Nach seiner kurzen Rast kämpfte sich Zarit mühsam
den steilen, geröllübersäten Abhang zum Meer hinunter. Immer
wieder stolperte er, rutschte auf losen Steinen aus und schürfte sich
Hände und Knie auf. Die dornigen Sträucher, die vereinzelt aus
dem ausgetrockneten Boden ragten, boten kaum Halt, und auch sein Stab,
der ihm während der langen Wanderung gute Dienste geleistet hatte,
behinderte ihn mehr, als daß er eine Hilfe war.
Die Sonne brannte so gnadenlos vom Himmel, daß
ihm der Schweiß in die Augen lief, und er hatte das Gefühl,
der Rucksack auf seinen Schultern würde doppelt so viel wiegen als
zu Beginn seiner Reise.
Als er endlich schliddernd und rutschend den Fuß
des Abhangs erreichte, war er so erschöpft, daß er sich einen
Augenblick keuchend auf seinen Stab stützen mußte, um wieder
zu Atem zu kommen.
Vor ihm lag der lange, steinerne Damm - diese enge Landzunge,
die die einzige Verbindung zum Norden der Insel Schradu herstellte.
Zarit stand eine ganze Weile reglos auf seinen Stab gestützt
und starrte mit zusammengekniffenen Augen hinaus aufs Meer, während
der Wind, der unablässig aus Nordwesten blies, ihm das Haar zerzauste
und seine Tunika flattern ließ. Die Luft flimmerte vor Hitze und
roch nach Salz und fauligem Fisch. Mit lautem Krachen brandeten die Wellen
von beiden Seiten gegen die Felsen und versprühten ihre weiße
Gischt wie feinen Regen.
Er versuchte durch den Dunst etwas zu erkennen, versuchte
die Länge des Weges abzuschätzen - aber es war ihm unmöglich,
mit seinen Augen den dichten Nebel zu durchdringen, der weit draußen
über den Damm kroch.
Ein Blick hinauf in den Himmel bestätigte ihm, daß
die Sonne den Zenit bereits überschritten hatte.
Zarit wußte zwar nicht, wie lange er brauchen würde,
um die Nordhälfte der Insel zu erreichen aber er hoffte, daß
er es bis zum Abend schaffen würde.
Einen kurzen, intensiven Moment lang weilten seine Gedanken
bei Aniyyée und seinen Kindern. Noch konnte er umkehren - noch war
nichts geschehen, was ihn oder seine Familie in Gefahr gebracht hätte.
Doch auch die Stimmen der Dorfbewohner klangen in seinen
Gedanken, Stimmen voll beißendem Hohn.
Nein - er wußte, was er zu tun hatte.
Seine hageren Schultern strafften sich, als er den Rucksack
auf seinen Rücken schwang, den Stab fester packte und all seinen Mut
zusammennahm.
Dann machte er sich auf den Weg.
Das Marschieren auf dem steinigen Untergrund war wesentlich
schwieriger, als Zarit es sich vorgestellt hatte, und er kam nur mit Mühe
und langsam voran.
Zwar versuchte er, in der halbwegs trockenen Mitte des
schmalen Landstreifens zu bleiben, doch immer wieder brachen sich die Wogen
mit solcher Gewalt an den Felsen zu beiden Seiten, daß die Gischt
hoch über den Damm schäumte. Mittlerweile hatte er kaum noch
einen trockenen Faden am Leib. Oftmals strauchelte er, weil die Ledersohlen
seiner Stiefel auf den nassen, schlüpfrigen Steinen wegrutschten oder
weil er Wellen ausweichen mußte, die vor ihm urplötzlich über
die Landzunge schwappten.
Der Himmel hatte mittlerweile eine schmutziggraue Farbe
angenommen und die Luft war so stickig und schwül, daß ihm das
Atmen schwer fiel. Der kühle, erfrischende Wind war verstummt. Kein
Lüftchen regte sich mehr und die Hitze lastete wie Blei auf seinen
Schultern.
Besorgt warf er einen Blick auf die mächtigen Wolkenberge,
die sich drohend am Horizont auftürmten.
Wie lange er schon unterwegs war, als es dunkler und der
Nebel dichter wurde, vermochte Zarit nicht mehr abzuschätzen. In der
dicken Nebelbank hatte er mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren.
Bald konnte er nur noch wenige Schritte weit sehen - kaum, daß er
den Weg vor sich erkennen konnte.
Gleichgültig, in welche Richtung er auch blickte,
um ihn herum gab es nur noch diese merkwürdigen, weißgrauen
Fetzen, die wie eine zähe Masse über dem Meer trieben und ihn
einhüllten, sich um ihn herum bewegten wie von Geisterhand gesteuert.
Beinahe glaubte Zarit, dieser Nebel würde ihn beäugen,
beobachten – böse und feindselig wie einen unerwünschten
Eindringling. Fortwährend hatte er das unheimliche Gefühl, angestarrt
zu werden. Doch wenn er sich umdrehte, konnte er nur diese dichten, weißen
Schwaden erkennen.
Er riß sich zusammen und versuchte, sich auf seinen
Weg zu konzentrieren und nicht auf die Umgebung zu achten.
Es ist nur Nebel, sagte er sich. Ganz gewöhnlicher
Nebel, nichts weiter. Kein Grund zur Sorge.
Den Blick starr auf den Boden gerichtet marschierte er
vorwärts, Schritt um Schritt seinem Ziel entgegen, während die
Wolken über ihm immer dunkler wurden.
Aber sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Die wenigen Stellen, die er vom Himmel noch erkennen
konnte, waren schwarz wie die Nacht und die Dunkelheit um ihn herum drohte
ihn auf einmal zu ersticken. Schweiß lief ihm über die Stirn.
Wieder spritzte ein Brecher direkt vor seinen Füßen
über den Damm und Zarit schaffte es gerade noch, zur Seite zu springen
ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren.
Keuchend blieb er stehen.
Und plötzlich schien alles um ihn herum den Atem
anzuhalten.
Kein Windhauch regte sich. Sogar das Meer schien einen
Augenblick zu schweigen.
Die Luft begann regelrecht zu vibrieren und war so aufgeladen,
daß sich die feinen Härchen in seinem Nacken wie elektrisiert
aufstellten.
Dann zischte der erste Blitz über den schwarzen
Himmel.
Zarit schrak zusammen und riß instinktiv die Arme
hoch, um seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen.
Ein brüllender Windstoß fuhr ihm ins Gesicht,
fegte seinen Stab einfach beiseite wie ein dünnes Streichholz. Nur
mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten.
Und dann brach der Sturm mit aller Macht über ihn
herein.
Das Meer schien plötzlich zu brodeln, und die Wellen
krachten unaufhaltsam über den schmalen Streifen Land, als wollten
sie alles mit sich reißen. Weiße Nebelfetzen tanzten vor Zarits
Augen, Regen peitschte in sein Gesicht, schmerzend wie eisige Nadeln auf
seiner Haut.
Mit aller Kraft stemmte er sich gegen den Wind, der über
den Damm heulte.
Noch nie hatte Zarit eine derartige Gewalt erlebt, und
einen Augenblick lang schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß
der Sturm vielleicht gar nicht natürlichen Ursprungs war.
Hilflos ließ er sich auf die Knie fallen und krallte
verzweifelt seine Finger in den Fels, während über ihm Blitze
und ohrenbetäubender Donner den Himmel füllten. Die düsteren
Wolken hingen so tief, daß er beinahe glaubte, sie berühren
zu können, wenn er nur die Hand nach ihnen ausstrecken würde.
Wieder schlug die Brandung über dem bißchen
Land zusammen, an das er sich hilflos klammerte. Sein Rucksack wurde von
den Wassermassen einfach weggefegt.
Dann traf ihn eine Welle, und sie kam so unvermittelt
und mit solch unbändiger Kraft, daß er quer über den Damm
geschleudert wurde, noch bevor er wußte, wie ihm geschah.
Mit einer Wucht, die ihm beinahe die Besinnung raubte,
schlug sein Schädel auf dem harten Boden auf. Seine linke Seite schrammte
über scharfe Felskanten und er hatte das Gefühl, sein Arm würde
ihm einfach aus der Schulter gerissen. Der Schmerz war fast unerträglich.
Wie betäubt blieb er liegen, die Augen geschlossen,
das Gesicht gegen den rauhen Fels gepresst. Bei jedem einzelnen Donnerschlag
konnte er das Zittern des Bodens mit seinem ganzen Körper fühlen.
Wie Feuer brannte das Salzwasser in seinen Wunden und
auf seinen aufgeplatzten Lippen, und er schmeckte sein eigenes Blut, das
ihm über die Schläfe rann und sich mit dem Regen vermischte.
Zarits Kopf schmerzte zum Zerspringen, und er war nicht
mehr fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Er betete nur noch darum, daß er diesen Sturm überleben
mochte, und sein Herz war in diesem Augenblick allein bei Aniyyée
und seinen Kindern.
Eine Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, lag er zitternd
auf dem nassen Fels. Bei jeder Welle, die über ihn hinwegspülte,
klammerte er sich verzweifelt mit den Fingern an den glitschigen Steinen
fest, voller Angst, ins Meer hinausgerissen zu werden.
Doch irgendwann ließ der Regen nach und wurde zu
einem gleichmäßigen Rauschen, und das Grollen des Donners war
nur noch aus der Ferne zu hören.
Zarit lauschte.
Der Wind hatte sich beinahe gelegt, war wieder zu einem
steten Flüstern geworden.
Vorsichtig öffnete er die brennenden Augen einen
Spalt. Er betrachtete seine blutigen, aufgeschürften Finger, die sich
immer noch mit aller Kraft an den Fels krallten, und hob mühsam den
Kopf.
Die zähen Nebelschwaden hatte der Sturm weggewaschen,
nur ein leichter Dunstschleier lag noch über der Landzunge. Die zerfetzten
Reste der dunklen Gewitterwolken fegten über einen schwefelgelben
Abendhimmel.
Zarits Blick wanderte nach vorne über den schmalen
Streifen Land, auf dem er lag.
Und dort sah er das Ende des Dammes.
Das Ziel seiner Reise.
Cornabs Turm.
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