Zwergengold von Benedikt Julian Behnke
Siebtes Kapitel
Andor

Hufe donnerten über Pflasterstein.
Palan hörte bereits die Trommeln, die zum Angriff trieben - ein stetes Bumm, Bomm, Bumm, Bomm! - und es erfüllte ihn mit Angst. Noch nie war er so schnell geritten. Das gesamte Schicksal der Elfen schien nun in seinen Händen. Seine Bestimmung war es, als Überbringer schlechter Nachrichten nach Andor zu reisen und die Elfenkönigin, die noch nicht einmal etwas von ihrer neuen Stellung bei Hofe wusste, zu warnen, bevor die Vyrn die heiligen Wälder erreicht hatten. Der Thilion Wald lag ungeschützt und beinahe gänzlich verlassen da. Der Großteil der Elfen-Armee hatte sich in Eleval bereitgehalten und war Arions Aufruf, Irion zu belagern, nachgekommen.
Rasch überlegte er, wie viele Verteidiger ihnen noch zur Verfügung standen. Das Ergebnis seiner Rechnung war erschreckend gering. Die wahren Streitkräfte der Vyrn mochten um sage und schreibe ein Drittel größer sein. Allerdings nur, wenn man bedachte, dass beim Angriff auf die Schmiedewerkstätten der Zwerge auch Grünhäutige in den Staub gefallen waren. Weiter kam er zu dem Schluss, dass nicht einmal das gesamte Heer des Feindes einsatzbereit war. Zirka die Hälfte mochte noch immer in Irion ihren Sieg feiern.
Und selbst wenn der so genannte Meister der Vyrn die Truppen rechtzeitig zurückbeorderte, würde es für eine Armee dieser Größe ungefähr eine Woche dauern, die Stadt in den Bäumen zu erreichen. Bis dahin blieb Palan Zeit, sich auf einen großflächigen Angriff des Feindes vorzubereiten. Er musste unbedingt vorher alle Möglichkeiten abwägen und die restlichen Soldaten von den Grenzen im Norden herholen. Vielleicht hätten sie dann eine Chance, lange genug zu überleben, bis die Zwerge zu einem Gegenschlag ausholten. Denn das war unweigerlich die Folge dieser Misere.
Sollten die Vyrn ihren Abzug aus feindlichem Gebiet ohne ausreichende Rückendeckung vornehmen, würden die Zwerge die Gelegenheit nutzen. Außerdem würden die Vyrn das erbeutete magische Erz mit sich schleppen, was sie erstens verlangsamen, zweitens anfällig für Angriffe und drittens zum Opfer der wütenden Zwerge machen würde.
Am Mittag erreichte er ein paar sanfte Auen oberhalb des Thilion Waldes. Das Pferd sprengte durch das hüfthohe Gras, Schweiß glänzte auf seinem Leib und Schaum stand vor seinem Mund. Palan war klar, lange würde das Tier nicht mehr durchhalten. Dennoch trieb er es zur Eile. Bevor er die Stadt verlassen hatte, hatte er sich zu den Ställen geschlichen. Die Pferde der Zwerge waren kleiner, beinahe Ponys, doch stämmig und mit breiter Brust, sodass sie gut in schwierigem Gelände einsetzbar waren.
Am Horizont stieg eine Rauchsäule auf, kringelte sich schwarz und beängstigend über den frühlingsfrischen Kronen des Waldes. Der Himmel dahinter war eisengrau und von Süden zogen schwere Wolken heran. Palan wusste, dass die Vyrn mit Vorliebe bei Dämmerung angriffen. Deshalb hoffte er, noch vor besagter Zeit Andor zu erreichen.
Mit wehenden Haaren jagte er den Hang hinab, über einen schmalen Streifen Wiese, gespickt mit Geröllbrocken, und hinein in den Wald. Unwillkürlich wurde es dunkler, als sich ein Baldachin aus Ästen und Blättern über sie breitete. Langsam begann er sich geborgen zu fühlen. Er war daheim. Endlich wieder zu hause. Der Wind war nicht länger ein raues, eisiges Jaulen, sondern die Quintessenz freundlicher Stimmen, die von den Geistern des Waldes herrührten.
Palan warf einen Blick auf sein Reittier. Die Mähne war feucht und klebrig, es schnaufte, und das Herz des Pferdes hämmerte wie wild. Mit seinen Waden konnte der Jäger das fiebrigheiße Fleisch des Rosses erfühlen. Er spürte, wie Blut durch Venen jagte, spürte das Zucken völlig entkräfteter Muskeln, spürte die Atemlosigkeit und atmete den Geruch deutlichster Erschöpfung.
Beinahe sofort sprang er ab.
Er schnallte Sattel und Zaumzeug ab, löste in aller Eile die Eisen von den Hufen und gab ihm dann einen Klaps auf den Hintern. Schnaubend trottete das Pferd einem Bach entgegen, den es gewittert haben musste. Palan erinnerte sich an einen kleinen Flusslauf etwa hundert Meter von hier entfernt, der zwischen alten Eichen verlief. Während er selbst um Atem rang, beobachtete er das Tier, wie es zwischen Farnen und Heidekraut verschwand.
Dann rannte er los.

"Glymrithil! Glymrithil!"
Entschlossen reckten die Zwerge ihre Äxte und breiten Schwerter in die Höhe. Ihr Schlachtruf hallte noch lange über die Hügelkämme hinweg, als sie geordneten Phalangen vorstießen. Jede Abteilung wurde von eine Reihe Bogenschützen gedeckt, die bereit waren, über die Köpfe der Soldaten hinweg ihre Pfeile auf den Feind nieder hageln zu lassen. Vor ihnen lag der Kar Kal, nichts als ein zackiger Riss, der vom Gipfel bis Fuße des Berges reichte. Es sah aus, als hätte ein Blitz den Berg genau in seiner Mitte gespalten.
Hier würde es also enden, sinnierte Darn. Hier würde jene legendäre Schlacht um das Zaubergold stattfinden, die allen Bewohnern des Tals der Dämmerung noch lange in Erinnerung bleiben würde. Zwerge und Vyrn würden gleichermaßen fallen. Dennoch würden die Irioner unterliegen. Nicht nur, dass sie in der Unterzahl waren; der Feind besaß außerdem ein größeres Kontingent an Erfahrung und Stärke. Zu allem Überfluss mangelte es den Zwergen noch an Rüstzeug. Man hatte zwar die Leichen vor der Stadt gefleddert, doch die erbeuteten Harnische passten ausschließlich den größten unter ihnen. In aller Eile hatte man Lederreste zusammengeflickt und diese mit Eisenplatten anderer Rüstungen verstärkt. Nun präsentierte sich eine Armee, die wie eine Horde aufständischer Bauern wirkte. Und Corna musste zugeben, dass sie genau das waren. Unerfahrene Männer, die ihr ganzes Leben ausschließlich für die höher Gestellten gearbeitet hatten. Allerdings nicht auf den Feldern, sondern in Minen und Schächten. Vielleicht kamen ihnen ja ihre Kenntnisse in den schmalen Passkorridoren zugute.
Der Mensch zuckte die Achseln. Sie konnten von Glück reden, die nächste Nacht heil zu überstehen. Es sei denn, man würde den Schutz der Nacht nutzen, um eine heimliche Attacke gegen den Feind zu führen. Allmählich nahm eine Idee im Kopf des ehemaligen Boten Gestalt an und er gesellte sich zu Devin und Gwend, um sich ihnen mitzuteilen.
Kurz darauf war es beschlossen.

Er wankte, konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten und sank auf die Knie. Eine Peitsche knallte und ließ ihn aus seinem Delirium auffahren.
"Aufstehen!", fauchte der breitschultrige Vyrn und drohte mit dem Züchtigungsinstrument. "Weiter gehen!"
Bebend stemmte er die bloßen Füße in den Boden. Sie brannten und scharfe Steinkanten hatten blutige Kratzer hinterlassen, Schürfwunden zeichneten seine Knie. Es stank nach Schweiß und eingetrocknetem Lebenssaft. Die Luft, die er atmete, war so trocken wie Staub.
Während er weiter taumelte, versuchte er all seine Kraftreserven zu mobilisieren. Mehr als einmal hatte er versucht zu entkommen, und jedes Mal hatte ihn der grobschlächtige Vyrn wieder eingefangen. Jetzt waren seine Handgelenke an einen Holzbalken gefesselt, der schwer auf seinen Schultern lastete. Die Metallschellen scheuerten, und das Gewicht drückte ihn beständig zu Boden. Ein wahres Feuerwerk an Schmerzen wütete in seinen Schultern.
Immer, wenn er einen weiteren Moment der Unachtsamkeit aufseiten seiner Häscher ausgemacht hatte, hinderte ihn die peinigende Last daran, auch nur einen brauchbaren Gedanken zu fassen. Dennoch war er noch nicht bereit aufzugeben. Er würde kämpfen, sich weigern, der Folter widerstehen.
Zitternd schleppte er sich den zerklüfteten Hang empor. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, schwankte mehrmals, und das Gewicht des Kreuzes auf seinem Rücken wurde immer drückender. Die Sonne hatte seine Kehle ausgedörrt und jeder Atemzug schmeckte nach Asche, glühende Kohlen zwischen seinen Zähnen.
"Wasser...", flüsterte er. Die Stimme hatte groteske Ähnlichkeit mit mahlenden Mühlsteinen, kratzig und entfremdet. Seine Lippen waren eingerissen und er kostete Blut - heiße Lava, die seine Kehle hinab floss und eine tiefe Furche hinterließ.
Dieser eine Moment der Unachtsamkeit hatte genügt, um ihn aus dem Takt zu bringen. Unweigerlich geriet er ins Stolpern; der Balken zog ihn zu Boden, und schmerzlich bohrte sich zerklüfteter Fels in seine Knie. Frischer Lebenssaft rann über seine Schienbeine. Grobkörniger Staub geriet in die klaffende Wunde und unsagbare Qualen vergewaltigten den Elfenkönig. Doch über seine Lippen brach kein Laut - er schwieg, war nicht fähig, seinem Schmerz Ausdruck zu verleihen.
In Gedanken klammerte er sich an Larannah. Für wen erduldete er dieses Martyrium, wenn nicht für sie?
"Aufstehen habe ich gesagt!"
Der geflochtene Lederriemen fuhr laut krachend auf ihn herab. Kreischender Schmerz streckte ihn nieder, explodierte auf seinem Rücken und lähmte seine Muskeln. Zuerst fühlte Arion nur das Nachlassen aller Kräfte und die scharfen Felsen, auf die er geworfen wurde. Es tat weh. Dennoch war dies nur ein Bruchteil dessen, was innerhalb des nächsten Augenblicks folgen würde.
Verzehrende Flammen warfen sich über ihn, zerfetzten seine Haut und fraßen sich in seine Eingeweide, nagten an seinen Knochen und malträtierten rücksichtslos sein Rückgrad. Mit der geballten Macht der Hölle drosch Satan höchst persönlich auf ihn ein, quälte ihn, machte ihn glauben, ein Sünder zu sein.
Was habe ich getan?, fistelten seine Gedanken. Was habe ich verbrochen?
Und dann gestand er sich ein: Ich liebe sie... ich liebe Larannah... und das ist schlecht...
Trotz diesem Geständnis zwang sein Wille ihn, weiterhin aufrichtig zu sein. Es waren alles Lügen... und diese Lügen zerrten ihn in den Sud des Vergessens... er sollte vergessen, wer und was er war. Doch diesen Gefallen würde er dem Gehörnten nicht gewähren!
Verbissen kämpfte er sich auf beide Beine, ignorierte noch immer die Peitschenhiebe, die nicht mehr als Hammerschläge auf seinem geschwächten Körper waren.
Ich werde weiter machen!, schwor er sich mit glasigen Augen, während er in das gleißende Licht der Sonne starrte. Die Hitze brannte auf seinem Gesicht und den offenen Wunden, dennoch trocknete sie Blut und Schweiß. Bis zum letzten Atemzug kämpfen!
Ich komme heim, Larannah!

Larannah starrte wie gebannt auf die herannahenden Truppen der Vyrn. Das Bumm, Bomm! der Trommeln dröhnte in ihren Ohren.
Raschen Schrittes verließ sie das Dachgeschoss, stieg wieder hinab in ihre Kammer und verbarg das Gesicht in den Händen. Sie wollte weinen, ihrer Angst durch lautes Schluchzen Ausdruck verleihen, doch irgendetwas tief in ihr wehrte sich dagegen. Es war die Kriegerin in ihr, die sie wachrüttelte, sie zur Ordnung rief.
Was würde Arion jetzt tun?
Arion...
Abrupt übermannte sie neuerliche Furcht. Wo war ihr Gemahl? Was war in Irion geschehen?
Beinahe sofort schüttelte sie den Kopf, verwarf Bedenken und zwang sich dazu, ihr Amt zu präsentieren. Sie war die Königin der Elfen. Ihr oblag die Verteidigung der Stadt.
Wieder drängten sich ihr Fragen auf. Befanden sich die Vyrn auf dem Vormarsch? Oder schlugen sie die Trommeln nur, weil sie in Irion gesiegt hatten und ihren Einzug in die dunklen Lande mit dem Zaubergold feierten?
Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihren verzweifelten Überlegungen. Sie schrak hoch, wartete ein zweites Pochen ab, und rief schließlich: "Herein!" Quen betrat den Raum. Sie war gewohnt, den Jungen in Begleitung seines Cousins Pinn zu sehen. Doch heute war er allein gekommen. Sein sommersprossiges Gesicht enthüllte Angst. Ihm mochte es nicht anders gehen als ihr.
"Mylady, was..." Augenblicklich stockte er, als er die getrockneten Tränen auf ihrem Gesicht bemerkte. Daraufhin drehte sie sich von ihm weg, auf eine Weise beschämt, die der Junge nicht verstehen konnte. Welche Königin bricht schon gerne vor ihrem Hofstaat in Tränen aus?
Abwesend wischte sie sich über die Augen, verbannte Schluchzen und Trauer in die Vergangenheit und stand Quen urplötzlich wieder als jene Elfe gegenüber, deren Intelligenz Arion lieb gewonnen hatte. "Was willst du?", fragte sie barsch, obschon sie wusste, warum er gekommen war.
Er zögerte einen Augenblick lang, schien auf etwas zu warten. Schließlich sprach er: "Mylady, wenn..." Erneut brach seine Stimme. Sie zitterte ein wenig. Es war die gleiche Angst, die vor einigen Minuten Larannah befallen hatte. Die Angst, trotz errungenen Sieges zu bangen. Vielleicht hatten sie dieses Gefecht für sich entscheiden können - doch ob sie den Krieg gewannen stand noch in den Sternen. Und noch ungewisser war, ob dieser augenscheinliche Siegeszug tatsächlich einer war. All die Trommeln und gerüsteten Soldaten... Bedeuteten sie den Einzug in den Himmel? Oder vielmehr den Absturz in die Hölle? Endlich fuhr Quen fort: "Was... was ist, wenn sie... uns angreifen wollen?"
Er hatte nicht gesagt, wer sie waren, doch da sie beiden die gleichen Ängste hegten, verstand Larannah nur zu gut. Diesmal war es an ihr, zu zaudern. "Ich... ich weiß nicht..." Sie zuckte die Achseln und schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. Sie benahm sich nicht wie eine Königin - doch im Moment spielte das keine Rolle. Was brachte es, wenn sie sich hochmütig und edel gab? Und noch dazu gegenüber einem Jungen, der schon angesichts der nahenden Vyrn eingeschüchtert genug war.
Im gleichen Moment, in dem sie durch Worte ihre Unwissenheit ausdrückte, begann in ihrem Hinterkopf ein befremdliches Stimmchen zu flüstern. Es war dasselbe Stimmchen, das ihr damals Bilder zukünftiger Schlachten gezeigt hatte. Und augenblicklich schien sie zu begreifen, was es war, das sie in diese missliche Lage gebracht hatte.
Es war ihr Schicksal.
Das Schicksal hatte ihr Visionen gezeigt, hatte ihr mit Hilfe des Zweiten Gesichts die Zukunft offenbart. Nicht etwa irgendeine Zukunft, sondern ihre Zukunft. Ihr oblag es, den goldenen Harnisch und das Elfenschwert zu tragen, auf dem Schlachtfeld zu stehen, während das Heer der Vyrn immer näher rückte.
Auf einmal erhob sie sich, und in ihrem Blick stand wilde Entschlossenheit. "Quen", flüsterte sie, während ihre Augen abwesend in die Leere starrten, "bring mir Arions Rüstung. Und sein Schwert. Bitte." Und dann etwas eindringlicher: "Sofort!"
Eine Sekunde lang musterte sie der Junge völlig entgeistert. Erst dann schien er zu begreifen, und zur selben Zeit mischten sich große Furcht und ein Funken Hoffnung zu etwas, das ihm Kraft gab.
Beseelt jagte er davon.
Kurze Zeit später war er wieder da, begleitet von seinem Cousin und Horon.
Das Hallen der Trommeln schwoll zu einem tieferen und bedrohlicheren Rumoren an, als sie die Ersatzrüstung ihres Mannes überstreifte. Ganz mit Gold beschlagenes Metall, ziseliert und so hart, dass kein Pfeil es je durchdringen würde. An manchen Stellen waren Diamanten eingelassen, überwiegend Bergkristall und fast schwarze Steine. Das Kettenhemd, das sie zusätzlich darunter trug, reichte ihr bis zu den Knien, war jedoch ebenfalls Teil großer Schmiedekunst. Der Helm war einfach gehalten - trotzdem wies auch er das Gold und Silber des Harnisches auf. Horon und Pinn legten ihr eisenbeschlagene Handschuhe an, die aus robustem Leder bestanden. Man gürtete ihr ein Schwert um, dessen Griff ebenfalls aus purem Gold zu bestehen schien, und die Schneide funkelte wie poliertes Silber. Die Stiefel bestanden aus dem gleichen Material wie die Handschuhe. Zum Schluss schulterte sie Köcher und Bogen, nahm den runden Schild mit dem Emblem der Königsfamilie - eine goldene Eichel auf Rindengrund - auf, und schloss den graugrünen Mantel mit einer blattförmigen Brosche.
Der Bibliothekar nickte wohlwollend. "Herrin, sollte uns tatsächlich die Verteidigung der Baumstadt bevorstehen, werde ich mit Freuden mein Leben in Eure Hände legen!" Er sprach frei heraus, doch sie wusste, dass es kaum anders kommen konnte als so. Daran führte kein Weg vorbei. Vor einer halben Stunde hatte sie die Bestätigung erhalten. Die Heere des Verräters hielten unweigerlich auf Andor zu. In der näher rückenden Dämmerung waren Fackeln angezündet worden, glühendrote Lichtpunkte, die über das Plateau tanzten wie Irrlichter.
"Wir werden uns zu verteidigen wissen!", sagte sie, und auf ihrem Gesicht verharrte noch immer der Ausdruck ungebrochener Entschlossenheit. "Eher werde ich sterben, als dieses Reich kampflos aufzugeben. Es ist mein Schicksal!"
Pinn zauderte. Dann meinte er: "Mylady, ich bin mir nicht sicher..."
Sie unterbrach ihn mit einer raschen Geste. "Das müsst Ihr auch nicht! Ich allein sollte die Entscheidung treffen! Und falls mein Gemahl noch am Leben ist, werden wir die Stadt bis zu seiner Rückkehr verteidigen!"
"Und was ist, wenn sie ihn gefangen genommen haben?", fiel Quen ein, der inzwischen auf dem Bett Platz genommen hatte und sie mit großen Augen betrachtete. "Was ist, wenn sie ihn als Geisel nehmen?"
Sie zögerte, wusste um das Dilemma dieser Situation. Nun hieß es Arion oder Andor. Was war dem Volk wichtiger. Sie brauchte nicht lange zu überlegen, denn ihre Gefühle spielten in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. "Wir werden trotzdem Widerstand leisten", verkündete sie. "Komme, was da wolle!"
Die anderen nickten.
In aller Eile trommelte Pinn die verbliebenen Soldaten zusammen, postierte sie auf jenen Ahornbäumen, die die Stadt in einem weitläufigen Kreis säumten. Dort gab es Tore, bestehend aus ineinander verflochtenen Zweigen und Efeuranken. Außerdem wucherte dort an den Südwesthängen wilder Wein.
Quen eilte durch die Straßen und Alleen von Andor und verkündete den Ankunft der Grünhäutigen. Überall griffen Frauen und Kinder zu den Waffen, nahmen ihre Bogen und Steinschleudern auf und begaben sich zu den Grenzen der Stadt. Es gab keine Wälle wie etwa in Thoronor oder Pardanon. Vielmehr versperrten dichtes Gestrüpp und Hecken unerlaubten Eintritt. Jeder Eindringling musste sich unweigerlich durch Dornen und Brennnesseln in Brusthöhe kämpfen.
Bereits drang von fern der Lärm der Marschierenden zu ihnen heran. Bald würden sie den Thilion betreten.
Urplötzlich vernahmen sie Pferdehufe auf der gepflasterten Allee, die ins Herz der Stadt führte. Palan galoppierte auf einem großen, schwarzen Hengst heran, den er sich von einem Wachposten weiter draußen im Wald ausgeliehen haben mochte. Sein Auftauchen kündete von wichtigen Neuigkeiten. Soweit Larannah wusste, war der Späher mit ihrem Gatten beim Ansturm auf Irion dabei gewesen. Sie fragte sich, ob er der letzte war, der nach dem Gemetzel übrig geblieben war. Und dasselbe fragte sie ihn, als er das Pferd unmittelbar vor ihr zügelte.
Verwirrt schüttelte er den Kopf. Offenbar war er Tag und Nacht geritten, nur um rechtzeitig in Andor anzukommen. "Ich weiß nicht", sagte er, und die Worte drangen leise und kraftlos aus seiner trockenen Kehle. "Ich glaube, der König befindet sich in ihrer Gewalt!"
"Was ist passiert?", hakte Horon nach, der sich schützend neben Larannah aufgebaut hatte.
Palan warf ihm einen flüchtigen, abschätzenden Blick zu - sein Veteranendasein als Spitzel warnte ihn -, dann erklärte er: "Nachdem wir Irion gemeinsam attackiert hatten, und die Zwerge entweder getötet oder in die Flucht geschlagen hatten, gab es eine Meuterei. Die Vyrn, deren Großteil vor den Toren gewartet hatte, nahmen sich den übrig gebliebenen Elfen an, und schließlich haben sie auch den König in ihre Gewalt gebracht." Er zuckte die Schultern. "Ich weiß nicht, ob sie ihn nur gefangen genommen oder auch getötet haben - auf jeden Fall nutzen sie die Gelegenheit!"
"Sie wollen uns ein für alle Mal vom Erdboden tilgen", vermutete Larannah, und sofort packte sie der Schrecken darüber, was sie so eben ausgesprochen hatte.
"Ich habe bereits einen Boten nach Eleval gesandt!"
Die Elfenkönigin blickte Palan in die Augen.
Dröhnend kündigte ein Schlachthorn den bevorstehenden Angriff an.

Darn wies den Zwergen an, sich ruhig zu verhalten.
Es war bereits Mitternacht. Die Vyrn lagerten unweit der Passmündung, und flackernde Wachfeuer verzerrten ihre Schatten zu tanzenden Irren. Wachen standen - den Speer kampfbereit in der Hand - mit dem Rücken zu den Flammen, sodass sie unempfindlich der blenden Glut gegenüber waren. Auch Corna hatte seinen Kriegern befohlen, nicht direkt ins Feuer zu blicken. Der Kontrast wäre einfach zu stark, als dass ihre Augen sich daran hätten gewöhnen können.
Gwend winkte seine Kompanie Schützen heran und bedeutete ihnen, einen schmalen Pfad nördlich einzuschlagen, um dann von der Spitze des Kammes zu attackieren, derweil Darn seine Soldaten auf beiden Seiten des Passes verteilte.
Erst, als jeder Mann in Stellung gegangen war, gab der Elf das Zeichen zum Angriff. Noch während der imitierte Ruf des Vogels verklang, begannen die Kurzbogen der Zwerge zu singen. Schleudern schnalzten und ein Hagel aus Pfeilen und scharfen Steinen prasselte auf die nichts Ahnenden herab. Weitere Geschosse erfolgten, dann zogen sich die Schützen von ihrem Posten zurück, um den Bolzen der Vyrn zu entgehen.
Wutschnaubend hatten diese ihre Mortheg ergriffen und drangen weiter in den Kar Kal vor. Blind stolperten sie in ihr Verderben, denn urplötzlich verwandelten sich Schatten zu Gestalten, die sie einkesselten und niederwarfen. Weitere Grünhäutige taumelten durch den schmalen Passkorridor und wurden von Lanzen und Streitkolben in Empfang genommen.
Nun hielten sich die Vyrn jedoch zurück, warteten verzweifelt darauf, dass sich ihr Gegner endlich zeigte.
Erneut gab Gwend das Kommando, und gefiederte Schäfte verließen die Dunkelheit und bohrten sich in die grotesken Gestalten der Monster.
Jetzt lag es an Darn.
Mit dem Schwert in der Rechten stürmte er schreiend nach vorn, gefolgt von Dreidutzend Zwergen, die ihr Leben für das Zaubergold geben würden. Ergriffen von der mystischen Macht des Fluches warfen sie sich dem Feind entgegen. Sie glichen einem Bergbach, gespeist von tagelangem Regen, der sich an den steilsten Stellen seinen Weg ins Tal bahnte. Wie eine Springflut schossen sie aus dem Pass und ergossen sich in das gewaltige Heer. Und mit einem plötzlichen Schrecken registrierte der Mensch, dass es mehr Vyrn waren als bei der Schlacht um Irion. Es mochten ihrer fünfzigtausend sein, die sich dort auf den kargen Höhen des Vorgebirges tummelten.
Eine Invasionsarmee...
Augenblicklich riss ihn Gwend mit sich.
Darn versuchte sich loszureißen, doch der alte Elf schüttelte nur den Kopf. "Wir dürfen unsere Zeit nicht mit diesem Gold verschwenden!", rief er. "Wir müssen die Wurzel allen Übels ausmerzen! Wir werden uns ihrem Meister stellen!"
Corna wurde kalkweiß. Doch dann begriff er.
Das Gold, der Fluch, das Bündnis und der Verrat...
Alles hatte nur einem Zweck gedient: die Vyrn zu einer gefürchteten, unbesiegbaren Rasse aufzuschwingen. Geboren aus abtrünnigen Elfen waren sie Jahrhunderte lang verachtet und gedemütigt worden. Sie stellten den Inbegriff der Hässlichkeit dar. Jetzt übten sie Rache an einer Welt, in der für sie kein Platz war. Dies war der Grund für ihren Zorn auf alles Lebende, ihren nie zu stillenden Hass. Aus der Not war der reine Irrsinn geboren worden. Und Wahnsinn schaffte Mörder. Es war wie eine Wunde, die sich die Welt selbst zugefügt hatte, und die zu eitern begonnen hatte. Wollte man, dass das Fleisch wieder verheilte, musste man die Wunde säubern. Das Reinigen würde schmerzen, und Blut würde hervorquellen, denn nur jener Strom würde den Eiter vollständig wegwaschen können. Trotz allem würden Narben zurückbleiben.
Und in dem Moment wusste Darn, dass er sterben musste. Sterben für das Heil der Welt. Das war seine Bestimmung. Stumm blickte er zu den Sternen. Sie glänzten und funkelten schöner, als es je erlebt hatte. Und er war sich ganz sicher, dass sie nur für ihn strahlten. In tiefster Melancholie versunken sog er ihren Schimmer in sich auf, badete in ihrem Licht und schloss die Augen. Er reckte die Hände zum Firmament, unsagbarer Schmerz durchfuhr ihn, und er wusste, dass sein Schmerz nötig war, um den Schmerz der Welt zu lindern.
Endlich senkte er den Blick, starrte zu Boden, maß das Land, für das er sein Leben geben würde. Es war eine karge Einöde, getränkt vom Blut der Schlachten und von Leichen übersät. Doch irgendwann - das spürte er - würden diese brachliegen Felder Weideland sein. Dichtes, saftiges Gras würde auf den Auen wachsen, Pfirsich-, Apfel- und Orangenbäume würden summende Insekten anlocken und die Blüten von Narzissen und Ginsterbüschen würden ihren süßen, betörenden Duft verströmen. Bauern - Elfen, Zwerge und Menschen - würden gemeinsam Korn mahlen und am selben Tische Brot essen. Es würde eine Zeit der Zweisamkeit kommen; ein langer Frieden würde das Land gesunden lassen und ihm Kraft geben.
Seine Zeit war gekommen.
Er drehte sich zu Gwend um, der ihn stumm betrachtete, als wüsste er, was Darn beschlossen hatte. Entschlossen nickte er. "Gehen wir!"

Es ging dem Ende zu.
Hathorn war benachrichtigt worden, und die gesamten Legionen des östlichen Reiches hatten sich auf die Straßen des Westens begeben. Metall blinkte in der Sonne. Der einstige Hass unter den Völkern war zur Verbundenheit geworden. Der König hatte erkannt, wer der wahre Gegner in diesem Spiel war. Nicht zuletzt hatte der Bote, den Corna geschickt hatte, die letzten Zweifel beseitigt. Darn hatte die Sache so lange gedreht und gewendet, bis eindeutig geworden war, dass die Elfen den Raubzug der Vyrn lediglich hatten verhindern wollen. Der Zwergenherrscher hatte keine andere Wahl, als den Ehrencodex zu achten und den vermeintlichen Beschützern unter die Arme zu greifen.
"Tod den dunklen Horden!", schrie er und hob das goldene Schwert mit den arathelischen Insignien.
Jubel erhob sich, eine kakophonische Welle, die bis an den Rand der Berge schwappte und von dort widerhallte. 
Die Zwerge zogen in die Schlacht.
 

© Benedikt Julian Behnke
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