen gedeutet hatte. Vielleicht
hatte er einfach nur schon zu vielen Kämpfen beigewohnt, um zu wissen,
wann sich die eiserne Spitze in sein Herz, und wann in das eines anderen
bohren würde. Und es schien ihm egal zu sein.
Arion flüsterte: "Es gibt eine kleine Planänderung..."
Murak starrte gedankenversunken in die Nacht hinaus. Es war kühl
und der Wind strich sanft über seine staubiggrüne Haut. Er hatte
den vorgesehenen Plan geändert. Na und? Wen kümmerte es? Sie
würden sich nicht wie abgemacht im Thrudlock Tal, sondern auf den
Hängen vor der Zwergenstadt Irion treffen. Zusammen würden sie
die Zwerge mit Leichtigkeit überrennen, auch wenn das Zaubergold sie
mit magischen Kräften ausstattete. Das hieß, wenn das magische
Erz ihnen überhaupt einen Vorteil versprach. Es konnte auch genauso
gut einfach nur besonders hell funkeln oder härter sein, als es für
gewöhnlich der Fall war. Aber das waren Dinge, die man nicht nachprüfen
konnte.
Seit Jahren befanden sich die Rassen im Krieg, und nie waren auch
nur die kleinsten Geheimnisse hinter den feindlichen Linien aufgedeckt
worden. Stets handelte es sich um Wissen, das man durch Hörensagen
erlangt hatte. Falls das besagte Gold zu mehr fähig war, als seinen
Träger nahezu unverwundbar zu machen, konnten sie in einem Kampf nur
unterliegen.
Er stellte sich vor, wie sie die Zwerge angriffen - grob geschmiedete
Schwerter und rostige Säbel erhoben - und sich wie ein Keil in den
Heerhaufen trieben. Anfangs dominierten die brutalen Kräfte der Vyrn,
doch dann wehrten sich die Zwerge heftiger. In seiner Phantasie kämpften
sie urplötzlich gegen mutierte Bestien, gänzlich bedeckt von
krausem, grauem Haar. Was war, wenn das magische Erz ihren Kontrahenten
die Macht verlieh, ungeahnte Kräfte zu entwickeln?
Urplötzlich musste er an den Dämon denken, der in den
Schatten auf ihn gelauert hatte, dessen Augen stechender und bösartiger
waren, als selbst die des Meisters. Der Meister - so glaubte er - strahlte
eine allgegenwärtige dunkle Präsenz aus, voller Hass, doch der
Ghul, der vielleicht ein Vorbote des Todes war, war umgeben von einer Aura
des Schreckens, die ihn unweigerlich mit Angst erfüllte. Verdammt,
er hatte wie ein Kind gewinselt!
Verärgert verscheuchte er den Gedanken und wandte sich wieder
seinen Kriegern zu.
Der Hexenmeister hatte ihm eine Armee von ungefähr zweitausend
Soldaten unterstellt. Das war genug, um den Elfen einen schweren Schlag
zu versetzen, während diese mit den Zwergen beschäftigt waren.
Hass loderte wie eine Stichflamme in ihm auf, und er ballte die Hand zur
Faust. Seine Rache würde kommen. Und wenn es soweit war, standen ihm
allein die Menschen im Weg. Die Trolle würden die Gelegenheit, die
südlicheren Gefilde des Morgengebirges zu erobern, wahrnehmen und
sich den Hochländern annehmen. Die Reiche im Tal der Dämmerung
würden zerfallen, zerbröckeln wie die vertrockneten Gebeine eines
Toten.
Ein irres Grinsen, das alle seine verbliebenen Zähne enthüllte,
trat auf seine Züge.
Er war bereit.
Mit harscher Stimme wandte er sich an seine Untergebenen: "Macht
euch kampfbereit! Bei Sonnenaufgang greifen wir an!"
"Es wird eine Schlacht geben."
Darns Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als er die bleichen
Bergrücken der Sichelkämme betrachtete. Die Dämmerung hatte
bereits eingesetzt und die Sonne verschwand gerade hinter den westlichen
Hügeln, sodass die Zacken des genannten Massives - umrandet von gleißendem
Licht - große Stücke aus dem Himmel zu reißen schienen.
Der Einzug hatte begonnen, und die Schatten marschierten gleich Eroberern
über die Ebene im Norden. Dort war das Plateau leicht abgeflacht und
nur spärlich von Bäumen bewachsen, während der Osten abwechselnd
von niedrigen Tannen und freien Flächen dominiert wurde.
Der Bote aus Thoronor wandte sich ab, verließ die Brüstung
der Stadtmauern und marschierte eine gepflasterte Straße entlang,
die ihn zum Nordtor führte. Hier war man gerade dabei, einen Steinbogen
zu spannen. Die Zwerge hatten die Abfälle aus den Minen genommen,
um sie beim Bau eines Walls zu gebrauchen.
Er betrachtete das Werk einen Moment lang, dann schüttelte
er den Kopf. Sie würden nie rechtzeitig fertig werden. Noch immer
fehlte ein Torhaus und die Arbeiten gingen nur äußerst langsam
voran, da der Großteil der Zwerge dabei war, die Stadt auf der Suche
nach dem Zaubergold zu unterhöhlen.
Corna schnüffelte in der Luft und erhielt die Bestätigung
für sein Befürchten.
Es würde eine Schlacht geben. Bald. Sehr bald sogar. Und die
wenigen Männer, die er bis jetzt zur Verteidigung auf die Beine gestellt
hatte, würden niemals in der Lage sein, Irion über einen längeren
Zeitraum hinweg zu verteidigen.
Wind kam auf und bauschte Darns Umhang.
Nein, er hatte noch viel zu tun. Er würde Irion nicht so einfach
fallen lassen. Das konnte er den anderen nicht antun. In all der Zeit,
die er bis jetzt mit den Zwergen verbracht hatte, hatte er dieses Volk
mit seinen Eigenheiten regelrecht lieb gewonnen. Trotz allem war das schelmische
Grinsen von seinen Lippen verschwunden, das, was ihn einst markant gemacht
hatte. Er hatte sich verändert. Mehr durch Zufall hatte er die Verteidigung
der Stadt in die Hand genommen. Da Irion vor einigen Wochen noch ein einfaches
Dorf gewesen war, hatte es keinen Grafen oder Baron gegeben, der dieses
Gebiet verwaltete. Und nachdem die anderen Zwerge seine wahren Ziele -
nämlich der Stadt zu größerem Ruhm zu verhelfen - erkannt
hatten, nahmen sie diese Veränderung in der Rangordnung stillschweigend
hin.
Noch immer war Darn sich nicht sicher, warum er dies alles tat.
Vielleicht tat er es, weil er diesen einfachen Leuten helfen wollte. Vielleicht
auch deshalb, weil er die heiß geliebten Märchen seiner Kindheit
schützen wollte.
Und vielleicht...
Er zögerte.
Vielleicht ist dies alles nur Einbildung.
Erneut sandte er seine Blicke nach Westen. Fragend. Abschätzend.
Wartend auf ein Zeichen.
Nein! Er schüttelte den Kopf. In all den Jahren hatte
er einen sechsten Sinn für Gefahr entwickelt. Und außerdem konnte
er riechen, dass etwas nicht stimmte. Und das in mehr als einer Hinsicht.
Gefahr drohte ihnen nicht nur durch Angreifer. Diese ganze Sache mit dem
Glymrithil wurde ihm allmählich immer befremdlicher. Alle schienen
von diesem Zaubergold eingenommen, bis auf ihn. Vielleicht war es seine
menschliche Herkunft, vielleicht auch nur sein sechster Sinn, der ihn davor
behütete, blindlings in eine Falle zu tappen.
© Benedikt
Julian Behnke
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