Obwohl es ihn danach drängte, wandte Zarit sich
nicht ein einziges Mal mehr nach seiner Familie und seinem Zuhause um.
Mit verzweifelter Entschlossenheit zwang er sich, den Blick unbeirrt nach
vorne zu richten auf den schmalen, steinigen Pfad unter seinen Stiefeln
- und auf den langen Weg, den er zu gehen hatte und dessen Ende er nicht
kannte.
Es schmerzte ihn sehr, Aniyyée so verbittert zurückzulassen,
doch ihm blieb keine andere Wahl.
Wut stieg in ihm auf – maßlose Wut auf sich selbst,
weil er durch seine leichtfertigen Bemerkungen seine Familie erst in diese
Lage gebracht hatte. Was war nur in ihn gefahren, als er den Dorfbewohnern
von diesen seltsamen Lichtern im Norden der Insel berichtet hatte? Er hätte
wissen müssen, wie sie reagieren würden - schließlich lebte
er schon lange genug hier.
Zarits Schritte wurden härter, ausgreifender. Und
die Wut in seinem Inneren verwandelte sich in blanken Zorn, als er an den
Spott der Dorfbewohner dachte, den Aniyyée hatte erdulden müssen.
Die verächtlichen Worte und das höhnische Gelächter der
Menschen hörte er noch immer deutlich in seinen Ohren.
Ihm machte es nichts aus - schon lange nicht mehr. Mit
der Zeit hatte er sich daran gewöhnt, daß sie ihn einen "Spinner"
oder den "verrückten Schafhirt" nannten, es bedeutete ihm nichts.
Aber seine Familie bedeutete ihm etwas, und schon allein aus diesem Grund
mußte er nach Norden ziehen - um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Und um zu beweisen, daß er nicht gelogen hatte.
All das trieb ihn unaufhaltsam durch die Dunkelheit voran,
und er setzte seinen Weg entlang der Küste fort, obwohl er nicht wußte,
was ihn an seinem Ziel erwarten würde.
Die ganze Nacht über wanderte Zarit ohne Unterbrechung,
und die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als er endlich den Wald durchquert
hatte und seine Schritte ein wenig verlangsamte. Die Gegend war ihm bekannt,
obwohl er mit seiner Schafherde selten so weit nach Norden zog. Für
ihn lohnte es sich kaum, hier herauf zu kommen, denn das Weideland unten
im Süden der Insel war wesentlich besser und das Gras reichlicher.
Hier oben im Norden der Insel wurde die Landschaft karg,
die üppigen Wiesen und Wälder verwandelten sich allmählich
in eine dürre, von niedrigem Gestrüpp überwucherte Hochebene.
Hier und da ragten windzerzauste Büschel braunen,
ausgedörrten Grases zwischen einzelnen Felsbrocken hervor und nur
noch wenige verkrüppelte Bäume säumten den Pfad, der inzwischen
kaum noch zu erkennen war.
Seit dem Morgen zog sich der Weg langsam aber stetig
bergauf. Eine Weile nachdem Zarit den Wald verlassen und die staubige Ebene
überquert hatte, fiel das Land vor ihm steil zum Meer hin ab und verengte
sich zu einer schmalen, felsigen Landzunge, die die Südhälfte
der Insel mit der Nordhälfte verband. Von oben betrachtet sah dieser
Damm wie das endlose, steinerne Rückgrat eines riesenhaften Fisches
aus, der sich behäbig durch das Meer schlängelte.
Zarit hielt einen Augenblick inne, nahm seinen Rucksack
ab und ließ sich im Schatten eines Felsens nieder, um sich eine Pause
zu gönnen. Die Luft war drückend und heiß, und obwohl es
noch nicht einmal Mittag war, brannte die Sonne schon unbarmherzig herab.
Seinen wollenen Umhang streifte er ab und rollte ihn sorgfältig zusammen.
Er aß ein Stück Schafskäse und trockenes
Fladenbrot, das ihm Aniyyée eingepackt hatte, und versuchte dabei,
nicht an ihre dunklen Augen zu denken, die ihn so vorwurfsvoll angesehen
hatten.
Während er noch einen Schluck aus seinem Wasserschlauch
nahm und den salzigen Wind, der vom Meer herüber wehte, auf seinem
verschwitzten Gesicht genoß, wanderten seine Gedanken jedoch schon
voraus nach Norden, in das unbekannte Gebiet, das vor ihm lag.
Schon oft war er hier oben auf dieser kahlen Fläche
gestanden und hatte versucht, einen Blick auf die andere Seite der Insel
zu erhaschen. Aber selbst bei klarem Wetter konnte man das andere Ende
der Landzunge nicht erkennen. Ein immerwährender, undurchdringlicher
Dunstschleier schien das, was sich dort befand, vor allzu neugierigen Augen
beinahe magisch abzuschirmen.
Nur in sternklaren Nächten konnte man jenseits des
Dammes diese geheimnisvollen Lichter erkennen. Und genau von diesem Platz
aus hatte er sie auch zum ersten Mal gesehen.
Weiter als bis zu dieser Stelle, an der er jetzt stand,
hatte sich Zarit jedoch noch nie gewagt, obwohl eine kaum zu bezähmende
Neugier ihn immer wieder hierher zurückkehren ließ. Und auch
jetzt konnte er den Blick nicht abwenden.
Was befand sich dort auf der Nordhälfte der Insel?
Was?
Zarit wußte es nicht. Niemand schien es
zu wissen.
Bis auf ein paar vage Gerüchte, die gelegentlich
in der Dorftaverne laut wurden, hatte er nie etwas Konkretes über
die Gegend oben im Norden erfahren. Auch nicht über Cornab, den Magier,
der dort sein Unwesen getrieben hatte. Die Bewohner von Áma machten
einen großen Bogen um das ganze Gebiet und schienen peinlich genau
darauf zu achten, nicht einmal in die Nähe des Dammes zu kommen, der
die beiden Hälften der Insel verband.
Über all die Dinge, die dort vor Jahren passiert
waren, schwiegen sie sich beharrlich aus. Je mehr Zarit fragte und nachbohrte,
um so verschlossener wurden ihre Gesichter. Niemand im Dorf war bereit,
darüber zu reden - so als hätten sie Angst, mit ihren Worten
dunkle, lange vergessene Ereignisse wieder heraufzubeschwören. Fast
war es, als hätte Cornab nie existiert.
Der Blick des Schafhirten ruhte nachdenklich auf der schmalen
Landzunge, deren Ende irgendwo weit draußen im Dunst verschwand.
Sie war so breit, daß bequem zwei Fuhrwerke aneinander
vorbei gepaßt hätten und ragte ein paar Fuß hoch aus dem
Meer. Der Boden war felsig und an einigen Stellen, die gelegentlich von
den Wellen überspült wurden, glitschig und von grünschimmernden
Algen bedeckt.
Seevögel tauchten ab und zu kreischend aus den blassen
Nebelfetzen auf, drehten ihre Runden über dem bleigrauen Wasser und
verschwanden wieder. Nichts Ungewöhnliches also.
Eigentlich sah die Gegend überhaupt nicht gefährlich
aus - eine ganz normale, harmlose Küste.
Und doch machte sich ein ungutes Gefühl in Zarit
breit, als er dort hinunter sah.
Irgend etwas lauerte hinter diesen Nebelschwaden, kaum
greifbar, kaum wahrnehmbar - doch er spürte es so deutlich, daß
es ihm einen Augenblick lang die Kehle zuzuschnüren drohte.
Er würde herausfinden, was dort vor sich ging. Er
mußte
es einfach herausfinden.
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