Ein langer Pfad. Unendlich. Niemals
endend. Bäume, rechts und links und oben drüber. Nicht schattig.
Nicht saftig. Nicht kerngesund. Bedrohlich. Beängstigend. Den Pfand
in Dunkelheit tauchend. Ich taumle. Vorwärts. Nicht rückwärts.
Ich muss rückwärts. Darf nicht vorwärts. Der Pfad, er zieht
mich. Tanzende Gestalten. Verzerrte Fratzen. Sie lachen. Sie lachen über
mich. Geifer hängt von ihren Zähnen. Große Zähne.
Hauer. Reißzähne. Zum Reißen. Zerreißen. Werden
sie mich zerreißen? Ich winde mich, will sie nicht anschauen, will
nicht werden wie sie. Und wieder lachen sie. Klauen, die nach mir greifen.
Augen, die mich verschlingen. Pures Verlangen. Unverhohlene Gier. Nach
meinem Fleisch. Mein Leib. Meine Seele. Sie schreit! Blut. Blut an meinen
Händen. In meinem Mund. Von meinen Klauen triefend verteilt sich das
Blut. Überall Blut. Auf mir, an den Bäumen, auf dem Pfad. Der
ganze Pfad in der Farbe des Blutes. Beschmutzt. Befleckt. Befleckt von
meinem Blut? Eines anderen Blut? Triumph. Gier. Noch mehr Verlangen. Blutige
Pfade, die sich kreuzen. Sich verzweigen. Wo laufe ich hin? Wer rettet
mich? Hilfe, rettet mich! Bitte, bitte... Da! Die tanzende Mauer des Dickichts
öffnet sich. Eine bleiche Hand schiebt das dornige Gestrüpp beiseite.
Und ich sehe hell, nicht dunkel. Sanftes Blütenblau, nicht zorniges
Rot. Ich erkenne den Himmel, und sehe nicht noch mehr Blut. Das Blut versickert
und Licht senkt sich über den gewundenen Pfad. Die Gesichter verblassen
und verschwinden. Der Wald lichtet sich und gibt den Weg frei. Fröhliche
Wiesen eröffnen sich meinen erstaunten Augen. Welch eine Ruhe. Wird
es immer so sein? Hier darf ich rasten, denn der wilde Weg legt eine Pause
ein. Ich muss dem Weg nicht folgen, zumindest nicht für einige Zeit.
Ah, das tut so gut. Ich fühle mich so erleichtert. Meine Augen werden
müde und mein Körper sehnt sich nach Schlaf. Ich blicke auf mich
herab, sehe keine Klauen mehr, und schmecke auch kein Blut mehr. Stattdessen
rieche ich den Duft heilender Kräuter, er wiegt mich in Sicherheit.
Ja, Sicherheit, das ist es was ich mir wünsche. Es tut so gut. Der
Duft, die Kräuter, die Wiese, und Wärme. Wärme breitet sich
in mir aus. Ein wohliges Gefühl. Sie bedeutet Kraft, sie bedeutet
Stärke. Die Kraft und Stärke, die ich benötige, um meinen
Weg zu bewältigen. Ich liebe diese Wärme, ich benötige sie,
wie die Luft zum Atmen. Es ist wie ein Ruf. Erst leise, dann immer stärker.
Aber er ist angenehm, denn ich weiß, dass ich ihn befolgen muss.
Er ist mein Leben, mein Wesen, meine Essenz. Wer bin ich? Ich bin Torsi.
Ich muss leben. Ich muss...
Torsi schlug die Augen auf. Zuerst
sah sie Dunkelheit und sie erschrak. War dies ein weiterer Schreckenstraum?
Dann hörte sie das Knistern brennenden Holzes und spürte die
wohlige Wärme des nahen Feuers, die sich wie eine Decke um ihren Leib
legte, und sie liebkoste. Wenn dies ein Traum war, dann ein guter.
Vorsichtig richtete sie sich auf.
Eine leichte Decke, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, glitt von ihren
Schultern, aber sie merkte es nicht. Stattdessen blickte sie gebannt auf
das munter prasselnde Feuer und lauschte dem Knacken berstender Äste
und dem Zischen verdampfender Feuchtigkeit. Erst schwach, dann immer intensiver,
nahm sie den Ruf des Feuers wahr. Er war nicht stark, aber die Quelle war
sehr nahe. Torsi lächelte glücklich. Zum ersten Mal seit einigen
Tagen.
Sie fühlte, wie sich ihr Geist
nach dem Feuer streckte. Mit langsamen Bewegungen hob sie ihre Arme und
wandte ihre Handflächen der Wärme des Feuers zu. Komm, sei
mein Bruder! flüsterte sie andächtig. Komm, schenke mir
Kraft, schenke mir Wärme, schenke mir Nähe! flehte sie stumm.
Das Feuer ignorierte ihr Anliegen
und die züngelnden Flammen wuchsen weiter unbeirrt in den sternenklaren
Nachthimmel. Torsi sprach weiter mit dem Feuer, sie spürte, dass sie
kurz davor war, die Aufmerksamkeit der tanzenden Feuergeister zu erlangen,
und erhob sich. Auf schwachen Beinen näherte sie sich barfüßig
dem kleinen Lagerfeuer. Tief versteckt in ihrem Bewusstsein nagte die Erkenntnis,
dass irgendjemand dieses Feuer entfacht haben musste. Doch der Ruf des
Feuers umschmeichelte das geschwächte Koboldmädchen und sie vergaß
jegliche Vorsicht. Wozu auch? Ohne die Wärme dieses kleinen Feuers
war sie ohnehin erledigt. Jetzt musste sie es nur noch auf sich aufmerksam
machen. Was hatte die alte Qualka immer gesagt? Reite auf seinen Schwingen...
Wie ritt man auf den Schwingen eines Feuers?
Torsi begann das Feuer zu umkreisen.
Immer wieder streckte sie ihren Geist nach den Flammen aus. Sie versuchte
sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn sie auf einer Welle brennender
Glut dahinglitt, aber nichts passierte. Sie kniff die Augen zusammen, um
die Gestalten der Feuergeister, die einfach da sein mussten, in den sanft
lodernden Flammen zu erkennen. Waren da nicht Augen, die sie anstarrten?
Oder Hände, die nach ihr griffen? Torsi wurde noch mutiger und langte
nach dem Feuer, doch die wohlige Wärme wurde plötzlich zu sengender
Hitze. Verstört prallte das Koboldmädchen zurück. Nein!
schrie sie innerlich, es musste einfach einen Weg geben, dem Ruf des Feuers
geziemend Folge zu leisten!
"Es scheint mir, als sei dir dieser
Weg noch verschlossen, kleines Mädchen."
Torsi wirbelte herum und suchte
nach dem Sprecher. Ihre Augen versuchten sich an die Dunkelheit anzupassen,
doch es dauerte eine ganze Weile, denn bis eben hatte das Koboldmädchen
noch direkt in das helle Feuer geschaut. Torsi fühlte sich einsam
und verletzlich, aber sie hielt tapfer ihre Stellung.
"Wo seid ihr?" fragte sie unsicher
in die Finsternis des Waldes. Allmählich passte sich ihre Sicht den
veränderten Lichtverhältnissen an.
"Ich bin hier", antwortete die melodische
Stimme. Torsi erinnerte sich, diese Stimme schon einmal gehört zu
haben. Nur wo?
"Fürchte dich nicht", fuhr
der unsichtbare Sprecher fort, "ich will dir nichts anhaben und dich auch
nicht von dem Feuer ablenken."
Torsi blinzelte weiter und rückte
ein wenig von dem Feuer ab, dessen Ruf schon gar nicht mehr so stark war,
wie noch wenige Augenblicke zuvor. "Ist schon gut"; entgegnete sie bedrückt.
"Ich weiß ja auch nicht, wie ich dem Ruf folgen kann." Tränen
sammelten sich in ihren Augenwinkeln und begannen ihren feuchten Abstieg
entlang Torsis Wangen. Mit einem Mal überkam sie die ganze Trostlosigkeit
ihrer Situation und sie schluchzte auf. "Ich weiß gar nichts mehr!
Ich bin so alleine. Ich habe Angst!"
Vergeblich wischte Torsi sich einige
Tränen aus dem Gesicht, denn nun wo die Tore geöffnet waren,
konnten sie nicht mehr so einfach geschlossen werden. Weinend suchte sie
nach dem unbekannten Mann. Mit tränennassen Augen entdeckte sie ihn
endlich. Er saß ein wenig abseits des Lagerfeuers unter einem kräftigen
Ahornbaum dessen ausladende Äste ein grünbraunes Dach bildeten.
Er hatte seine Beine im Schneidersitz untergeschlagen und beobachtete sie
mit leicht schräg gestellten, türkisfarbenen Augen. Trotz der
Dunkelheit, in die er sich geschickt einfügte, erkannte sie den silberhaarigen
Elben, der ihr Gefährt auf der Landstraße angehalten hatte.
Freundlich lächelnd winkte
er ihr zu, sich zu ihm zu setzen. Torsi atmete tief durch und nahm ihren
ganzen Mut zusammen. Torsi, sei kein Hase! Wenn dieser Elb dir böse
gesonnen wäre, würdest du hier nicht mehr stehen. Langsam ging
Torsi auf den fremden Elben zu. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie barfuß
war und nur noch ihr kleines Untergewand ihre dunkelbraune, samtene Haut
bedeckte. Es duftete so blumig! Wie konnte das sein?
"Deine Jacke und deine Hose trocknen
noch. Ich war so frei, und habe sie zusammen mit deinen anderen Sachen
gewaschen. Du hast dir da ja einige seltsame Kleidungsstücke ausgesucht"
meinte der Elb freundlich, als habe er ihre Gedanken gelesen.
Torsi nickte schüchtern und
wischte sich einige Tränen von den Wangen.
"Wer seid ihr?" fragte sie zaghaft.
"Oh, entschuldige meinen Mangel
an Höflichkeit" antwortete der Elb. "Ich bin Aerendíl an Elendía,
Sohn von Guranhir und Aeruandia, aus dem Haus der Firánthan."
"Ihr seid ein Elb?" fragte Torsi
weiter.
"Ja, das bin ich."
"Elben sind böse", stellte
Torsi fest und fügte schnell hinzu: "Sagt man." Das Koboldmädchen
wunderte sich über ihre eigene, lose Zunge.
Ein Stirnrunzeln huschte über
das Gesicht Aerendíls, doch dann lächelte er. "So, sagt man
sich das unter den Kobolden? Es tut mir leid, dass du so einen schlechten
Eindruck von uns hast." Er zuckte mit den Schultern. "Und vielleicht habt
ihr ja auch einen guten Grund dazu, dies von uns zu glauben. Wer weiß
das schon. Aber ich versichere dir, dass ich weder dir, noch irgendeinem
Kobold jemals etwas zu leide getan habe."
"Du bist ziemlich freundlich",
meinte Torsi unbekümmert.
"Na, das ist dann ja schon einmal
ein guter Anfang, nicht wahr?" stellte der Elb belustigt fest. "Komm, setz
dich zu mir und stärke dich erst einmal, bevor wir uns weiter unterhalten."
Torsi lächelte dankbar und
sprang erleichtert unter das Ahorndach. Ohne zu zögern ließ
sie sich gegenüber dem Elben nieder und griff in den Haufen Obst,
der einladend vor ihm, auf ein Tuch gebettet, auf dem Boden aufgeschichtet
war. Hungrig suchte sie sich einen großen, prallen Apfel heraus,
der so groß war, dass sie ihn mit beiden Händen halten musste.
Begierig biss sie ein riesiges Stück aus dem Apfel heraus. Es schmeckte
herrlich! Noch während sie kaute, stellte Torsi fest, wie hungrig
und durstig sie war. Der Elb beobachtete sie die ganze Zeit, ließ
sie aber ihr Mahl in Ruhe verrichten.
Nachdem Torsi endlich gesättigt
war, und auch den Durst in ihrer Kehle mit einigen Schluck herrlich klaren
Wassers aus einem hölzernem, aber kunstvoll geschnitztem Kelch gestillt
hatte, blickte sie ihren Wohltäter - wenn er denn wirklich einer war
- vorsichtig aus ihren großen Koboldmädchenaugen an.
"Warum helft ihr mir?" fragte sie
neugierig.
"Ist das nicht offensichtlich?"
entgegnete der Elb sichtlich überrascht.
Torsi schüttelte trotzig ihr
rothaariges Haupt. "Nein", meinte sie nüchtern, "normalerweise helfen
die Leute hier draußen einem Kobold nicht."
Der Elb neigte seinen edlen Kopf
und betrachtete sie aufmerksam mit seinen hellen, durchdringenden Augen.
Torsi fand diese Geste majestätisch und unheimlich zugleich, so als
wolle er tief in ihr Innerstes blicken. Sofort fielen ihr die unheimlichen
Ereignisse der letzten Tage ein. Der schreckliche Magier. Die fürchterliche
Kreatur, die sich ihrer bemächtigt hatte. Ihre Angst und ihre Reise
ins Ungewisse auf ihrer Suche nach ihren Eltern und ihrer Koboldsippschaft.
Torsi spannte ihren ganzen Körper an, und sie fürchtete sich
vor den Konsequenzen, sollte der Elb ihr Geheimnis entdecken. Doch dieser
ließ nicht erkennen, was er in ihr sah, oder zu sehen glaubte, und
richtete wieder das Wort an das Koboldmädchen.
"Wie ist denn dein Name, wenn ich
fragen darf?" erkundigte der Elb sich höflich.
"Oh", entfuhr es Torsi betroffen,
denn sie hatte sich bislang weder vorgestellt noch für das Essen bedankt.
"Ich heiße Torsi."
"Freut mich, dich kennen zu lernen,
Torsi", meinte der Elb freundlich. "Und jetzt hör mir mal gut zu,
Torsi. Du hast sicherlich recht, dass es auf Íja Macár viele
Bedrohungen für einen Kobold gibt. Und so wie es mir scheint, hast
du in deiner kurzen Lebensspanne auch schon deine eigenen, schlechten Erfahrungen
gemacht. Das bedaure ich offen und ehrlich. Ich kann verstehen, dass du
deshalb einige Vorbehalte hast. Aber ich versichere dir auch, dass es auf
dieser Welt hier draußen, wie du es formulierst, nicht nur böse,
schlechte und eigensüchtige Männer und Frauen gibt. Das gilt
sowohl für uns Elben, wie auch die Menschen, die Zwerge und einige
andere Völker von Íja Macár. So wie es Schurken, Banditen
und Räuber gibt, die alles tun würden um ihre Taschen mit Gold
zu füllen, so gibt es Leute, für die das Lächeln und die
Dankbarkeit einer anderen Person mehr wiegen, als alle Schatztruhen Íja
Macárs zusammen. Womit wir wieder bei deiner Frage sind: Ich habe
dir geholfen, weil du - wie es mir schien - nicht in bester gesundheitlicher
Verfassung warst, als ich dich zwischen den Heuballen gefunden habe. Jetzt
geht es dir wieder besser. Das genügt mir. Und du siehst ein wenig
fröhlicher aus. Das ist mein Lohn." Der Elb schenkte Torsi ein unwiderstehliches
Lächeln und fügte hinzu: "Auch wenn du mich noch immer mit deinen
trotzigen Augen anschaust."
Torsi musste jetzt lachen. Sie
hatte wirklich trotzig bleiben wollen und sich nicht von der Freundlichkeit
des Elben verführen lassen, aber nun konnte sie nicht anders. Zum
ersten Mal, seitdem der Magier sie aus ihrem Zuhause entführt hatte,
empfing sie das Wunder das Lachens und für einen Augenblick waren
all ihr Kummer und all ihre Sorgen verschwunden.
* * *
Aerendíl grinste vergnügt,
als er das Koboldmädchen endlich lachen sah. Na, also. Geht doch!
Der Barde hasste schlichtweg traurige Leute um sich herum. Und dieses Kind
trug schwer an der Last ihrer Trauer und ihren jüngsten Erlebnissen,
die definitiv nicht erfreulich gewesen waren. Als Aerendíl das Koboldmädchen
behutsam entkleidet hatte, um ihre Kleidungsstücke in dem nahen Waldbach
zu waschen, hatte er nicht nur das getrocknete Blut unter ihren Nägeln
und in ihrem struppigen Haar bemerkt, sondern auch die verblassenden, aber
dennoch nicht zu übersehenden Spuren von Ritualzeichnungen auf ihrem
Leib entdeckt. Aerendíl hatte schon davon gehört, dass einige
Schwarzmagier förmlich Jagd auf Kobolde machten, da diese halbdämonischen
Geschöpfe ein geeignetes Medium für verschiedene Beschwörungen
darstellten. Offensichtlich war Torsi in die Hände eines solchen Magiers
geraten. Aber irgendwie war ihr die Flucht gelungen. Aerendíl spürte,
dass wesentlich mehr hinter dieser Geschichte steckte, als nach außen
erkennbar war. War dieses Zusammentreffen der Grund gewesen, dass Anastasya
ihn nach Baneju beordert hatte? War seine Schwester in die Machenschaften
um dieses arme Koboldmädchen verstrickt? Wenn ja, dann würde
er ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden haben.
Das Koboldmädchen hatte sich
inzwischen wieder beruhigt und saß nun mit untergeschlagenen Knien
vor ihm. Ihre kleinen Hände hatte sie unsicher in den Schoß
gelegt und schaute ihn aus diesen traurigen Augen an. Sicher, für
so ein zartes Wesen fern der Heimat und der Familie konnte die Welt nur
Schrecken beherbergen. Es gab weder einen Zauber, noch irgendein Heilkraut
auf Íja Macár, um Heimweh zu lindern, auch wenn das Pfingstkraut
und die Minze, die Aerendíl im Wald gefunden hatte, bewirkt hatten,
dass das Koboldmädchen eine Nacht und einen ganzen Tag durchgeschlafen
hatte, und es ihr nun körperlich deutlich besser ging. Ebenso genügte
es auf Dauer nicht, dass ein freundlicher Spielmann für einige Stunden
alle Ängste und alle Sorgen vergessen ließ. Aerendíl
hatte es schon die ganze Zeit geahnt, seit der das Kind aus dem Fuhrwerk
geborgen hatte, dass ihre Wege noch einige Zeit gemeinsam verlaufen würden.
Jetzt wurde es zur Gewissheit.
"Also, Torsi, auch auf die Gefahr
hin, dass du dich wieder in dein Schneckenhaus zurückziehst: Was willst
du jetzt tun?"
Das Koboldmädchen zuckte hilflos
mit den Schultern und begann ihre Hände unruhig zu kneten. "Ich weiß
es nicht. Ich habe keine Ahnung wo ich bin und wo meine Familie ist."
Aerendíl nickte wissend.
"Das habe ich mir schon fast gedacht. Wo kommst du denn her?"
Torsi schaute den Elben hilfesuchend
an. "Ich... das weiß ich auch nicht."
"Nein?" fragte Aerendíl
verdutzt.
Torsi schüttelte beklommen
den Kopf.
"Wie hieß das Dorf, in dem
du aufgewachsen bist?"
"Dorf?"
"Ja", meinte der Barde und fügte
aufmunternd hinzu: "Dorf. Ortschaft. Stadt. Gemeinde. Dort wo deine Familie
lebt."
Torsi rang noch immer mit ihren
Händen. Aerendíl bemerkte, wie sie sich hilfesuchend umsah.
"Dorf! Meine Familie lebt im Dorf. Ich... weiß nicht wie...."
"Schon gut, schon gut", unterbrach
Aerendíl das Koboldmädchen, das den Tränen wieder nahe
war. "Ich verstehe. Dorf. Nun, das erleichtert die Suche nicht gerade,
oder?"
"Mmh, hnn", nickte Torsi unsicher.
"Und wie schaut es mit Namen aus?"
fragte Aerendíl das Koboldmädchen.
"Oh, da kenne ich einige!" strahlte
das Mädchen. "Papa ist Papa, Mama ist Mamu, Yorki ist mein großer
Bruder, und Teijnu ist mein kleiner Bruder. Der schreit immer soviel. Und
dann sind da noch Kelka und Danele und Gebban, Alli und Iphto, das sind
alles meine Freunde. Und Onkel Bibbo und Tante Mara und, oh, die alte Qualka.
Und Hervon, und..."
Aerendíl hob abwehrend die
Hände und lachte. "Halt, halt, Torsi! Das sind ja ganz schön
viele Namen. Haben die vielleicht auch noch einen zweiten Namen. Einen
Familiennamen?"
"Familiennamen? Wozu denn das?"
meinte Torsi wieder verunsichert.
"Äh... ja, Männer und
Frauen haben sehr häufig Familiennamen, damit man sie bei gleichem
Vornamen voneindander unterscheiden kann, verstehst du das?" Aerendíl
schaute Torsi zweifelnd an. Das Mädchen schaute ihn mit so großen,
erstaunten Augen an, dass er ihre Antwort nicht benötigte. "Sieh her.
Ich heiße Aerendíl. Aerendíl ist nun aber ein sehr
häufiger Name unter uns Elfen. Um da keine Verwirrung hervorzurufen,
hänge ich bei Gelegenheit noch einen zweiten Namen an. In diesem Fall
den meines Sternzeichens 'an Elendía'. Damit weiß jeder Elf,
dass ich der Aerendíl bin, der unter Elendías Stern geboren
wurde. Verstehst Du?"
Torsi schüttelte entschieden
den Kopf.
"Also, nein?" fragte Aerendíl
erneut.
"Nein", entgegnete Torsi. "Bei
uns haben alle einen anderen Namen. Wozu also zwei?"
Aerendíl nickte. "Verstehe.
Und wenn ihr andere Kobolde trefft? Heißen die dann auch alle immer
anders?"
"Die kommen dann von anderswo,
wie zum Beispiel die Kobolde aus dem Dorf im Osten. Bei denen heißt
auch einer Yorki, aber der kam ja von woanders", meinte Torsi ernsthaft.
"Und außerdem ist der andere Yorki ja viel hässlicher als mein
Bruder!" Aerendíl seufzte resignierend und gab auf herauszufinden,
ob Torsis Sippe einen markanten Namen führte.
"Na, schön. So kommen wir
nicht weiter. Vielleicht solltest Du mir einfach erzählen, wie Du
hierher gekommen bist", schlug Aerendíl vorsichtig vor.
Erschrocken blickte das Koboldmädchen
auf. "Das... das kann ich nicht", flüsterte sie kaum hörbar mit
zittriger Stimme.
Der Elbenbarde ließ sich
nicht so einfach entmutigen. "Schau, Torsi. Wenn du möchtest, dass
ich dir bei der Suche nach deiner Familie helfe, dann brauche ich ein wenig
mehr Informationen als ein paar Namen."
Torsi antwortete nicht, sondern
schüttelte mit riesigen Augen verneinend ihren Kopf.
Aerendíl seufzte. Das würde
nicht einfach werden. Sicher, er konnte mit dem Koboldmädchen einfach
nach Baneju zurückkehren, und versuchen sich dort nach der nächstbesten
Koboldniederlassung erkundigen. Er war zuversichtlich, dass er dank seiner
Kontakte früher oder später die richtigen Personen ansprechen
würde, doch bei einer so umfangreichen Erkundigung konnte man auch
schnell die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sich ziehen. Das gleiche
galt für eine Nachforschung bei den Elben von Sá-Yé,
zumal er nicht sicher davon ausgehen konnte, dass der Elbenrat die Anwesenheit
eines Koboldes in den Tiefen des Elbenwaldes billigen würde.
Während Aerendíl alle
Optionen durchging, beobachtete er, wie das Koboldmädchen sichtlich
unruhiger wurde. Welches Geheimnis umgab ihre kleine Gestalt? Aerendíl
entschied sich für eine neue Taktik.
"Ich kann verstehen, wenn du nicht
über deine jüngsten Erlebnisse sprechen möchtest, Torsi.
Das Zusammentreffen mit dem Magier muss schrecklich für dich gewesen
sein. Umso froher bin ich, dass du ihm entkommen bist und dass es dir jetzt
wieder besser geht."
Torsi hatte den Barden mit großen
Augen und offenem Mund angestarrt. Bei der Erwähnung des Magiers war
sie kurz zusammengezuckt und ihre kleinen Händchen hatten in ihrem
Schoß zu zittern begonnen.
"Es war doch ein Magier, der dich
aus der Geborgenheit deines Elternhauses entführt hat, oder?" setzte
Aerendíl vorsichtig nach.
Torsi nickte stumm. Tränen
sammelten sich in ihren Augenwinkeln.
"Und dieser fürchterliche
Magier wollte ein unheiliges Ritual an dir oder mit dir durchführen?"
Aerendíl hoffte, dass er das kleine Mädchen mit seinen Mutmaßungen
nicht zu sehr verschreckte.
Torsi nickte zunächst, dann
schüttelte sie entschieden den Kopf.
"Ja? Oder nein?" fragte Aerendíl
verwirrt. "Oder wollte er ein Ritual durchführen, konnte es aber nicht
zu Ende führen?"
Torsi schüttelte erneut ihren
roten Schopf.
Aerendíl verzog den Mund
und dachte über weitere Möglichkeiten und Ereignisse im Zusammenhang
mit einem rituellen Zauber nach. In den nächsten Minuten setzte er
das Frage- und Antwortspiel fort. Immer wieder legte er kleinere Pausen
ein, um das sichtlich verängstigte Mädchen nicht völlig
abzuschrecken. Nach einiger Zeit gelang es ihm ein grobes Bild der Ereignisse
zu enträtseln. Das Koboldmädchen war tatsächlich von einem
Menschenzauberer entführt und für seine schwarzen Künste
missbraucht worden. Aber irgendwie war das Ritual fehlgeschlagen, der Magier
vermutlich tot und Torsi geflohen. Mit der Hilfe einiger Waldgeister war
sie auf den Ochsenwagen gestoßen, mit dem sie sich dann auf die Suche
nach ihrer Familie gemacht hat. Es gab einige Lücken in der Geschichte,
aber für den Anfang hatte Aerendíl einen vagen Eindruck dessen,
was dem armen Mädchen widerfahren war. Kein Wunder, dass sie zutiefst
verunsichert und verängstigt war, zumal sie noch längst nicht
die Feuermeisterschaft erwachsener Kobolde erlangt hatte. Immerhin war
sie dank des kleinen Abendmahls wieder halbwegs gekräftigt, und hatte
auch ihre ursprüngliche Zurückhaltung gegenüber Aerendíl
abgelegt. Tatsächlich beteiligte sie sich jetzt wieder aktiver an
ihrer Unterhaltung.
"Um wieder auf den Turm des Magiers
zurückzukommen; gab es da vielleicht einen Hinweis um welche Art von
Zauberer es sich handeln konnte?" fragte der Elb.
Torsis Augen leuchteten auf und
enthusiastisch wedelte sie mit ihren Händen. "Klar! Das Buch, das
ich mitgenommen habe. Wie konnte ich das vergessen?"
"Ein Buch?" Aerendíl schaute
nun seinerseits ein wenig irritiert.
"Ja. Es ist sooo groß", sagte
Torsi und zeichnete mit ihren Händen eine rechteckige Form in die
Luft, "aber leicht wie eine Feder. Es hat einen Schlitz, oder so etwas,
für einen Schlüssel, glaube ich." Torsi schaute den Elben erwartungsfroh
an. "Deswegen hatte ich es auch mitgenommen."
"Oh", meinte Aerendíl betroffen,
"ich befürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für dich: Ich
habe kein Buch gefunden, als ich dich aus dem Fuhrwerk gehoben habe."
"Was?" rief Torsi ungläubig,
und Aerendíl sah wie sich schon wieder die ersten Tränen in
ihren Augen bildeten. "Ich... das... das kann nicht sein!" rief sie und
sprang auf. "Aber das war ein Buch. Es war doch so groß. Ich hatte
es neben mir versteckt!"
Aerendíl hob entschuldigend
seine Hände. "Tut mir leid, aber außer dir habe ich in deinem
Versteck nichts gesehen."
"Aber... ohne das Buch... wie soll
ich...?" Torsi schluchzte laut und Tränen bahnten sich ihren Weg über
ihre Wangen. "Nein! Nein! Nein!" schrie sie mit erstickter Stimme, "ich
will nicht so werden!"
Aerendíl erhob sich um das
weinende Koboldmädchen zu beruhigen. Was meinte sie mit den Worten
Ich
will nicht so werden? Torsi verheimlichte ihm etwas. Etwas, das so
schrecklich war, dass es ihm einen Schauer über den Rücken schickte
und den Atem des Waldes um sie herum zu ersticken drohte. Es war beinahe
unheimlich, denn nicht das kleinste Zirpen einer Heuschrecke oder das Rufen
eines Nachtvogels drang auf die kleine Lichtung. Selbst das Knistern des
Lagerfeuers war nur noch wie ein fernes Flüstern zu hören.
Die Nackenhaare des Elben richteten
sich auf und zwischen seinen Schultern kribbelte es.
Bei Sinvé! Ein Hinterhalt!
"Duck dich, Torsi!" schrie Aerendíl
und warf sich selber keinen Augenblick zu spät zu Boden. Im gleichen
Moment sirrte ein Pfeil durch die Luft und streifte Aerendils Oberarm genau
in der Höhe, in der sich einen Bruchteil von Sekunden noch sein Herz
befunden hatte. Der Barde sah noch, wie sich das Koboldmädchen ebenfalls
auf den Boden warf. Dann übernahmen seine Reflexe und sein Kampfinstinkt
die Initiative.
Geschmeidig rollte der Elb sich
ab und nahm eine duckende Haltung auf den Knien ein. Ohne nachzudenken
zog er sein magisches Langschwert und sandte seine magischen Sinne in die
Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Seine scharfen Ohren verrieten
ihm ohnehin, dass sich mindestens zwei Gegner schnell dem Lichtkreis des
Lagerfeuers näherten, um sich auf ihn zu stürzen. Doch wichtiger
war es, den Zauberkundigen zu erledigen, der den Stillezauber gewoben hatte,
der es den Angreifern erlaubt hatte, sich unbemerkt einem Elben und einem
Kobold auf Schussdistanz zu nähern. Sein astraler Blick zeigte ihm
die Position des Bogenschützen, der ungefähr zehn Schritt entfernt
vermutlich gerade einen zweiten Pfeil in seinen Kurzbogen einlegte. Ohne
zu zögern schleuderte Aerendíl dem unbekannten Angreifer einen
mentalen Gedankenstoß entgegen, der ihn hoffentlich für einige
Zeit betäuben würde. Noch bevor die Aura des Bogenschützen
verblasste, hatten Aerendíls übernatürliche Sinne eine
zweite, wesentlich ausgeprägteres, magische Präsenz erfasst.
Schwarzlinge?
Was machen die hier? Für einen Moment war Aerendíl so verblüfft,
dass er tatenlos auf der mentalen Ebene verweilte, und beobachten konnte,
wie die Aura des Schwarzlingschamanen anschwoll.
Aerendíl blieb nicht viel
Zeit zu reagieren. Der Zauberspruch des Schamanen war beinahe abgeschlossen,
und seine eigene magische Barriere würde nicht mehr rechtzeitig errichtet
werden können. In Gedankenschnelle zog er seine Sinne aus der Essenzebene
der Magie zurück und rief auf Elbisch: "Šoltahan, ya envé driëlle!"
Zwei Dinge geschahen nun gleichzeitig.
Aus dem Wald, dort wo der Schwarzlingmagier sich befinden musste, schoss
ein brennend heißer Flammenstrahl auf den Barden zu. Im selben Moment
leuchtete das Langschwert in Aerendíls linker Hand in gleißendem
Hellblau auf, und tauchte die Nacht in ein bizarres Zwielicht aus gelb,
rot und blau. Wie von einem Magneten angezogen, wurde der Flammenstrahl
abgelenkt, sodass Aerendíl nicht mehr als den heißen Atem
des tödlichen Elementarzaubers spürte. Der Flammenstrahl selbst
traf auf den tausendfach gehärteten Stahl des verzauberten Langschwertes.
Die Luft vibrierte, schwarzer Qualm füllte die Luft und für einen
kurzen Moment glühte die Klinge, wie Stahl kurz vor der Schmelze.
Ein Feuerschweif zuckte die Klinge entlang, und kleine Kugelblitze tanzten
über das leuchtende Metall. Alle Farben des sichtbaren Spektrums tauchten
den Lagerplatz in ein Lichtermeer, und das Rot der Flammen und das Blau
des Schwertes zeichnete sich abwechselnd auf der Gestalt des Elbenbarden
ab. Doch schneller, als ein sterbliches Auge dem Spiel der Farben folgen
konnte, kehrte sich der Elementarzauber gegen seinen Schöpfer. Wie
bei einer sich wieder öffnenden Ziehharmonika, formte sich ein Flammenstrahl
aus den tanzenden Feuerbändern, wuchs und schoss in Richtung seines
Ursprungs zurück. Erneut wurde der Wald durch das gespenstische Licht
des magischen Feuers erleuchtet und für einen Augenblick erblickte
Aerendíl die dunkle Gestalt des Schamanen, der mit weit aufgerissenen
Augen seine Verdammnis auf sich zu rasen sah. Seine grauenvollen Todesschreie
wurden vom Toben des reflektierten Flammenstrahls erstickt, als Gewänder,
Fell, Haut und Knochen von elementarem Feuer erfasst und zu Asche verbrannt
wurden.
Aerendíl blieb keine Zeit
das vernichtende Werk seines Zauberschwertes weiter zu betrachten. Er wirbelte
herum um sich dem von rechts anstürmenden Schwarzling entgegen zu
stellen. Schwarzlinge waren Halbbrüder der Chrúms, geschaffen
in der Zeit des großen Götterkrieges. Im Gegensatz zu ihren
meist gebückten Brüdern hatten Schwarzlinge einen aufrechten,
athletischen Gang, überragten gewöhnliche Chrúms um mindestens
einen Kopf und besaßen eine wesentlich widerstandsfähigere Haut
aus eng vernetzten, basaltartigen Flechten. Aber nicht nur deswegen war
ein Schwarzling ein weitaus gefährlicherer Gegner als ein Chrúm.
Während letztere zumeist nur von einer primitiven Gier angetrieben
wurden, waren Schwarzlinge intelligente, berechnende Kreaturen, deren entscheidendste
Schwäche ihre Abneigung gegen jeden Form von Metall war. Deshalb war
Aerendíl auch wenig überrascht, als sein Gegner eine überdimensionierte
Keule nach seinen Kopf schwang. Eisen oder nicht - ein Treffer einer solchen
Keule, von einem wütenden Schwarzling geschwungen, richtete ebenfalls
erheblichen Schaden an.
Aerendíl hatte nicht vor,
es so weit kommen zu lassen.
Geschickt duckte er sich unter
der Keule hindurch und rammte sein noch immer bläulich schimmerndes
Schwert in die entblößte rechte Flanke seines Gegners. Der Schwarzling
heulte auf vor Schmerz, war aber noch nicht endgültig außer
Gefecht gesetzt. Mit einer für einen Halbchrúm erstaunlichen
Geschicklichkeit sprang der Schwarzling außerhalb Aerendíls
unmittelbarer Schlagreichweite. Mit seinen überragenden Sinnen erkannte
der Elb, dass der zweite Schwarzling von links heranpreschte, während
Torsi sich auf dem Boden wand. War sie von einem weiteren Bogenschützen
verletzt worden? Aerendíl hatte nur den einen Schützen bemerkt,
den er gleich zu Beginn niedergestreckt hatte. Für solche Fragen war
jetzt allerdings keine Zeit; er musste den angeschlagenen Schwarzling so
schnell wie möglich unschädlich machen.
Eine rasche Serie von Finten und
Sprüngen brachte Aerendíls Gegner, der versuchte den Elben
mit seiner mächtigen Keule auf Distanz zu halten, aus der Balance.
Mit einem blitzartigen Ausfallschritt stieß Aerendíl vor und
erwischte das rechte Bein des Schwarzlings knapp unterhalb des Knies. Erneut
grunzte der Schwarzling vor Schmerzen und versuchte den Elben mit einem
verzweifelten Hieb seiner Keule zu vertreiben. Darauf hatte Aerendíl
lediglich gewartet! Geschickt unterlief er die Keule und hatte freie Bahn
auf den Körper seines Gegners. Mit einem einzigen Stoß seines
einzigartigen Schwertes durchstieß er den ledernen Brustharnisch
des Schwarzlings und rammte Šoltahan direkt in das dunkle Herz seines Kontrahenten.
Noch während sein Gegner leblos
zusammensackte, zog Aerendíl, eine blutige Spur hinterlassend, seine
Klinge aus der Brust des tödlich verletzten Schwarzling und wirbelte
herum, um sich dem nächsten Gegner zu stellen. Wie zu Beginn der ersten
Auseinandersetzung bereitete der Barde sich darauf vor, einer sich auf
ihn herabsenkenden Keule auszuweichen. Stattdessen überraschte ihn
der Schwarzling jedoch über alle Maßen, indem er sich mit seinem
ganzen massigen Körper auf den Elben stürzte.
Verzweifelt versuchte Aerendíl
auszuweichen, doch der Rammangriff des Schwarzlings hatte ihn auf dem falschen
Fuß erwischt. Grunzend und keuchend gingen Schwarzling und Elf gemeinsam
zu Boden.
Von der Wucht des Zusammenpralls
nach Luft schnappend trat Aerendíl ziellos nach dem Schwarzling,
ohne wirklichen Schaden anzurichten, während er sich aufrappelte.
Beinahe genauso schnell war der Schwarzling wieder auf den Beinen und setzte
nach. Mit einem weiteren Sprung erwischte der Schwarzling die Beine des
Elben und warf ihn rücklings auf den Boden. Aerendíl versuchte
sich loszureißen, doch die kräftigen Pranken seines Gegners,
kombiniert mit dem nicht unbeträchtlichen Körpergewicht, hielten
den Elben in einem eisernen Griff gefangen. Aerendíl schlug mit
dem Knauf seines Schwertes nach dem Kopf des Schwarzlings, doch selbst
dies entlockte dem Schwarzling nicht mehr als ein wütendes Schnauben.
Ein zweites Mal schwang der Barde sein Langschwert nach dem Schwarzling,
doch dieser reagierte dieses Mal darauf, indem er Aerendíl mit einer
Hand losließ und mit seiner geballten Faust nach der Schwerthand
des Elben schlug. Aerendíl keuchte auf vor Schmerz, als Šoltahan
ihm aus der Hand geprellt wurde und in den Tiefen der Nacht verschwand.
Das bläuliche Leuchten erlosch in dem Moment, als das Schwert die
Hand seines Trägers verließ.
Aerendíl war nun wirklich
in arger Bedrängnis.
Der Schwarzling war zu der gleichen
Erkenntnis gekommen und heulte triumphierend auf. Grimmige Zähne bleckten
den Barden mörderisch an.
"Duu seinn toot, Ellff!" grunzte
Aerendíls Gegner und erhöhte den Druck seines kräftigen
Haltegriffes. Vergeblich wand sich der Elbenbarde, um der Umklammerung
seines Feindes zu entgehen. Mit der Vorahnung unzähliger absolvierter
Kämpfe befürchtete Aerendíl schon, dass dieser Kampf sein
letzter sein könnte. Verzweifelt wandte er alle Nahkampftricks an,
die er kannte, aber der Griff des Schwarzlings blieb eisern, während
er mit seiner freien Hand immer wieder auf den leichteren Körper des
Elben einschlug.
Da er sich physisch in einer äußerst
ungünstigen Lage befand, wählte Aerendíl seine mentalen
Kräfte als letzte Waffe. Obgleich er ziemlich abgelenkt war, glitt
Aerendíl mit seinen Sinnen auf die Geistebene. Im Bruchteil eines
Atemzugs sammelte er genug mentale Spannung, um sie dem Schwarzling, dessen
Aura sich kräftig leuchtend unmittelbar im Zentrum seiner Wahrnehmung
abzeichnete, entgegen zu schleudern. Doch bevor der Elb dazu kam, den Gedankenstoß
auf den Schwarzling zu richten, riss eine dumpfe Erschütterung ihn
wieder in die reale Existenzebene. Unterbewusst nahm der Barde wahr, wie
sein Kopf von einem mächtigen Prankenhieb des Halbchrúms zurückgeschleudert
wurde. Danach wurde es Aerendíl schwarz vor den Augen und er kämpfte
mit letzter Kraft gegen die aufkommende Bewusstlosigkeit.
Plötzlich heulte der Schwarzling
entsetzt auf.
Noch schummrig von dem Kopftreffer,
bemerkte Aerendíl wie das erdrückende Gewicht auf seinen Beinen
und seinem Unterleib verschwand. Mit verschwommenem Blick sah er, wie der
Schwarzling von etwas Riesigem empor gehoben wurde. Was war das? Aerendíl
versuchte sich trotz der panischen Angstschreie des Schwarzlings wieder
auf das Geschehen vor ihm zu konzentrieren.
Gespenstisch zeichneten sich zwei
dunkle Gestalten vor dem Hintergrund des noch immer prasselnden Lagerfeuers
ab. Eine davon war der Schwarzling, der - mit seinen Beinen in der Luft
zappelnd - von einem übermächtigen Gegner an der Kehle gehalten
wurde. Dieser Gegner stand auf zwei muskulösen, Pelz bewehrten Wolfsbeinen
und heulte mit übernatürlicher Stimme seinen Jagdschrei in die
Nacht. Ein Jäger, dem die Beute nicht mehr entkommen würde.
Bestürzt sah Aerendíl,
wie das Ungetüm den Schwarzling wie einen Sack Kartoffeln fallen ließ,
und noch bevor die Beine des Halbchrúms den Boden berührten,
ihm mit einem blitzschnellen Hieb seiner freien Klauenhand den Kopf vom
Leib trennte.
Aerendíl, dessen Kopf noch
immer von dem beinahe betäubendem Hieb dröhnte, setzte sich mit
seinen Händen auf und tastete nach seinem Langschwert. Währenddessen
richtete sich das wolfsartige Monster in voller Größe auf, um
mit fletschenden Reißzähnen und blutigen Krallen seinen Triumphschrei
in die Nacht zu rufen. Aerendíl hatte schon einiges erlebt, gesehen
und gehört, doch noch nie hatte er solch einen markerschütternden
Schrei vernommen, der ihm fast das Blut im Leib gefrieren ließ.
Bei den Göttern! Erhabene
Sinvé! Welch eine Bestie habt ihr da erweckt?
Taumelnd kam Aerendíl auf
seine Beine. Sein Körper schmerzte von den vielen eingesteckten Fausthieben
des Schwarzlings, aber immerhin hatte er anscheinend keine ernsthaften
Verletzungen erlitten. Doch ohne Šoltahan hatte er nicht den Hauch einer
Chance gegen diese Alptraumkreatur.
Die Bestie heulte noch immer ihren
fürchterlichen Ruf in die Nacht. Fast schien es, als erbebte sie in
einem inneren Kampf. Aerendíl zögerte keinen weiteren Moment
und schlug - die Bestie nicht aus den Augen lassend - einen Kreis
um das Ungetüm und das Lagerfeuer. Sein Schwert vermochte er auf die
Schnelle nicht zu finden, aber möglicherweise konnte er das Feuer
zu seinem Nutzen verwenden. Aerendíl hatte in der Vergangenheit
schon von Wechselgängern gehört. Dämonen, die den sterblichen
Körper eines Lebewesens von Íja Macár heimsuchten, um
ihn für ihre finsteren Gelüste als Gefäß zu verwenden.
Nur wo war dieser Wolfsdämon so schnell hergekommen? War er von der
Ansammlung magischer Geschöpfe - immerhin ein Kobold, mehrere Schwarzlinge
und einen magietragenden Elb - angelockt worden?
Oh, verflucht! Torsi!
Verzweifelt suchte Aerendíl
nach dem Koboldmädchen, welches er zuletzt sich am Boden windend in
der Nähe des Lagerfeuers gesehen hatte, obwohl er die Antwort längst
ahnte. Ein weiteres Mal wechselte er mit seinen Sinnen auf die mentale
Ebene, was sich angesichts seiner Kopfschmerzen alles andere als einfach
herausstellte. Auch da konnte er keine Spur des Geistabbildes des Koboldmädchens
erhaschen. Umso intensiver strahlte dafür die unheilige Aura des Ungetüms.
Und die war äußerst ungewöhnlich!
Leider ergab sich keine weitere
Gelegenheit die mysteriöse Erscheinung ausgiebiger zu sondieren. Aerendíl
wurde plötzlich von einer unheimlichen, schrecklichen Präsenz
gepackt.
Hunger! Durst! Gier! Blut! Reißen!
Vernichten! Zerstörung! Chaos!
Mit rasender Geschwindigkeit drangen
die entsetzlichsten Gedanken auf Aerendíls Geist ein. Der Elb erschrak
angesichts der Stärke und der Bösartigkeit dieser Präsenz.
Und weil diese Präsenz ihn zweifelsfrei bemerkt hatte.
Ohne zu zögern wechselte Aerendíl
wieder auf seine normalen Sinne. Er zitterte am ganzen Leib, als er das
Echo der verheerenden Sinneseindrücke abschüttelte. So muss
die ewige Verdammnis sein, bei allen Göttern!
Aerendíl blickte zu der
Bestie hinüber, die sich nun schnüffelnd wieder unter Kontrolle
hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie seine Witterung aufgenommen
hatte. Flucht war keine Alternative, also griff der Elb nach dem größten
Feuerscheit, das aus dem Lagerfeuer herausragte. Zum Glück hatte er
das Lagerfeuer so groß gemacht, damit das Koboldmädchen durch
die Nähe eines möglichst großen Feuers zu Kräften
kam. Arme Torsi! Was war ihr da bloß widerfahren?
Die Wolfsbestie begann zu knurren
und folgte dem Verlauf des Kreises, den Aerendíl um das Feuer herum
zurückgelegt hatte. "Komm, alter Knabe", murmelte Aerendíl
vor sich hin, "lass dir etwas einfallen!"
Vorsichtig bewegte der Elb sich
seitwärts, darauf achtend, dass sich das Feuer immer zwischen ihm
und dem Ungetüm befand. Die Bewegungen der Wolfskreatur wurden immer
schneller, als sie mit zunehmender Entschlossenheit der Fährte des
Barden folgte. Aerendíl lief die Zeit davon.
Schließlich erreichte er
wieder den Ausgangsort, an dem er und Torsi gesessen hatten. Er hatte nun
einen kompletten Kreis um das Lagerfeuer abgegangen, und außer einem
kurzen Zeitgewinn hatte er nichts erreicht. Seinen Kopf nach einem Ausweg
zermarternd, warf Aerendíl einen kurzen Blick auf die Stelle, an
der er Torsi zuletzt gesehen hatte. In der Tat, das Koboldmädchen
war nicht mehr dort. Seine Befürchtungen wurden zur Gewissheit. Diese
Wolfsbestie und Torsi waren miteinander verbunden. Oder war Torsi bloß
ein Mantel für die Bestie gewesen? Warum hatte sie ihn dann aber nicht
früher attackiert?
Das Knurren näherte sich und
Aerendíl konnte über das Feuer hinweg die rot leuchtenden Augen
der Beste erkennen. Panik drohte ihn zu übermannen und wütend
packte er den brennenden Holzscheit. So soll es denn sein!
Heftig atmend blieb der Elbenbarde
stehen. Ewig konnte er der Bestie ohnehin nicht ausweichen. Außerdem
würde das Feuer irgendwann schwächer werden und schließlich
erlöschen. Lieber jetzt kämpfen, als langsam von Müdigkeit
und Verzweiflung erstickt zu werden. Aerendíl bückte sich,
um sein verborgenes Wurfmesser aus dem rechten Stiefel zu ziehen. Da fiel
sein Blick auf den Ahornbaum an dessen Stamm noch immer sein Rucksack lehnte.
Aerendíl blinzelte mit den
Augen. Er konnte sich nicht erinnern, Mondharfe aus dem Rucksack genommen
zu haben.
Blitzschnell eilte er zu dem Baumstamm
und ergriff die Zauberharfe. Ohne über irgendeine Melodie nachzusinnen,
begann er auf der Harfe zu spielen. Der Barde wusste, dass es einige Zaubergesänge
gab, mit denen ein kundiger Barde Bannzauber sprechen und Verzauberungen
brechen konnte. Aerendíl selber kannte die meisten davon, aber in
diesem Moment fiel ihm kein geeigneter Zaubergesang ein. Die meisten dieser
Lieder dauerten ohnehin einige Zeit bis sich ihre Wirkung entfaltete. Aber
da die Wolfskreatur soeben das Feuer umrundete, spielte Aerendíl
die erstbeste Melodie, die seine Intuition ihm eingab.
Die junge Maid sprang frohgemut
lustig übers grüne Gras...
Noch während der ersten Strophe
bemerkte Aerendíl wie die Zauberharfe in seinen Händen erwachte.
Silbern schimmerten die Saiten in einem bleichen Licht und die sanftesten
und reinsten Töne, die jemals die Tiefen dieses kleinen Waldes durchdrungen
hatten, hallten in die finstere Nacht. Aerendíl konzentrierte sich
einzig und allein auf seine Musik und seinen Gesang. Seine klare Stimme
vermischte sich zu perfekter Harmonie mit den lieblichen Harfenklängen,
als er die zweite Strophe anging.
Sah sie einen feschen Prinz’,
der stolz auf seinem Rosse ritt...
Die Wolfskreatur, die schon zum
Sprung nach dem Elben angesetzt hatte, erstarrte in ihren Bewegungen. Ein
Zittern durchlief ihre monströse Gestalt. Klauen fuhren ziellos durch
die Luft, als schlügen sie nach einem unsichtbaren Feind. Aerendíl
hatte die dritte Strophe erreicht, als das Wolfswesen jaulend aufheulte.
Ein Schrei des Schreckens durchstieß die perfekte Harmonie von Harfe
und Elbenstimme. Aerendíl stimme die vierte Strophe an.
Plötzlich wurde die Wolkendecke
über der Lichtung von einer neuen Lichtquelle durchbrochen. Zwischen
den Rändern einiger dunkelgrauer Wolken, stahl sich der Mond durch
die Himmelsherde. Fahles Mondlicht gesellte sich zum unsteten Leuchten
des flackernden Lagerfeuers. Die Wolfskreatur stieß einen weiteren,
schrecklichen Schrei aus. Oder waren es nicht zwei Schreie in einem? Ein
tiefes, zorniges Brüllen und ein heller, hoher Aufschrei der Verzweiflung?
Aerendíl konzentrierte sich auf das Lied und erreichte die nächste
Strophe.
In Zuversicht sie lächelnd
naht...
Schließlich erreichte das
Mondlicht auch Aerendíls Zuflucht unter dem Dach des Ahornbaumes.
Die Saiten der Zauberharfe erstrahlten in majestätischem Glanz und
ein silbriges Leuchten erfasste nun auch den kunstvoll verzierten Rahmen.
Verschlungene Runen in einer uralten, magischen Zauberschrift traten aus
dem Eibenholz hervor. Tanzenden Feen gleich, zeichneten die geheimnisvollen
Schriftzeichen ihr Spiegelbild in die Luft. Aerendíl musste seine
letzte Kraft zusammennehmen, um nicht vor Bezauberung sein Lied vorzeitig
zu beenden. Ehrfürchtig verfolgte er, wie die silbernen Luftschwaden
sich in Richtung der sich nun den Mond anheulenden Kreatur bewegten. Als
die ersten Lichtstreifen das pelzige Ungetüm erreichten, zuckte die
Kreatur kurz zusammen und brach donnernd zusammen. Noch während er
die vorletzte Strophe sang, erbebte die Kreatur mit einem gewaltigen Zittern,
und ihre Konturen fingen an zu verschwimmen.
Arendíl kam nun zur letzten
Strophe.
Dem Schicksal sich die Maid nun
fügt,
das Licht sich bricht und frei
nun gibt,
dem Prinzen Blick was vorher
war
verborgen und gar unsichtbar.
Der Elbenbarde erinnerte sich an
die letzte Gelegenheit, zu der er diese lustige Weise vorgetragen hatte.
War es wirklich erst gestern gewesen? Und welche Ironie, dass er damit
nun zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit einen Zauber aufhob oder
zumindest zurückdrängte. Abwesend starrte er vor sich hin. Unter
seinen Händen verklangen die letzten Harfentöne in der erdrückenden
Dunkelheit der Nacht. Dankbar strichen Aerendíls Finger über
die verblassenden Runen und die zarten Saiten der Zauberharfe. Die Wege
der Götter waren manchmal unbegreiflich. Viele Fragen lasteten auf
seiner Seele. Doch für die Antworten blieb auch noch später Zeit.
Zunächst galt es, sich um das Koboldmädchen zu kümmern.
Der Elbenbarde nahm die Harfe behutsam
in seine linke Hand, streckte sich mit wackligen Beinen und ging vorsichtig
zu der kleinen, in sich zusammengerollten Gestalt hinüber, die nahe
dem ausbrennenden Lagerfeuer am Boden lag.
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