Zwergengold von Benedikt Julian Behnke
Neuntes Kapitel
Belagerung

Die Nacht war fast vorüber.
Im schwächer werdenden Sternenlicht betraten sie eine sanft ansteigende Wiese, die bis zu den Toren der Burg reichte. Auf beiden Seiten fielen die Hänge steil ab, verschwanden einfach in der Dunkelheit des Hochwaldes. Unbeirrt hielten sie auf die Festung zu.
Als sie an der Pforte hielten, schnalzte ein Mechanismus, und Kurbeln wie Räder setzten sich knarrend in Bewegung. Quietschend schwangen die großen Türen nach innen auf, und sogleich geleitete sie Pinn in den Hof.
Pardanon besaß nichts von der erdverbundenen Wärme und Grazie der Baumstadt. Vielmehr war es ein kaltes Gemäuer, einzig zur Verteidigung gebaut, mit dicken Wänden und hohen Mauern. Rechter Hand schwelte noch immer ein Lagerfeuer, während auf der linken Seite einige Pferde in den Ställen scharrten. Direkt vor ihnen ragte der vollkommen quadratische Bergfried eindrucksvoll auf, hob sich düster vor dem heller werdenden Nachthimmel ab.
Geräuschvoll schlossen sich die Tore hinter ihnen. Larannah befahl, das Feuer möge sofort wieder angefacht werden, während die mitgebrachten Reittiere im Stall untergebracht werden sollten. Bald liefen überall geschäftige Elfen umher, die alles für den Angriff vorbereiteten. Denn der würde ohne Frage erfolgen.
Zusammen mit Palan und Pinn betrat Larannah das Hauptgebäude der Bastion. Auch hier herrschte diese allgegenwärtige Kälte, auch wenn sie nicht viel davon spürte, da sich dicke Wollhemden unter ihrer Rüstung befanden.
Innerhalb des Bergfriedes stießen sie auf zwei bekannte Gesichter. Die beiden Elfen waren von stattlicher Statur, der eine ein Gelehrter, der andere ein hagerer Mann mit schütterem Haar und einem Langschwert auf dem Rücken - unverkennbar Schwertmeister Finnon. Der andere war Barthon Halth, der in der Abgeschiedenheit von Pardanon seine Studien zu betreiben pflegte.
Nachdem sie die Königin durch eine leichte Verbeugung begrüßt hatten, führte sie Finnon die steinernen Gänge entlang. Sie passierten einen Raum, in dem eine Gruppe Soldaten saß, Bier trank und ihnen abschätzende Blicke zuwarf. Offensichtlich wussten sie nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, die Königin nicht misstrauisch zu beäugen.
Schließlich betraten sie eine abgeschiedene Kammer und setzten sich an einen massiven Holztisch. "Wir haben zweihundert Mann hier", verkündete Finnon ohne auch nur die Mundwinkel zu verziehen. "Nicht mehr und nicht weniger."
Larannah nickte. Das hatte sie befürchtet.
In den kommenden Momenten verfielen sie in ein angeregtes Gespräch, in dem sie sich auf den bevorstehenden Angriff vorbereiteten. Barthon Halth sprach wenig, hörte zu, und warf hier und da eine Anmerkung dazwischen, wirkte jedoch nie aufdringlich, sondern eher zurückhaltend.
Lange Zeit berieten sie sich, dann merkte Palan plötzlich auf: "Bevor ich Euch in Andor traf, meine Herrin, habe ich einen Reiter nach Eleval geschickt. Meines Wissens halten sich dort noch ein paar Grenzlegionen auf. Wenn sie uns rechtzeitig erreichen, können wir auf ihre Unterstützung hoffen!"
Larannah sah ihn direkt an, stellte eine Frage.
Er zuckte die Achseln, wusste nichts darauf zu erwidern. Er hatte gesagt, was gesagt werden musste. Bis zum Schluss des Gesprächs verfiel er in Katatonie.

Den Rest des Tages verbrachten sie mit Vorbereitungen. Pfähle wurden vor den Mauern in den Boden gerammt, das Tor zusätzlich mit Balken verbarrikadiert.
Es wurde zunehmend dunkler. Als es zu regnen begann, ertönte ein silbern klingendes Horn, gefolgt von sich rasch näherndem Hufgetrappel. Die Reiter aus Eleval näherten sich!
Keine zwei Stunden später erschienen sie am Horizont.
In der Ferne hörte man das Klirren von Metall, als die Vyrn ihren Marsch fortsetzen.
Palan erschien vor Larannah, schwankte ungeduldig hin und her. "Ich werde reiten!", erklärte er ihr. "Ich werde kämpfen!"
Sie nahm es hin.
Nach einer weiteren Stunde Wartezeit hatten die Vyrn die Hügel erklommen. Erneut erschallte das silberne Horn der Elfen. Dann sprengten die Reiter in gestrecktem Galopp den Hang hinauf und ritten durch die weit geöffneten Tore von Pardanon hindurch. Überschwänglich wurden sie begrüßt.
Daraufhin ging es an das Verteilen der Rollen. Palan übernahm zusammen mit den Generälen die Reiterei. Inzwischen verspürte er den Drang, Arion ersetzen zu müssen, und unterhielt sich lange mit Larannah. Dabei ließ er all seine Vorsicht außer Acht. Eine Wandlung ging mit ihm vor.

Das Heer der Vyrn ergoss sich wie schwarzer, zähflüssiger Honig über die Hügelkuppe. Rüstungen klapperten und schwere Schritte senkten sich in den vom Regen sumpfig gemachten Boden. Wassertropfen platschten auf ihre Rüstungen und stimmten ein Lied der Trauer an.
Palan stand an der Spitze seiner Reiter, sein Gaul bewegte sich unruhig.
"Bogenschützen!" Der ehemalige Späher machte eine entsprechende Geste, und im nächsten Moment erfüllte das Sirren und Zischen von Pfeilen die Luft. Es klang wie das Läuten von Glocken, als die eisernen Spitzen die Harnische durchschlugen. Vyrn sanken getroffen auf die Knie oder stolperten über tote Kameraden. Grunzender Widerstand erhob sich, dann hatten die ersten Grünhäutigen ihre Mortheg gezückt und wateten ihren andorianischen Kontrahenten brüllend und wutschnaubend entgegen.
Erneut gab Palan den Befehl zum Schießen und galoppierte hinter seine Reihen, um den verschiedenen Generälen rasch Anweisungen zu überbringen. "Schwenkt aus, attackiert ihre Flanken und versucht sie zu umschließen! Barthon!" Der Berater hatte ebenfalls seinen Platz bei den Anführern auf einem Pferd gefunden und stellte so etwas wie die taktische Vorhut der Königin dar. "Ihr nehmt die Mitte, zieht euch aber immer wieder zurück und überlasst sie den Bogenschützen! Wir müssen sie auf Abstand halten!" Er erreichte Finnon, den Schwertmeister des Trupps. "Finnon, Ihr haltet Euch zurück. Wenn ich den Befehl gebe, stürmt ihr nach vorne und zerschmettert deren Schilde - wenn Barthon zum Rückzug ruft, erklimmt den Hang und bringt Euch außer Reichweite. Treibt sie auseinander. Die Reiterei und ich schnellen dann vor und überrumpeln sie!"
Dann hatte er die Kompanie erreicht, die er selbst anführen wollte. Erfüllt von neuer Zuversicht hob er sein Schwert und sein Pferd bäumte sich auf. Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel und Fackeln glommen in einem Meer aus zuckender, klirrender Dunkelheit. Das Heer der Dämonen hatte die Bastion beinahe erreicht.
Im nächsten Moment surrten Bogen und ein Hagel aus Schäften grub sich in die düstre Haut der Angreifer. Reihe um Reihe fiel den Schützen zum Opfer, dann sprengte Barthon mit seinem großen, schwarzen Hengst auf die Feinde zu. Regen platschte in dicken Tropfen auf Rüstung und Helm, verlieh den Pferden einen gespenstischen Glanz im Licht der Blitze. Donner grollte, und das Geräusch von Hufen auf Eisen folgte. Halth brach gemeinsam mit seinem Rappen in den Heerhaufen ein und schlug wild und unbändig um sich. Seine Ritter folgten ihm mit wilden Schlachtrufen. Schwerter pfiffen durch die Luft und ließen Blut aufspritzten, wo sie auftrafen. Schilde krachten unter wuchtigen Mortheg-Hieben.
"Rückzug!", bellte Barthon Halth und die andorianischen Krieger begannen gehetzt davonzurennen. Genau in dem Augenblick erklang erneut das Sirren von Sehnen, und Pfeile jagten durch die Luft und warfen die Verfolger zurück.
Finnon gab seinem Fuchs die Sporen und jagte über das Feld. Hinter ihm hasteten die Bauern Elevals, bewaffnet mit Hämmern und Keulen. Die Schilde der Vyrn waren dünn und schlecht gearbeitet. Bereits unter den ersten Schlägen barsten sie, und mehr als ein Dutzend Grünhäutiger fielen mit zertrümmerten Schädeln in den Schlamm.
Auch an den Flanken musste das unkoordinierte, schlecht ausgebildete Vyrn-Heer viel einstecken. Zwei Hauptmänner fielen und eine Seite brach gänzlich zusammen, als sich die Lanzenträger gewaltsam ihren Weg bahnten.
Dann war es an Palan, sich zu beweisen. Gemeinsam mit zwanzig Reitern galoppierte er auf den Feind zu, in einem Augenblick, da ein großer Teil den Schäften der Andorianer zum Opfer gefallen war. Die Erde bebte unter den donnernden Hufen der Reiterschar, als sie die Vyrn überrannten und zu Boden warfen. Schwerter kreisten durch die Luft und trennten Köpfe von den Schultern. Blut sprenkelte Tuniken und spritzte in Gesichter.
Palan schmeckte den kupfernen, leicht bitteren Geschmack im Mund, spuckte das fremde Blut aus und wischte sich über die Augen. Er sah den Angriff gerade im letzten Moment noch kommen, duckte sich unter der Attacke hinweg und rammte dem Vyrn seinerseits die Klinge in den Magen.
Schließlich löste sich der Haufen auf und driftete auseinander. Vyrn kreischten und sprinteten in alle Richtungen davon. Doch Speere folgten ihnen und hinderten sie an einer Flucht. Reiter galoppierten über die Ebene und schwenkten das Banner der Königsfamilie.
Palan zügelte seinen Gaul und brachte ihn auf einer seichten Erhebung zum Stehen. Das Pferd wieherte unruhig, heißes Blut verschleierte ihm die Sicht und strömte über den bebenden Leib. Der Kundschafter spürte die erregt zuckenden Muskeln zwischen seinen Schenkeln, und beruhigend streichelte er dem Tier den Hals. Er warf einen Blick auf das Schlachtfeld. Finnon und ein weiterer General waren gerade dabei, die Niedergetrampelte Kohorte der Vyrn nach Überlebenden abzusuchen - und ihnen gegebenenfalls die Kehlen durchzuschneiden.
Plötzlich zischte etwas durch die Luft und grub sich mit aller Wucht von hinten in seine Seite. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und er bäumte sich im Sattel auf, rang nach Atem. Seine Hände tasteten suchend und als sie etwas berührten, zuckte er zusammen. Der schmierige, schwarze Schaft eines Vyrn-Pfeils ragte oberhalb seines Beckens aus dem fiebrigheißen Fleisch. Von einer Sekunde auf die andere wurde ihm übel. Seine Glieder fühlten sich schwer an, und er begann zu taumeln. Noch während die Wirklichkeit um ihn herum in einem Sog zu verschwinden drohte, drehte er den Kopf.
Das Geräusch von Hufgetrappel und scheppernden Rüstungen erreichte ihn nur verschwommen und seltsam hallend. Mit einem stummen Schrei auf den Lippen starrte er auf die Ebene vor sich. Er hatte fest geglaubt, sie sei leer gewesen, als er seinen Hengst gezügelt hatte. Jetzt allerdings sah er Reihe um Reihe, Legion um Legion, Armee um Armee, die sich als ein waberndes Band von Norden her über die sanften Hügel und bewaldeten Ebenen der Tieflande dahinschlängelte. Er sah das Schwarze Banner, und das Rote Banner, und eine Standarte ohne Kennzeichnung. Dort hockte ein Rabe, der vom fauligen Fleisch eines aufgespießten Elfenkopfes aß.

Arion war allein. Seine Gedanken trieben in einem finsteren Mahlstrom dahin. Sein Geist hatte längst die Ebene des körperlichen Seins verlassen, war dem Gefängnis der Materie entglitten und existierte fortan als objektiver Betrachter aller Handlungen. Dieses Etwas sah Arion mit eisernen Ketten an eine Wand gefesselt, vollkommen entblößt, ausgeblichen von der Dunkelheit und blutüberströmt. Wunden hatten sich entzündet, Geschwüre gebildet. Das Haar war verfilzt und selbst die Augen waren glanzlos geworden, ein trübes Dunkel, in dem die Leere des Universums stand.
Die Kerkerluft war schwefelgeschwängert, ein Gestank, durchdringender als der der Exkremente. Auf einem Hocker lagen rostige Zangen und blutverkrustete Messer. Folterwerkzeuge in allen Formen und Variationen zeugten von der Brutalität des Vyrn-Häuptlings. Ab und zu gellten Schreie durch die lichtlosen Korridore. Einzig Arions Gefängnis wurde von der stetig glühenden Esse erleuchtet.
Der Elf hatte längst alle Hoffnung auf Rettung aufgegeben. Er war geschlagen. Er hatte den Tod geküsst und nun... nun war er seinen fleischlosen, kalten Lippen verfallen.
Doch auf einmal bohrte sich ein einzelnes Wort in sein Verständnis.
Larannah!
Dieses Wort war so klar, dass er nicht anders konnte, als zusammenzucken. Die Ketten klirrten, und eine Woge des Schmerzes fuhr durch seinen gepeinigten Körper.
Erstaunt schlug er die Augen auf. Er war wieder in der Lage, sich zu bewegen, spürte, wie Hoffnung in ihm keimte und langsam aber sicher größer wurde. Die Hoffnung gab ihm Kraft. Mit größter Sorgfalt kehrte sein Geist in den verloren geglaubten Körper zurück. Beinahe sofort hörte er das Geräusch von Schritten auf dem Gang.
Larannah!
Das Wort stärkte ihn, ließ ihn seine Schmerzen vergessen.
"Ich lebe...", flüsterte er.

Weitere Tage der Schlacht vergingen, derweil die Heere der Dunkelheit gegen die Wälle von Pardanon preschten.
Der Rabe krächzte. Seine roten Augen funkelten wie blutige Tränen.
Palan blinzelte ihn an, und erneut loderten die verzehrenden Feuer des Hasses in ihm auf. Zitternd vor Schmerz und Zorn tasteten seine Finger nach dem Schwert, das gleich neben seiner Schlafstatt lag. Noch voller Steifheit versuchte er das Heft zu umklammern. Er biss die Zähne aufeinander und wuchtete die armlange Klinge auf seine Brust, wo er einige Sekunden verharrte. Er war dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen. Noch immer spürte er das Gift in sich, Eis, das Wurzeln schlug, um ihn letztendlich komplett auszufüllen.
Mit einem verbitterten Aufschrei schwang er die Klinge gegen den schwarzen Vogel. Die Krähe hatte den Hieb jedoch kommen sehen und flatterte kreischend davon. Klirrend krachte das Schwert gegen Stein, schlug Funken und vibrierte in Palans Hand.
Der Späher aus Andor erschauderte. Der Blick des Raben hatte von Hunger gezeugt, Hunger nach fauligem Fleisch und totem Elf.
Die Tür öffnete sich mit einem schabenden Geräusch. Larannah, die eintrat, schenkte ihm einen mitleidvollen, wenn auch strafenden Blick. "Ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht bewegen!", schalt sie ihn und nahm ihrem Freund die Waffe aus den klammen Fingern.
"Wie...?"
Die dunkelhaarige Herrin schüttelte traurig den Kopf. "Wir sind ihnen unterlegen, Palan!", sagte sie tonlos. "Bald wird es das Reich der Elfen, wie wir es kennen, nicht mehr geben." Die Königin verstummte.
Er hatte es gewusst. Dennoch zwang er sich, weiter zu machen. "Wenn Pardanon fällt, wird die gesamte westliche Welt im Schatten versinken!" Seine Stimme klang ungemein kräftiger, als er es für möglich gehalten hatte. Vielleicht war da wirklich ein Funken Hoffnung - zart, aber stark genug, um ihn zu einer großen, alles erleuchtenden Flamme werden zu lassen.
Dann sagte er mit deutlicherem Nachdruck: "Pardanon wird nicht fallen!"
Und damit erhob sich der Krieger des Tieflandes von seinem Totenbette.
Auf bebenden Knien stemmte er sich in die Höhe, Arme versuchten zu stützen, was mehr als Tonnen zu wiegen schien. Sein Gesicht zeigte wilde Entschlossenheit, während er sich auf die Beine kämpfte. "Hol mir meine Rüstung. Und den Schild. Sattel mein Pferd. Noch bevor der Abend kommt, wird der Thilion seinen treuen Diener kämpfen sehen können!"
Draußen war die Schlacht bereits in vollem Gange. Die Mauer war bereits an mehreren Stellen angezündet worden und dichter Rauch quoll in den von Wolken verhangenen Himmel.
Zwar kämpften die Andorianer mutig und töteten viele, aber immer wieder füllten sich die entstandenen Lücken mit Angreifern, die sie langsam aber sicher zurückdrängten.
Elfen starben.
Immer wieder eroberten Vyrn Teile der Wälle und fegten die Verteidiger von ihren Posten.
Schartige Schwerter blitzten auf und droschen wie Schmiedehämmer gegen Rüstungen und Helme. Die Kraft der Vyrn war erschreckend. Zwar hatten sie keine Chance gegen die gut ausgebildeten Bogenschützen, ihre Boshaftigkeit jedoch überwiegte.
Plötzlich erschien Palan an den Toren der königlichen Hallen. Er trug das Schwert Arions, und auch die Kupfer beschlagene Rüstung des einstigen Königs. Über seinem Rücken hing der Langbogen aus Andor, und in seinem Gesicht stand die ausdruckslose Miene eines starken und standhaften Herrschers. Er reckte die Hand, die das fein gearbeitete Schwert hielt. Seine Stimme war donnernd und verriet nichts von der Schwäche des letzten Tages, als er rief: "Tore auf!"

Arion spannte die Muskeln an, versuchte die Ketten zu sprengen, die ihn an die Wand fesselten. Sein Körper war steif, seine Beine gelähmt. Peitschenhiebe mochten sein Rückgrad zerfetzt haben. Dennoch spürte er, dass er Kraft genug haben würde, sich aufrecht zu halten. Die treibende Flamme seiner Liebe zu Larannah war noch nicht erloschen. Sie war alles, an was er denken konnte. Sie war alles, was sein Leben weiterhin lebenswert machte. Sie war alles, was zählte.
"Ich will nicht, dass du stirbst!", flüsterte er in die gluterhellte Dunkelheit.
Larannah!
Das Fünkchen der Hoffnung in ihm wandelte sich zu unbändiger Wut. Sein Atem ging schwer, seine Brust hob und senkte sich immer rascher. Einem Schmiedehammer gleich drosch sein Herz von innen gegen seine Brust, drohte die Rippen zu sprengen. Mit jedem Schlag zerrte er an den Ketten. Lautes Klirren hallte durch die Korridore. Mörtel bröselte zwischen Mauerfugen hervor. Der Stahl mochte grob und unnachgiebig sein - doch die uralte Mauer war es nicht.
Krachend rissen die Ketten aus ihrer Verankerung.
Augenblicklich verlor er den Halt, brach vornüber zusammen und schlug hart gegen auf den Steinfliesen auf. Rasselnd und scheppernd schlitterten die gelösten Metallfesseln über den Boden. Blut schoss ihm in den Kopf und eine zeitlang war er regelrecht gelähmt. Sein Geist pendelte zwischen Wachen und Schlafen hin und her, während sich sein Kreislauf langsam stabilisierte.
Plötzlich hörte er Stimmen.
"Ich werde kommen...", antwortete er ihnen.

Gwend erstarrte, als er die geflüsterten Worte vernahm. Mit einer Geste gebot er den anderen, sich nicht zu bewegen. Dann schloss er die eine Hand fest um den Schwertgriff und legte die zwei Finger der anderen auf die Scheidenöffnung, um beim Herausziehen der Klinge kein Geräusch zu verursachen. Dennoch rief das aufeinander reibende Metall ein leises Schaben hervor.
Am Ende des Ganges klapperte etwas, kratzte über den Boden und war dann wieder still. "Dort ist jemand!" Oder etwas, korrigierte er sich im Stillen. Fliegenden Schrittes huschte der Elf durch den Korridor, bewegte sich lautlos, während sich seine beiden Gefährten nicht vom Fleck rührten.
Schließlich hatte er das Portal jener Kammer erreicht, aus der sie die verräterischen Geräusche vernommen hatten. Es gab keine Tür. Gwend konzentrierte sich, berief sich auf seine elfischen Instinkte und lauschte, warf seine Sinne wie ein Netz aus und wartete, dass etwas an den geistigen Fäden rüttelte. Er wandte jene Art von Magie an, die allen Elfen angeboren war.
Und er fuhr zusammen.
Das hatte er nicht erwartet. Nicht zu hoffen gewagt. "Arion?", fragte er zögerlich in die Ungewissheit hinter der Wand.
Etwas rührte sich; Metall schleifte rasselnd über den Boden. Dann eine erstickt klingende Stimme: "Gwend...?"
Der Elf winkte seine Gefährten zu sich heran, dann schlüpfte er durch das Portal in den Raum. Und erbleichte.
"Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen wieder gesehen..." Arion brachte ein reumütiges Lächeln zustande.
"Ihr lebt!" Der alte Elf war überglücklich. Dennoch verursachte die Art, wie sein alter Freund zugerichtet war, einen stechenden Schmerz in seiner Brust. "Mylord..."
Darn betrat den Raum, maß die Szenerie mit Könnerblick. "Wird er...?"
Gwend nickte hastig. "Das wird er!" Seine Stimme klang brüchig, und als er den Menschen über die Schulter hinweg ansah, waren seine Augen tränenverschleiert.
Corna blickte sich hilfesuchend um. "Wir müssen ihn hier herausschaffen!"
Devin schüttelte heftig den Kopf. "Das geht nicht! Wir sind zu nah am Ziel, um jetzt noch umzukehren!"
Der Mensch verzog das Gesicht. Er befand sich in einer misslichen Lage. Einerseits wollte er das Leben des Elfenkönigs retten, andererseits hatte er eine Mission zu erfüllen. Schließlich nickte er übertrieben heftig. "Also gut, schafft ihn hier heraus!" Er machte auf dem Absatz kehrt und riss das Schwert aus seinem Gürtel. Sein Blick festigte sich; sein Gesicht wurde zu einer Maske aus Stein. "Ich gehe alleine!"

Hathorn stürmte durch den Pass, schloss sich den noch immer kämpfenden Irionern an und drängte die Vyrn zurück. Die Abwehr zerfiel schnell, Eisen krachte auf Eisen, schlug Funken, und Zwerge bliesen in die Hörner. Dann tauchten drei humpelnde Gestalten auf einer Hügelkuppe auf, hoben sich scharf vor dem Blau des Himmels ab. Es waren zwei Elfen und ein Zwerg.
Der König befahl einer Eskorte, sie in Empfang zu nehmen und zu ihm zu geleiten. Offensichtlich handelte es sich um eine wichtige Nachricht. Vielleicht hatten es Boten nur mit Müh und Not durch die dämonischen Horden geschafft. Doch beim Nähern der drei erkannte er in einem von ihnen jenen Elfen, dem er vor beinahe zehn Jahren in Verhandlungssache gegenübergestanden hatte. "Arion!"
Der Elfenkönig war schwer angeschlagen, schien nicht einmal im Stande, ein Schwert zu halten. Dennoch stand er gerade, als er vor Hathorn angelangt war. Während ihrer Flucht aus Morron hatte Gwend seinem Freund von dem geschlossenen Bündnis erzählt, das Darn klugerweise ausgehandelt hatte. Die beiden begrüßten sich respektvoll.
"Hathorn."
"Arion."
"Nun sagt schon", drängte der Zwergenherrscher und verbannte somit das Protokoll hinter die Grenzen seines Landes, "was ist mit Euch geschehen?"
Der Elf schüttelte den Kopf. "Gebt mir ein Schwert!"
Des Zwergenkönigs Augen weiteten sich. "Ihr seht nicht aus, als wäret Ihr in der Lage..."
"Ein Schwert!" Larannah... Er glaubte ihre Schreie zu hören und warf einen Blick auf das Tosen der Schlacht, konnte sie doch nicht ausmachen.
"Gebt ihm ein Schwert!", befahl der Zwerg. Man tat, wie befohlen.
Endlich, der Kreis schließt sich, und ich bekomme meine Rache...!
Larannah!
Er flüsterte es: "Larannah..."
Urplötzlich hob er den Blick, hörte Trommeln in seinem Kopf, schrie laut: "Larannah!" und stürzte sich ins Schlachtgetümmel.
Hathorn blickte ihm nach, bis er in der Menge verschwand. Diese Begegnung hatte ihn verunsichert. Da war etwas in den Augen des Elfenkönigs gewesen...
Gwend nahm den Bogen von der Schulter und erklomm einen nahe gelegenen Hügel. In rascher Abfolge schickte er Pfeile ins Gewühl und unterstützte die Seinen.
Der Zwergenkönig wandte sich ab, tat ein paar Schritte und riss schließlich sein Schwert aus der Scheide. Mit donnernder Stimme befahl er zum Angriff. Devin stimmte ergriffen mit ein.
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 10. und letzten Kapitel: "Hilfe"

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