Am nächsten Tag verging für
alle die Zeit unglaublich langsam. Die Bäuerin richtete zusammen mit
der Magd das Gepäck für die Reise, während ihr Mann und
die Knechte lange Stunden in der Scheune und auf den Feldern verbrachten.
Sie hatten alle sehr schlecht geschlafen.
Diejenigen, die um das Buch wussten,
hatten sich die ganze Nacht gefragt, welche Geheimnisse es verbarg. Der
Rest der Familie, einschließlich der zwei kleinen Kinder, war immer
wieder durch Schritte gestört worden, die die kleine Treppe zur Küche
hinunter tappten und irgendwann später wieder hinaufkamen.
Jalusch, der das ältere der
beiden Kinder war und ein ausgezeichnetes Gehör hatte, erzählte
seiner kleinen Schwester Jovina, wer da durch das Haus wandelte: "Die haben
wohl gestern noch was schlechtes gegessen und jetzt Durchfall!" Worauf
Jovina immer wieder kichern musste, wenn sie sich vorstellte, wie ihr Vater
und ihre Mutter abwechselnd vor dem Verschlag im Hof warteten, bis der
andere das Plumpsklo wieder verlassen konnte.
In Wirklichkeit schlichen sich
die Eltern und auch einer der Knechte, der gewöhnlich Tollpatsch gerufen
wurde, immer wieder in die gute Stube, wo sie das Buch versteckt hatten.
Dort zündeten sie eine Kerze an und betrachteten das Buch, strichen
mit den Fingern über den Einband und fragten sich, was wohl darin
stehen würde.
Auch die folgende Nacht brachte
der Familie kaum Schlaf. Müde standen sie am frühen Morgen in
der Küche und packten die letzten Kleinigkeiten für den langen
Marsch in die Stadt. Das einzige Pferd, von allen "die Alte" genannt, war
am Tag zuvor krank geworden und so konnten sie nicht mit dem kleinen Wagen
fahren. Und mit dem plumpen Ochsenkarren wollten sie sich nicht in der
Stadt sehen lassen. Nicht an dem Tag, an dem der Neffe der Herrin seine
Prüfung feiern wollte. Zudem war einigen Leuten bekannt, dass sie
das Ochsengespann für einen Wucherpreis verkauft hatten. Es hätte
wirklich seltsam ausgesehen, wenn sie jetzt damit aufgetaucht wären.
Knolle, der andere Knecht, blieb
auf dem Hof, um sich um das Pferd zu kümmern und die anderen Tiere
rechtzeitig zu füttern.
Erst am Nachmittag erreichten sie
Baneju. Jovina war lange Fußmärsche noch nicht gewohnt und quengelte
so lange, bis einer der Erwachsenen sie entnervt auf die Schultern nahm.
Die Bäuerin begann ihre Allüren zu bedauern, die zum Verzicht
auf das Ochsengespann geführt hatten. Aber endlich standen sie vor
der Magierschule; genau in dem Moment, als die Feier, bei der die Ergebnisse
der Zwischenprüfung bekannt gegeben worden waren, zu Ende ging. Aus
dem Tor der Schule strömten junge glücklich aussehende Menschen,
die meisten ununterbrochen auf ihre stolz dreinblickenden Eltern einredend,
sich für die nächsten Tage verabredend, lachend.
Die Familie wurde an den Rand gedrängt.
Da endlich rief die Bäuerin: "Ich hab sie gesehen! Kommt, wir passen
sie ab, bevor sie in die Straße dahinten einbiegen!" Dann nahm sie
ihre Tochter an die Hand und verschwand im Gewühl. Die anderen folgten
ihr, und bald lagen sich die zwei Schwestern in den Armen.
"Rena, wie schön, dass ihr
es doch noch geschafft habt! Wie geht es den Kindern – ah, ich sehe schon,
sie sind putzmunter! Freut mich, euch mal wieder zu sehen. Meine Güte,
Jovina, du bist aber gewachsen!" Und schon patschten ihre Hände über
Jaluschs Kopf, auch dessen Größe bewundernd.
"Jetzt aber los! Wir haben noch
ein paar Leute eingeladen. Schließlich kann man nicht jeden Tag eine
erfolgreiche Zwischenprüfung feiern!" Sie klopfte ihrem Sohn auf die
Schultern und warf ihrem Mann einen triumphierenden Blick zu.
Schwatzend und lachend erreichten
sie schließlich das Haus. "Bisher bewohnen wir hier nur zwei Etagen.
Ganz oben wohnt noch ein seltsamer Kauz. Ganz allein in der schönsten
Etage - könnt ihr euch das vorstellen? Naja, aber jetzt, wo Kanjul
die Zwischenprüfung abgelegt hat, kann er ja auch was verdienen. Dann
können wir sicher die dritte Etage auch bald unser Eigen nennen. Dann
gehört das Haus uns."
Lächelnd öffnete sie
die Tür.
Als sie durch den Eingang traten,
schlug ihnen der Geruch eines gut gepflegten Hauses entgegen - und der
guten Essens.
Die stolze Dame des Hauses lächelte:
"Die Geschäfte liefen im letzten Jahr so gut, dass Konas endlich zugestimmt
hat, dass wir außer dem Mädchen noch eine Köchin beschäftigen
können. Er ist ja immer so sparsam, mein Konas. Aber inzwischen habe
ich mich daran gewöhnt, dass ich ihn immer dreimal um Geld bitten
muss. Dabei gehen die Geschäfte so gut - aber er will sich immer für
schlechte Zeiten absichern."
Während die Verwandtschaft
vom Lande alles gebührend bewunderte, gab Rovina ihren Angestellten
die letzen Anweisungen für das Festessen. Dann wandte sie sich wieder
an ihre Schwester, die den städtischen Luxus mit offenem Mund betrachtete:
"Ich habe euch im oberen Stockwerk zwei Zimmer frei gemacht - ihr bleibt
doch über Nacht?"
"Ja gerne! Morgen ist doch der
große Pferdemarkt. Wir möchten ein zweites Pferd kaufen. Wir
haben vor einigen Tagen unser Ochsengespann verkauft und fast das Doppelte
des Werts bekommen. Manche Leute sind schon seltsam. Naja, ich hab den
Meinen dann überzeugt, dass wir dringend ein zweites Pferd brauchen.
Die Alte wird jetzt langsam wirklich alt." Rena warf ihrer Schwester einen
vielsagenden Blick zu und diese grinste zurück. Egal, ob auf dem Land
oder in der Stadt: die Probleme, mit denen man sich so herumschlagen musste,
waren doch alle irgendwie gleich.
So schwätzten die zwei Schwestern
eine ganze Weile, während sich der Rest in die Zimmer verteilte und
für das anstehende Essen zurechtmachte.
Als dann das Mädchen meldete,
dass die ersten Gäste gekommen seien, unterbrachen die beiden ihren
Plausch und begaben sich ins Speisezimmer.
Rena und Janno standen ein wenig
abseits, als Renas Schwester Rovina ihre Gäste begrüßte.
Sie bewunderten die Selbstverständlichkeit, mit der sie mit diesen
feinen Leuten umging. All die schönen Kleider, der teure Schmuck und
die wohlgesetzten Worte schienen ihnen wie eine fremde Welt, in der sie
vollkommen Fehl am Platz waren. Staunend, aber auch sehr schüchtern
stand das Bauernpaar da und wusste nicht, worauf es wartete. Da bemerkte
Konas ihre Verlegenheit und gesellte sich zu ihnen.
"Setzt euch ruhig auf eure Plätze!"
flüsterte er ihnen zu. "Die meisten dieser Leute sind gar nicht so
vornehm, wie sie tun. Manche haben sogar Schulden gemacht, um sich diese
Kleidung leisten zu können. Im Großen und Ganzen ist es ein
Haufen Angeber und Emporkömmlinge, die hoffen, mit ihrem Gehabe einen
Platz im Stadtrat zu ergattern oder sonst eine einflussreiche Position.
Auch wir gehören gewissermaßen dazu, aber zumindest ich habe
noch nicht den Boden unter den Füßen verloren." Er lächelte
und stellte sie dann einigen Leuten vor.
"Dies sind Herr und Frau Kanter,
die Familie der Schwester meiner Frau. Sie haben vor den Toren der Stadt
ein Gehöft beträchtlichen Ausmaßes und sind wegen des morgigen
Pferdemarktes hier. Dies sind Herr Landbauer und seine Gattin. Er macht
sich Hoffnung, bald einen Posten in der Stadtkämmerei zu finden."
Man wechselte ein paar höfliche
Worte, so wie es in der Stadt bei einer Einladung üblich war, doch
beide Paare waren heilfroh, als das Essen hereingetragen wurde.
Die Kinder saßen ein wenig
abseits an einem niedrigeren Tisch und ließen es sich schmecken.
Zwischendurch prahlten die Stadtkinder von ihren Streichen in der Schule,
während Jalusch von seinen Abenteuern in der Wildnis erzählte.
Ratten kannten die Kinder aus der Stadt, aber als er ihnen vom wütenden
Stier des Hollerbauern erzählte, der drei Männer in den Boden
gestampft hatte, oder von dem Wolf, der monatelang die einsamen Höfe
weit vor den Toren der Stadt in Atem gehalten hatte, weiteten sich die
Augen der übrigen Kinder und ihre Ohren glühten. So gespannt
hatten sie schon lange keiner Geschichte mehr gelauscht. Doch wenn dann
ein neuer Gang aufgetragen wurde, herrschte sofort wieder Stille und alle
widmeten sich dem leckeren Essen.
Nach dem Essen stand Kanjul dann
im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jeder hatte ihm etwas mitgebracht: Süßigkeiten,
gestrickte warme Socken, eine schicke Kappe, aber auch ein in dunkles Leder
gebundenes Buch waren darunter.
Endlich gab der Bauer seiner Frau
einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen und sie setzte sich in Bewegung.
Sie überreichte das in einfaches Packpapier gewickelte Buch und sagte
dabei: "Deine Mutter sagte mir einmal, dass du dich sehr für etwas
geheimnisvolle Bücher interessierst. Wir haben dieses Buch gefunden.
Ich glaube, es verbirgt viele Geheimnisse. Wir wissen nicht einmal, ob
es schwer ist oder leicht."
Kanjul lächelte. Diese Leute
vom Land konnten meist doch nicht einmal lesen. Jedes Buch musste ihnen
geheimnisvoll erscheinen. Wenigstens bekam er dieses Mal keinen Schinken
von seiner Tante und seinem Onkel geschenkt. Er wickelte das so groß
angekündigte, aber wenig ansprechende Paket aus. Als er das Buch zwischen
den Händen hielt, musste er allerdings zugeben, dass seine Tante nicht
zu viel versprochen hatte. Dieses Buch, soviel spürte er trotz seiner
geringen Erfahrung, musste mächtige Zauber beinhalten. Vorsichtig
strich er über den schwarzen Einband, auf dem rotgoldene Zeichen funkelten.
Er kannte diese Zeichen nicht, aber er würde morgen in der Bibliothek
nach Büchern über alte Schriften suchen. Sicher würde er
dort fündig werden. Wie würden seine Mitschüler ihn beneiden,
wenn er dann diese Zeichen übersetzte! Langsam glitten seine Finger
über das seltsame Schloss des Buches. "Wie eine Krone," dachte er:
"So ein seltsames Schloss habe ich noch nie gesehen."
Er merkte erst jetzt, dass sich
die Aufmerksamkeit all seiner Gäste ihm und dem Buch zugewandt hatte.
Still saß die ganze Gesellschaft da und beobachtete ihn mit angehaltenem
Atem.
Doch wie auf ein Komando wandten
sich alle Köpfe der Tür zu, die in den Flur führte.
Dort stand, auf einen Stab gestützt
und in ein dunkles Gewand gehüllt, der seltsame alte Mann, der in
der Wohnung über seiner Familie lebte. Der Alte sah im ersten Moment
sehr erschrocken aus, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle.
"Gib mir das Buch", krächzte
er, "es soll dein Schaden nicht sein!"
© Rona
Sturmreiter
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