Wieder der lange, blutige Weg.
Düstere Bäume, links und rechts. Lachende Grimassen. Reißende
Zähne. Blutbegierde. Ich kann sie sehen. Sie riechen. Sie reden mit
mir. Komm! Komm! Komm zu uns! Worauf wartest du? Du willst es doch auch!
Willst reißen, zerren, zerbeißen und töten! Kämpfe
nicht dagegen an! Lass dich gehen! Sei was du sein wirst! Folge dem Pfad.
Du kannst deinem Schicksal nicht entkommen, nicht entkommen,... nicht entkommen...
Die Stimmen wurden leiser. Der Pfad verblasste. Licht vertrieb den düsteren
Traum und führte sie wieder auf eine duftende Wiese. Feen sangen und
Feuergeister tanzten und verbündeten sich zu einem märchenhaften
Schauspiel. Hier will ich sein, würde gerne mit euch tanzen! Zeigt
mir, wie es geht, dann tanze ich mit. Die Feuergeister winkten ihr zu,
vollführten komplizierte Schrittfolgen, die sie staunend verfolgte.
Das Licht wurde heller, und der Tanz wurde schneller und schneller...
Torsi blinzelte müde. Zwei
Gestalten waren über sie gebeugt und betrachteten sorgenvoll ihr Gesicht.
Torsi blinzelte noch einmal. Sie sah doppelt. Sie versuchte sich zu konzentrieren,
doch ihre Augen ließen sie im Stich. Ihr Bewusstsein wieder schwindend,
Torsi blickte verwirrt von einem silberhaarigen Gesicht zum anderen. Wieder
ein Traum... Es konnte nur wieder ein Traum sein. Einschlafend hörte
sie, wie eine feengleiche Stimme sagte: "Nun ruhe wieder, kleines Mädchen.
Träume sanft..."
Kobolde versammelten sich um ein
Feuer. Ein großes Feuer. Wo kamen sie bloß alle her? Torsi,
Torsi, da bist du ja! Sie kannte diese Stimmen. Mamu! Papa! Und Yorki!
Hallo, was macht ihr hier? Komm, Torsi, komm und tanz mit uns! Und ihre
Eltern ergriffen ihre Hände und zogen sie zu dem Feuer hin. Torsi
tanzte mit und spürte wie das Feuer ebenfalls nach ihr griff. Sie
zuckte zurück, aber ihre Eltern hielten sie fest. Mit einen Mal sah
Torsi auf ihre Füße. Ihre pelzigen, kleinen Füße
vollführten ebenfalls eine seltsame Schrittfolge, die sie noch nie
zu vor getanzt hatte. Aber sie hatte sie schon einmal gesehen. Ja, die
Feen und Feuergeister hatten so getanzt! Sie musste sich nur die Schrittfolge
merken, es war ja gar nicht mal so schwer. Hoppla, das war wohl etwas verkehrt.
Torsi sah sich wieder um und bemerkte, wie sie ihre Eltern und ihren Bruder
verlor. Sie wusste, es gab kein zurück, aber das stimmte sie nicht
traurig. Sorgfältig studierte sie die Gesichter ihrer Freunde und
Verwandten, damit sie niemals vergaß, wer sie waren. Die Gesichter
verblassten, aber Torsi war glücklich. Sie würde diesen Anblick
nie vergessen. Sie schwebte von dannen und erkannte die schöne, ruhige
Wiese wieder. Ermattet und erleichtert legte sie sich ins grüne Gras.
Die Vögel sangen das Lied des Erwachens, doch jetzt war erst einmal
Zeit zu schlafen.
* * *
Anastasya und Aerendíl erhoben
sich. Das Koboldmädchen schlummerte jetzt mit gleichmäßigem
Atem und entspannten Gliedmaßen. Die ersten Strahlen der aufgehenden
Sonne versuchten sich durch das verflochtene Geäst des kleinen Hains
zu winden. Aerendíl unterdrückte ein Gähnen. Seine Schwester
sah ihn fragend an.
"Was hast du jetzt vor, Aerendíl?"
Der Barde hob seine Schultern und
streckte seine müden Knochen. "Darüber habe ich mir noch keine
Gedanken gemacht." Er erwiderte den forschenden Blick seiner Schwester
und fragte argwöhnisch: "Hast du einen Vorschlag?"
"Du denkst, ich hätte etwas
mit dem Dämonen in dem Koboldmädchen zu tun, nicht wahr?" entgegnete
die Elbenzauberin sanft.
Aerendíl sog, seine nächsten
Worte sorgfältig abwägend, die Luft durch Mund und Nase und erklärte:
"Es ist mir durch den Kopf gegangen. Warum hast du mich nach Baneju geschickt?
Es hatte doch etwas mit diesem Zusammentreffen zu tun, oder?"
Die weißgekleidete Magierin
ließ ihren Blick in die Ferne schweifen, als suche sie am Horizont
eine Antwort nach dieser Frage. Ohne ihren Bruder anzublicken antwortete
sie: "Ja. Und nein. Ich hatte eine Vision. Das kommt nicht häufig
vor. Meine erlernten magischen Fähigkeiten sind eher handwerklicher
Natur als intuitiver Art, wie du weißt. Diese Vision sagte mir jedenfalls,
dass deine Anwesenheit in dieser Stadt von entscheidender Wichtigkeit ist.
Mehr kann ich dazu auch nicht sagen."
Aerendíl nickte, aber er
war noch nicht überzeugt. "Was hat dir diese Vision sonst noch gezeigt?"
"Nicht viel", antwortete Anastasya
leise. "Nicht viel, und doch einiges. Das meiste davon entzieht sich meinem
Verständnis. Jedenfalls war nichts mehr dabei, was dich betrifft."
"Hmm", murmelte der Barde nicht
vollständig zufrieden gestellt. "Ich hoffe, dass du weißt, was
du tust."
"Visionen sind immer schwer zu
deuten", erklärte die Elbenfrau abwesend. "Speziell solche, nach denen
man nicht gefragt hat..." Schweigend standen die beiden Geschwister im
Zwielicht des anbrechenden Tages. Schließlich wandte Anastasya sich
wieder ihrem Zwillingsbruder zu. "Es gibt mehrere Wege, denen du folgen
könntest, Díl." Aerendíl ließ sich nicht anmerken,
dass die seltene Verwendung seines Namenskürzels ihn überraschte.
Es kam nicht häufig vor, dass seine Schwester, die üblicherweise
einen großen Wert auf die Wahrung der elbischen Etiquette legte,
ihn mit dem Spielnamen ihrer gemeinsamen Kindheit anredete. Aufmerksam
lauschte er den Ausführungen seiner Schwester. "Du hast jetzt sowohl
Namen, als auch die Gesichter der Familie dieses Koboldmädchens. Und
du weißt, wie du ihr helfen kannst, ihre eigene Magie zu entfalten.
Das könnte ihr dabei helfen, den Dämonen länger zu unterdrücken.
Kobolde sind stärker als sie aussehen und ihre Magie ist ziemlich
potent, wenn sie hinreichende Kraft aus ihrem ureigensten Element schöpfen
können. Und dieses Mädchen hat ein großes Potential. Sonst
wäre sie längst dem Dämonen für immer erlegen."
Aerendíl stimmte seiner
Schwester zu und betrachtete besorgt das schlafende Kind. "Was noch?"
"Eine andere Möglichkeit wäre,
das Buch, von dem du erzählt hast. Schade, dass du es nicht gefunden,
oder zumindest gesehen hast. Mit den Anweisungen für das Ritual könnte
man die Beschwörung vielleicht rückgängig machen." Anastasya
blickte ihren Bruder bedeutungsvoll an. "Außerdem wäre es fatal,
wenn dieses Buch in falsche Hände gelänge. Viel Unheilspotential
scheint sich in ihm zu verbergen." Nachdenklich rieb sie sich das Kinn.
"Und schließlich ist da noch dieser Schwarzling, den du zunächst
betäubt hast, und der dann aber offensichtlich geflohen ist. Es war
sicherlich kein Zufall, dass diese Bande ausgerechnet hier vorbei kam.
Da stimme ich dir vollkommen zu. Schwarzlinge haben in dieser Gegend absolut
nichts zu suchen. Und zwei Zufälle auf einmal? Nein, dazu ist diese
Angelegenheit viel zu heikel, um alle Verwicklungen mit Zufälligkeiten
zu erklären."
"Und wenn keiner dieser Wege zum
Ziel führt? Was dann? Gibt es sonst noch jemand, der in dieser Angelegenheit
helfen könnte?" Aerendíl schaute seine Schwester fragend an.
"Was ist mit Cornab? Wäre er nicht kompetent genug einen solchen Zauber
rückgängig zu machen?"
Verblüfft betrachtete Anastasya
ihren Bruder. "Oh, du hast noch nicht davon gehört?"
"Was sollte ich gehört haben?"
"Nun", meinte die Elbenmagierin,
"Cornab ist seit geraumer Zeit verschollen. Man hat ihn seit vielen Monden
nicht mehr gesehen. Sogar seine engsten Kollegen, die ihn früher immer
mal wieder auf dem Treffen des Magierkollegs gesehen haben, sind besorgt
– oder hoffnungsvoll, je nach Sichtweise."
"Hmm", brummte Aerendíl,
"und was denkst du?"
"Ich glaube, dass er entweder diese
Dimension verlassen hat, oder schlichtweg den Weg jedes Sterblichen gegangen
ist." Anastasya gab nicht zu erkennen, ob sie das freute oder ob es ihr
gleichgültig war. Aerendíl kannte seine Schwester aber gut
genug, um zu wissen, dass sie solch eine Aussicht nicht einfach ignorieren
würde. Wenn Cornabs Festung tatsächlich leer stand, wäre
sie ein verlockendes Ziel für jeden wissbegierigen und ambitionierten
Zauberer. Und Anastasya fiel definitiv in diese Kategorie.
"Gibt es sonst noch einen Mächtigen
unter den Magiern, der eventuell weiterhelfen könnte?" wollte Aerendíl
wissen. Die Erkenntnis, dass Cornab vermisst wurde, half Torsi jetzt nicht
weiter. Er brauchte nützlichere Informationen. Ungeduldig schritt
der Barde hin und her und starrte nachdenklich auf den Boden.
"Es gibt viele, die ein solches
Ritual zusammen mit der richtigen Anleitung bewerkstelligen könnten.
Es gibt aber bedeutend weniger, die solch einen Zauber wieder brechen können."
Anastasya überlegte kurz und sah anschließend ihren Bruder mit
einem seltsamen Blick an. "Du könntest Koshana um Rat fragen."
Aerendíl blickte auf. "Das
meinst du nicht wirklich, Ana?"
Die Magierin seufzte und schaute
ihrem Bruder herausfordernd in die Augen. "Doch, das meine ich. Und du
weißt, dass es so ist."
Aerendíl schloss sichtlich
beunruhigt die Augen, verschränkte die Arme vor der Brust und rieb
sich den Nasenrücken nachdenklich mit den Fingern der rechten Hand.
"Nicht Koshana..."
"Ich wüsste niemanden, der
mehr Wissen über das Geschehen und die Ereignisse auf Íja Macár
hat. Ihre subtile Handschrift ist beinahe überall zu entdecken, und
ihr Netzwerk an Informanten und Spitzeln ist einzigartig auf der Welt."
"Und sie ist bekannt dafür,
nicht so leicht zu vergessen..." Aerendíl war noch immer in seinen
Gedanken und Erinnerungen versunken.
"Das haben mächtige Zauberer
nun einmal an sich." Die Elbenmagierin lächelte. "Da dürfte sie
nicht die Einzige sein."
Aerendíl schaute auf und
musste ebenfalls lächeln. "Wenn du das sagst, Ana." Erinnerungen an
viele gemeinsame Stunden und so manchen erbitterten Streit schlichen sich
in die Gedanken der beiden Zwillinge. Zuneigungsvoll sahen sie sich in
die Augen. Doch auch die eine oder andere Sorgenfalte stahl sich auf ihre
Stirn, wussten sie doch, dass ihre Geschicke sie wieder einmal in gefährliche
Abenteuer verstrickt hatten.
"Was schlägst du also vor?"
unterbrach Aerendíl das Schweigen.
"Die Wahl ist wirklich nicht einfach,
aber sowohl die Aussichten auf eine erfolgreiche Suche nach den Angehörigen
des Mädchens, als auch nach dem Buch erscheinen mir eher vage." Anastasia
deutete in die Richtung des Waldes, aus der die Schwarzlinge gekommen waren.
"Die konkreteste Spur ist die des geflüchteten Schwarzlings. Wenn
du Glück hast, wird er sich sogar im Lauf des Tages versteckt halten.
Dies ist keine Gegend, in der ein Schwarzling hoffen darf, dass man ihn
ungehindert seines Weges ziehen lässt, sollte man ihn auf der Straße
oder auf den Feldern entdecken."
"Und wenn ich ihn gefunden habe,
die Spur sich aber als nutzlos erweist...?" fragte Aerendíl nicht
völlig überzeugt.
"... kannst du noch immer nach
den Angehörigen des Kobolds suchen oder Koshana um Rat fragen", schloss
Anastasya mit zuversichtlicher Stimme.
"Und du?" Aerendíl behagte
die Vorstellung ganz und gar nicht, sich am Ende mit Koshana auseinandersetzen
zu müssen.
"Ich werde versuchen das Buch zu
finden", antwortete Anastasya. "Wie ich schon sagte, dieses Buch sollte
nicht in die falschen Hände geraten. Und, bei allem Respekt gegenüber
deinen Fähigkeiten, habe ich mehr Erfahrung im Umgang mit solchen
Ritualbüchern."
"In der Tat", stellte Aerendíl
zweideutig fest. Wieder sahen sich die beiden Zwillinge an. Wieder teilten
sie gemeinsame Erinnerungen, die nicht immer erfreulich waren. Aerendíl
winkte schließlich ab. "Nun gut, so soll es sein. Wann brichst du
auf?"
Anastasya überlegte kurz und
antwortete: "Sofort. Je später ich mich auf den Weg mache, umso weiter
könnte das Buch in der Zwischenzeit gekommen sein. Und du?"
Der Barde blickte auf das schlafende
Koboldmädchen. "Sie wird noch einige Zeit schlafen, aber ich kann
sie ohne Probleme tragen. Je länger auch ich warte, desto größer
wird der Vorsprung des Schwarzlings."
Anastasya nickte zustimmend. "Dann
trennen wir uns mal wieder, Bruderherz."
"Es ist lange her, dass sich unsere
Pfade vereinigt haben, Ana", erklärte der Elbenbarde. "Unsere Wege
kreuzen sich zwar immer wieder, folgen aber einer anderen Bestimmung."
Die Magierin nickte erneut. "Pass
auf dich auf, Díl."
Aerendíl verbeugte sich
galant, wie ein Höfling vor einer Dame beim Auffordern zum gemeinsamen
Tanz. "Diesen Wunsch werde ich dir gerne erfüllen... wenn du das gleiche
tust, Ana!" Lächelnd richtete Aerendíl sich wieder auf.
"Du weißt doch, Bruderherz:
Brave Mädchen sitzen zuhause am Kamin, böse Mädchen stehlen
die Sterne." Anastasya lachte und begann leise zu murmeln. Kurz darauf
begannen ihre Konturen erneut zu zerfließen und aus weißen
Gewändern wurde weißes Gefieder. Als letztes verwandelte sich
ihr Gesicht, und ihre grasgrünen Augen zwinkerten ihrem Bruder noch
einmal schelmisch zum Abschied zu. Dann erhob sie sich majestätisch
in die Lüfte.
Aerendíl schaute ihr nach,
bis der schneeweiße Königsadler über den höchsten
Baumwipfeln verschwunden war, und begann seine Habseligkeiten und die des
Koboldmädchens zusammenzupacken.
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