Mannek Rüiba, Fryijos Onkel,
war ein typischer Emporkömmling, der eines Tages als junger Spund
mit vielen Ideen in Baneju aufgetaucht war, sich im Hafen als Tagelöhner
verdingt und dann, nach und nach einen Handel mit Fischbroten hochgezogen
hatte. Das Prinzip (Marinierter Fisch und Salat, zwischen zwei Brotscheiben
eingeklemmt) hatte er sich selber ausgedacht und, wie seine jetzigen Verkäufer
untereinander erzählten, seine komplette spätere Erfolgsgeschichte
mit dem einfachen Tausch eines Fischbrotes gegen ein Paar Schuhe begonnen.
Mannek schwieg sich zu dieser Geschichte beharrlich aus.
Heute bewohnte er eines der älteren
und größeren Patrizierhäuser, wurde aus Dráau, Fallama
und Arngram mit Fisch beliefert (in den Gewässern vor Baneju lebte
kein genießbarer Fisch mehr; die Absonderungen der Stadt ins Meer
waren zu giftig) und ließ sechzig Menschen als Straßenhändler
überall seine Ware verkaufen. Das Großhändlertum rümpfte
über ihm die Nase und weigerte sich strikt, ihn als einen der Ihren
anzuerkennen, wozu sie bei ihm gekauft hätten. Aber das machte ihm
nichts aus, denn die überwiegende Mehrheit der Banejuer wusste das
gesunde und billige Essen zu schätzen.
Als sein Sekretär ihm Fryijos
Ankunft meldete, ließ er den und seinen Anhang in den "Salon" bitten,
den einzigen Raum, der den Vorzug eines Kamines bot, welcher nur dazu diente,
im Winter die Luft zu erwärmen.
Sein Empfang war überschwänglich
und wortreich.
"Na, wenn das nicht mein
lieber Neffe ist! Freut mich, dass du hergefunden hast. Albien ist gerade
am Hafen, verhandelt mit einem Lieferanten. Er wird erst zum Abendessen
bei uns sein.
War deine Reise friedlich? Man
hört ja einiges über die Elben im Wald, was die so mit Wanderern
anstellen sollen, haarsträubend, sag ich dir. Gerade heute war wieder
was los, angeblich hat einer von ihnen das Stadtgefängnis komplett
dem Erdboden gleichgemacht, kannst du dir das vorstellen?!
Und wen hast du denn da mitgebracht?
Einen Freund von dir?"
Fryijo hatte sich entschlossen,
den Namenlosen Eryk zu nennen, nicht nur, weil das der erste Name war,
den der genannt hatte, er war auch kurz und einprägsam. Jetzt war
Eryk gerade damit beschäftigt, Mannek trotz dessen opulenter Erscheinung
zu ignorieren und sich die Wandteppiche anzusehen. Mit Augen und
Händen.
"Hallo, Onkel, die Elben
haben mich in Ruhe gelassen. Ich freue mich, dass dein Geschäft offenbar
immernoch so hervorragend läuft wie eh und je.
Das ist Eryk, ein...", er zögerte,
während sein Kopf nach einer nicht zu platten Lüge suchte.
"...ähm. Er ist eigentlich
ein Ritter, der bei einer Überfahrt über Bord gegangen war. Ich
habe ihn aus dem Wasser gezogen und seit dem bleibt er bei mir. Meint,
er schuldet mir was." Verlegen lächelte der junge Fischer.
"Ah, ja. Ein Mann von Ehre,
wie ich sehe. Nun, Edler Eryk, willkommen in meinem bescheidenen Hause!"
Manneks Kopf schien gar nicht zu
registrieren, dass der Angesprochene ihm weiterhin den Rücken zukehrte
und ganz offensichtlich nicht zuhörte, sondern ließ den Mund
immer weiter reden und reden, bis er irgendwann außer Atem war.
In der schnaufenden Stille drehte
Eryk sich um, musterte Mannek kurz von oben bis unten und ergriff dann
selber das Wort: "Ihr seid ein Guter Mann, Rüiba."
Mehr nicht.
Selbst Fryijos Onkel war kurz verdutzt,
fing sich aber recht schnell wieder.
"Also, wenn es euch nichts
ausmacht, würde ich euch beiden gerne die Stadt zeigen. Würde
mir auch gut tun, ich habe das Gefühl, schon seit Ewigkeiten nur noch
in meinem Arbeitszimmer zu leben, als ob es gar kein Draußen mehr
gäbe. A-Hahaha..." Das Lachen verstummte unnatürlich schnell,
als er Eryk ansah.
"Aber sehr gerne doch, Onkel",
half Fryijo ihm aus der Patsche.
"Sag mal, aus welcher Ecke
der Welt stammt dein Ritter eigentlich?"
Sie liefen auf dem Weg zum Haus
des Rates, wo Mannek die kleine Besichtigungstour beginnen wollte, durch
das Gewirr einer nachmittäglichen Handelstadt. Händler priesen
ihre Waren an, Gewürze, Schmuck, exotische Speisen (von denen sie
mitunter selber nicht wussten, woraus diese eigentlich bestanden und woher
sie kamen), aber auch Alltagsgegenstände, wie Kerzen und Pergament,
und an einer Ecke hielt jemand seine Dienste als Abort-Leerer feil. Eryk
schaute sich alles mit großen, staunenden Augen an, was Fryijo verwunderte,
der noch zu gute seine Worte im Kopf hatte.
Ich weiß mehr über
euch, als ihr selber wissen könnt...
Im Tageslicht wunderte auch der
Onkel sich nun endlich wirklich über den angeblichen Ritter. Genauer
gesagt, über dessen Aufzug, eines Ritters durchaus untypisch.
Wieder musste Fryijo sich eine
Lüge ausdenken.
"Darüber hat er nie
geredet... Das heißt, doch. Einmal hat er was von der Insel Váy
gesagt...", murmelte er.
Dies nun war ein recht gerissener
Schachzug. Váy war hier oben im Norden das Synonym für Merkwürdigkeiten
und Ungereimtheiten schlechthin. Mit einem Hinweis auf diese Insel, die
man halb für eine Legende, halb für etwas Wahres hielt, ließ
sich schlichtweg alles entschuldigen.
"So? Bei Hith! Ein Insulaner!
Ich sollte ihn fragen, was für Fische es in den Gewässern da
unten gibt, vielleicht kann ich dann ja eine neue Sorte anbieten."
Sie kamen am Kanal entlang und
begegneten Albien, der von seinem Vetter sofort mit Glückwünschen
überhäuft und über seine Braut ausgefragt wurde.
"Was denn, du bist Nemia
noch nicht begegnet? Sie wird wohl in der Spinnstube gesessen sein. Ist
wirklich ein Schatz, du wirst begeistert sein. Wie sieht es denn bei dir
aus? Schon ein Mädchen im Auge, Vetterlein?"
"J-ja. Aber ihre Familie
ist reicher als unsere -"
"Papperlapapp", unterbrach
Albien ihn, "das bereden wir heute Abend. Mein Vater wird dir sicher etwas
für die Brautsteuer mitgeben können, und wenn ich dann eines
Tages sein Geschäft erbe, kommst du mit Frau und Kindern nach Baneju
und wir führen es gemeinsam weiter."
Eigentlich wollte er noch von seinen
weiteren Plänen berichten. Denn warum die Fischbrote nur in Baneju
verkaufen, wenn es in Varnáo auch hungrige Mägen gab, für
deren Besitzer der Fisch aus den westlichen Meeren eine Delikatesse war?
Aber diesmal wurde er unterbrochen, und zwar von Eryk.
"Es ist gut, zu träumen,
aber ich fürchte, daraus wird nichts werden können...", und dann
verlor sein Blick sich auf das offene Meer, wo sich am Himmel dunkle Sturmwolken
zusammenbrauten, wie Fryijo feststellte, als er dem Blick folgte.
Das wird eine ungemütliche
Nacht werden.
"Hör ma’, wer bist’n
du, dass du dich hier einmischst in Sachen, die dich gar nichts angehen?"
Albien stieß Eryk unfreundlich an, was Mannek empört nach Luft
schnappen ließ.
"Er ist der Begleiter deines
Vetters, Sohn, und also auch unser Gast und du solltest ihm gegenüber
höflicher sein.
Entschuldigt bitte seine Manieren",
fuhr er an Eryk gewandt fort, der allerdings davon nichts mitzubekommen
schien, "er hat halt viel mit den Hafenarbeitern zu tun und da sind Sitten
und Ton nunmal rauer."
"Wie Ihr meint", kam leise
und seltsam hoch und unbeteiligt die Antwort.
Und weiter ging es durch die brütende
Hitze, ohne Unterbrechung diesmal, bis zum Haus des Rates. Doch dort angekommen,
erlebten sie eine faustdicke Überraschung. Der Torwächter am
Vorhof nämlich, ein alter aber mehr als rüstiger Mann mit einiger
Drahtigkeit, hielt sie an und deutete auf Eryk, der das gleichmütig
hinnahm.
"Ist das nicht der Gefangene,
der heute Vormittag aus dem Gefängnis ausgebrochen ist?"
Fryijo brach der Angstschweiß
aus. Glücklicherweise fiel das niemandem außer dem Hund des
Wächters auf, weil er in der Sonne ohnehin schwitzte.
Aber Mannek machte sich nichts
aus der Beschuldigung und versuchte, sie mit der geliehenen Würde
eines Mannes, dessen Kenntnisse noch nicht alt genug waren, um widerlegt
worden zu sein, auszuräumen.
"Aber nicht doch, guter Mann,
dies ist Eryk, Ritter von der Insel Váy, und mein Gast. Ich zeige
ihm die Stadt. Ihr solltet nicht vorschnell falsche Anklagen erheben."
Der, um den es ging, hatte unterdessen
begonnen, einen eigenartigen Singsang zu summen, wobei er den Wächter
unentwegt anstarrte.
Der Alte blickte Mannek verwirrt
an, hob dann die Hand zum Ohr und schrie fast:
"Was hat er gesagt? Er muss
lauter reden!"
Der Singsang verstummte.
"Verdammt!", ließ Eryk
sich nun zum erstenmal seit ihrer Ankunft bei Mannek anders als gleichgültig
vernehmen. "Der Kerl ist schwerhörig."
Was dann geschah, kam Fryijo wie
ein Traum vor und wollte auch mit den Jahren der Erinnerung nicht wirklicher
werden. Der alte Wächter schrie Alarm!, woraufhin von den Seiten des
Gebäudes mindestens zwei Dutzend Wächter ausrückten, gleichzeitig
wurde Fryijo am Arm gepackt und zurück, in Richtung des Kanals, gezogen,
während Eryk mit sich überschlagender Stimme unverständliche
Worte schrie, die eine Panik in den Menschen auf ihrem Weg auslösen
mussten, denn überall um sie herum brach Tumult aus, der den Wächtern
den Weg versperrte. Am Kanal stürmten sie an Bord eines Gewürzhändlers,
der gerade die Ladung löschte und dessen Mannschaft, nachdem Eryk
laut und drohend das Wort "Springt!" gerufen hatte, über die Rehling
ging.
Fryijo wurde auf die Planken geworfen.
Eryk holte den Landungssteg ein,
machte die Taue vom Schiff los und warf sie von Bord.
Es schaukelte nur leicht in der
Strömung, bewegte sich aber nicht vom Fleck.
Sie sahen sich verdutzt an und
begriffen jetzt erst, was eben geschehen war.
Fryijo geriet in Panik.
"Und jetzt? Wir kommen hier
nicht weg! Es ist windstill. Sie werden uns kriegen und mich auch ins Gefängnis
werfen, weil ich dir bei der Flucht geholfen habe, und wie sollen meine
Eltern ohne mich zurecht kommen, sie sind alt. Und jetzt werde ich Tjala
nie wieder sehen und..." Eryk schlug ihn bewusstlos.
Dann lief er über das Deck
und überlegte.
Dann stellte er sich vor den Mast.
"Nun fahr schon los, verdammte
Kiste!"
Das Schiff schien sich den Anweisungen
des Mannes nicht widersetzen zu wollen, denn es trieb tatsächlich
von der Mohle ab und setzte sich stromabwärts in Bewegung.
Als Fryijo wieder zu sich kam und
sich aufrichtete, sah er, dass sie weit draußen auf dem Oúrnalam-Meer
waren. Es dämmerte bereits. Das heißt, genau genommen, schätze
er nur, dass es dämmerte, denn die Wolkendecke, die am Nachmittag
noch in weiter Ferne gewesen war, lag nun direkt über ihnen und warf
einen unheilschwangeren Schatten auf die Welt. Der Wind hatte aufgefrischt,
erste Blitze zuckten durch den Himmel, der Wellengang war bereits höher,
als das Schiff, aber noch gleichmäßig - was sich bald ändern
würde.
"Hith, steh mir bei!", keuchte
er und hörte ein auftrumpfendes kurzes Lachen.
"Nein. Ich denke, dass ich
dir eine bessere Hilfe sein werde", vernahm er Eryk hinter sich.
"Wie sind wir denn aus dem
Hafen gekommen?"
"Das ist jetzt wirklich nicht
unser vordringlichstes Problem. Der Sturm wird uns gehörig durchschütteln.
Ich hab die Luken bereits abgedichtet, wir sollten uns unter Deck verkriechen
und hoffen, dass wir nicht leckgeschlagen werden."
Fryijo drehte sich um. Und richtig:
Da sah er den Menschen, den er heute Morgen noch gar nicht gekannt, und
der ihn jetzt in diese ... diese Lage gebracht hatte. Er stand, auf die
Rehling gestützt, da und schaute zum Horizont.
Er hat mit einem Schrei
eine ganze Stadt in Panik versetzt. Wieso sollte er nicht gegen den Sturm
ankommen?
Eryk musste die stumme Frage gehört
haben, denn er antwortete: "Nunja. Meine Stimme kann nur beeinflussen,
was greifbar ist. Menschen, Steine, Schiffe. Aber nicht den Wind. Nein.
Da können wir nur hoffen."
Sie gingen unter Deck und hüllten
sich zwischen Gewürzsäcken in Decken ein. Stumm saßen sie
Stunde um Stunde im Zwielicht und hörten, wie der Sturm heftiger wurde,
wie Wellen über das Oberdeck hinweg fegten und Blitze in das Meer
einschlugen. Irgendwo musste es von oben hereintropfen, denn bald hatte
sich eine Wasserlache auf dem Boden gebildet, die in den Bewegungen des
Schiffes hin und her tanzte.
Wir sind verloren, dachte Fryijo,
und diesmal kam keine Antwort von seinem hellhörigen Begleiter. Wir
werden sinken, bis zum Grunde des Meeres und auf dem Weg dorthin ertrinken.
Er weinte. Die Trauer über all jene, die er zurücklassen würde,
schüttelte seinen Körper und presste seine Gedärme zusammen.
Irgendwann ebbte der Gefühssturm ab und er fühlte sich besser.
Zwar schwach und hoffnungslos, aber eigenartig friedlich, und schlief ein.
© Uriel
Sakarhim
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