Der Morgen graute bereits über Irion, als die vereinigten Armeen
auf den grünen Hügeln vor der Stadt Aufstellung bezogen. Noch
deutete nichts darauf hin, dass sich die Zwerge zum Kampf rüsteten.
Arion und Murak hatten sich in den Schatten eines Baldachins am
Waldrand zurückgezogen, von wo aus sie das Geschehen gut im Auge behalten
konnten. Bald würde die Sonne als heißer, rot glühender
Feuerball am Himmel stehen und auch den letzten Dunst auf den Ebenen unterhalb
des Plateaus, auf dem Irion zur Hälfte errichtet war, vertreiben.
Neben ihnen standen ihre Adjutanten - Dragan, Glindir und zwei Vyrn,
deren Namen Arion nicht kannte, doch ihre enormen Körpermaße
mochten darauf hinweisen, dass man allein durch Muskelkraft in der Hierarchie
der Vyrn aufsteigen konnte. Vor ihnen auf einem Tisch war eine vergilbte
Karte ausgebreitet, die das Gebiet um die Stadt und den Verlauf des Goldgräberflusses
unterhalb der Klippen zeigte. Irion selbst bestand größtenteils
aus einer Ansammlung von Schmieden. Westlich von hier befanden sich alte
Minenschächte und Steinbrüche, und ein lichter Wald schmiegte
sich an die Ausläufer des Vorgebirges.
"Wir greifen von Norden an!", erklärte Murak und wies mit dem
Finger auf eine markierte Stelle der Karte. "Wenn wir erst einmal drin
sind, sollten wir uns aufteilen."
"Wenn wir von Norden kommen", sinnierte Glindir, "wird uns der Feind
sehen und sofort die Tore schließen. Noch haben wir einen Vorteil,
und den sollten wir - meiner Meinung nach - auch ausnutzen!"
Murak warf ihm einen vernichtenden Blick zu, sagte jedoch nichts,
sondern schielte zu Arion. Der Elfenkönig nickte mit vor der Brust
verschränkten Armen. Der Vyrn-Häuptling seufzte. Dann unterhielt
er sich kurz mit seinen beiden Gehilfen. Die Sprache der Vyrn bestand zum
größten Teil aus gutturalen Lauten und harschen Gesten. Als
er geendet hatte, wandte er sich wieder an die drei vom Waldvolk: "Also
gut. Was schlagt ihr vor?"
Das war der Moment, in dem Glindir bereit war, sich nach Herzenslust
auszulassen. Sofort kramte er in einem ledernen Beutel an seinem Gürtel
und förderte einige aus Holz geschnitzte Spielsteine zu Tage. Meistens
glichen sie Tieren, auch wenn sie in ihrer Gestaltung recht primitiv wirkten.
Insgesamt waren es sechs: ein Adler, ein Schaf, ein Wolf, eine Schwalbe,
eine Schildkröte und ein Hirsch. Er erklärte ihnen deren Bewandtnis,
während er die verschiedenen Figuren auf dem Pergament hin und her
schob. "Der Adler ist stark, schlägt rasch zu und besticht durch sein
prächtiges Federkleid und die Spannweite seiner Schwingen. So kann
auch ein Pferd bedrohlich wirken, wenn es in gesprengtem Galopp den Verteidigern
entgegen donnert."
"Gut, das kann ich verstehen, aber das Schaf?"
"Das Schaf..." Er lächelte schelmisch. "Nun, damit sind unsere
Jäger gemeint."
Dragan wirkte verwirrt, als er die Stirn in Falten zog. Seine Lippen
formten eine Frage, sprachen sie jedoch nicht aus.
"Warum?" Glindir zog die Brauen hoch. "Das Schaf wirkt ungefährlich
und erregt kaum Aufmerksamkeit. Außerdem ist es ein Zeichen der Reinheit
und Geborgenheit. Und dieser Trupp vermag genauso unschuldig und uninteressant
zu wirken. Palan führt sie an."
"Sich verborgen zu halten, war schon immer seine Spezialität",
erklärte Arion den anderen.
Glindir nickte und sprach weiter: "Die Schwalbe ist leicht und schnell,
ebenso unsere Bogenschützen." Er verschob den Spielstein. "Sie werden
eine Position einnehmen, von der aus sie die Situation gut im Blick haben
und dementsprechend handeln können." Er wandte sich einer anderen
geschnitzten Figur zu. "Der Wolf! Das sind unsere Schwertkämpfer.
Da sie der wichtigste Bestandteil des Nahkampfes sind, sollen sie als einzige
nach dem Zaubergold suchen."
Bei diesen Worten wurde Murak hellhörig, sagte jedoch nichts.
Stattdessen warf er dem Elfenkönig einen raschen, abschätzenden
Blick zu.
Arion blieb dies unbemerkt, denn er betrachtete weiterhin eingehend
den Plan und die taktisch korrekt angeordneten Spielfiguren drauf.
Der Kommandant machte unbehelligt weiter: "Die Schildkröte
- welcher Panzer ist schon härter? Nun, vielleicht die Harnische unserer
Ritter. Sie sind zwar etwas langsam, dafür aber umso besser geschützt."
Zuletzt nahm er die Figur des Hirschs zur Hand. "Eine bunt zusammen gewürfelte
Gruppe aus allen sechs Kategorien. Idealerweise ergänzen sie sich
perfekt, und es ist beinahe unmöglich, sie auch nur auseinander zu
treiben. Sie halten zusammen, egal, wie schlecht es um sie steht."
Dragan nickte anerkennend. "Ich werde..."
Rasch schüttelte Arion den Kopf, schnitt ihm das Wort ab. "Du
wirst nicht! Gwend wird sie anführen. Ich brauche dich hier,
alter Freund!"
Die kalten Schlachteraugen fixierten ihn. Dragan stand kurz davor,
das Schwert gegen seinen Herrn zu erheben. Jedoch fügte er sich rechtzeitig.
Sich räuspernd versuchte er, seine Aufmerksamkeit wieder auf Glindirs
Taktik zu lenken.
Murak genoss den Zwist. Mit aller Kraft musste er ein boshaftes
Grinsen unterdrücken. Die Elfen stritten sich untereinander. Dies
war der richtige Zeitpunkt, Zwietracht zu säen. Doch er musste sich
damit soweit zurückhalten, dass keiner den Verdacht schöpfte,
er könnte etwas damit zu tun haben. "Wir behalten zweihundert Krieger
zur Verteidigung im Lager zurück. Das sollte genügen, damit wir
uns sicher fühlen", erläuterte er wie beiläufig. Irgendetwas
schien mit ihm geschehen. Er war nicht länger der stumpfsinnig denkende
Vyrn-Häuptling, der seine Kriege ausschließlich mit brutaler
Gewalt führte. Er war wie verwandelt. Statt weiterhin Entscheidungen
aus dem Bauch heraus zu entscheiden, knüpfte er in Gedanken ein kompliziertes
Muster aus Handlungssträngen. Vielleicht, dachte er, ist
es ein Geschenk des Meisters für meine treue Ergebenheit...
"Und was geschieht mit dem Rest eurer Mannen?"
Der Vyrn antwortete nicht sofort. Er knüpfte weiter an diesem
Gewebe seiner Gedanken. "Ich werde sie zu eurer Unterstützung in die
Stadt schicken. Gemeinsam erwirken wir mehr. Außerdem wird es die
Zwerge verwirren, wenn sie von mehreren Rassen gleichzeitig überrannt
werden!" Ein geschickter Schachzug.
Arion zauderte. Erneut spürte er, dass etwas nicht in Ordnung
war. Er wusste nicht, ob es das plötzliche Wohlwollen des Vyrn war
- denn bedachte man ihr Gespräch in Tirvar, so hätte es sich
um unverhohlene Feindlichkeit handeln müssen - oder ob Dinge geschahen,
von denen er keine Ahnung hatte. Er dachte an Larannah, die in Andor auf
seine Rückkehr wartete.
Schließlich hob er den Blick, verscheuchte das Unbehagen und
wandte sich an den Vyrn. "So sei es", verkündete er. "Wir haben lange
genug darauf gewartet. Jetzt ist die rechte Zeit gekommen!" Er sah zu seinem
Kommandanten. "Glindir, Ihr bezieht auf dem Hügel da drüben Stellung!"
Er wies in die angegebene Richtung. "Dragan, Ihr behaltet die Mauern von
dort aus im Auge!" Sein Finger zeigte auf eine Felsnase, die sich unweit
der Klippen im Westen aus dem Gras erhob.
Der General wollte protestieren, doch der Elfenkönig hob rasch
die Hand.
"Ich weiß, was Ihr sagen wollt", beschwichtigte er ihn. "Aber
Gwend ist für diese Aufgabe geeigneter. Und außerdem: einen
Hauptmann auf dem Felde kann ich entbehren, nicht aber einen General, der
so gut wie alle Fäden in Händen hält!" Er klopfte seinem
alten Freund auf die Schulter. Dann wandte er sich ab, winkte einen schlanken
Jungen auf einem Pferd herbei.
"Blas das Horn!", rief er, als die Adjutanten ihre Posten eingenommen
hatten. Ihre Mäntel flatterten im Wind. Auch die Vyrn rannten wild
durcheinander und versuchten so etwas wie eine Schlachtenordnung aufzubauen.
Während einige Elfen Phalangen bildeten, stellten sich die Grünhäutigen
in zwei Reihen auf, die von den Ausläufern der Berge bis zu den felsigen
Überhängen in die tieferen Lande reichten.
Augenblicklich löste der Junge ein Gold verziertes Horn von
seinem Gürtel. Sein Oberkörper war nackt und mit Ketten und Federn
behangen, sodass er einem vom Volk der Barbaren glich, obgleich seine Gestalt
dafür viel zu schmal und knabenhaft war. Ein blecherner Ton erklang,
hallte von den Bergen wider und unzählige andere Hörner schmetterten
ihren Tribut. Pauken und Trommeln wurden geschlagen, verursachten einen
wilden Rhythmus, der die Truppen in Bewegung setzte. Banner knatterten
im Wind und die ersten Elfen stürmten über das Feld. An ihrer
Spitze ein Tross berittener Soldaten. Eisen klapperte, Hufe donnerten und
Stiefel trampelten, Schlachtrufe und Gesänge erhoben sich und es stank
nach Leder und Schweiß.
Im nächsten Moment wurden Feuer entzündet. Zwar waren
die Tore der Stadt noch weit geöffnet, doch das hinderte die Insassen
nicht, sich mit brennenden Pfeilen zu wehren. Ein wahrer Hagel aus glühenden
Schäften ging über die Angreifer hernieder. Um Hilfe rufend sanken
die Getroffenen zu Boden und tränkten die Erde mit Blut. Schwerer
Gerüstete hingegen hoben einfach ihre Schilde, sodass die Pfeile wie
Hagelkörner von ihnen abprallten, zersplitterten oder im harten Holz
stecken blieben.
Mehr als die Hälfte der Reiter war durch diese Zurwehrsetzung
zurückgefallen. Die Pferde sprengten auseinander und galoppierten
in wilder Hast über die Hügel, während ihre Besitzer nichts
anderes tun konnten, als zu versuchen, im Sattel zu bleiben. Doch schließlich
schaffte es das Drittel bis zu den Toren. Unter einem weiteren Schauer
aus Geschossen - diesmal waren auch Steine dabei - gelangten sie durch
das gewaltige, steinerne Portal, das einen der wenigen Eingänge nach
Irion darstellte.
Sofort wurde die Aufmerksamkeit von den Belagerern zu den Eindringlingen
gelenkt. Das war das Zeichen für die Wölfe, zuzuschlagen. Wie
ein Mann erhoben sie sich und rannten über das freie, von Leichen
übersäte Feld. Ihnen dicht auf den Fersen jene Soldaten, die
Glindir als Schildkröten bezeichnet hatte.
Erst, als sie nahe genug an die Stadt herangekommen waren, registrierten
sie, dass es überhaupt keine Tore gab, die verschlossen werden konnten.
Anscheinend hatte kein Zwerg auch nur mit einem Überfall gerechnet.
Natürlich, überlegte Arion, als man ihm die ersten Mitteilungen
machte, die Stadt war auf Handel aus. Und nur auf Handel. Wozu sich dann
die Mühe machen und Verteidigungsanlagen installieren? Bis auf die
Wehre gab es wirklich kaum ein Anzeichen dafür, dass diese Stadt gut
bewacht war. Er beobachtete noch, wie Palan mit den Schafen in den Büschen
östlich von Irion verschwand.
Jetzt stürmten auch die Vyrn vor. Sie drängten nicht wie
die Elfen alle durch einen Eingang, sondern warfen an verschiedenen Stellen
der Mauer Sturmleitern gegen den Wall. Beinahe sofort hatten sie große
Teile des Verteidigungsrings besetzt und attackierten die Rücken der
fliehenden Zwerge.
Von seinem Standpunkt aus konnte Arion sehen, wie sich die Armee
auf der großen Hauptstraße von Irion entlang schob. Für
ihn wirkte es wie eine zähflüssige, im Sonnenlicht funkelnde
Masse. Bald schwelten die ersten Strohdächer.
Und da erkannte Arion, was ihn so verstört hatte.
Es war zu leicht.
Wo war das Zaubergold, das den Zwergen übernatürliche
Kräfte verlieh?
Er wollte sich gerade umwenden und Murak eine Frage bezüglich
dieser Sache stellen, als er plötzlich kalten, scharfen Stahl an der
Kehle spürte.
"Ein Schrei oder eine rasche Bewegung, und du bist
tot!",
flüsterte die grummelnde Stimme des Vyrn-Häuptlings. Er roch
den stinkenden, ungewaschenen Körper und den fauligen Atem. Er spürte
die Hitze eines fremden Körpers dicht hinter ihm. Ekel überfiel
ihn, und gleichzeitig wusste er, dass er verloren hatte.
Unweigerlich musste er an die Worte denken, die ihm bei der Versammlung
in den Sinn gekommen waren. Er wollte sich seine Freunde nah, aber seine
Feinde noch näher halten. Jetzt war er gezwungen, wenigstens diese
Sache aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.
"Achtung!"
Darns Schrei gellte über den Vorhof des Marktplatzes, und im
nächsten Moment rissen alle Zwerge ihre Lanzen nach oben. Es war gekommen,
wie es hatte kommen müssen. Man hatte es nicht geschafft, die Arbeiten
am Torhaus rechtzeitig fertig zu stellen. Schnaubenden Dämonen gleich
galoppierten die Hengste der Elfen durch das Stadtportal, angetrieben durch
beständigen Schenkeldruck. Die Reiterei stammte offensichtlich aus
der Garnison von Eleval, denn sie trugen Federschmuck und leichte Lederrüstungen,
was den Clan der Aidar ausmachte. Und sie waren bestens mit ihren Tieren
vertraut, wussten um jede Nuance Leistung, die ihre Pferde bringen konnten.
Die Zwerge rückten enger zusammen, als die Hufe auf der gepflasterten
Straße Funken zu schlagen begannen. Es klang, als würde man
Feuersteine aufeinaderprallen lassen.
"Bleibt standhaft!"
Schild stand an Schild, und zwei Meter lange Spieße ragten
aus dieser grauen Mauer hervor, bereit, die Angreifer zu durchbohren. Corna
war mitten unter ihnen, in einer Hand das schlanke Schwert, in der anderen
das Banner von Irion. Er hatte sich geschworen, diese Stadt zu verteidigen,
und diesen Schwur würde er keinesfalls brechen wollen. Zusammen bildeten
sie einen Halbkreis, der Angriffe durch das Tor abfedern sollte, um so
den Bogenschützen auf den Dächern und Zinnen eine bessere Möglichkeit
zu geben, die Angreifer zu erledigen.
Dann preschten die Gäule in gestrecktem Galopp in die Verteidiger.
Metall schepperte, als Hufe gegen Schilde donnerten oder Schädel zertrümmerten.
Schartige Eisenspitzen gruben sich in verschwitztes, heißes Pferdefleisch.
Wiehernd brachen drei der Schlachtrösser zusammen, doch ein weiteres
Dutzend war auf dem Weg zu ihnen, während vier Angreifer den Gürtel
durchbrachen.
Darn schrie auf, hob das Schwert hoch über den Kopf und ließ
es auf den ersten Reiter niedersausen, der in Reichweite kam. In einer
Kaskade von Blut durchdrang die Klinge Rüstung und Brustbein des Attackierenden,
warf ihn aus dem Sattel und schmetterte ihn zu Boden. Knochen zerbrachen
wie Glas unter Cornas Hieb und der Mensch taumelte zurück, als die
Fliehkraft ihren Tribut forderte.
Erneut hob er die Klinge, wich dem Angriff eines Berittenen aus
und bohrte das Schwert stattdessen in die Seite eines Dritten, der gerade
in einen Kampf mit einem der zwergischen Pikeniere verwickelt war. Blut
sprenkelte sein Gesicht und für einen Sekundenbruchteil war es ihm
unmöglich, den roten Schleier zu durchdringen. Etwas streifte seine
Schulter und drang heiß und beißend in seinen Oberarm ein.
Darn schrie auf, als der gegnerische Stahl Muskelstränge durchtrennte,
biss die Zähne jedoch zusammen und wirbelte herum. Noch in der Bewegung
vollführte er einen Rundumschlag und fällte den heimtückischen
Angreifer. Unendlich langsam sackte der Getroffene zu Boden, während
sich ein Pfeil in seinen Hals bohrte. Er war tot, bevor sein Oberkörper
die Straße berührte.
Der Mensch presste die Hand auf die Verletzung, taumelte, während
Blut zwischen seinen Fingern hindurch schoss. Er hat eine Arterie verletzt!,
schoss es ihm durch den Kopf. Wieder bliesen Hörner zum Angriff und
Sturmleitern krachten gegen den Wall. Gigantische Vyrn stürmten durch
das unfertige Tor und begannen mit einem grausamen, gnadenlosen Gemetzel.
Darns Verzweiflung wuchs. Mit zitternden Fingern riss er sich einen
Streifen Stoff vom Umhang und knotete es so gut es ging um seinen linken
Oberarm. Seine gesamte linke Seite brannte wie Feuer, ein höllisches
Inferno, in dem er bereits ansatzweise ein taubes Prickeln fühlte.
Er hatte den Knoten so fest zugezogen, dass es ihm vorkam, als wütete
Brennnesselgift auf seiner Haut. Scharf sog er die Luft ein, dann warf
er sich mit aller Kraft einem grobschlächtigen Vyrn entgegen. Noch
im Sprung ergriff er das Schwert wie einen Speer und rammte es bis zum
Heft in die grüne Brust des Monsters.
Als er sich aus der Umklammerung des Sterbenden befreit hatte, warf
er einen raschen Blick um sich. Der Vorhof war kaum wieder zu erkennen.
Wo vor wenigen Minuten noch zwei Reihen Zwerge zur Verteidigung bereit
gestanden hatten, fand er nun ein beinahe gänzlich verlassenes Schlachtfeld
vor. Verlassen bis auf die Elfen und Vyrn, die brüllend und jubelnd
über die Mauern sprangen und die Bogenschützen erdolchten. Durch
das Stadtportal jedoch stürmten nun bis an die Zähne bewaffnete,
schwer gepanzerte Ritter. Das Licht der Sonne spiegelte sich auf ihren
blanken, makellosen Harnischen und die Angreifer glichen einem Meer aus
Licht, das sich langsam vorwärts wälzte.
Corna wurde bewusst, wie nah er dem Ende war. Schrecken bemächtigte
sich seiner. Er wurde bleich. Der hohe Blutverlust tat das seine und so
sank er erschöpft auf die Knie. In der Hitze des Gefechtes hatte er
kaum vermocht, klar zu denken - jetzt, da ihm die Flamme des Hasses nicht
mehr gänzlich die Sicht nahm, erkannte er den Abgrund, an dessen Rand
er stand. Er sank auf die Knie. Es war vorbei.
Doch dann erinnerte er sich an Devin, der zusammen mit hundert anderen
Zwergen wie ein Irrer in den Minen schuftete. Prompt riss sich Darn zusammen.
Wenn ihm schon sein Leben egal war, sollte ihm wenigstens nicht das Leben
seines Freundes egal sein. Mühsam stemmte er sich in die Höhe,
richtete sich gegen die Tonnenlast auf, die ihn am Boden gefangen halten
sollte. Es waren seine eigenen, schwermütigen Gedanken, die ihn korrumpiert
hatten. Ihnen war es zuzuschreiben, dass er sich lieber ergeben als heldenhaft
sterben wollte. Doch sterben würde er so oder so. Er spürte,
wie die eisigen Finger des Todes über seine Stirn strichen, seinen
Geist, seine Seele rauben wollten. Aber er weigerte sich, starrte in die
Leere und versuchte den Sensenmann auszumachen. Ein süßlicher
Duft stieg Darn in die Nase; es roch nach Feilchen und Jasmin, nach Flieder
und wildem Holunder. Im selben Moment jedoch begriff er, dass er dieser
Versuchung widerstehen musste, um seinem Freund zu helfen. Abrupt verwandelte
sich der betörende Geruch in einen abstoßenden Leichengestank.
Darn stellte sich weiße Blütenblätter vor, die welkten
und zu Maden und Insektenlarven wurden. Fliegen summten und ekelhaftes
Gewürm fraß sich durch herausquellende Gedärme.
Corna schüttelte den Kopf.
Sofort konnte er wieder klar sehen. Und zu seinem Erstaunen registrierte
er, dass nicht einmal eine Minute vergangen war, seit er sich unter Schmerzen
aufgerichtet hatte. Die Vyrn waren nah, aber er befand sich nicht in der
Reichweite ihrer Schwerter.
Wie um ihn zu narren, sirrten plötzlich Pfeile heran und bohrten
sich dicht neben ihm in einen gefallenen Körper.
Darn begriff, dass es höchste Zeit war, Devin zu suchen.
Gwend war einer der ersten, der in die Stadt stürmte und nach
den Schmieden Ausschau hielt. Es sieht leichter aus, als es ist,
dachte er, als er vor der ersten Werkstatt stand. Hier in Irion besaß
so gut wie jedes Haus Esse, Wetzstein und Ambosse. Meist waren es einfache
Katen. Die Hauptstraße war gepflastert und breit genug, um drei Karren
nebeneinander Platz zu bieten. Die kleineren Gässchen jedoch stellten
ein schier unüberwindbares Hindernis aus Gerümpel dar.
Zusammen mit einem Soldaten betrat er den ersten Raum - offensichtlich
eine Gaststätte. Tische und Stühle waren umgeworfen. Er hörte
gerade noch ein Poltern im hinteren Teil des Zimmers, als jemand eiligen
Schrittes die Gaststube verließ.
Trotz seines Alters setzte er leichtfüßig über die
Trümmer hinweg und jagte dem Flüchtenden hinterher.
Doch plötzlich wirbelte der Zwerg herum, schwang eine Axt in
seinen fleischigen Händen und attackierte den bereits Ergrauten. Gwend
taumelte im letzten Augenblick zur Seite, und die Schneide prallte Funken
sprühend an der aus Granitblöcken errichteten Wand ab.
Der Elf machte einen schnellen Schritt nach vorn, wobei er das schlanke
Schwert so weit wie möglich von sich streckte. Die Klinge zischte
durch die Luft und beinahe widerstandslos bis zum Heft in die breite Brust
des Zwergs. Schnaufend sank der Kontrahent auf die Knie.
Während der Soldat an ihnen vorbeistürmte und hastig die
Küche unter die Lupe nahm, untersuchte Gwend den Toten. Nichts. Kein
Gold. Allmählich kam ihm der Gedanke, dass dieses Zaubergold überhaupt
nicht existierte. Magisches Erz? Dass ich nicht lache!
Nachdem sie das Haus verlassen hatten, begegnete ihnen ein weiterer
Trupp Zwerge auf der Straße. Sie schwangen Keulen und ein besonders
breitschultriger Krieger mit rabenschwarzem Bart streckte sogar Gwends
Begleiter nieder.
Doch der Hauptmann wusste sich zur Wehr zu setzten. Er kämpfte
wie ein Löwe. Sein Schwert pfiff durch die Luft und enthauptete bereits
den ersten Angreifer. Eine Blutfontäne sprühte gen Himmel und
sprenkelte das staubige Pflaster der Straße. Auch über Gwends
Gesicht lief Blut, das nicht sein eigenes war.
In diesem Kampf verlieh er all seinem Hass den Zwergen gegenüber
Ausdruck. Wie besessen schlug er um sich, trennte Arme ab und warf die
näher Stürmenden mit Tritten und Faustschlägen zurück,
bevor er zum Schlag ausholte und Schädel spaltete. Aus dem anfangs
ungleichen Kampf wurde ein stetes Gemetzel. Gwend zog sich tiefe Wunden
im Schulter- und Oberarmbereich zu, stolperte mehrmals oder wurde niedergeschlagen.
Doch immer wieder rappelte er sich auf, stieß die Klinge tief in
das fiebrigheiße Fleisch seiner Widersacher und verschloss sich vor
den eigenen Schmerzen.
Dann schien es vorbei.
Elfensoldaten kamen ihm zu Hilfe. Bogensehnen sirrten und Pfeilschäfte
gruben sich in die stämmigen Leiber der Zwerge. Gwend nutzte den Zeitpunkt,
um wieder zu Atem zu kommen, und jeder Zug schnitt wie mit Messern in seine
Kehle. Seine Muskeln brannten und ganze Teile seines Körpers waren
taub. Schweiß, der seine Wunden benetzte, verursachte ein dämonisches
Feuerwerk an Schmerzen. Wie Säure, schoss es ihm durch den
Kopf.
Im nächsten Moment erklang der lang ersehnte Ruf: "Das Gold!
Es ist hier!"
Devin protestierte, hob drohend den Hammer und verzog das Gesicht
zu einer wütenden Grimasse. Er schnaufte und seine gestählten
Muskeln bebten. Sein Oberkörper war nackt, einzig bedeckt von einem
Gemisch aus Schweiß und Staub. Breitbeinig hatte er sich zwischen
die Eindringlinge und das Zaubergold gestellt, bereit, das zu verteidigen,
was in mühseliger Schwerstarbeit aus der Schlucht geschafft worden
war.
Die Vyrn grinsten und hoben ihre schartigen Mortheg, Klingen, die
wie flüssiges Metall wirkten, da der Meister ihnen Magie eingehaucht
hatte.
Im nächsten Moment stolperte ein Elf in das Lagerhaus. Er schien
verwirrt, und stieß einen Schrei aus. Noch bevor er zur Tat schreiten
konnte, sauste das Vyrn-Schwert auf ihn herab und durchtrennte sein Genick.
Abrupt wurden seine Worte erstickt.
Das Grinsen des Ungeheuers wurde noch breiter, und als es die Lefzen
wie ein knurrender Hund zurückzog, entblößte es fingerdicke
Reiß- und Fangzähne. Seine Augen glühten gefährlich.
Devin zählte die Sekunden.
Eins...
Die Bestie festigte ihren Griff um den Mortheg. Der Zwerg tat dasselbe.
Zwei...
Man ging in Kampfstellung.
Drei...
Der Riese blinzelte.
In einem kurzen Aufblitzen von rasender Wut stürmte Devin vorwärts,
noch bevor die Grünhäutigen Zeit hatten, zu reagieren. Ihrem
Anführer trieb der Zwerg ein Messer in die Kehle, dem zweiten donnerte
er den Hammer - den er nur noch mit einer Hand hielt - gegen den Schädel.
Der dritte wollte gerade zu einem Gegenschlag ansetzen, als er von einem
anderen Zwerg durchbohrt wurde. Beinahe die Hälfte der Vyrn, die in
das Lagerhaus eingedrungen waren, lagen nach kürzester Zeit tot oder
sterbend am Boden.
Und schlagartig wendete sich das Blatt.
Solange die Zwerge das Überraschungsmoment auf ihrer Seite
gehabt hatten, war es ihnen möglich gewesen, den Vyrn in den Rücken
zu fallen. Doch jetzt war es an den Vyrn, Vergeltung zu üben. Brüllend
und sabbernd hieben sie nach den kleinen Gestalten. Ein Schlag reichte
aus, um den Kontrahenten zu töten. Starke Arme, manche so dick wie
Baumstämme, schlossen sich um Zwergenleiber und zerdrückten sie
mit roher Gewalt.
Devin wehrte sich verzweifelt, hieb um sich und entwischte den Vyrn
immer nur um haaresbreite. Er musste alles daran setzen, das Zaubergold
zu bewachen. In seinem Geist entstand die Vorstellung, dass das Gold -
und somit die Wiederentdeckung Coraths - wichtiger war als sein eigenes
Leben. Ein düsterer Zauber hatte sich um seine Gedanken gelegt, hielt
ihn an Ketten gefesselt, die ihn in die tiefste Agonie seines Seins zwang.
Sein Verfall stand auf der einen Seite, das magische Metall auf der anderen.
Doch eine innere Stimme sagte ihm, so lange er für das Zaubergold
kämpfte, würde ihm nichts geschehen. Einerseits widersprachen
sich diese Gedanken gegenseitig - andererseits war Devin bereits so sehr
von der Magie eingelullt, dass ihm jeglicher Unterschied egal war. Für
ihn existierte weder Leben noch Tod. Das einzige, das übrig geblieben
war, war das Gold. Und die verschollene Stadt Corath.
Er kämpfte mit den Gedanken an diese legendenumwobene, unterirdische
Stadt - stellte sich ihre Pracht vor, der Glanz, all das Schimmern und
Strahlen, Balustraden und Bögen, so leuchtend, dass es einem in den
Augen wehtat. Wessen Herz nicht rein war, würde geblendet werden und
den Dämonen der Unterwelt verfallen, jenen Untoten, die man Minathar
- Geister des Goldes - nannte. Bei dem Gedanken an jene finsteren Gestalten
zogen sich seine Gedärme zusammen.
Im nächsten Augenblick wurde er zurückgedrängt, stolperte
über eine Leiche und schlug hart auf dem Boden auf. Der Vyrn ragte
über ihm auf wie ein Riese, den Mortheg zum finalen Stoß erhoben.
Urplötzlich stand der Mensch neben dem Giganten, trieb ihm
seine Klinge tief in die Brust und warf ihn mit einem Faustschlag zu Boden.
Schließlich wandte er sich zu Devin um, während das Schwert
noch immer in der Leiche steckte. Er atmete schwer, ein Arm hing schlaff
herab und der einst so prächtige Reiterumhang war zerfetzt. Darn reichte
er seinem Freund die Hand und half ihm auf die Beine. Dieser war noch etwas
vom Sturz benebelt. Mit klammen Fingern betastete er seinen Kopf. Er konnte
keine Verletzung ertasten, doch als er seine Finger betrachtete, waren
sie voller Blut.
Corna musterte ihn kurz. "Du hast einen schönen Schlag auf
den Kopf gekriegt, mein Freund!" Er grinste, sah sich daraufhin aber rasch
nach Feinden um. Bis auf ein halbes Dutzend waren die meisten Feinde getötet
worden. Während einige unbeholfen umhertaumelten, durchwühlten
andere die Kisten und Säcke, in denen das Gold gelagert wurde.
"Das Gold..." Seine Stimme klang schwach. Er klammerte sich am Arm
des Größeren fest und streckte die Finger nach den Vyrn aus,
als könne er sie so davon abhalten, das Lagerhaus zu durchstöbern.
"Wir müssen von hier verschwinden!", zischte ihm Corna zu,
packte ihn und schleifte ihn mit sanfter Gewalt ins Freie. Der Zwerg wehrte
sich; er wollte doch das Gold nicht einfach im Stich lassen. Dennoch machte
es ihm seine derzeitige Verfassung schier unmöglich, sich gegen Darn
zu wehren, geschweige denn, alleine mehr als zwei, drei Schritte zu tun.
Hastig drängte ihn der Mensch in eine schmale Gasse, in der
sie völlig von den Schatten verschluckt wurden. Ächzend setzte
er den Zwerg am Boden ab und lehnte sich dann gegen den Stein der Kate.
Er atmete schwer. Die Kämpfe hatten ihn zu sehr mitgenommen, als dass
er es geschafft hätte, gänzlich aus der Stadt zu verschwinden.
Noch dazu mit einem Verletzten auf den Schultern. Dieser Akt grenzte an
Unmöglichkeit.
Nachdem er verschnauft hatte, begann er fieberhaft zu überlegen.
Warum schlossen Elfen und Vyrn ein Bündnis, nur um sich dann doch
die Köpfe einzuschlagen? Es macht einfach keinen Sinn! Resignierend
glitt Darn an der Wand hinunter.
© Benedikt
Julian Behnke
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