Magische
Welt
Íja Macár
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Mondharfe
K86
 von: Elfenfeuer

Ein langer Pfad. Unendlich. Niemals endend. Bäume, rechts und links und oben drüber. Nicht schattig. Nicht saftig. Nicht kerngesund. Bedrohlich. Beängstigend. Den Pfand in Dunkelheit tauchend. Ich taumle. Vorwärts. Nicht rückwärts. Ich muss rückwärts. Darf nicht vorwärts. Der Pfad, er zieht mich. Tanzende Gestalten. Verzerrte Fratzen. Sie lachen. Sie lachen über mich. Geifer hängt von ihren Zähnen. Große Zähne. Hauer. Reißzähne. Zum Reißen. Zerreißen. Werden sie mich zerreißen? Ich winde mich, will sie nicht anschauen, will nicht werden wie sie. Und wieder lachen sie. Klauen, die nach mir greifen. Augen, die mich verschlingen. Pures Verlangen. Unverhohlene Gier. Nach meinem Fleisch. Mein Leib. Meine Seele. Sie schreit! Blut. Blut an meinen Händen. In meinem Mund. Von meinen Klauen triefend verteilt sich das Blut. Überall Blut. Auf mir, an den Bäumen, auf dem Pfad. Der ganze Pfad in der Farbe des Blutes. Beschmutzt. Befleckt. Befleckt von meinem Blut? Eines anderen Blut? Triumph. Gier. Noch mehr Verlangen. Blutige Pfade, die sich kreuzen. Sich verzweigen. Wo laufe ich hin? Wer rettet mich? Hilfe, rettet mich! Bitte, bitte... Da! Die tanzende Mauer des Dickichts öffnet sich. Eine bleiche Hand schiebt das dornige Gestrüpp beiseite. Und ich sehe hell, nicht dunkel. Sanftes Blütenblau, nicht zorniges Rot. Ich erkenne den Himmel, und sehe nicht noch mehr Blut. Das Blut versickert und Licht senkt sich über den gewundenen Pfad. Die Gesichter verblassen und verschwinden. Der Wald lichtet sich und gibt den Weg frei. Fröhliche Wiesen eröffnen sich meinen erstaunten Augen. Welch eine Ruhe. Wird es immer so sein? Hier darf ich rasten, denn der wilde Weg legt eine Pause ein. Ich muss dem Weg nicht folgen, zumindest nicht für einige Zeit. Ah, das tut so gut. Ich fühle mich so erleichtert. Meine Augen werden müde und mein Körper sehnt sich nach Schlaf. Ich blicke auf mich herab, sehe keine Klauen mehr, und schmecke auch kein Blut mehr. Stattdessen rieche ich den Duft heilender Kräuter, er wiegt mich in Sicherheit. Ja, Sicherheit, das ist es was ich mir wünsche. Es tut so gut. Der Duft, die Kräuter, die Wiese, und Wärme. Wärme breitet sich in mir aus. Ein wohliges Gefühl. Sie bedeutet Kraft, sie bedeutet Stärke. Die Kraft und Stärke, die ich benötige, um meinen Weg zu bewältigen. Ich liebe diese Wärme, ich benötige sie, wie die Luft zum Atmen. Es ist wie ein Ruf. Erst leise, dann immer stärker. Aber er ist angenehm, denn ich weiß, dass ich ihn befolgen muss. Er ist mein Leben, mein Wesen, meine Essenz. Wer bin ich? Ich bin Torsi. Ich muss leben. Ich muss...

Torsi schlug die Augen auf. Zuerst sah sie Dunkelheit und sie erschrak. War dies ein weiterer Schreckenstraum? Dann hörte sie das Knistern brennenden Holzes und spürte die wohlige Wärme des nahen Feuers, die sich wie eine Decke um ihren Leib legte, und sie liebkoste. Wenn dies ein Traum war, dann ein guter.

Vorsichtig richtete sie sich auf. Eine leichte Decke, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, glitt von ihren Schultern, aber sie merkte es nicht. Stattdessen blickte sie gebannt auf das munter prasselnde Feuer und lauschte dem Knacken berstender Äste und dem Zischen verdampfender Feuchtigkeit. Erst schwach, dann immer intensiver, nahm sie den Ruf des Feuers wahr. Er war nicht stark, aber die Quelle war sehr nahe. Torsi lächelte glücklich. Zum ersten Mal seit einigen Tagen.
Sie fühlte, wie sich ihr Geist nach dem Feuer streckte. Mit langsamen Bewegungen hob sie ihre Arme und wandte ihre Handflächen der Wärme des Feuers zu. Komm, sei mein Bruder! flüsterte sie andächtig. Komm, schenke mir Kraft, schenke mir Wärme, schenke mir Nähe! flehte sie stumm.
Das Feuer ignorierte ihr Anliegen und die züngelnden Flammen wuchsen weiter unbeirrt in den sternenklaren Nachthimmel. Torsi sprach weiter mit dem Feuer, sie spürte, dass sie kurz davor war, die Aufmerksamkeit der tanzenden Feuergeister zu erlangen, und erhob sich. Auf schwachen Beinen näherte sie sich barfüßig dem kleinen Lagerfeuer. Tief versteckt in ihrem Bewusstsein nagte die Erkenntnis, dass irgendjemand dieses Feuer entfacht haben musste. Doch der Ruf des Feuers umschmeichelte das geschwächte Koboldmädchen und sie vergaß jegliche Vorsicht. Wozu auch? Ohne die Wärme dieses kleinen Feuers war sie ohnehin erledigt. Jetzt musste sie es nur noch auf sich aufmerksam machen. Was hatte die alte Qualka immer gesagt? Reite auf seinen Schwingen... Wie ritt man auf den Schwingen eines Feuers?
Torsi begann das Feuer zu umkreisen. Immer wieder streckte sie ihren Geist nach den Flammen aus. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn sie auf einer Welle brennender Glut dahinglitt, aber nichts passierte. Sie kniff die Augen zusammen, um die Gestalten der Feuergeister, die einfach da sein mussten, in den sanft lodernden Flammen zu erkennen. Waren da nicht Augen, die sie anstarrten? Oder Hände, die nach ihr griffen? Torsi wurde noch mutiger und langte nach dem Feuer, doch die wohlige Wärme wurde plötzlich zu sengender Hitze. Verstört prallte das Koboldmädchen zurück. Nein! schrie sie innerlich, es musste einfach einen Weg geben, dem Ruf des Feuers geziemend Folge zu leisten!

"Es scheint mir, als sei dir dieser Weg noch verschlossen, kleines Mädchen."

Torsi wirbelte herum und suchte nach dem Sprecher. Ihre Augen versuchten sich an die Dunkelheit anzupassen, doch es dauerte eine ganze Weile, denn bis eben hatte das Koboldmädchen noch direkt in das helle Feuer geschaut. Torsi fühlte sich einsam und verletzlich, aber sie hielt tapfer ihre Stellung.

"Wo seid ihr?" fragte sie unsicher in die Finsternis des Waldes. Allmählich passte sich ihre Sicht den veränderten Lichtverhältnissen an.

"Ich bin hier", antwortete die melodische Stimme. Torsi erinnerte sich, diese Stimme schon einmal gehört zu haben. Nur wo?
"Fürchte dich nicht", fuhr der unsichtbare Sprecher fort, "ich will dir nichts anhaben und dich auch nicht von dem Feuer ablenken."
Torsi blinzelte weiter und rückte ein wenig von dem Feuer ab, dessen Ruf schon gar nicht mehr so stark war, wie noch wenige Augenblicke zuvor. "Ist schon gut"; entgegnete sie bedrückt. "Ich weiß ja auch nicht, wie ich dem Ruf folgen kann." Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und begannen ihren feuchten Abstieg entlang Torsis Wangen. Mit einem Mal überkam sie die ganze Trostlosigkeit ihrer Situation und sie schluchzte auf. "Ich weiß gar nichts mehr! Ich bin so alleine. Ich habe Angst!"

Vergeblich wischte Torsi sich einige Tränen aus dem Gesicht, denn nun wo die Tore geöffnet waren, konnten sie nicht mehr so einfach geschlossen werden. Weinend suchte sie nach dem unbekannten Mann. Mit tränennassen Augen entdeckte sie ihn endlich. Er saß ein wenig abseits des Lagerfeuers unter einem kräftigen Ahornbaum dessen ausladende Äste ein grünbraunes Dach bildeten. Er hatte seine Beine im Schneidersitz untergeschlagen und beobachtete sie mit leicht schräg gestellten, türkisfarbenen Augen. Trotz der Dunkelheit, in die er sich geschickt einfügte, erkannte sie den silberhaarigen Elben, der ihr Gefährt auf der Landstraße angehalten hatte.

Freundlich lächelnd winkte er ihr zu, sich zu ihm zu setzen. Torsi atmete tief durch und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Torsi, sei kein Hase! Wenn dieser Elb dir böse gesonnen wäre, würdest du hier nicht mehr stehen. Langsam ging Torsi auf den fremden Elben zu. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie barfuß war und nur noch ihr kleines Untergewand ihre dunkelbraune, samtene Haut bedeckte. Es duftete so blumig! Wie konnte das sein?

"Deine Jacke und deine Hose trocknen noch. Ich war so frei, und habe sie zusammen mit deinen anderen Sachen gewaschen. Du hast dir da ja einige seltsame Kleidungsstücke ausgesucht" meinte der Elb freundlich, als habe er ihre Gedanken gelesen.
Torsi nickte schüchtern und wischte sich einige Tränen von den Wangen.
"Wer seid ihr?" fragte sie zaghaft.
"Oh, entschuldige meinen Mangel an Höflichkeit" antwortete der Elb. "Ich bin Aerendíl an Elendía, Sohn von Guranhir und Aeruandia, aus dem Haus der Firánthan."
"Ihr seid ein Elb?" fragte Torsi weiter.
"Ja, das bin ich."
"Elben sind böse", stellte Torsi fest und fügte schnell hinzu: "Sagt man." Das Koboldmädchen wunderte sich über ihre eigene, lose Zunge.
Ein Stirnrunzeln huschte über das Gesicht Aerendíls, doch dann lächelte er. "So, sagt man sich das unter den Kobolden? Es tut mir leid, dass du so einen schlechten Eindruck von uns hast." Er zuckte mit den Schultern. "Und vielleicht habt ihr ja auch einen guten Grund dazu, dies von uns zu glauben. Wer weiß das schon. Aber ich versichere dir, dass ich weder dir, noch irgendeinem Kobold jemals etwas zu leide getan habe."
"Du bist ziemlich freundlich", meinte Torsi unbekümmert.
"Na, das ist dann ja schon einmal ein guter Anfang, nicht wahr?" stellte der Elb belustigt fest. "Komm, setz dich zu mir und stärke dich erst einmal, bevor wir uns weiter unterhalten."
Torsi lächelte dankbar und sprang erleichtert unter das Ahorndach. Ohne zu zögern ließ sie sich gegenüber dem Elben nieder und griff in den Haufen Obst, der einladend vor ihm, auf ein Tuch gebettet, auf dem Boden aufgeschichtet war. Hungrig suchte sie sich einen großen, prallen Apfel heraus, der so groß war, dass sie ihn mit beiden Händen halten musste. Begierig biss sie ein riesiges Stück aus dem Apfel heraus. Es schmeckte herrlich! Noch während sie kaute, stellte Torsi fest, wie hungrig und durstig sie war. Der Elb beobachtete sie die ganze Zeit, ließ sie aber ihr Mahl in Ruhe verrichten.

Nachdem Torsi endlich gesättigt war, und auch den Durst in ihrer Kehle mit einigen Schluck herrlich klaren Wassers aus einem hölzernem, aber kunstvoll geschnitztem Kelch gestillt hatte, blickte sie ihren Wohltäter - wenn er denn wirklich einer war - vorsichtig aus ihren großen Koboldmädchenaugen an.
"Warum helft ihr mir?" fragte sie neugierig.
"Ist das nicht offensichtlich?" entgegnete der Elb sichtlich überrascht.
Torsi schüttelte trotzig ihr rothaariges Haupt. "Nein", meinte sie nüchtern, "normalerweise helfen die Leute hier draußen einem Kobold nicht."
Der Elb neigte seinen edlen Kopf und betrachtete sie aufmerksam mit seinen hellen, durchdringenden Augen. Torsi fand diese Geste majestätisch und unheimlich zugleich, so als wolle er tief in ihr Innerstes blicken. Sofort fielen ihr die unheimlichen Ereignisse der letzten Tage ein. Der schreckliche Magier. Die fürchterliche Kreatur, die sich ihrer bemächtigt hatte. Ihre Angst und ihre Reise ins Ungewisse auf ihrer Suche nach ihren Eltern und ihrer Koboldsippschaft. Torsi spannte ihren ganzen Körper an, und sie fürchtete sich vor den Konsequenzen, sollte der Elb ihr Geheimnis entdecken. Doch dieser ließ nicht erkennen, was er in ihr sah, oder zu sehen glaubte, und richtete wieder das Wort an das Koboldmädchen.
"Wie ist denn dein Name, wenn ich fragen darf?" erkundigte der Elb sich höflich.
"Oh", entfuhr es Torsi betroffen, denn sie hatte sich bislang weder vorgestellt noch für das Essen bedankt. "Ich heiße Torsi."
"Freut mich, dich kennen zu lernen, Torsi", meinte der Elb freundlich. "Und jetzt hör mir mal gut zu, Torsi. Du hast sicherlich recht, dass es auf Íja Macár viele Bedrohungen für einen Kobold gibt. Und so wie es mir scheint, hast du in deiner kurzen Lebensspanne auch schon deine eigenen, schlechten Erfahrungen gemacht. Das bedaure ich offen und ehrlich. Ich kann verstehen, dass du deshalb einige Vorbehalte hast. Aber ich versichere dir auch, dass es auf dieser Welt hier draußen, wie du es formulierst, nicht nur böse, schlechte und eigensüchtige Männer und Frauen gibt. Das gilt sowohl für uns Elben, wie auch die Menschen, die Zwerge und einige andere Völker von Íja Macár. So wie es Schurken, Banditen und Räuber gibt, die alles tun würden um ihre Taschen mit Gold zu füllen, so gibt es Leute, für die das Lächeln und die Dankbarkeit einer anderen Person mehr wiegen, als alle Schatztruhen Íja Macárs zusammen. Womit wir wieder bei deiner Frage sind: Ich habe dir geholfen, weil du - wie es mir schien - nicht in bester gesundheitlicher Verfassung warst, als ich dich zwischen den Heuballen gefunden habe. Jetzt geht es dir wieder besser. Das genügt mir. Und du siehst ein wenig fröhlicher aus. Das ist mein Lohn." Der Elb schenkte Torsi ein unwiderstehliches Lächeln und fügte hinzu: "Auch wenn du mich noch immer mit deinen trotzigen Augen anschaust."
Torsi musste jetzt lachen. Sie hatte wirklich trotzig bleiben wollen und sich nicht von der Freundlichkeit des Elben verführen lassen, aber nun konnte sie nicht anders. Zum ersten Mal, seitdem der Magier sie aus ihrem Zuhause entführt hatte, empfing sie das Wunder das Lachens und für einen Augenblick waren all ihr Kummer und all ihre Sorgen verschwunden.

* * *

Aerendíl grinste vergnügt, als er das Koboldmädchen endlich lachen sah. Na, also. Geht doch! Der Barde hasste schlichtweg traurige Leute um sich herum. Und dieses Kind trug schwer an der Last ihrer Trauer und ihren jüngsten Erlebnissen, die definitiv nicht erfreulich gewesen waren. Als Aerendíl das Koboldmädchen behutsam entkleidet hatte, um ihre Kleidungsstücke in dem nahen Waldbach zu waschen, hatte er nicht nur das getrocknete Blut unter ihren Nägeln und in ihrem struppigen Haar bemerkt, sondern auch die verblassenden, aber dennoch nicht zu übersehenden Spuren von Ritualzeichnungen auf ihrem Leib entdeckt. Aerendíl hatte schon davon gehört, dass einige Schwarzmagier förmlich Jagd auf Kobolde machten, da diese halbdämonischen Geschöpfe ein geeignetes Medium für verschiedene Beschwörungen darstellten. Offensichtlich war Torsi in die Hände eines solchen Magiers geraten. Aber irgendwie war ihr die Flucht gelungen. Aerendíl spürte, dass wesentlich mehr hinter dieser Geschichte steckte, als nach außen erkennbar war. War dieses Zusammentreffen der Grund gewesen, dass Anastasya ihn nach Baneju beordert hatte? War seine Schwester in die Machenschaften um dieses arme Koboldmädchen verstrickt? Wenn ja, dann würde er ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden haben.

Das Koboldmädchen hatte sich inzwischen wieder beruhigt und saß nun mit untergeschlagenen Knien vor ihm. Ihre kleinen Hände hatte sie unsicher in den Schoß gelegt und schaute ihn aus diesen traurigen Augen an. Sicher, für so ein zartes Wesen fern der Heimat und der Familie konnte die Welt nur Schrecken beherbergen. Es gab weder einen Zauber, noch irgendein Heilkraut auf Íja Macár, um Heimweh zu lindern, auch wenn das Pfingstkraut und die Minze, die Aerendíl im Wald gefunden hatte, bewirkt hatten, dass das Koboldmädchen eine Nacht und einen ganzen Tag durchgeschlafen hatte, und es ihr nun körperlich deutlich besser ging. Ebenso genügte es auf Dauer nicht, dass ein freundlicher Spielmann für einige Stunden alle Ängste und alle Sorgen vergessen ließ. Aerendíl hatte es schon die ganze Zeit geahnt, seit der das Kind aus dem Fuhrwerk geborgen hatte, dass ihre Wege noch einige Zeit gemeinsam verlaufen würden. Jetzt wurde es zur Gewissheit.

"Also, Torsi, auch auf die Gefahr hin, dass du dich wieder in dein Schneckenhaus zurückziehst: Was willst du jetzt tun?"
Das Koboldmädchen zuckte hilflos mit den Schultern und begann ihre Hände unruhig zu kneten. "Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung wo ich bin und wo meine Familie ist."
Aerendíl nickte wissend. "Das habe ich mir schon fast gedacht. Wo kommst du denn her?"
Torsi schaute den Elben hilfesuchend an. "Ich... das weiß ich auch nicht."
"Nein?" fragte Aerendíl verdutzt.
Torsi schüttelte beklommen den Kopf.
"Wie hieß das Dorf, in dem du aufgewachsen bist?"
"Dorf?"
"Ja", meinte der Barde und fügte aufmunternd hinzu: "Dorf. Ortschaft. Stadt. Gemeinde. Dort wo deine Familie lebt."
Torsi rang noch immer mit ihren Händen. Aerendíl bemerkte, wie sie sich hilfesuchend umsah. "Dorf! Meine Familie lebt im Dorf. Ich... weiß nicht wie...."
"Schon gut, schon gut", unterbrach Aerendíl das Koboldmädchen, das den Tränen wieder nahe war. "Ich verstehe. Dorf. Nun, das erleichtert die Suche nicht gerade, oder?"
"Mmh, hnn", nickte Torsi unsicher.
"Und wie schaut es mit Namen aus?" fragte Aerendíl das Koboldmädchen.
"Oh, da kenne ich einige!" strahlte das Mädchen. "Papa ist Papa, Mama ist Mamu, Yorki ist mein großer Bruder, und Teijnu ist mein kleiner Bruder. Der schreit immer soviel. Und dann sind da noch Kelka und Danele und Gebban, Alli und Iphto, das sind alles meine Freunde. Und Onkel Bibbo und Tante Mara und, oh, die alte Qualka. Und Hervon, und..."
Aerendíl hob abwehrend die Hände und lachte. "Halt, halt, Torsi! Das sind ja ganz schön viele Namen. Haben die vielleicht auch noch einen zweiten Namen. Einen Familiennamen?"
"Familiennamen? Wozu denn das?" meinte Torsi wieder verunsichert.
"Äh... ja, Männer und Frauen haben sehr häufig Familiennamen, damit man sie bei gleichem Vornamen voneindander unterscheiden kann, verstehst du das?" Aerendíl schaute Torsi zweifelnd an. Das Mädchen schaute ihn mit so großen, erstaunten Augen an, dass er ihre Antwort nicht benötigte. "Sieh her. Ich heiße Aerendíl. Aerendíl ist nun aber ein sehr häufiger Name unter uns Elfen. Um da keine Verwirrung hervorzurufen, hänge ich bei Gelegenheit noch einen zweiten Namen an. In diesem Fall den meines Sternzeichens 'an Elendía'. Damit weiß jeder Elf, dass ich der Aerendíl bin, der unter Elendías Stern geboren wurde. Verstehst Du?"
Torsi schüttelte entschieden den Kopf.
"Also, nein?" fragte Aerendíl erneut.
"Nein", entgegnete Torsi. "Bei uns haben alle einen anderen Namen. Wozu also zwei?"
Aerendíl nickte. "Verstehe. Und wenn ihr andere Kobolde trefft? Heißen die dann auch alle immer anders?"
"Die kommen dann von anderswo, wie zum Beispiel die Kobolde aus dem Dorf im Osten. Bei denen heißt auch einer Yorki, aber der kam ja von woanders", meinte Torsi ernsthaft. "Und außerdem ist der andere Yorki ja viel hässlicher als mein Bruder!" Aerendíl seufzte resignierend und gab auf herauszufinden, ob Torsis Sippe einen markanten Namen führte.
"Na, schön. So kommen wir nicht weiter. Vielleicht solltest Du mir einfach erzählen, wie Du hierher gekommen bist", schlug Aerendíl vorsichtig vor.
Erschrocken blickte das Koboldmädchen auf. "Das... das kann ich nicht", flüsterte sie kaum hörbar mit zittriger Stimme.
Der Elbenbarde ließ sich nicht so einfach entmutigen. "Schau, Torsi. Wenn du möchtest, dass ich dir bei der Suche nach deiner Familie helfe, dann brauche ich ein wenig mehr Informationen als ein paar Namen."
Torsi antwortete nicht, sondern schüttelte mit riesigen Augen verneinend ihren Kopf.

Aerendíl seufzte. Das würde nicht einfach werden. Sicher, er konnte mit dem Koboldmädchen einfach nach Baneju zurückkehren, und versuchen sich dort nach der nächstbesten Koboldniederlassung erkundigen. Er war zuversichtlich, dass er dank seiner Kontakte früher oder später die richtigen Personen ansprechen würde, doch bei einer so umfangreichen Erkundigung konnte man auch schnell die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sich ziehen. Das gleiche galt für eine Nachforschung bei den Elben von Sá-Yé, zumal er nicht sicher davon ausgehen konnte, dass der Elbenrat die Anwesenheit eines Koboldes in den Tiefen des Elbenwaldes billigen würde.
Während Aerendíl alle Optionen durchging, beobachtete er, wie das Koboldmädchen sichtlich unruhiger wurde. Welches Geheimnis umgab ihre kleine Gestalt? Aerendíl entschied sich für eine neue Taktik.

"Ich kann verstehen, wenn du nicht über deine jüngsten Erlebnisse sprechen möchtest, Torsi. Das Zusammentreffen mit dem Magier muss schrecklich für dich gewesen sein. Umso froher bin ich, dass du ihm entkommen bist und dass es dir jetzt wieder besser geht."
Torsi hatte den Barden mit großen Augen und offenem Mund angestarrt. Bei der Erwähnung des Magiers war sie kurz zusammengezuckt und ihre kleinen Händchen hatten in ihrem Schoß zu zittern begonnen.
"Es war doch ein Magier, der dich aus der Geborgenheit deines Elternhauses entführt hat, oder?" setzte Aerendíl vorsichtig nach.
Torsi nickte stumm. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln.
"Und dieser fürchterliche Magier wollte ein unheiliges Ritual an dir oder mit dir durchführen?" Aerendíl hoffte, dass er das kleine Mädchen mit seinen Mutmaßungen nicht zu sehr verschreckte.
Torsi nickte zunächst, dann schüttelte sie entschieden den Kopf.
"Ja? Oder nein?" fragte Aerendíl verwirrt. "Oder wollte er ein Ritual durchführen, konnte es aber nicht zu Ende führen?"
Torsi schüttelte erneut ihren roten Schopf.
Aerendíl verzog den Mund und dachte über weitere Möglichkeiten und Ereignisse im Zusammenhang mit einem rituellen Zauber nach. In den nächsten Minuten setzte er das Frage- und Antwortspiel fort. Immer wieder legte er kleinere Pausen ein, um das sichtlich verängstigte Mädchen nicht völlig abzuschrecken. Nach einiger Zeit gelang es ihm ein grobes Bild der Ereignisse zu enträtseln. Das Koboldmädchen war tatsächlich von einem Menschenzauberer entführt und für seine schwarzen Künste missbraucht worden. Aber irgendwie war das Ritual fehlgeschlagen, der Magier vermutlich tot und Torsi geflohen. Mit der Hilfe einiger Waldgeister war sie auf den Ochsenwagen gestoßen, mit dem sie sich dann auf die Suche nach ihrer Familie gemacht hat. Es gab einige Lücken in der Geschichte, aber für den Anfang hatte Aerendíl einen vagen Eindruck dessen, was dem armen Mädchen widerfahren war. Kein Wunder, dass sie zutiefst verunsichert und verängstigt war, zumal sie noch längst nicht die Feuermeisterschaft erwachsener Kobolde erlangt hatte. Immerhin war sie dank des kleinen Abendmahls wieder halbwegs gekräftigt, und hatte auch ihre ursprüngliche Zurückhaltung gegenüber Aerendíl abgelegt. Tatsächlich beteiligte sie sich jetzt wieder aktiver an ihrer Unterhaltung.

"Um wieder auf den Turm des Magiers zurückzukommen; gab es da vielleicht einen Hinweis um welche Art von Zauberer es sich handeln konnte?" fragte der Elb.
Torsis Augen leuchteten auf und enthusiastisch wedelte sie mit ihren Händen. "Klar! Das Buch, das ich mitgenommen habe. Wie konnte ich das vergessen?"
"Ein Buch?" Aerendíl schaute nun seinerseits ein wenig irritiert.
"Ja. Es ist sooo groß", sagte Torsi und zeichnete mit ihren Händen eine rechteckige Form in die Luft, "aber leicht wie eine Feder. Es hat einen Schlitz, oder so etwas, für einen Schlüssel, glaube ich." Torsi schaute den Elben erwartungsfroh an. "Deswegen hatte ich es auch mitgenommen."
"Oh", meinte Aerendíl betroffen, "ich befürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für dich: Ich habe kein Buch gefunden, als ich dich aus dem Fuhrwerk gehoben habe."
"Was?" rief Torsi ungläubig, und Aerendíl sah wie sich schon wieder die ersten Tränen in ihren Augen bildeten. "Ich... das... das kann nicht sein!" rief sie und sprang auf. "Aber das war ein Buch. Es war doch so groß. Ich hatte es neben mir versteckt!"
Aerendíl hob entschuldigend seine Hände. "Tut mir leid, aber außer dir habe ich in deinem Versteck nichts gesehen."
"Aber... ohne das Buch... wie soll ich...?" Torsi schluchzte laut und Tränen bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen. "Nein! Nein! Nein!" schrie sie mit erstickter Stimme, "ich will nicht so werden!"
Aerendíl erhob sich um das weinende Koboldmädchen zu beruhigen. Was meinte sie mit den Worten Ich will nicht so werden? Torsi verheimlichte ihm etwas. Etwas, das so schrecklich war, dass es ihm einen Schauer über den Rücken schickte und den Atem des Waldes um sie herum zu ersticken drohte. Es war beinahe unheimlich, denn nicht das kleinste Zirpen einer Heuschrecke oder das Rufen eines Nachtvogels drang auf die kleine Lichtung. Selbst das Knistern des Lagerfeuers war nur noch wie ein fernes Flüstern zu hören.
Die Nackenhaare des Elben richteten sich auf und zwischen seinen Schultern kribbelte es.
Bei Sinvé! Ein Hinterhalt!

"Duck dich, Torsi!" schrie Aerendíl und warf sich selber keinen Augenblick zu spät zu Boden. Im gleichen Moment sirrte ein Pfeil durch die Luft und streifte Aerendils Oberarm genau in der Höhe, in der sich einen Bruchteil von Sekunden noch sein Herz befunden hatte. Der Barde sah noch, wie sich das Koboldmädchen ebenfalls auf den Boden warf. Dann übernahmen seine Reflexe und sein Kampfinstinkt die Initiative.

Geschmeidig rollte der Elb sich ab und nahm eine duckende Haltung auf den Knien ein. Ohne nachzudenken zog er sein magisches Langschwert und sandte seine magischen Sinne in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Seine scharfen Ohren verrieten ihm ohnehin, dass sich mindestens zwei Gegner schnell dem Lichtkreis des Lagerfeuers näherten, um sich auf ihn zu stürzen. Doch wichtiger war es, den Zauberkundigen zu erledigen, der den Stillezauber gewoben hatte, der es den Angreifern erlaubt hatte, sich unbemerkt einem Elben und einem Kobold auf Schussdistanz zu nähern. Sein astraler Blick zeigte ihm die Position des Bogenschützen, der ungefähr zehn Schritt entfernt vermutlich gerade einen zweiten Pfeil in seinen Kurzbogen einlegte. Ohne zu zögern schleuderte Aerendíl dem unbekannten Angreifer einen mentalen Gedankenstoß entgegen, der ihn hoffentlich für einige Zeit betäuben würde. Noch bevor die Aura des Bogenschützen verblasste, hatten Aerendíls übernatürliche Sinne eine zweite, wesentlich ausgeprägteres, magische Präsenz erfasst. Schwarzlinge? Was machen die hier? Für einen Moment war Aerendíl so verblüfft, dass er tatenlos auf der mentalen Ebene verweilte, und beobachten konnte, wie die Aura des Schwarzlingschamanen anschwoll.
Aerendíl blieb nicht viel Zeit zu reagieren. Der Zauberspruch des Schamanen war beinahe abgeschlossen, und seine eigene magische Barriere würde nicht mehr rechtzeitig errichtet werden können. In Gedankenschnelle zog er seine Sinne aus der Essenzebene der Magie zurück und rief auf Elbisch: "Šoltahan, ya envé driëlle!"
Zwei Dinge geschahen nun gleichzeitig. Aus dem Wald, dort wo der Schwarzlingmagier sich befinden musste, schoss ein brennend heißer Flammenstrahl auf den Barden zu. Im selben Moment leuchtete das Langschwert in Aerendíls linker Hand in gleißendem Hellblau auf, und tauchte die Nacht in ein bizarres Zwielicht aus gelb, rot und blau. Wie von einem Magneten angezogen, wurde der Flammenstrahl abgelenkt, sodass Aerendíl nicht mehr als den heißen Atem des tödlichen Elementarzaubers spürte. Der Flammenstrahl selbst traf auf den tausendfach gehärteten Stahl des verzauberten Langschwertes. Die Luft vibrierte, schwarzer Qualm füllte die Luft und für einen kurzen Moment glühte die Klinge, wie Stahl kurz vor der Schmelze. Ein Feuerschweif zuckte die Klinge entlang, und kleine Kugelblitze tanzten über das leuchtende Metall. Alle Farben des sichtbaren Spektrums tauchten den Lagerplatz in ein Lichtermeer, und das Rot der Flammen und das Blau des Schwertes zeichnete sich abwechselnd auf der Gestalt des Elbenbarden ab. Doch schneller, als ein sterbliches Auge dem Spiel der Farben folgen konnte, kehrte sich der Elementarzauber gegen seinen Schöpfer. Wie bei einer sich wieder öffnenden Ziehharmonika, formte sich ein Flammenstrahl aus den tanzenden Feuerbändern, wuchs und schoss in Richtung seines Ursprungs zurück. Erneut wurde der Wald durch das gespenstische Licht des magischen Feuers erleuchtet und für einen Augenblick erblickte Aerendíl die dunkle Gestalt des Schamanen, der mit weit aufgerissenen Augen seine Verdammnis auf sich zu rasen sah. Seine grauenvollen Todesschreie wurden vom Toben des reflektierten Flammenstrahls erstickt, als Gewänder, Fell, Haut und Knochen von elementarem Feuer erfasst und zu Asche verbrannt wurden.

Aerendíl blieb keine Zeit das vernichtende Werk seines Zauberschwertes weiter zu betrachten. Er wirbelte herum um sich dem von rechts anstürmenden Schwarzling entgegen zu stellen. Schwarzlinge waren Halbbrüder der Chrúms, geschaffen in der Zeit des großen Götterkrieges. Im Gegensatz zu ihren meist gebückten Brüdern hatten Schwarzlinge einen aufrechten, athletischen Gang, überragten gewöhnliche Chrúms um mindestens einen Kopf und besaßen eine wesentlich widerstandsfähigere Haut aus eng vernetzten, basaltartigen Flechten. Aber nicht nur deswegen war ein Schwarzling ein weitaus gefährlicherer Gegner als ein Chrúm. Während letztere zumeist nur von einer primitiven Gier angetrieben wurden, waren Schwarzlinge intelligente, berechnende Kreaturen, deren entscheidendste Schwäche ihre Abneigung gegen jeden Form von Metall war. Deshalb war Aerendíl auch wenig überrascht, als sein Gegner eine überdimensionierte Keule nach seinen Kopf schwang. Eisen oder nicht - ein Treffer einer solchen Keule, von einem wütenden Schwarzling geschwungen, richtete ebenfalls erheblichen Schaden an.
Aerendíl hatte nicht vor, es so weit kommen zu lassen.
Geschickt duckte er sich unter der Keule hindurch und rammte sein noch immer bläulich schimmerndes Schwert in die entblößte rechte Flanke seines Gegners. Der Schwarzling heulte auf vor Schmerz, war aber noch nicht endgültig außer Gefecht gesetzt. Mit einer für einen Halbchrúm erstaunlichen Geschicklichkeit sprang der Schwarzling außerhalb Aerendíls unmittelbarer Schlagreichweite. Mit seinen überragenden Sinnen erkannte der Elb, dass der zweite Schwarzling von links heranpreschte, während Torsi sich auf dem Boden wand. War sie von einem weiteren Bogenschützen verletzt worden? Aerendíl hatte nur den einen Schützen bemerkt, den er gleich zu Beginn niedergestreckt hatte. Für solche Fragen war jetzt allerdings keine Zeit; er musste den angeschlagenen Schwarzling so schnell wie möglich unschädlich machen.
Eine rasche Serie von Finten und Sprüngen brachte Aerendíls Gegner, der versuchte den Elben mit seiner mächtigen Keule auf Distanz zu halten, aus der Balance. Mit einem blitzartigen Ausfallschritt stieß Aerendíl vor und erwischte das rechte Bein des Schwarzlings knapp unterhalb des Knies. Erneut grunzte der Schwarzling vor Schmerzen und versuchte den Elben mit einem verzweifelten Hieb seiner Keule zu vertreiben. Darauf hatte Aerendíl lediglich gewartet! Geschickt unterlief er die Keule und hatte freie Bahn auf den Körper seines Gegners. Mit einem einzigen Stoß seines einzigartigen Schwertes durchstieß er den ledernen Brustharnisch des Schwarzlings und rammte Šoltahan direkt in das dunkle Herz seines Kontrahenten.
Noch während sein Gegner leblos zusammensackte, zog Aerendíl, eine blutige Spur hinterlassend, seine Klinge aus der Brust des tödlich verletzten Schwarzling und wirbelte herum, um sich dem nächsten Gegner zu stellen. Wie zu Beginn der ersten Auseinandersetzung bereitete der Barde sich darauf vor, einer sich auf ihn herabsenkenden Keule auszuweichen. Stattdessen überraschte ihn der Schwarzling jedoch über alle Maßen, indem er sich mit seinem ganzen massigen Körper auf den Elben stürzte.
Verzweifelt versuchte Aerendíl auszuweichen, doch der Rammangriff des Schwarzlings hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Grunzend und keuchend gingen Schwarzling und Elf gemeinsam zu Boden.
Von der Wucht des Zusammenpralls nach Luft schnappend trat Aerendíl ziellos nach dem Schwarzling, ohne wirklichen Schaden anzurichten, während er sich aufrappelte. Beinahe genauso schnell war der Schwarzling wieder auf den Beinen und setzte nach. Mit einem weiteren Sprung erwischte der Schwarzling die Beine des Elben und warf ihn rücklings auf den Boden. Aerendíl versuchte sich loszureißen, doch die kräftigen Pranken seines Gegners, kombiniert mit dem nicht unbeträchtlichen Körpergewicht, hielten den Elben in einem eisernen Griff gefangen. Aerendíl schlug mit dem Knauf seines Schwertes nach dem Kopf des Schwarzlings, doch selbst dies entlockte dem Schwarzling nicht mehr als ein wütendes Schnauben. Ein zweites Mal schwang der Barde sein Langschwert nach dem Schwarzling, doch dieser reagierte dieses Mal darauf, indem er Aerendíl mit einer Hand losließ und mit seiner geballten Faust nach der Schwerthand des Elben schlug. Aerendíl keuchte auf vor Schmerz, als Šoltahan ihm aus der Hand geprellt wurde und in den Tiefen der Nacht verschwand. Das bläuliche Leuchten erlosch in dem Moment, als das Schwert die Hand seines Trägers verließ.

Aerendíl war nun wirklich in arger Bedrängnis.
Der Schwarzling war zu der gleichen Erkenntnis gekommen und heulte triumphierend auf. Grimmige Zähne bleckten den Barden mörderisch an.
"Duu seinn toot, Ellff!" grunzte Aerendíls Gegner und erhöhte den Druck seines kräftigen Haltegriffes. Vergeblich wand sich der Elbenbarde, um der Umklammerung seines Feindes zu entgehen. Mit der Vorahnung unzähliger absolvierter Kämpfe befürchtete Aerendíl schon, dass dieser Kampf sein letzter sein könnte. Verzweifelt wandte er alle Nahkampftricks an, die er kannte, aber der Griff des Schwarzlings blieb eisern, während er mit seiner freien Hand immer wieder auf den leichteren Körper des Elben einschlug.
Da er sich physisch in einer äußerst ungünstigen Lage befand, wählte Aerendíl seine mentalen Kräfte als letzte Waffe. Obgleich er ziemlich abgelenkt war, glitt Aerendíl mit seinen Sinnen auf die Geistebene. Im Bruchteil eines Atemzugs sammelte er genug mentale Spannung, um sie dem Schwarzling, dessen Aura sich kräftig leuchtend unmittelbar im Zentrum seiner Wahrnehmung abzeichnete, entgegen zu schleudern. Doch bevor der Elb dazu kam, den Gedankenstoß auf den Schwarzling zu richten, riss eine dumpfe Erschütterung ihn wieder in die reale Existenzebene. Unterbewusst nahm der Barde wahr, wie sein Kopf von einem mächtigen Prankenhieb des Halbchrúms zurückgeschleudert wurde. Danach wurde es Aerendíl schwarz vor den Augen und er kämpfte mit letzter Kraft gegen die aufkommende Bewusstlosigkeit.

Plötzlich heulte der Schwarzling entsetzt auf.
Noch schummrig von dem Kopftreffer, bemerkte Aerendíl wie das erdrückende Gewicht auf seinen Beinen und seinem Unterleib verschwand. Mit verschwommenem Blick sah er, wie der Schwarzling von etwas Riesigem empor gehoben wurde. Was war das? Aerendíl versuchte sich trotz der panischen Angstschreie des Schwarzlings wieder auf das Geschehen vor ihm zu konzentrieren.
Gespenstisch zeichneten sich zwei dunkle Gestalten vor dem Hintergrund des noch immer prasselnden Lagerfeuers ab. Eine davon war der Schwarzling, der - mit seinen Beinen in der Luft zappelnd - von einem übermächtigen Gegner an der Kehle gehalten wurde. Dieser Gegner stand auf zwei muskulösen, Pelz bewehrten Wolfsbeinen und heulte mit übernatürlicher Stimme seinen Jagdschrei in die Nacht. Ein Jäger, dem die Beute nicht mehr entkommen würde.

Bestürzt sah Aerendíl, wie das Ungetüm den Schwarzling wie einen Sack Kartoffeln fallen ließ, und noch bevor die Beine des Halbchrúms den Boden berührten, ihm mit einem blitzschnellen Hieb seiner freien Klauenhand den Kopf vom Leib trennte.

Aerendíl, dessen Kopf noch immer von dem beinahe betäubendem Hieb dröhnte, setzte sich mit seinen Händen auf und tastete nach seinem Langschwert. Währenddessen richtete sich das wolfsartige Monster in voller Größe auf, um mit fletschenden Reißzähnen und blutigen Krallen seinen Triumphschrei in die Nacht zu rufen. Aerendíl hatte schon einiges erlebt, gesehen und gehört, doch noch nie hatte er solch einen markerschütternden Schrei vernommen, der ihm fast das Blut im Leib gefrieren ließ.
Bei den Göttern! Erhabene Sinvé! Welch eine Bestie habt ihr da erweckt?
Taumelnd kam Aerendíl auf seine Beine. Sein Körper schmerzte von den vielen eingesteckten Fausthieben des Schwarzlings, aber immerhin hatte er anscheinend keine ernsthaften Verletzungen erlitten. Doch ohne Šoltahan hatte er nicht den Hauch einer Chance gegen diese Alptraumkreatur.

Die Bestie heulte noch immer ihren fürchterlichen Ruf in die Nacht. Fast schien es, als erbebte sie in einem inneren Kampf. Aerendíl zögerte keinen weiteren Moment und schlug  - die Bestie nicht aus den Augen lassend - einen Kreis um das Ungetüm und das Lagerfeuer. Sein Schwert vermochte er auf die Schnelle nicht zu finden, aber möglicherweise konnte er das Feuer zu seinem Nutzen verwenden. Aerendíl hatte in der Vergangenheit schon von Wechselgängern gehört. Dämonen, die den sterblichen Körper eines Lebewesens von Íja Macár heimsuchten, um ihn für ihre finsteren Gelüste als Gefäß zu verwenden. Nur wo war dieser Wolfsdämon so schnell hergekommen? War er von der Ansammlung magischer Geschöpfe - immerhin ein Kobold, mehrere Schwarzlinge und einen magietragenden Elb - angelockt worden?
Oh, verflucht! Torsi!

Verzweifelt suchte Aerendíl nach dem Koboldmädchen, welches er zuletzt sich am Boden windend in der Nähe des Lagerfeuers gesehen hatte, obwohl er die Antwort längst ahnte. Ein weiteres Mal wechselte er mit seinen Sinnen auf die mentale Ebene, was sich angesichts seiner Kopfschmerzen alles andere als einfach herausstellte. Auch da konnte er keine Spur des Geistabbildes des Koboldmädchens erhaschen. Umso intensiver strahlte dafür die unheilige Aura des Ungetüms. Und die war äußerst ungewöhnlich!

Leider ergab sich keine weitere Gelegenheit die mysteriöse Erscheinung ausgiebiger zu sondieren. Aerendíl wurde plötzlich von einer unheimlichen, schrecklichen Präsenz gepackt.
Hunger! Durst! Gier! Blut! Reißen! Vernichten! Zerstörung! Chaos!
Mit rasender Geschwindigkeit drangen die entsetzlichsten Gedanken auf Aerendíls Geist ein. Der Elb erschrak angesichts der Stärke und der Bösartigkeit dieser Präsenz. Und weil diese Präsenz ihn zweifelsfrei bemerkt hatte.

Ohne zu zögern wechselte Aerendíl wieder auf seine normalen Sinne. Er zitterte am ganzen Leib, als er das Echo der verheerenden Sinneseindrücke abschüttelte. So muss die ewige Verdammnis sein, bei allen Göttern!
Aerendíl blickte zu der Bestie hinüber, die sich nun schnüffelnd wieder unter Kontrolle hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie seine Witterung aufgenommen hatte. Flucht war keine Alternative, also griff der Elb nach dem größten Feuerscheit, das aus dem Lagerfeuer herausragte. Zum Glück hatte er das Lagerfeuer so groß gemacht, damit das Koboldmädchen durch die Nähe eines möglichst großen Feuers zu Kräften kam. Arme Torsi! Was war ihr da bloß widerfahren?

Die Wolfsbestie begann zu knurren und folgte dem Verlauf des Kreises, den Aerendíl um das Feuer herum zurückgelegt hatte. "Komm, alter Knabe", murmelte Aerendíl vor sich hin, "lass dir etwas einfallen!"
Vorsichtig bewegte der Elb sich seitwärts, darauf achtend, dass sich das Feuer immer zwischen ihm und dem Ungetüm befand. Die Bewegungen der Wolfskreatur wurden immer schneller, als sie mit zunehmender Entschlossenheit der Fährte des Barden folgte. Aerendíl lief die Zeit davon.
Schließlich erreichte er wieder den Ausgangsort, an dem er und Torsi gesessen hatten. Er hatte nun einen kompletten Kreis um das Lagerfeuer abgegangen, und außer einem kurzen Zeitgewinn hatte er nichts erreicht. Seinen Kopf nach einem Ausweg zermarternd, warf Aerendíl einen kurzen Blick auf die Stelle, an der er Torsi zuletzt gesehen hatte. In der Tat, das Koboldmädchen war nicht mehr dort. Seine Befürchtungen wurden zur Gewissheit. Diese Wolfsbestie und Torsi waren miteinander verbunden. Oder war Torsi bloß ein Mantel für die Bestie gewesen? Warum hatte sie ihn dann aber nicht früher attackiert?
Das Knurren näherte sich und Aerendíl konnte über das Feuer hinweg die rot leuchtenden Augen der Beste erkennen. Panik drohte ihn zu übermannen und wütend packte er den brennenden Holzscheit. So soll es denn sein!

Heftig atmend blieb der Elbenbarde stehen. Ewig konnte er der Bestie ohnehin nicht ausweichen. Außerdem würde das Feuer irgendwann schwächer werden und schließlich erlöschen. Lieber jetzt kämpfen, als langsam von Müdigkeit und Verzweiflung erstickt zu werden. Aerendíl bückte sich, um sein verborgenes Wurfmesser aus dem rechten Stiefel zu ziehen. Da fiel sein Blick auf den Ahornbaum an dessen Stamm noch immer sein Rucksack lehnte.
Aerendíl blinzelte mit den Augen. Er konnte sich nicht erinnern, Mondharfe aus dem Rucksack genommen zu haben.

Blitzschnell eilte er zu dem Baumstamm und ergriff die Zauberharfe. Ohne über irgendeine Melodie nachzusinnen, begann er auf der Harfe zu spielen. Der Barde wusste, dass es einige Zaubergesänge gab, mit denen ein kundiger Barde Bannzauber sprechen und Verzauberungen brechen konnte. Aerendíl selber kannte die meisten davon, aber in diesem Moment fiel ihm kein geeigneter Zaubergesang ein. Die meisten dieser Lieder dauerten ohnehin einige Zeit bis sich ihre Wirkung entfaltete. Aber da die Wolfskreatur soeben das Feuer umrundete, spielte Aerendíl die erstbeste Melodie, die seine Intuition ihm eingab.

Die junge Maid sprang frohgemut lustig übers grüne Gras...

Noch während der ersten Strophe bemerkte Aerendíl wie die Zauberharfe in seinen Händen erwachte. Silbern schimmerten die Saiten in einem bleichen Licht und die sanftesten und reinsten Töne, die jemals die Tiefen dieses kleinen Waldes durchdrungen hatten, hallten in die finstere Nacht. Aerendíl konzentrierte sich einzig und allein auf seine Musik und seinen Gesang. Seine klare Stimme vermischte sich zu perfekter Harmonie mit den lieblichen Harfenklängen, als er die zweite Strophe anging.

Sah sie einen feschen Prinz’, der stolz auf seinem Rosse ritt...

Die Wolfskreatur, die schon zum Sprung nach dem Elben angesetzt hatte, erstarrte in ihren Bewegungen. Ein Zittern durchlief ihre monströse Gestalt. Klauen fuhren ziellos durch die Luft, als schlügen sie nach einem unsichtbaren Feind. Aerendíl hatte die dritte Strophe erreicht, als das Wolfswesen jaulend aufheulte. Ein Schrei des Schreckens durchstieß die perfekte Harmonie von Harfe und Elbenstimme. Aerendíl stimme die vierte Strophe an.
Plötzlich wurde die Wolkendecke über der Lichtung von einer neuen Lichtquelle durchbrochen. Zwischen den Rändern einiger dunkelgrauer Wolken, stahl sich der Mond durch die Himmelsherde. Fahles Mondlicht gesellte sich zum unsteten Leuchten des flackernden Lagerfeuers. Die Wolfskreatur stieß einen weiteren, schrecklichen Schrei aus. Oder waren es nicht zwei Schreie in einem? Ein tiefes, zorniges Brüllen und ein heller, hoher Aufschrei der Verzweiflung? Aerendíl konzentrierte sich auf das Lied und erreichte die nächste Strophe.

In Zuversicht sie lächelnd naht...

Schließlich erreichte das Mondlicht auch Aerendíls Zuflucht unter dem Dach des Ahornbaumes. Die Saiten der Zauberharfe erstrahlten in majestätischem Glanz und ein silbriges Leuchten erfasste nun auch den kunstvoll verzierten Rahmen. Verschlungene Runen in einer uralten, magischen Zauberschrift traten aus dem Eibenholz hervor. Tanzenden Feen gleich, zeichneten die geheimnisvollen Schriftzeichen ihr Spiegelbild in die Luft. Aerendíl musste seine letzte Kraft zusammennehmen, um nicht vor Bezauberung sein Lied vorzeitig zu beenden. Ehrfürchtig verfolgte er, wie die silbernen Luftschwaden sich in Richtung der sich nun den Mond anheulenden Kreatur bewegten. Als die ersten Lichtstreifen das pelzige Ungetüm erreichten, zuckte die Kreatur kurz zusammen und brach donnernd zusammen. Noch während er die vorletzte Strophe sang, erbebte die Kreatur mit einem gewaltigen Zittern, und ihre Konturen fingen an zu verschwimmen.
Arendíl kam nun zur letzten Strophe.

Dem Schicksal sich die Maid nun fügt,
das Licht sich bricht und frei nun gibt,
dem Prinzen Blick was vorher war
verborgen und gar unsichtbar.

Der Elbenbarde erinnerte sich an die letzte Gelegenheit, zu der er diese lustige Weise vorgetragen hatte. War es wirklich erst gestern gewesen? Und welche Ironie, dass er damit nun zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit einen Zauber aufhob oder zumindest zurückdrängte. Abwesend starrte er vor sich hin. Unter seinen Händen verklangen die letzten Harfentöne in der erdrückenden Dunkelheit der Nacht. Dankbar strichen Aerendíls Finger über die verblassenden Runen und die zarten Saiten der Zauberharfe. Die Wege der Götter waren manchmal unbegreiflich. Viele Fragen lasteten auf seiner Seele. Doch für die Antworten blieb auch noch später Zeit. Zunächst galt es, sich um das Koboldmädchen zu kümmern.
Der Elbenbarde nahm die Harfe behutsam in seine linke Hand, streckte sich mit wackligen Beinen und ging vorsichtig zu der kleinen, in sich zusammengerollten Gestalt hinüber, die nahe dem ausbrennenden Lagerfeuer am Boden lag.
 


... und so setzt sich das Abenteuer fort:
Spielsteine -K87 (Elfenfeuer)
Ein Wagen voll Stroh -K98 (Rona Sturmreiter)
 

... wenn Ihr aber noch weitere Fortsetzungen kennt, dann mailt mir diese bitte!
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