Zwergengold von Benedikt Julian Behnke
Fünftes Kapitel
Irion

Der Morgen graute bereits über Irion, als die vereinigten Armeen auf den grünen Hügeln vor der Stadt Aufstellung bezogen. Noch deutete nichts darauf hin, dass sich die Zwerge zum Kampf rüsteten.
Arion und Murak hatten sich in den Schatten eines Baldachins am Waldrand zurückgezogen, von wo aus sie das Geschehen gut im Auge behalten konnten. Bald würde die Sonne als heißer, rot glühender Feuerball am Himmel stehen und auch den letzten Dunst auf den Ebenen unterhalb des Plateaus, auf dem Irion zur Hälfte errichtet war, vertreiben.
Neben ihnen standen ihre Adjutanten - Dragan, Glindir und zwei Vyrn, deren Namen Arion nicht kannte, doch ihre enormen Körpermaße mochten darauf hinweisen, dass man allein durch Muskelkraft in der Hierarchie der Vyrn aufsteigen konnte. Vor ihnen auf einem Tisch war eine vergilbte Karte ausgebreitet, die das Gebiet um die Stadt und den Verlauf des Goldgräberflusses unterhalb der Klippen zeigte. Irion selbst bestand größtenteils aus einer Ansammlung von Schmieden. Westlich von hier befanden sich alte Minenschächte und Steinbrüche, und ein lichter Wald schmiegte sich an die Ausläufer des Vorgebirges.
"Wir greifen von Norden an!", erklärte Murak und wies mit dem Finger auf eine markierte Stelle der Karte. "Wenn wir erst einmal drin sind, sollten wir uns aufteilen."
"Wenn wir von Norden kommen", sinnierte Glindir, "wird uns der Feind sehen und sofort die Tore schließen. Noch haben wir einen Vorteil, und den sollten wir - meiner Meinung nach - auch ausnutzen!"
Murak warf ihm einen vernichtenden Blick zu, sagte jedoch nichts, sondern schielte zu Arion. Der Elfenkönig nickte mit vor der Brust verschränkten Armen. Der Vyrn-Häuptling seufzte. Dann unterhielt er sich kurz mit seinen beiden Gehilfen. Die Sprache der Vyrn bestand zum größten Teil aus gutturalen Lauten und harschen Gesten. Als er geendet hatte, wandte er sich wieder an die drei vom Waldvolk: "Also gut. Was schlagt ihr vor?"
Das war der Moment, in dem Glindir bereit war, sich nach Herzenslust auszulassen. Sofort kramte er in einem ledernen Beutel an seinem Gürtel und förderte einige aus Holz geschnitzte Spielsteine zu Tage. Meistens glichen sie Tieren, auch wenn sie in ihrer Gestaltung recht primitiv wirkten. Insgesamt waren es sechs: ein Adler, ein Schaf, ein Wolf, eine Schwalbe, eine Schildkröte und ein Hirsch. Er erklärte ihnen deren Bewandtnis, während er die verschiedenen Figuren auf dem Pergament hin und her schob. "Der Adler ist stark, schlägt rasch zu und besticht durch sein prächtiges Federkleid und die Spannweite seiner Schwingen. So kann auch ein Pferd bedrohlich wirken, wenn es in gesprengtem Galopp den Verteidigern entgegen donnert."
"Gut, das kann ich verstehen, aber das Schaf?"
"Das Schaf..." Er lächelte schelmisch. "Nun, damit sind unsere Jäger gemeint."
Dragan wirkte verwirrt, als er die Stirn in Falten zog. Seine Lippen formten eine Frage, sprachen sie jedoch nicht aus.
"Warum?" Glindir zog die Brauen hoch. "Das Schaf wirkt ungefährlich und erregt kaum Aufmerksamkeit. Außerdem ist es ein Zeichen der Reinheit und Geborgenheit. Und dieser Trupp vermag genauso unschuldig und uninteressant zu wirken. Palan führt sie an."
"Sich verborgen zu halten, war schon immer seine Spezialität", erklärte Arion den anderen.
Glindir nickte und sprach weiter: "Die Schwalbe ist leicht und schnell, ebenso unsere Bogenschützen." Er verschob den Spielstein. "Sie werden eine Position einnehmen, von der aus sie die Situation gut im Blick haben und dementsprechend handeln können." Er wandte sich einer anderen geschnitzten Figur zu. "Der Wolf! Das sind unsere Schwertkämpfer. Da sie der wichtigste Bestandteil des Nahkampfes sind, sollen sie als einzige nach dem Zaubergold suchen."
Bei diesen Worten wurde Murak hellhörig, sagte jedoch nichts. Stattdessen warf er dem Elfenkönig einen raschen, abschätzenden Blick zu.
Arion blieb dies unbemerkt, denn er betrachtete weiterhin eingehend den Plan und die taktisch korrekt angeordneten Spielfiguren drauf.
Der Kommandant machte unbehelligt weiter: "Die Schildkröte - welcher Panzer ist schon härter? Nun, vielleicht die Harnische unserer Ritter. Sie sind zwar etwas langsam, dafür aber umso besser geschützt." Zuletzt nahm er die Figur des Hirschs zur Hand. "Eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe aus allen sechs Kategorien. Idealerweise ergänzen sie sich perfekt, und es ist beinahe unmöglich, sie auch nur auseinander zu treiben. Sie halten zusammen, egal, wie schlecht es um sie steht."
Dragan nickte anerkennend. "Ich werde..."
Rasch schüttelte Arion den Kopf, schnitt ihm das Wort ab. "Du wirst nicht! Gwend wird sie anführen. Ich brauche dich hier, alter Freund!"
Die kalten Schlachteraugen fixierten ihn. Dragan stand kurz davor, das Schwert gegen seinen Herrn zu erheben. Jedoch fügte er sich rechtzeitig. Sich räuspernd versuchte er, seine Aufmerksamkeit wieder auf Glindirs Taktik zu lenken.
Murak genoss den Zwist. Mit aller Kraft musste er ein boshaftes Grinsen unterdrücken. Die Elfen stritten sich untereinander. Dies war der richtige Zeitpunkt, Zwietracht zu säen. Doch er musste sich damit soweit zurückhalten, dass keiner den Verdacht schöpfte, er könnte etwas damit zu tun haben. "Wir behalten zweihundert Krieger zur Verteidigung im Lager zurück. Das sollte genügen, damit wir uns sicher fühlen", erläuterte er wie beiläufig. Irgendetwas schien mit ihm geschehen. Er war nicht länger der stumpfsinnig denkende Vyrn-Häuptling, der seine Kriege ausschließlich mit brutaler Gewalt führte. Er war wie verwandelt. Statt weiterhin Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu entscheiden, knüpfte er in Gedanken ein kompliziertes Muster aus Handlungssträngen. Vielleicht, dachte er, ist es ein Geschenk des Meisters für meine treue Ergebenheit...
"Und was geschieht mit dem Rest eurer Mannen?"
Der Vyrn antwortete nicht sofort. Er knüpfte weiter an diesem Gewebe seiner Gedanken. "Ich werde sie zu eurer Unterstützung in die Stadt schicken. Gemeinsam erwirken wir mehr. Außerdem wird es die Zwerge verwirren, wenn sie von mehreren Rassen gleichzeitig überrannt werden!" Ein geschickter Schachzug.
Arion zauderte. Erneut spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Er wusste nicht, ob es das plötzliche Wohlwollen des Vyrn war - denn bedachte man ihr Gespräch in Tirvar, so hätte es sich um unverhohlene Feindlichkeit handeln müssen - oder ob Dinge geschahen, von denen er keine Ahnung hatte. Er dachte an Larannah, die in Andor auf seine Rückkehr wartete.
Schließlich hob er den Blick, verscheuchte das Unbehagen und wandte sich an den Vyrn. "So sei es", verkündete er. "Wir haben lange genug darauf gewartet. Jetzt ist die rechte Zeit gekommen!" Er sah zu seinem Kommandanten. "Glindir, Ihr bezieht auf dem Hügel da drüben Stellung!" Er wies in die angegebene Richtung. "Dragan, Ihr behaltet die Mauern von dort aus im Auge!" Sein Finger zeigte auf eine Felsnase, die sich unweit der Klippen im Westen aus dem Gras erhob.
Der General wollte protestieren, doch der Elfenkönig hob rasch die Hand.
"Ich weiß, was Ihr sagen wollt", beschwichtigte er ihn. "Aber Gwend ist für diese Aufgabe geeigneter. Und außerdem: einen Hauptmann auf dem Felde kann ich entbehren, nicht aber einen General, der so gut wie alle Fäden in Händen hält!" Er klopfte seinem alten Freund auf die Schulter. Dann wandte er sich ab, winkte einen schlanken Jungen auf einem Pferd herbei.
"Blas das Horn!", rief er, als die Adjutanten ihre Posten eingenommen hatten. Ihre Mäntel flatterten im Wind. Auch die Vyrn rannten wild durcheinander und versuchten so etwas wie eine Schlachtenordnung aufzubauen. Während einige Elfen Phalangen bildeten, stellten sich die Grünhäutigen in zwei Reihen auf, die von den Ausläufern der Berge bis zu den felsigen Überhängen in die tieferen Lande reichten.
Augenblicklich löste der Junge ein Gold verziertes Horn von seinem Gürtel. Sein Oberkörper war nackt und mit Ketten und Federn behangen, sodass er einem vom Volk der Barbaren glich, obgleich seine Gestalt dafür viel zu schmal und knabenhaft war. Ein blecherner Ton erklang, hallte von den Bergen wider und unzählige andere Hörner schmetterten ihren Tribut. Pauken und Trommeln wurden geschlagen, verursachten einen wilden Rhythmus, der die Truppen in Bewegung setzte. Banner knatterten im Wind und die ersten Elfen stürmten über das Feld. An ihrer Spitze ein Tross berittener Soldaten. Eisen klapperte, Hufe donnerten und Stiefel trampelten, Schlachtrufe und Gesänge erhoben sich und es stank nach Leder und Schweiß.
Im nächsten Moment wurden Feuer entzündet. Zwar waren die Tore der Stadt noch weit geöffnet, doch das hinderte die Insassen nicht, sich mit brennenden Pfeilen zu wehren. Ein wahrer Hagel aus glühenden Schäften ging über die Angreifer hernieder. Um Hilfe rufend sanken die Getroffenen zu Boden und tränkten die Erde mit Blut. Schwerer Gerüstete hingegen hoben einfach ihre Schilde, sodass die Pfeile wie Hagelkörner von ihnen abprallten, zersplitterten oder im harten Holz stecken blieben.
Mehr als die Hälfte der Reiter war durch diese Zurwehrsetzung zurückgefallen. Die Pferde sprengten auseinander und galoppierten in wilder Hast über die Hügel, während ihre Besitzer nichts anderes tun konnten, als zu versuchen, im Sattel zu bleiben. Doch schließlich schaffte es das Drittel bis zu den Toren. Unter einem weiteren Schauer aus Geschossen - diesmal waren auch Steine dabei - gelangten sie durch das gewaltige, steinerne Portal, das einen der wenigen Eingänge nach Irion darstellte.
Sofort wurde die Aufmerksamkeit von den Belagerern zu den Eindringlingen gelenkt. Das war das Zeichen für die Wölfe, zuzuschlagen. Wie ein Mann erhoben sie sich und rannten über das freie, von Leichen übersäte Feld. Ihnen dicht auf den Fersen jene Soldaten, die Glindir als Schildkröten bezeichnet hatte.
Erst, als sie nahe genug an die Stadt herangekommen waren, registrierten sie, dass es überhaupt keine Tore gab, die verschlossen werden konnten. Anscheinend hatte kein Zwerg auch nur mit einem Überfall gerechnet.
Natürlich, überlegte Arion, als man ihm die ersten Mitteilungen machte, die Stadt war auf Handel aus. Und nur auf Handel. Wozu sich dann die Mühe machen und Verteidigungsanlagen installieren? Bis auf die Wehre gab es wirklich kaum ein Anzeichen dafür, dass diese Stadt gut bewacht war. Er beobachtete noch, wie Palan mit den Schafen in den Büschen östlich von Irion verschwand.
Jetzt stürmten auch die Vyrn vor. Sie drängten nicht wie die Elfen alle durch einen Eingang, sondern warfen an verschiedenen Stellen der Mauer Sturmleitern gegen den Wall. Beinahe sofort hatten sie große Teile des Verteidigungsrings besetzt und attackierten die Rücken der fliehenden Zwerge.
Von seinem Standpunkt aus konnte Arion sehen, wie sich die Armee auf der großen Hauptstraße von Irion entlang schob. Für ihn wirkte es wie eine zähflüssige, im Sonnenlicht funkelnde Masse. Bald schwelten die ersten Strohdächer.
Und da erkannte Arion, was ihn so verstört hatte.
Es war zu leicht.
Wo war das Zaubergold, das den Zwergen übernatürliche Kräfte verlieh?
Er wollte sich gerade umwenden und Murak eine Frage bezüglich dieser Sache stellen, als er plötzlich kalten, scharfen Stahl an der Kehle spürte.
"Ein Schrei oder eine rasche Bewegung, und du bist tot!", flüsterte die grummelnde Stimme des Vyrn-Häuptlings. Er roch den stinkenden, ungewaschenen Körper und den fauligen Atem. Er spürte die Hitze eines fremden Körpers dicht hinter ihm. Ekel überfiel ihn, und gleichzeitig wusste er, dass er verloren hatte.
Unweigerlich musste er an die Worte denken, die ihm bei der Versammlung in den Sinn gekommen waren. Er wollte sich seine Freunde nah, aber seine Feinde noch näher halten. Jetzt war er gezwungen, wenigstens diese Sache aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

"Achtung!"
Darns Schrei gellte über den Vorhof des Marktplatzes, und im nächsten Moment rissen alle Zwerge ihre Lanzen nach oben. Es war gekommen, wie es hatte kommen müssen. Man hatte es nicht geschafft, die Arbeiten am Torhaus rechtzeitig fertig zu stellen. Schnaubenden Dämonen gleich galoppierten die Hengste der Elfen durch das Stadtportal, angetrieben durch beständigen Schenkeldruck. Die Reiterei stammte offensichtlich aus der Garnison von Eleval, denn sie trugen Federschmuck und leichte Lederrüstungen, was den Clan der Aidar ausmachte. Und sie waren bestens mit ihren Tieren vertraut, wussten um jede Nuance Leistung, die ihre Pferde bringen konnten.
Die Zwerge rückten enger zusammen, als die Hufe auf der gepflasterten Straße Funken zu schlagen begannen. Es klang, als würde man Feuersteine aufeinaderprallen lassen.
"Bleibt standhaft!"
Schild stand an Schild, und zwei Meter lange Spieße ragten aus dieser grauen Mauer hervor, bereit, die Angreifer zu durchbohren. Corna war mitten unter ihnen, in einer Hand das schlanke Schwert, in der anderen das Banner von Irion. Er hatte sich geschworen, diese Stadt zu verteidigen, und diesen Schwur würde er keinesfalls brechen wollen. Zusammen bildeten sie einen Halbkreis, der Angriffe durch das Tor abfedern sollte, um so den Bogenschützen auf den Dächern und Zinnen eine bessere Möglichkeit zu geben, die Angreifer zu erledigen.
Dann preschten die Gäule in gestrecktem Galopp in die Verteidiger. Metall schepperte, als Hufe gegen Schilde donnerten oder Schädel zertrümmerten. Schartige Eisenspitzen gruben sich in verschwitztes, heißes Pferdefleisch. Wiehernd brachen drei der Schlachtrösser zusammen, doch ein weiteres Dutzend war auf dem Weg zu ihnen, während vier Angreifer den Gürtel durchbrachen.
Darn schrie auf, hob das Schwert hoch über den Kopf und ließ es auf den ersten Reiter niedersausen, der in Reichweite kam. In einer Kaskade von Blut durchdrang die Klinge Rüstung und Brustbein des Attackierenden, warf ihn aus dem Sattel und schmetterte ihn zu Boden. Knochen zerbrachen wie Glas unter Cornas Hieb und der Mensch taumelte zurück, als die Fliehkraft ihren Tribut forderte.
Erneut hob er die Klinge, wich dem Angriff eines Berittenen aus und bohrte das Schwert stattdessen in die Seite eines Dritten, der gerade in einen Kampf mit einem der zwergischen Pikeniere verwickelt war. Blut sprenkelte sein Gesicht und für einen Sekundenbruchteil war es ihm unmöglich, den roten Schleier zu durchdringen. Etwas streifte seine Schulter und drang heiß und beißend in seinen Oberarm ein. Darn schrie auf, als der gegnerische Stahl Muskelstränge durchtrennte, biss die Zähne jedoch zusammen und wirbelte herum. Noch in der Bewegung vollführte er einen Rundumschlag und fällte den heimtückischen Angreifer. Unendlich langsam sackte der Getroffene zu Boden, während sich ein Pfeil in seinen Hals bohrte. Er war tot, bevor sein Oberkörper die Straße berührte.
Der Mensch presste die Hand auf die Verletzung, taumelte, während Blut zwischen seinen Fingern hindurch schoss. Er hat eine Arterie verletzt!, schoss es ihm durch den Kopf. Wieder bliesen Hörner zum Angriff und Sturmleitern krachten gegen den Wall. Gigantische Vyrn stürmten durch das unfertige Tor und begannen mit einem grausamen, gnadenlosen Gemetzel.
Darns Verzweiflung wuchs. Mit zitternden Fingern riss er sich einen Streifen Stoff vom Umhang und knotete es so gut es ging um seinen linken Oberarm. Seine gesamte linke Seite brannte wie Feuer, ein höllisches Inferno, in dem er bereits ansatzweise ein taubes Prickeln fühlte. Er hatte den Knoten so fest zugezogen, dass es ihm vorkam, als wütete Brennnesselgift auf seiner Haut. Scharf sog er die Luft ein, dann warf er sich mit aller Kraft einem grobschlächtigen Vyrn entgegen. Noch im Sprung ergriff er das Schwert wie einen Speer und rammte es bis zum Heft in die grüne Brust des Monsters.
Als er sich aus der Umklammerung des Sterbenden befreit hatte, warf er einen raschen Blick um sich. Der Vorhof war kaum wieder zu erkennen. Wo vor wenigen Minuten noch zwei Reihen Zwerge zur Verteidigung bereit gestanden hatten, fand er nun ein beinahe gänzlich verlassenes Schlachtfeld vor. Verlassen bis auf die Elfen und Vyrn, die brüllend und jubelnd über die Mauern sprangen und die Bogenschützen erdolchten. Durch das Stadtportal jedoch stürmten nun bis an die Zähne bewaffnete, schwer gepanzerte Ritter. Das Licht der Sonne spiegelte sich auf ihren blanken, makellosen Harnischen und die Angreifer glichen einem Meer aus Licht, das sich langsam vorwärts wälzte.
Corna wurde bewusst, wie nah er dem Ende war. Schrecken bemächtigte sich seiner. Er wurde bleich. Der hohe Blutverlust tat das seine und so sank er erschöpft auf die Knie. In der Hitze des Gefechtes hatte er kaum vermocht, klar zu denken - jetzt, da ihm die Flamme des Hasses nicht mehr gänzlich die Sicht nahm, erkannte er den Abgrund, an dessen Rand er stand. Er sank auf die Knie. Es war vorbei.
Doch dann erinnerte er sich an Devin, der zusammen mit hundert anderen Zwergen wie ein Irrer in den Minen schuftete. Prompt riss sich Darn zusammen. Wenn ihm schon sein Leben egal war, sollte ihm wenigstens nicht das Leben seines Freundes egal sein. Mühsam stemmte er sich in die Höhe, richtete sich gegen die Tonnenlast auf, die ihn am Boden gefangen halten sollte. Es waren seine eigenen, schwermütigen Gedanken, die ihn korrumpiert hatten. Ihnen war es zuzuschreiben, dass er sich lieber ergeben als heldenhaft sterben wollte. Doch sterben würde er so oder so. Er spürte, wie die eisigen Finger des Todes über seine Stirn strichen, seinen Geist, seine Seele rauben wollten. Aber er weigerte sich, starrte in die Leere und versuchte den Sensenmann auszumachen. Ein süßlicher Duft stieg Darn in die Nase; es roch nach Feilchen und Jasmin, nach Flieder und wildem Holunder. Im selben Moment jedoch begriff er, dass er dieser Versuchung widerstehen musste, um seinem Freund zu helfen. Abrupt verwandelte sich der betörende Geruch in einen abstoßenden Leichengestank. Darn stellte sich weiße Blütenblätter vor, die welkten und zu Maden und Insektenlarven wurden. Fliegen summten und ekelhaftes Gewürm fraß sich durch herausquellende Gedärme.
Corna schüttelte den Kopf.
Sofort konnte er wieder klar sehen. Und zu seinem Erstaunen registrierte er, dass nicht einmal eine Minute vergangen war, seit er sich unter Schmerzen aufgerichtet hatte. Die Vyrn waren nah, aber er befand sich nicht in der Reichweite ihrer Schwerter.
Wie um ihn zu narren, sirrten plötzlich Pfeile heran und bohrten sich dicht neben ihm in einen gefallenen Körper. 
Darn begriff, dass es höchste Zeit war, Devin zu suchen.

Gwend war einer der ersten, der in die Stadt stürmte und nach den Schmieden Ausschau hielt. Es sieht leichter aus, als es ist, dachte er, als er vor der ersten Werkstatt stand. Hier in Irion besaß so gut wie jedes Haus Esse, Wetzstein und Ambosse. Meist waren es einfache Katen. Die Hauptstraße war gepflastert und breit genug, um drei Karren nebeneinander Platz zu bieten. Die kleineren Gässchen jedoch stellten ein schier unüberwindbares Hindernis aus Gerümpel dar.
Zusammen mit einem Soldaten betrat er den ersten Raum - offensichtlich eine Gaststätte. Tische und Stühle waren umgeworfen. Er hörte gerade noch ein Poltern im hinteren Teil des Zimmers, als jemand eiligen Schrittes die Gaststube verließ.
Trotz seines Alters setzte er leichtfüßig über die Trümmer hinweg und jagte dem Flüchtenden hinterher.
Doch plötzlich wirbelte der Zwerg herum, schwang eine Axt in seinen fleischigen Händen und attackierte den bereits Ergrauten. Gwend taumelte im letzten Augenblick zur Seite, und die Schneide prallte Funken sprühend an der aus Granitblöcken errichteten Wand ab.
Der Elf machte einen schnellen Schritt nach vorn, wobei er das schlanke Schwert so weit wie möglich von sich streckte. Die Klinge zischte durch die Luft und beinahe widerstandslos bis zum Heft in die breite Brust des Zwergs. Schnaufend sank der Kontrahent auf die Knie.
Während der Soldat an ihnen vorbeistürmte und hastig die Küche unter die Lupe nahm, untersuchte Gwend den Toten. Nichts. Kein Gold. Allmählich kam ihm der Gedanke, dass dieses Zaubergold überhaupt nicht existierte. Magisches Erz? Dass ich nicht lache!
Nachdem sie das Haus verlassen hatten, begegnete ihnen ein weiterer Trupp Zwerge auf der Straße. Sie schwangen Keulen und ein besonders breitschultriger Krieger mit rabenschwarzem Bart streckte sogar Gwends Begleiter nieder.
Doch der Hauptmann wusste sich zur Wehr zu setzten. Er kämpfte wie ein Löwe. Sein Schwert pfiff durch die Luft und enthauptete bereits den ersten Angreifer. Eine Blutfontäne sprühte gen Himmel und sprenkelte das staubige Pflaster der Straße. Auch über Gwends Gesicht lief Blut, das nicht sein eigenes war.
In diesem Kampf verlieh er all seinem Hass den Zwergen gegenüber Ausdruck. Wie besessen schlug er um sich, trennte Arme ab und warf die näher Stürmenden mit Tritten und Faustschlägen zurück, bevor er zum Schlag ausholte und Schädel spaltete. Aus dem anfangs ungleichen Kampf wurde ein stetes Gemetzel. Gwend zog sich tiefe Wunden im Schulter- und Oberarmbereich zu, stolperte mehrmals oder wurde niedergeschlagen. Doch immer wieder rappelte er sich auf, stieß die Klinge tief in das fiebrigheiße Fleisch seiner Widersacher und verschloss sich vor den eigenen Schmerzen.
Dann schien es vorbei.
Elfensoldaten kamen ihm zu Hilfe. Bogensehnen sirrten und Pfeilschäfte gruben sich in die stämmigen Leiber der Zwerge. Gwend nutzte den Zeitpunkt, um wieder zu Atem zu kommen, und jeder Zug schnitt wie mit Messern in seine Kehle. Seine Muskeln brannten und ganze Teile seines Körpers waren taub. Schweiß, der seine Wunden benetzte, verursachte ein dämonisches Feuerwerk an Schmerzen. Wie Säure, schoss es ihm durch den Kopf.
Im nächsten Moment erklang der lang ersehnte Ruf: "Das Gold! Es ist hier!"

Devin protestierte, hob drohend den Hammer und verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. Er schnaufte und seine gestählten Muskeln bebten. Sein Oberkörper war nackt, einzig bedeckt von einem Gemisch aus Schweiß und Staub. Breitbeinig hatte er sich zwischen die Eindringlinge und das Zaubergold gestellt, bereit, das zu verteidigen, was in mühseliger Schwerstarbeit aus der Schlucht geschafft worden war.
Die Vyrn grinsten und hoben ihre schartigen Mortheg, Klingen, die wie flüssiges Metall wirkten, da der Meister ihnen Magie eingehaucht hatte.
Im nächsten Moment stolperte ein Elf in das Lagerhaus. Er schien verwirrt, und stieß einen Schrei aus. Noch bevor er zur Tat schreiten konnte, sauste das Vyrn-Schwert auf ihn herab und durchtrennte sein Genick. Abrupt wurden seine Worte erstickt.
Das Grinsen des Ungeheuers wurde noch breiter, und als es die Lefzen wie ein knurrender Hund zurückzog, entblößte es fingerdicke Reiß- und Fangzähne. Seine Augen glühten gefährlich.
Devin zählte die Sekunden.
Eins...
Die Bestie festigte ihren Griff um den Mortheg. Der Zwerg tat dasselbe.
Zwei...
Man ging in Kampfstellung.
Drei...
Der Riese blinzelte.
In einem kurzen Aufblitzen von rasender Wut stürmte Devin vorwärts, noch bevor die Grünhäutigen Zeit hatten, zu reagieren. Ihrem Anführer trieb der Zwerg ein Messer in die Kehle, dem zweiten donnerte er den Hammer - den er nur noch mit einer Hand hielt - gegen den Schädel. Der dritte wollte gerade zu einem Gegenschlag ansetzen, als er von einem anderen Zwerg durchbohrt wurde. Beinahe die Hälfte der Vyrn, die in das Lagerhaus eingedrungen waren, lagen nach kürzester Zeit tot oder sterbend am Boden.
Und schlagartig wendete sich das Blatt.
Solange die Zwerge das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt hatten, war es ihnen möglich gewesen, den Vyrn in den Rücken zu fallen. Doch jetzt war es an den Vyrn, Vergeltung zu üben. Brüllend und sabbernd hieben sie nach den kleinen Gestalten. Ein Schlag reichte aus, um den Kontrahenten zu töten. Starke Arme, manche so dick wie Baumstämme, schlossen sich um Zwergenleiber und zerdrückten sie mit roher Gewalt.
Devin wehrte sich verzweifelt, hieb um sich und entwischte den Vyrn immer nur um haaresbreite. Er musste alles daran setzen, das Zaubergold zu bewachen. In seinem Geist entstand die Vorstellung, dass das Gold - und somit die Wiederentdeckung Coraths - wichtiger war als sein eigenes Leben. Ein düsterer Zauber hatte sich um seine Gedanken gelegt, hielt ihn an Ketten gefesselt, die ihn in die tiefste Agonie seines Seins zwang. Sein Verfall stand auf der einen Seite, das magische Metall auf der anderen. Doch eine innere Stimme sagte ihm, so lange er für das Zaubergold kämpfte, würde ihm nichts geschehen. Einerseits widersprachen sich diese Gedanken gegenseitig - andererseits war Devin bereits so sehr von der Magie eingelullt, dass ihm jeglicher Unterschied egal war. Für ihn existierte weder Leben noch Tod. Das einzige, das übrig geblieben war, war das Gold. Und die verschollene Stadt Corath.
Er kämpfte mit den Gedanken an diese legendenumwobene, unterirdische Stadt - stellte sich ihre Pracht vor, der Glanz, all das Schimmern und Strahlen, Balustraden und Bögen, so leuchtend, dass es einem in den Augen wehtat. Wessen Herz nicht rein war, würde geblendet werden und den Dämonen der Unterwelt verfallen, jenen Untoten, die man Minathar - Geister des Goldes - nannte. Bei dem Gedanken an jene finsteren Gestalten zogen sich seine Gedärme zusammen.
Im nächsten Augenblick wurde er zurückgedrängt, stolperte über eine Leiche und schlug hart auf dem Boden auf. Der Vyrn ragte über ihm auf wie ein Riese, den Mortheg zum finalen Stoß erhoben.
Urplötzlich stand der Mensch neben dem Giganten, trieb ihm seine Klinge tief in die Brust und warf ihn mit einem Faustschlag zu Boden. Schließlich wandte er sich zu Devin um, während das Schwert noch immer in der Leiche steckte. Er atmete schwer, ein Arm hing schlaff herab und der einst so prächtige Reiterumhang war zerfetzt. Darn reichte er seinem Freund die Hand und half ihm auf die Beine. Dieser war noch etwas vom Sturz benebelt. Mit klammen Fingern betastete er seinen Kopf. Er konnte keine Verletzung ertasten, doch als er seine Finger betrachtete, waren sie voller Blut.
Corna musterte ihn kurz. "Du hast einen schönen Schlag auf den Kopf gekriegt, mein Freund!" Er grinste, sah sich daraufhin aber rasch nach Feinden um. Bis auf ein halbes Dutzend waren die meisten Feinde getötet worden. Während einige unbeholfen umhertaumelten, durchwühlten andere die Kisten und Säcke, in denen das Gold gelagert wurde.
"Das Gold..." Seine Stimme klang schwach. Er klammerte sich am Arm des Größeren fest und streckte die Finger nach den Vyrn aus, als könne er sie so davon abhalten, das Lagerhaus zu durchstöbern.
"Wir müssen von hier verschwinden!", zischte ihm Corna zu, packte ihn und schleifte ihn mit sanfter Gewalt ins Freie. Der Zwerg wehrte sich; er wollte doch das Gold nicht einfach im Stich lassen. Dennoch machte es ihm seine derzeitige Verfassung schier unmöglich, sich gegen Darn zu wehren, geschweige denn, alleine mehr als zwei, drei Schritte zu tun.
Hastig drängte ihn der Mensch in eine schmale Gasse, in der sie völlig von den Schatten verschluckt wurden. Ächzend setzte er den Zwerg am Boden ab und lehnte sich dann gegen den Stein der Kate. Er atmete schwer. Die Kämpfe hatten ihn zu sehr mitgenommen, als dass er es geschafft hätte, gänzlich aus der Stadt zu verschwinden. Noch dazu mit einem Verletzten auf den Schultern. Dieser Akt grenzte an Unmöglichkeit.
Nachdem er verschnauft hatte, begann er fieberhaft zu überlegen. Warum schlossen Elfen und Vyrn ein Bündnis, nur um sich dann doch die Köpfe einzuschlagen? Es macht einfach keinen Sinn! Resignierend glitt Darn an der Wand hinunter.
 

© Benedikt Julian Behnke
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